Nr. 32 02/2013 ISSN 1682-7805 SOZIAL AGENDA Beschäftigungsund Sozialanalyse 6 12 Jahreswachstums­ bericht 2013 Jugend­ beschäftigung Besonderer Schwerpunkt auf sozialer Fairness Bessere Antworten dringend erforderlich Soziales Europa 2 / SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 EDITORIAL Die jüngsten sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der Europäischen Union und der Euro-Zone zeigen, dass genaue und zeitnahe Statistiken wichtig sind, um einerseits aktuelle Trends zu analysieren und anderseits die Auswirkungen der auf nationaler und europäischer Ebene umgesetzten Maßnahmen zu beobachten. © Europäische Union Ohne die Erhebung und Analyse genuin europäischer Daten kann es keine gemeinsame EU-Politik bzw. keine EU-weite Koordinierung der Politik geben. Dies wiederum erfordert einen Konsens über Wortlaute, Konzepte und Indikatoren, also darüber, was genau zu suchen und zu analysieren ist, und warum! Es ist klar, dass wir auf der Grundlage gemeinsamer europäischer Definitionen in geeignete und zeitnahe Daten investieren müssen. Diese stille Revolution ist in wissenschaftlichen Kreisen schon seit geraumer Zeit im Gange. Jetzt hat sie auch die Politik auf EU-Ebene erreicht. Die neue Ausgabe des Jahresberichts der Europäischen Kommission über die Entwicklungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales in Europa, der bereits Beschäftigungs- und Sozialdaten berücksichtigt, behandelt jetzt auch die sozialen Auswirkungen der Besteuerung. Erstmals enthält er darüber hinaus eine dynamische Analyse der Langzeitarbeitslosigkeit auf der einen Seite und von Armut bzw. sozialer Ausgrenzung auf der anderen. Darüber hinaus werden neue Indikatoren wie „finanzielle Notlage“ berücksichtigt, die den sozialen und menschlichen Aspekt von Statistiken mehr in den Vordergrund rücken. „Den Weg für den Sozial­ investitionsstaat ebnen“ Die stille Revolution auf dem Gebiet der Statistik und Analyse ebnet den Weg für die Umsetzung eines Konzepts, das in den in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat und z. B. in Schweden schon Realität ist: den Sozialinvestitionsstaat, der den Wohlfahrtsstaat ablöst. Ein Staat, der im Rahmen einer Kombination von umfassendem Sozialschutz, Kleinkindbetreuung und -bildung, Unterstützung von Jugendbildung, -ausbildung und -beschäftigung, Maßnahmen für aktives Altern und angemessene Altenpflege in Menschen investiert, was letztlich wiederum der Wirtschaft zugutekommt. Es geht nicht mehr um die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen wirtschaftlicher Effizienz und Solidarität, sondern darum, wirtschaftliche Effizienz durch Solidarität zu erreichen. Koos Richelle Generaldirektor der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration der Europäischen Kommission Sozial Agenda, ein Magazin mit Informationen über die europäische Beschäftigungs- und Sozialpolitik, wird in Englisch, Französisch und Deutsch von der Generaldirektion für Beschäftigung, Soziales und Integration der Europäischen Kommission herausgegeben. Chefredakteur: Koos Richelle, Generaldirektor, GD Beschäftigung, Soziales und Integration, Europäische Kommission, B-1049 Brüssel Auflage dieser Ausgabe: 65 000. Abonnement kostenlos auf Anforderung – Kontaktadresse: Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration – InfoCentre, B-1049 Brüssel, Fax.: (32-2) 296 23 93; http://ec.europa.eu/social/contact Hinweis: Weder die Europäische Kommission noch Personen, die im Namen der Kommission handeln, sind für die Verwendung der in dieser Publikation enthaltenen Informationen oder für irgendwelche Fehler, die trotz sorgfältiger Vorbereitung und Prüfung auftreten können, verantwortlich. • © Europäische Union, 2013 Nachdruck zu nicht kommerziellen Zwecken mit Quellenangabe gestattet. Die Verwendung oder der Abdruck von Fotos, deren Copyright nicht bei den Europäischen Union liegt, ist nur zulässig, wenn direkt bei dem/den Copyright-Inhaber(n) eine entsprechende Erlaubnis eingeholt wurde. © Umschlag: Getty Images SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 / 3 I N H A LT JAHRESWACHSTUMS­BERICHT 2013 Besonderer Schwerpunkt auf sozialer Fairness6 DER EUROPÄISCHE FONDS FÜR DIE ANPASSUNG AN DIE GLOBALISIERUNG Dickes Plus 20118 6 SOZIALE EINGLIEDERUNG © Getty Images Europäischer Hilfsfonds gegen Armut10 JUGEND­BESCHÄFTIGUNG THEMA SPEZIAL Die politische Dimension von Datenerfassung und -analyse14 Beschäftigung und soziale Entwicklungen aus neuer Perspektive15 Gestiegener Stellenwert von Sozialstatistiken17 Langzeitarbeitslosigkeit19 Grundlage für faktengestützte Politik schaffen21 12 © Imageglobe Bessere Antworten dringend erforderlich12 SOZIAL­WIRTSCHAFT Lektionen aus der Praxis24 ANDERE STIMMEN Max Uebe, Europäische Kommission: Von einem heißen Eisen zum nächsten27 15 27 © Europäische Union INTERVIEW © Imageglobe Maria Jepsen, ETUI: Schlüsselrolle der Sozialwissenschaften26 4 / SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 K UR Z­ NACHR IC HTEN 8. Januar 2013: Soziale Kluft und Gefahr der langfristigen Ausgrenzung steigen die Sozialsysteme in der Regel besser (siehe unser Thema Spezial ab Seite 14). © Imageglobe Nach fünf Jahren Wirtschaftskrise und der Rückkehr der Rezession im Jahre 2012 ist die Arbeitslosigkeit so hoch wie seit fast 20 Jahren nicht mehr. Zu diesem Schluss kommt der Employment and Social Developments in Europe Review (Überprüfung der Entwicklungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales in Europa) in seiner Ausgabe von 2012. Insbesondere in den südlichen und osteuropäischen Mitgliedstaaten sind die Einkommen der Haushalte gesunken und die Risiken für Armut oder Ausgrenzung gestiegen. Da die anfängliche Abfederungswirkung von Steuersenkungen und höheren Sozialausgaben („automatische Stabilisatoren“) nachgelassen hat, schlägt sich die Krise inzwischen stärker in der sozialen Lage nieder. Dabei tut sich eine Schere auf zwischen den Ländern, die in der Abwärtsspirale aus s­ inkender Produktivität, rasch steigender Arbeitslosigkeit und sinkender Einkommen gefangen sind, und jenen, die der Krise bisher gut standgehalten oder wenigstens eine gewisse Widerstandsfähigkeit gezeigt haben. In diesen Ländern f­unktionieren die Arbeitsmärkte und „Les Morts de la Rue“: Die Risiken für Armut oder Ausgrenzung steigen. 20. Dezember 2012: Nachfrage nach qualifizierteren Arbeitnehmern steigt © Imageglobe Die Europäische Kommission hat jüngst zwei Berichte veröf­ fentlicht, um den Kompetenzbedarf in Europa zu analysieren: zum einen den Europäischen Monitor für offene Stellen Bei guter Gesundheit: Die Nachfrage nach Gesundheitsfachkräften nimmt weiter zu. und zum anderen das Bulletin „Berufliche Mobilität“. Dem Europäischen Monitor für offene Stellen zufolge sind zwei hochqualifizierte Berufsgruppen weiter gewachsen, d. h. Fachkräfte (+5 %) sowie Techniker und verwandte Berufe (+2 %), die in den unterschiedlichsten Sektoren, darunter Wirtschaft-, ­Finanz- und Gesundheitssektor, zu finden sind. Dagegen sind die Einstellungen in den meisten der großen Berufsgruppen im ersten Quartal 2012 gegenüber dem ersten Quartal 2011 rückläufig (Handwerk und verwandte Berufe -12 %, Anlagen- und Maschinenbediener -7 % und Hilfsarbeitskräfte -13 %). In der Dezember-Ausgabe des Bulletins „Berufliche Mobilität“ werden die im EURES-Portal veröffentlichten freien Stellen analysiert. Der Bericht unterstreicht, dass gute Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen für finanz- und kaufmännische Fachkräfte (87 000 freie Stellen), Verkäufer und Vorführer in Geschäften (66 700 freie Stellen), Hauswirtschafts- und Gastronomiekräfte (40 500 freie Stellen), Pflegekräfte und verwandte Berufe (40 300 freie Stellen) sowie für moderne medizinische Fachberufe mit Ausnahme der Krankenpflege (39 000 freie Stellen). Um den Kompetenzbedarf besser einzuschätzen, hat die Kommission kürzlich das EU-Kompetenzpanorama ins Leben gerufen. Dieses kann die Politik bei der Festlegung von Lehrplänen und junge Menschen bei der Berufswahl unterstützen, derweil Arbeitssuchende mehr Orientierung bei ihrer Laufbahnplanung erhalten können. SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 / 5 KURZNACHRICHTEN Der Anteil der Geringverdiener an den Arbeitnehmern betrug 2010 in der EU 17,0 %. Die Zahlen fallen in den einzelnen Mitgliedstaaten jedoch höchst unterschiedlich aus. Spitzenreiter sind Lettland (27,8 %), Litauen (27,2 %), Rumänien (25,6 %), Polen (24,2 %) und Estland (23,8 %), während Schweden (2,5 %), Finnland (5,9 %), Frankreich (6,1 %), Belgien (6,4 %) und Dänemark (7,7 %) die niedrigsten Anteile aufweisen. Als Geringverdiener gelten Arbeitnehmer, deren Einkommen zwei Drittel oder weniger des nationalen Medians des Bruttostundenverdiensts beträgt. Demgemäß sind die Schwellenwerte für Geringverdiener relativ und in jedem Mitgliedstaat anders. Große Unterschiede bestehen zudem zwischen Frauen und Männern, nach Bildungsstand und Art des Arbeitsvertrags. © Imageglobe 20. Dezember 2012: Geringverdiener – jeder sechste Arbeitnehmer ist betroffen Großes Gefälle: Der Anteil von Geringverdienern ist bei Frauen und Männern stark unterschiedlich. 19. Dezember 2012: 25,3 Mio. € zur Unterstützung entlassener Arbeitnehmer Die Europäische Kommission hat Frankreich, Irland, den Niederlanden, Spanien und Schweden Mittel aus dem Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) überwiesen. Der Gesamtbetrag von 25,3 Mio. € wird 4 722 Arbeitnehmern in diesen Ländern helfen, nach ihrer Entlassung in Sektoren wie Aluminium, Breitbanddienste, Metallerzeugnisse, Hoch- und Tiefbau, Automobilherstellung und Pharmaindustrie eine neue Stelle zu finden. 10. Dezember 2012: Abschlussveranstaltung des Europäischen Jahres 2012 Das Europäische Jahr 2012 hat die unterschiedlichsten Akteure in ganz Europa dazu animiert, Maßnahmen zu ergreifen und bessere Rahmenbedingungen für das aktive Altern und die Stärkung der generationsübergreifenden Solidarität zu schaffen. In diesem Rahmen kam es zu zahlreichen neuen Initiativen und Veranstaltungen auf europäischer, nationaler, regionaler oder l­okaler Ebene. Gegenstand waren die Themen Beschäftigung, soziale Teilhabe und eigenständiges Leben älterer Menschen. Viele dieser Initiativen dürften sich langfristig positiv auswirken. Eine Bilanz zu diesen Aktivitäten erfolgte bei der Abschlussveranstaltung des Europäischen Jahres für aktives Altern und der Solidarität zwischen den Generationen 2012 am 10. Dezember 2012 in Nikosia (Zypern). 7. Dezember 2012: EU-Kompetenzpanorama zur Bekämpfung der Kluft zwischen Angebot und Nachfrage Die Europäische Kommission hat inzwischen offiziell das EU-Kompetenzpanorama ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um eine Website mit quantitativen und qualitativen Informationen zu kurz- und mittelfristig nachgefragten und angebotenen Qualifikationen sowie Diskrepanzen zwischen beiden. Das Panorama stützt sich auf in der EU und den Mitgliedstaaten erstellte Daten und Prognosen und soll die Berufe mit den höchsten Wachstumsraten sowie die „Engpassberufe“, in denen es viele freie Stellen gibt, in den Vordergrund rücken. Trotz hoher Arbeitslosigkeit sind EU-weit derzeit rund 2 Millionen Stellen unbesetzt. Die Website enthält detaillierte nach Branchen, Berufen und Ländern gegliederte Informationen. 5. Dezember 2012: Maßnahmen des Jugendbeschäftigungspakets Die Kommission hat Maßnahmen vorgeschlagen, die den Mitgliedstaaten dabei helfen sollen, gegen unerträglich hohe Jugendarbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung ­ nzugehen. Hierzu sollen junge Menschen Möglichkeiten für a Jobs, Ausbildung und Praktika erhalten (siehe Artikel auf Seite 12). 6 / SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 JAHRESWACHSTUMS­ BERICHT 2013 Besonderer Schwerpunkt auf sozialer Fairness Die Last der Reformen muss gerecht verteilt werden und die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft sind zu schützen Um dauerhaft Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen, sind kontinuierliche Reformen erforderlich: So lautet die Kernbotschaft des EU-Jahreswachstumsberichts 2013, der von der Europäischen Kommission im November 2012 angenommen wurde und den neuen Zyklus des Europäischen Semesters für die wirtschaftspolitische Koordinierung einläutet. Die Prioritäten für die Mitgliedstaaten lauten: Fortsetzung der wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung, Wiederher­ stellung einer normalen Kreditvergabe an die Wirtschaft, Förderung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit für heute und morgen, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Bewältigung der sozialen Folgen der Krise und Modernisierung der öffentlichen Verwaltungen. Rasches Handeln gefragt Die Arbeitsmarktsituation bedarf einer schnellen Reaktion. In den letzten zwölf Monaten stieg die Zahl der Arbeitslosen in der EU um weitere 2 Millionen auf über 25 Millionen. Die Langzeitarbeits­ losigkeit hat dabei besorgniserregende Größenordnungen angenommen, und die Situation junger Menschen hat sich in vielen Ländern dramatisch verschlechtert. Der Jahreswachstumsbericht sieht die Prioritäten in der Herbeiführung einer beschäftigungswirksamen Erholung, der Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit und der Förderung der sozialen Eingliederung. Vor diesem Hintergrund sollten die Mitgliedstaaten die staatlichen Arbeitsvermittlungsdienste © Getty Images Der Bericht legt dar, welche wirtschaftlichen und sozialen Prioritäten nach Auffassung der Kommission im nächsten Jahr festzulegen sind. Die Mitgliedstaaten erhalten dabei politische Leitlinien zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung gemäß der langfristigen EU-Wachstumsstrategie „Europa 2020“. Mehr Unterstützung: Europäische Kommission schlägt Mitgliedstaaten vor, eine Ausbildungsgarantie für junge Menschen einzuführen. © Imageglobe SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 / 7 Genau hingeschaut: Mehr als jeder fünfte Jugendliche am Arbeitsmarkt ist ohne Beschäftigung. ­usbauen und sich stärker auf aktive Arbeitsmarktmaß­nahmen a verlegen, darunter die individuelle Betreuung von Arbeits­ platzsuchenden, Praktika, Förderung von Unternehmertum und Qualitätsausbildung. Besonders besorgniserregend ist die Situation der Jugendlichen mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 50 % in vielen Ländern. Der Bericht fordert die Mitgliedstaaten auf, Ausbildungsgarantien für junge Menschen zu entwickeln, damit Jugendliche unter 25 Jahren binnen vier Monaten nach Schulabschluss oder Verlust des Arbeitsplatzes ein Angebot über einen Arbeitsplatz, eine Weiterbildung oder eine Praktikantenstelle erhalten. Darüber hinaus hebt der Jahreswachstumsbericht den Schutz schwacher Mitglieder der Gesellschaft hervor. Einkommensteuern und Sozialversicherungsbeiträge sollten gesenkt werden, und zwar insbesondere für Niedriglohnempfänger. Außerdem gilt es, Reformen zu beschleunigen, um die Arbeitsgesetzgebung zu vereinfachen, flexible Beschäftigungsregelungen zu entwickeln und sicherzustellen, dass die Lohnentwicklung zu einer positiven Beschäftigungsentwicklung beiträgt. Daneben sind weitere Anstrengungen erforderlich, um die Wirksamkeit der Sozialschutzsysteme zu gewährleisten und Strategien zur aktiven Eingliederung zu entwickeln. Konkret heißt das, dass makroökonomische Korrekturen und eine Haushaltskonsolidierung erforderlich sind. Die Umsetzung muss jedoch mit nachhaltigem Wachstum, mehr und besseren Arbeitsplätzen und der Stärkung der sozialen Eingliederung einhergehen. Derzeit ist der Wachstumsbericht Gegenstand von Diskussionen in den verschiedenen EU-Ministerräten. Diese erstatten ihren Staatsund Regierungschefs (d. h. dem Europäischen Rat) im März Bericht. Der Europäische Rat schließlich legt den Mitgliedstaaten politische Leitlinien in Form nationaler Haushalts- und Wirtschaftspläne vor, die im April an die Kommission weitergeleitet werden. Nach Analyse dieser Programme und unter Berücksichtigung der Prioritäten des Wachstumsberichts erarbeitet die Kommission im Mai länderspezifische Empfehlungen, damit diese im Juni vom Europäischen Rat verabschiedet werden können. Im Anschluss haben die Mitgliedstaaten die politischen Leitlinien bei der Verabschiedung der nationalen Haushaltspläne und Politikmaßnahmen zu berücksichtigen. Die Kluft wird größer Dem Jahreswachstumsbericht beigefügt ist der Entwurf zum Gemeinsamen Beschäftigungsbericht, der die Beschäftigungslage in Europa untersucht. Grundlage ist die Klärung der Frage, wie die beschäftigungspolitischen, 2012 vom Rat verabschiedeten Leitlinien umgesetzt wurden. Außerdem geht es um die Analyse der nationalen Reformprogramme, die die Mitgliedstaaten im Rahmen des Europäischen Semesters vorgelegt haben. Der Bericht zeigt, dass die Arbeitslosenrate in den einzelnen Ländern mehr und mehr auseinanderdriftet (4,4 % in Österreich und über 25 % in Griechenland und Spanien). Die Nettoarbeitsplatzschaffung ist auf EU-Ebene und in den Mitglied­staaten konstant rückläufig. Neue Stellen entstehen dennoch weiterhin bzw. bleiben in zahlreichen Sektoren unbesetzt. So kamen im Gesundheits- und Sozialbereich zwischen 2008 und 2011 über 1,8 Millionen neue Arbeitsplätze hinzu. Zudem dürfte die Nettonachfrage dieses Sektors bis 2020 um 8 Millionen zulegen. Im Sektor der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) dürften bis 2015 bis zu 700 000 offene Stellen vorhanden sein. Die Gesamtarbeitslosenquote in der EU liegt derzeit bei 10,6 %, während die Eurozone auf 11,6 % kommt. Das ist der höchste Wert seit Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion. In den meisten Mitgliedsstaaten tendiert die Arbeitslosigkeit nach oben. So waren im zweiten Quartal 2012 11,1 Millionen Europäerinnen und Europäer seit mehr als zwölf Monaten arbeitslos. Mehr als jeder fünfte Jugendliche (d. h. 5,52 Millionen) am Arbeits­ markt war ohne Beschäftigung. Auch die Jugend­arbeitslosigkeit ist in den meisten Mitgliedstaaten gestiegen. In der gesamten EU ist mehr als die Hälfte der jungen Schulabbrecher arbeitslos. Überdies sinken die durchschnittlichen Haushaltseinkommen in vielen Mitgliedstaaten, und jüngste Daten belegen, dass das Ausmaß und die Intensität von Armut und sozialer Ausgrenzung zugenommen haben. Der Entwurf des Beschäftigungsberichts wird vom Rat nach Stellungnahme durch den Beschäftigungsausschuss (EMCO) verabschiedet. Letzterer besteht aus Vertretern der Kommission und den Mitgliedstaaten und trifft sich regelmäßig mit den Sozialpartnern. 8 / SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 Mitgliedstaaten beantragten EGF-Mittel zur Unterstützung von Arbeitnehmern im verarbeitenden Gewerbe. DER EUROPÄISCHE FONDS FÜR DIE ANPASSUNG AN DIE GLOBALISIERUNG Dickes Plus 2011 © Imageglobe Verglichen mit 2010 stiegen die an die Mitgliedstaaten ausgezahlten EU-Kofinanzierungsmittel um 54,1 % Aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen: EGF finanziert Kurse für Kompetenzerweiterung und Umschulung. 2011 wurden mehr als 21 000 Arbeitnehmer, die aufgrund der Wirtschaftskrise und der Auswirkungen der Globalisierung ihren Arbeitsplatz verloren hatten, bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz mit Mitteln aus dem Europäischen Fonds zur Anpassung an die Globalisierung (EGF) unterstützt. 2011 nahmen die EU-Haushaltsbehörden (d. h. das Europäische Parlament und der EU-Ministerrat) insgesamt 22 Beschlüsse an, um EGF-Mittel freizugeben, die entlassenen Arbeitnehmern in zwölf Mitgliedstaaten helfen sollen. Die gesamten Hilfen beliefen sich auf 128 Mio. € und waren damit um 54,1 % höher als 2010. Ursache war die globale Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2009 einen drastischen Anstieg der Anträge mit sich gebracht hatte. Die Mittel wurden gewährt, um über einen Zeitraum von 24 Monaten nach Antragstellung aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zu kofinanzieren, die von den betroffenen Ländern für die Arbeitskräfte vorgeschlagen und durchgeführt wurden. Im Einzelnen wurden u. a. folgende Maßnahmen angeboten: intensive, maßgeschneiderte Unterstützung bei der Arbeitssuche, diverse berufliche Schulungen, Maßnahmen zur Weiterqualifizierung und Umschulung, befristete finanzielle Anreize/Beihilfen für die Dauer der aktiven Maßnahmen sowie weitere Arten von Maßnahmen wie Unterstützung bei der Unternehmensgründung und öffentliche Beschäftigungsprogramme. Der EGF finanzierte 65 % der Maßnahmen, derweil die restlichen 35 % aus nationalen Quellen stammten. Die zwei Seiten der Globalisierung Der EGF wurde Ende 2006 auf Vorschlag des Kommissions­ präsidenten José Manuel Barroso eingerichtet und Anfang 2007 offiziell ins Leben gerufen. Der Fonds sollte dabei einen Ausgleich zwischen dem langfristigen Nutzen eines offenen Handels für Wachstum und Beschäftigung einerseits und den möglichen kurzfristigen Nachteilen der Globalisierung anderseits schaffen. Besonderes Augenmerk lag auf der Beschäftigungssituation der am stärksten gefährdeten und am geringsten qualifizierten Arbeitskräfte sowie auf Entlassungen infolge der Globalisierung des Handels. Um EGF-finanzierte Leistungen in Anspruch nehmen zu können, müssen Arbeitnehmer ihre Arbeitsplätze im Rahmen einer Entlassung von mindestens 500 Mitarbeitern eines Unternehmens und seiner Zulieferer verloren haben, die sich über einen Zeitraum von maximal vier Monaten erstreckte. Anspruchsberechtigt sind auch Arbeitnehmer, die von Entlassungen von mindestens 500 Personen im gleichen Sektor in ein und derselben Region bzw. zwei aneinander angrenzenden Regionen betroffen sind, die über einen Zeitraum von bis zu neun Monaten erfolgten. Die Kofinanzierung der EU beträgt 50 % von insgesamt 500 Mio. € pro Jahr, die nicht aus dem EU-Haushalt stammen und fallweise bereitgestellt werden. Vom 1. September 2009 bis 30. Dezember 2011 wurde der Anwendungsbereich des EGF ausgeweitet, damit er auch >> © Imageglobe SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 / 9 Arbeitnehmer unterstützt, die als unmittelbare Folge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise entlassen wurden. Außerdem stieg die Kofinanzierungsquote der EU auf 65 %. Allerdings stimmte der EU-Ministerrat nicht zu, diese Ausdehnung des EGF über 2011 hinaus zu verlängern. Seit 2007 hat die Kommission 101 Unterstützungsanträge erhalten, die aus 20 Mitgliedstaaten stammten und sich insgesamt auf 440,5 Mio. € beliefen. Als der Bericht veröffentlicht wurde, hatten bereits rund 91 000 entlassene Arbeitnehmer EGF-Mittel erhalten oder waren gerade dabei. Die meisten Anträge kamen aus Spanien (17), gefolgt von den Niederlanden (16). Betroffen sind 33 Wirtschaftsbereiche, wobei sich 65 % aller Anträge auf das verarbeitende Gewerbe beziehen, darunter insbesondere die Automobil-, Textil-, Maschinen- und Druckindustrie. Weitere 10 % der Anträge standen mit der Bauindustrie und 10 % mit der Dienstleistungsbranche in Zusammenhang (Groß- und Einzel­ handel, IKT-Dienstleistungen, Straßengüterverkehr, Sozialarbeit, Umschlag/Lagerung und Callcenter-Kommunikationsdienste). Was kommt nach 2013? Die Kommission hat vorgeschlagen, im EU-Haushaltszeitraum 2014-2020 am EGF (für den ein mehrjähriger Finanzrahmen verabschiedet wird) festzuhalten. Anträge in Krisenzeiten (im weitesten Sinne des Wortes) könnten permanent möglich sein. Zudem könnten weitere Kategorien wie Leiharbeiter, Selbstständige und Inhaber von KMU für EGF-Mittel infrage kommen. Die Kofinanzierungsquote für die ärmeren Mitgliedstaaten würde erhöht (für die anderen bliebe sie bei 50 %) und eine Zielsetzung von 50 % Wiederbeschäftigung nach einem Jahr festgelegt. Zum Zeitpunkt der Drucklegung hatte Frankreich vorgeschlagen, den EGF zu einem wesentlich breiteren Instrument zu machen und entlassenen Arbeitnehmern bei größeren Umstrukturierungen zu helfen. Derzeit können die Mitgliedstaaten den EGF nur unter besonderen Umständen (Globalisierung oder Krise) und nur nachdem die Arbeitnehmer über ihre Kündigung informiert wurden in Anspruch nehmen. Frankreich wünscht sich, dass EU-Gelder freigegeben werden, sobald sich die Sozialpartner auf Umstrukturierungspläne für notleidende Unternehmen geeinigt haben und noch bevor die Entlassungen tatsächlich erfolgt sind. Doch ein solches Konzept würde die Bereitstellung weiterer Gelder erfordern. Und das ist angesichts der derzeitigen Haushaltskürzungen eher unwahrscheinlich. Rettung für spanische Arbeitnehmer im Automobilsektor Im Dezember 2008 reichte Spanien bei der Europäischen Kommission einen Antrag auf EGF-Finanzierung ein. Betroffen war die Automobilindustrie in den Regionen Kastilien-Léon und Aragonien. Insgesamt hatte es in beiden Regionen von Januar bis Oktober 2008 1082 Entlassungen in zwölf Unternehmen des Sektors gegeben. Die Freisetzungen waren die Folge eines schon seit Längerem rückläufigen globalen Marktanteils der EU im Kraftfahrzeugbereich. Nach den Kündigungen wurden durch den EGF aktive Beschäftigungsmaßnahmen für 588 Arbeitskräfte aus vier der größeren Unternehmen gefördert. Hierzu gehörten Beratungen, die Gestaltung des weiteren persönlichen Berufswegs, allgemeine und Fachschulungen, professionelle Unterstützung bei der Wiedereingliederung und Anreize für die Arbeitssuche. Über Kontakte zu vielen Unternehmen der beiden Regionen konnten zudem freie Stellen gefunden werden. Die Pflege dieser Beziehungen nach der Umsetzungsphase sollte die langfristigen Aussichten der Arbeitnehmer weiter verbessern. Am Ende des Umsetzungszeitraums, der sich von März 2008 bis Dezember 2009 erstreckte, hatten 184 (35,5 %) der Arbeitnehmer neue Stellen gefunden. Diejenigen, die noch keine andere Arbeit hatten, waren dennoch der Auffassung, dass die Maßnahmen ihre Beschäftigungsfähigkeit verbessert hatten. Mehr dazu: http://ec.europa.eu/egf 10 / SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 Die Kluft überwinden: Der neue Fonds würde auch Menschen erreichen, die bis dato noch keine EU-Mittel in Anspruch genommen haben. SOZIALE EINGLIEDERUNG Europäischer Hilfsfonds gegen Armut © Imageglobe Zum Zeitpunkt der Drucklegung arbeiteten die EU-Minister und das Europäische Parlament an einem Beschluss über die Schaffung eines neuen Fonds Coluche: Die Schaffung des ersten EU-Fonds für die bedürftigsten Bürgerinnen und Bürger geht auf den Gründer der „Restos du Coeur“, Michel Colucci, zurück. Die Europäische Kommission hat vorgeschlagen, einen neuen Fonds zu schaffen, um die am stärksten von Armut betroffenen Menschen in der EU zu unterstützen. Aus dem Fonds würden Programme der Mitgliedstaaten gefördert, über die Nahrungsmittel sowie andere wichtige Alltagsgüter wie Bekleidung an obdachlose Menschen und unter materieller Armut leidende Kinder abgegeben werden. Neben der materiellen Unterstützung würde der Europäische Hilfsfonds gegen Armut (FEAMD) auch Begleitmaßnahmen für die soziale Integration notleidender Menschen anbieten. Die Mitgliedstaaten würden dabei detaillierte Vergabekriterien ausarbeiten. Im Übrigen könnten die Hilfsleistungen auch von Partnerorganisationen gewährt werden, da diese die Unterstützung am besten gezielt auf lokale Bedürfnisse abstimmen können. Die kohäsionspolitische Kluft überwinden Wenn es darum geht, die Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern, Armut zu bekämpfen und soziale Eingliederung zu fördern, ist und bleibt der Europäische Sozialfonds (ESF) das wichtigste Instrument der Europäischen Union. Einige der sozial schwächsten Bürgerinnen und Bürger, die unter extremer Armut leiden, sind jedoch zu weit vom Arbeitsmarkt entfernt, als dass sie von den unterstützenden Maßnahmen der vorhandenen EU-Instrumente – darunter insbesondere der ESF – profitieren könnten. Der FEAMD würde ermöglichen, den ärmsten Menschen zu helfen und damit die Lücke in der EU-Kohäsionspolitik zu schließen. Mit materieller Unterstützung könnte diesen Menschen so weit geholfen werden, dass sie die ersten Schritte zur Überwindung von Armut und Ausgrenzung selbst unternehmen können. >> © Imageglobe SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 / 11 Nur wenn Menschen über ausreichend Nahrung und grundlegende Güter wie Bekleidung verfügen, sind sie in der Lage, einen Arbeitsplatz zu erhalten und auf diesem Weg Armut und Ausgrenzung hinter sich zu lassen. Die Umsetzung des FEAMD würde über siebenjährige operationelle Programme für den Zeitraum 2014-2020 erfolgen, für die in erster Linie die Mitgliedstaaten zuständig wären. Die mehrjährige Planung gibt die erforderliche Planungssicherheit für eine Nahrungsmangel, Obdachlosigkeit und Kinderarmut Der Europäische Hilfsfonds für die am stärksten von Armut betroffenen Personen, den die Kommission ins Leben rufen will, würde sich an die bedürftigsten der 116 Millionen Bürgerinnen und Bürger in der EU richten, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind. 40 Millionen Menschen in der EU sind von starker materieller Armut betroffen, und schätzungsweise 4,1 Millionen sind obdachlos. Materielle Armut ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen keinen Zugang zu Nahrungsmitteln in ausreichender Menge und Qualität haben. 2010 waren 8,7 % der EU-Bevölkerung (d. h. 43 Millionen Menschen) nicht in der Lage, sich jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Geflügel oder Fisch (bzw. ein gleichwertiges vegetarisches Produkt) zu leisten. Diese Zahl dürfte 2011 noch zugenommen haben. Kinder sind unterm Strich stärker von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht als der Rest der Bevölkerung (27 %, gegenüber 23 % für die Gesamtbevölkerung). So können sich 5,7 Millionen Kinder keine neue Kleidung leisten, echte strategische Programmausrichtung. Die vorgeschlagenen Verwaltungsvorschriften sind so ausgelegt, dass sie mit den spezifischen Zielen und der Zielgruppe des FEAMD vereinbar sind. In ihrem Entwurf für den langfristigen EU-Haushalt 20142020 stellte die Kommission für den FEAMD Mittel in Höhe von 2,5 Mrd. € bereit. Die Mitgliedstaaten hätten dabei 15 % der Kosten ihrer nationalen Programme zu tragen, während die verbleibenden 85 % vom Fonds übernommen würden. derweil 4,7 Millionen nicht einmal zwei Paar gut passende Schuhe besitzen (einschließlich eines Paars wetterfester Schuhe). Die praktische Seite Im Rahmen des vorgeschlagenen Fonds wären die Mitgliedstaaten für die Umsetzung eines nationalen Programms für den Zeitraum 2014-2020 zuständig. Partnerorganisationen, darunter zumeist nicht staatliche Organisationen, würden die Nahrungsmittel bzw. Güter dann an die ärmsten Menschen verteilen. Ebenso müssten sie Begleitmaßnahmen für die soziale Integration anbieten, die ebenfalls vom Fonds unterstützt werden könnten. Die nationalen Behörden könnten die Fondsmittel einsetzen, um entweder selbst Nahrungsmittel oder sonstige Güter einzukaufen und den Partnerorganisationen zur Verfügung zu stellen oder um die Partnerorganisationen mit den dafür notwendigen Mitteln auszustatten. Der Kommissionsvorschlag sieht darüber hinaus die Möglichkeit vor, Nahrungsmittel aus landwirtschaftlichen Interventionsbeständen – sofern vorhanden – zu verwenden. 12 / SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 JUGEND­ BESCHÄFTIGUNG Bessere Antworten dringend erforderlich Europäische Kommission verabschiedet Maßnahmenpaket Kommission die Umsetzung über den Prozess des Europäischen Semesters der EU-weiten wirtschaftspolitischen Koordinierung. © Imageglobe Im Übrigen konsultiert die Kommission die auf EU-Ebene zuständigen Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen zu einem Qualitätsrahmen für Praktika. Sie können die Beschäftigungsfähigkeit junger Menschen verbessern und den Weg für ein reguläres Beschäftigungsverhältnis ebnen. Dies setzt jedoch voraus, dass sie in puncto Lerninhalt und Arbeitsbedingungen von guter Qualität sind. Mehr als doppelt so hoch: 22,7 % der Jugendlichen im erwerbsfähigen Alter sind ohne Arbeit – gegenüber 9,2 % aller erwerbsfähigen Erwachsenen. 22,7 % gegenüber 9,2 %: Die Jugendarbeitslosigkeit ist mehr als doppelt so hoch wie die Quote bei den Erwachsenen. Und die Langzeitarbeitslosigkeit bei Jugendlichen (d. h. über zwölf aufeinanderfolgende Monate) stieg zwischen 2008 und 2012 um 3,7 Prozentpunkte auf 7,3 % der jungen Erwerbstätigen. Dagegen betrug der Zuwachs bei den Erwachsenen nur 1,8 Prozentpunkte (auf 4,3 %). Fast ein Jahr nach dem Start der Initiative „Chancen für junge Menschen“ (siehe Textfeld) verabschiedete die Kommission am 5. Dezember 2012 ein Maßnahmenpaket mit der Bezeichnung „Junge Menschen in Beschäftigung bringen“. Jugendgarantie Zunächst fordert die Kommission den EU-Ministerrat auf, eine Empfehlung für die EU-weite Einführung einer Ausbildungsgarantie für Jugendliche – die in einigen Mitgliedstaaten wie Finnland, Österreich und weiteren bereits besteht – auszusprechen. In diesem Rahmen erhält jeder Jugendliche unter 25 Jahren binnen vier Monaten nach Schulabschluss oder Verlust des Arbeitsplatzes ein Angebot für eine qualitativ hochwertige Arbeitsstelle, eine weiterführende Ausbildung, einen Ausbildungsplatz oder eine Praktikantenstelle. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten uneingeschränkt auf die EU-Strukturfonds zurückgreifen, insbesondere auf den Europäischen Sozialfonds. Dabei überwacht die Des Weiteren richtet die Kommission derzeit eine Europäische Ausbildungsallianz ein. Ziel ist, Angebot und Qualität betrieblicher Ausbildungssysteme zu verbessern. Diese Allianz soll Vertreter von Behörden, Unternehmen und der Sozialpartner, Fachleute für berufliche Bildung aus Wissenschaft und Praxis sowie der Jugendverbände zusammenbringen. Dabei gilt es, die verschiedenen bereits vorhandenen Aktionen unter einem gemeinsamen Dach zusammenzuführen und die Vorteile und unterschiedlichen Formen erfolgreicher Ausbildungssysteme zu fördern und weiter auszubauen. Im Rahmen der Allianz wird die Kommission auch nationale Partnerschaften für die Entwicklung dualer Ausbildungssysteme fördern. Zu diesen Partnerschaften sollten sich Vertreter der Unternehmen, die für Bildung und Beschäftigung zuständigen Behörden, die ESF-Verwaltungsbehörden und die Sozialpartner zusammenfinden. Im Folgenden werden sie gemeinsam erarbeiten, wie die Rolle von Ausbildungsverhältnissen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem der Mitgliedstaaten gestärkt werden kann und wie die nationalen ESF-Zuweisungen in die Gestaltung und Umsetzung von Systemen der dualen Berufsausbildung gelenkt werden können. Mobilität Die besondere Herausforderung der Jugendarbeitslosigkeit ist insbesondere über die Förderung der EU-internen Mobilität anzugehen – und das innerhalb eines stärker integrierten europäischen Arbeitsmarkts. Tatsächlich ist die Jugendarbeitslosigkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich, während gleichzeitig die © Imageglobe SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 / 13 Verbündeter: Die Europäische Kommission richtet eine Europäische Ausbildungsallianz ein. freien Stellen in einigen Mitgliedstaaten steigen. Dies zeigt, dass eine höhere Mobilität innerhalb der EU jungen Menschen den Zugang zu mehr Beschäftigungschancen eröffnen kann. Initiative „Chancen für junge Menschen“ – Umsetzung bereits gut vorangeschritten Dass junge Menschen für Mobilität offen sind, untermauern Programme für das Studium im Ausland wie Erasmus und Leonardo da Vinci. Im Rahmen der Initiative „Chancen für junge Menschen“, die Ende 2011 von der Europäischen Kommission ins Leben gerufen wurde, wurden mindestens 10 Mrd. € an EU-Mitteln bereitgestellt, um die Jugend­ beschäftigung zu fördern und rascher Ergebnisse zu erzielen. Zielgruppe sind die acht Mitgliedstaaten mit der höchsten Jugend­ arbeitslosigkeit in den letzten zwölf Monaten. Grenzüberschreitende Praktikums- und Lehrstellen sind noch nicht sehr weitverbreitet, obschon sie die Möglichkeit bieten, einmal in einem anderen Land zu arbeiten, ohne sich gleich auf eine langfristige Beschäftigung festlegen zu müssen. Im März 2012 rief die Kommission die „We mean business“Kampagne ins Leben, um Unternehmen besser über bestehende EU-Programme für die Förderung grenzüberschreitender Praktika zu informieren. Darüber hinaus startete die Kommission 2012 ihre erste spezifische Initiative zur Wahrnehmung EU-weiter Beschäftigungs­ möglichkeiten, „Dein erster EURES-Arbeitsplatz“. Der Name ist an die europaweite Datenbank für Stellenangebote EURES angelehnt. Die Aktion hilft jungen Menschen zwischen 18 und 30, eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat zu finden. Das System verbindet individuelle Abgleich- und Vermittlungsleistungen mit finanziellen Anreizen der EU (Zuschüsse zu den Reisekosten für Bewerbungsgespräche oder Sprachkurse). Die Kommission wird 2013 in den ersten sechs Monaten eine Konsultation mit Interessengruppen durchführen, um ein EURESProgramm für Stellen für Jugendliche zu entwickeln. Dieses wird Bestandteil der EURES-Aktivitäten des künftigen Programms für sozialen Wandel und Innovation sein, das die Kommission für den Zeitraum 2014-2020 vorgeschlagen hat. Grundlage werden die Erfahrungen mit dem Programm „Dein erster EURES-Arbeitsplatz“ und im Bildungsbereich sein. Mehr dazu: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1036&langId=de Auf EU-Ebene stellt die Kommission technische Unterstützung durch den Europäischen Sozialfonds (ESF) zur Verfügung, um zu ausbildungsorientierten Programmen, grenzübergreifender Mobilität und Projekten für soziale Innovation für Jugendliche beizutragen. Darüber hinaus erhöht sie die Möglichkeiten für Freiwilligenarbeit und die Finanzierung grenz­ überschreitender Praktika und Unternehmeraustausch. Im Anschluss an Besuche der Aktionsteams der Kommission und bilaterale Treffen zwischen der Kommission und nationalen Interessengruppen haben zahlreiche Mitgliedstaaten Maßnahmen ergriffen, um die Beschäftigung Jugendlicher zu beflügeln. Vor diesem Hintergrund erarbeiteten sie Pläne für die Jugendbeschäftigung und dehnten Programme für allgemeine und berufliche Bildung aus. Der Anhang zu der am 5. Dezember 2012 verab­ schiedeten Mitteilung der Kommission „Junge Menschen in Beschäftigung bringen“ enthält länderspezifische Informationsblätter mit den Maßnahmen, die alle Mitgliedstaaten, einschließlich Kroatien, bis dato ergriffen haben. http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=89&langId=de& newsId=1731&moreDocuments=yes&tableName=news 14 / SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 THEMA SPEZIAL politische Die Dimension von Datenanalysen Die Ausgabe des Employment and Social Developments in Europe Review von 2012 ist in vielerlei Hinsicht neuartig Wie leben und arbeiten die Menschen in der Europäischen Union? Wie verändern sie sich in dieser Hinsicht von einem Jahr auf das andere und über einen längeren Zeitraum? Seit 2011 nimmt die Europäische Kommission jedes Jahr eine Überprüfung der Entwicklungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales in Europa vor. Schlusspunkt bilden grundsätzliche politische Fragen, die mit der technischen Seite von Datenerfassung und -analyse einhergehen. Dabei kommen die führenden Köpfe der Sozial- und Beschäftigungsanalyse in der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration (DG EMPL) zu Wort, d. h. Robert Strauss and Radek Maly. Die Ausgabe von 2012, die die Kommission am 8. Januar 2013 veröffentlichte, enthält u. a. eine „dynamische“ Analyse von Langzeitarbeitslosigkeit und Armut. Grundlage sind neue „Längsschnittdaten“ (diese verfolgen individuelle Werdegänge über mehrere Zeiträume) sowie ein Kapitel über Beschäftigung und die Verteilung der Steuerlast. Weitere Artikel am Anfang und Ende dieser Sozial AgendaAusgabe drehen sich um die Erfassung und Analyse von Daten zu Beschäftigung und sozialen Entwicklungen, darunter das Editorial (S. 2) von DG EMPL-Generaldirektor Koos Richelle sowie die Rubriken „Kurznachrichten“ (S. 4) und „Andere Stimmen“ (S. 26), in der die Leiterin der Forschungsabteilung des Europäischen Gewerkschaftsinstituts, Maria Jepsen, Stellung bezieht. Im Mittelpunkt der Rubrik Thema Spezial stehen die Verfahren für Datenerhebung und -analyse. Die Frage dabei lautet, wie die Kommission Daten aus verschiedenen Politikbereichen, die traditionell separat untersucht werden, erfasst, miteinander in Verbindung setzt und analysiert. Den Auftakt bildet ein Artikel zu den zusammenfassenden Kernaussagen des Berichts zur Entwicklung von Beschäftigung und Sozialem in Europa. Mehr dazu: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=738&langId=de& pubId=7315 © zcool.com.cn Im Folgenden werden die neuen Verfahren zur Untersuchung von Daten beleuchtet, die sich mit Armut und sozialer Ausgrenzung sowie mit Langzeitarbeitslosigkeit befassen. Dynamische Analyse von Längsschnittdaten: Hinter komplexen Sachverhalten stecken grundlegende politische Fragen. Die Ursachen für Armut und soziale Ausgrenzung hängen vom politischen Rahmen in den einzelnen Ländern ab. Beschäftigung und soziale Entwicklungen aus neuer Perspektive Die Ausgabe 2012 des Berichts enthält eine „dynamische“ Analyse sowie neue Indikatoren und ein Kapitel zu steuerlichen Aspekten Der von der Europäischen Kommission am 8. Januar 2013 veröffentlichte Bericht zur Überprüfung der Entwicklungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales in Europa umfasst mehrere Neuheiten. Erstmals beruhen Teile des Berichts auf Längsschnittdaten. Dabei werden dieselben Haushalte über mehrere Jahre beobachtet und eine dynamische Analyse durchgeführt, die die Übergänge in Bereichen wie Langzeitarbeitslosigkeit und Armut beleuchtet. Insbesondere wird dabei ersichtlich, in welchem Ausmaß Armut und soziale Ausgrenzung mit dem politischen Rahmen in den einzelnen Ländern verflochten sind. Darüber hinaus befasst sich der Bericht erstmals mit steuerlichen Aspekten. Die Verlagerung der Steuerlast weg vom Faktor Arbeit – so wie von der Kommission vorgeschlagen – könnte ein guter Ansatz sein. Gleichwohl lässt sich dies über verschiedene Verfahren erreichen, wobei die Auswirkungen auf die Beschäftigung und die aus den einzelnen Möglichkeiten resultierende Umverteilung sorgfältig zu prüfen sind. Des Weiteren stützt sich der Bericht auf aktuellere soziale Daten. Um soziale Trends zu identifizieren, wurden Alternativen zu den üblichen Armutsindikatoren verwendet. Beispielsweise wurde die Entwicklung der Variablen zum Haushaltseinkommen (d. h. dem in jedem Haushalt tatsächlich verfügbaren Durchschnittsbetrag) in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung systematischer ausgewertet. Dass Menschen weniger Geld besitzen, schadet nicht nur der Wirtschaft. Es zeugt auch davon, dass die Gesellschaft ­insgesamt ärmer wird. Geht dies mit steigender Ungleichheit in einem Land einher, heißt das, dass sich die soziale Lage verschlechtert. Ebenso sollte anhand der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung die Aufgabe des sozialen Schutzes aufgezeigt werden. Zu klären war, wie sich die Einkommen entwickeln würden, wenn die Sozialfürsorgesysteme anders funktionieren würden. Der Bericht betont, dass besser abschneidende Länder auch wirksamere Fürsorgesysteme besitzen. Selbst wenn diese Länder (d. h. die nordeuropäischen Länder und Deutschland usw.) auch die reichsten sind, ist nicht immer Größe entscheidend: Ebenso kann die Ausgestaltung den Unterschied machen. So verwenden Spanien und Italien einen größeren BIP-Anteil als der EU-Durchschnitt für ihre Sozialfürsorgesysteme, sind jedoch beim Schutz von Geringverdienern und der Armutsbekämpfung nicht besonders effizient. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Großteil ihrer Sozialausgaben den Rentenkassen – statt jungen Menschen und Kindern – zugutekommt. Ein weiteres Beispiel ist Irland, das über ein äußerst zielgerichtetes Sozialfürsorgesystem verfügt. Auch wenn alleinerziehende irische Mütter recht gut unterstützt werden, gibt es für sie kaum Anreize, in den Arbeitsmarkt einzutreten, da Kinderbetreuung zu teuer ist. Dass in Irland 20 % aller Haushalte ohne Erwerbseinkommen leben, hängt teilweise damit zusammen, dass Menschen nicht in der Lage sind, in den Arbeitsmarkt einzutreten bzw. wieder ins Berufsleben einzusteigen. Das irische Sozialfürsorgesystem weist zu viele Negativanreize auf. © Imageglobe SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 / 15 16 / SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 THEMA SPEZIAL Finanzielle Notlage Eine weitere Neuheit im Bericht von 2012 ist die Festlegung eines neuen Indikators für die finanzielle Notlage. Grundlage für diesen Indikator waren Daten aus Verbraucherumfragen. Diese erfolgen gewöhnlich aus Sicht der Wirtschaft und sollen klären, wie wahrscheinlich es ist, dass Menschen bestimmte Produkte kaufen oder nicht. Der Indikator für die finanzielle Notlage verwendet diese Daten, um den Anteil der Menschen zu bestimmen, die zur Deckung ihrer laufenden Ausgaben Ersparnisse angreifen oder sich verschulden müssen. Während es armen Menschen in einigen EU-Ländern immer schwerer fällt, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, wirkte sich die Krise in anderen Ländern kaum auf die Finanzlage der Haushalte aus – unabhängig davon, ob diese arm oder reich sind. Schließlich ermöglicht der Indikator zur finanziellen Notlage ebenfalls, zeitnähere soziale Daten zu erfassen, zumal er auf monatlichen Verbraucherumfragen beruht. Weil soziale Daten auf den Jahreseinkommen der Menschen beruhen, ist ihre Erfassung gewöhnlich wesentlich aufwändiger als die Erfassung von Wirtschaftsdaten. Um den aktuellen Bezug zu verbessern, interessiert sich die Kommission nunmehr für die Monatseinkommen. Dies soll klären, ob sie gute Anhaltspunkte für die wahrscheinliche Entwicklung des Jahreseinkommens liefern. © Imageglobe Analog dazu verwendet die Kommission Simulationsmodelle, um die derzeitige Armutsquote zu schätzen. Dabei k­ ombiniert sie Daten zu Armut – für deren Erfassung zwei Jahre erforderlich sind – mit den Entwicklungen am Arbeitsmarkt und Veränderungen der politischen Grundregeln, die in der Zwischenzeit eingetreten sind. Deckung laufender Ausgaben: Der Indikator für finanzielle Notlagen ermittelt den Anteil der Menschen, die ihre Ersparnisse angreifen müssen. Wie aktuell soziale Daten sind, hängt aber auch von den dafür eingesetzten Mitteln und demgemäß dem politischen Willen ab. Mehr dazu: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=738&langId=de& pubId=7315 2012 Bericht zur Überprüfung der Entwicklungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales – Kernaussagen • Die Arbeitsmärkte der einzelnen Mitgliedstaaten driften weiter auseinander, und die soziale Polarisierung nimmt in allen Ländern zu. • Die Langzeitarbeitslosigkeit steigt – insbesondere bei jungen Menschen. • Die Nichterwerbstätigkeit ist nicht wesentlich angestiegen. • Der Abgleich von Stellenangeboten und -gesuchen funktioniert schlechter. • Die Segmentierung der EU-Arbeitsmärkte (zwischen gut geschützten Arbeitnehmern und Arbeitnehmern mit befristeten Verträgen) setzt sich fort. • Die Löhne und Gehälter sowie die Arbeitskosten passen sich allmählich an. • In einigen Mitgliedstaaten besteht das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern fort. • Die Steuerlast hat etwas nachgelassen. • Mindestlöhne könnten unterstützend gewirkt haben. • In vielen Ländern sinken inzwischen die durchschnittlichen Haushaltseinkommen. • Es gibt Anzeichen dafür, dass sich die Abfederungswirkung des Wohlfahrtsstaats abschwächt. • Ebenso gibt es Anzeichen für nachteilige soziale Effekte jüngster Steuerreformen und für Verbesserungspotenzial. • Die Einkommensungleichheiten haben sich während der Krise äußerst unterschiedlich entwickelt. • Armut und soziale Ausgrenzung sind auf dem Vormarsch. • Frauen sind nach wie vor stärker von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht als Männer. • Das Phänomen der Armut trotz Erwerbstätigkeit hat in einem Drittel der Mitgliedstaaten deutlich zugenommen. • Am stärksten betroffen sind Menschen im erwerbsfähigen Alter, Kinder, Jugendliche und Zuwanderer. • Die Risiken der langfristigen Ausgrenzung haben sich bestätigt. • Viele nationale Beschäftigungsvorgaben erscheinen mehr und mehr als ehrgeizig. • Die Vorgaben zur Armutsbekämpfung und der Reduzierung der sozialen Ausgrenzung wurden deutlich verfehlt. SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 / 17 THEMA SPEZIAL Stellenwert Gestiegener von Sozialstatistiken © Imageglobe Die Vorrangstellung der Wirtschafts- gegenüber den Sozialdaten bröckelt zunehmend Nicht alle Länder sind gleich: Ein Euro für Kindergeld kann die Armutsquote in bestimmten Ländern stärker senken als in anderen. Schon lange geht die EU der Frage nach, wie sich die Wirtschaftspolitik konkret auf die Menschen auswirkt. Dies nicht nur, was den Arbeitsmarkt betrifft, sondern auch in sozialer Hinsicht, u. a. in Bezug auf Armut und materielle Unterversorgung. Diese Art von Daten ist umso wichtiger, da sich die gegenwärtige Wirtschaftsflaute seit 2008, dem Ausbruch der Finanzkrise, hinzieht. Die Trennung zwischen Beschäftigung und sozialen Angelegenheiten zu überwinden, ist ein zentrales Anliegen der im Jahr 2010 ins Leben gerufenen Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum. Darin wurde festgelegt, wie die Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik im Rahmen eines Lenkungsverfahrens, dem sogenannten Europäischen Semester, auf jährlicher Basis zu koordinieren haben. Das Europäische Semester sieht im Gegenzug eine genaue Bewertung der Fortschritte der einzelnen Mitgliedstaaten bei der Verwirklichung der Ziele der Strategie vor – d. h. eine Beschäftigungsquote von 75 % der Erwerbsbevölkerung, die Verringerung der Zahl der Menschen in Armut um 20 Millionen usw. 2003 hat die Europäische Kommission eine Reihe gemeinsamer Beschäftigungs- und Sozialindikatoren, EU-SILC, entwickelt, die mehrdimensionale Daten zum sozialen Wohlergehen (einschließlich Gesundheit, Bildung, Arbeit und Wohnverhältnissen) und zur Einkommensverteilung liefern. Diese Datensätze dienen auch als Argumente für die länderspezifischen Empfehlungen, die die EU jeweils zur Jahresmitte den Mitgliedstaaten unterbreitet, bevor sie ihre nationalen Haushalte für das nächste Jahr erstellen. 18 / SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 THEMA SPEZIAL Kinderarmut Es wird immer schwieriger, die Beschäftigungs- und soziale Situation von Einzelpersonen gesondert zu betrachten: Ihre Beziehung zum Arbeitsmarkt einerseits und ihre soziale Absicherung anderseits sind untrennbar verbunden. Eine aussagekräftige Analyse des Phänomens Kinderarmut ist beispielsweise nur im Rahmen eines integrierten Ansatzes möglich, der soziale und beschäftigungsbezogene Aspekte berücksichtigt: Kinder leben in armen Haushalten, weil ihre Eltern auf dem Arbeitsmarkt kein ausreichendes Einkommen verdienen und das Kindergeld nicht ausreicht, um die Kosten für die Erziehung eines Kindes abzudecken. Eine Beschäftigungsanalyse könnte einen Zusammenhang zu den in einem bestimmten Land vielleicht zu niedrigen Löhnen und Gehältern herstellen. Sie könnte auch zeigen, dass die Eltern nicht in der Lage sind, in ausreichendem Maße am Arbeitsmarkt teilzunehmen, weil nur einer von ihnen arbeitet. Oder aber beide gehen einer Beschäftigung nach, sind jedoch in befristeten oder prekären Arbeitsverhältnissen. Dies wiederum wirft die Frage der Hemmnisse für die Aufnahme einer Arbeit auf: In einigen Mitgliedstaaten sind die Kosten für die Kinderbetreuung so hoch, dass es sich für die Mutter nicht lohnt, wieder ins Berufsleben einzusteigen. Eine soziale Analyse untersucht die Auswirkungen von Sozialleistungen, und ob sie die Kosten für die Erziehung eines Kindes abdecken oder nicht und dazu beitragen, Familien aus der Armut zu holen. Ein Euro für Kindergeld kann die Armutsquote in bestimmten Ländern stärker senken als in anderen. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass bestimmte Transferleistungen universell, andere jedoch zielgruppenorientiert sind. Unterschiede im Laufe der Zeit Für ein umfassendes Bild der Phänomene Armut und soziale Ausgrenzung ist jedoch ein besseres Verständnis der Prozesse vonnöten. Dies kann durch die Ergänzung von Querschnittdaten (aus der Beobachtung zu einem bestimmten Zeitpunkt, ohne Rücksicht auf Unterschiede im Zeitablauf) durch Längsschnittdaten erreicht werden, die die Situation von Einzelpersonen über einen Zeitraum von mehreren Jahren erfassen. Die Querschnittdaten liefern eine statische Analyse, während die Längsschnittdaten eine dynamische Analyse ermöglichen. Sie verfolgen, wie Menschen in bestimmte Beschäftigungs- und soziale Situationen hineingeraten bzw. wieder herauskommen. Insbesondere die Längsschnittdaten geben Hinweise auf die Ursachen für die Entwicklung der Armut über einen gewissen Zeitraum. Beispielsweise kann sich jemand, der ein Jahr lang in Armut gelebt hat, im Folgejahr aus der Armut befreien und im nächsten Jahr wieder in die Armut abrutschen – ein Phänomen, das als „wiederkehrende Armut“ bekannt ist. Andere wiederum können kurze, aber einmalige Armutsphasen durchleben. Den „statischen“ Querschnittdaten für den Zeitraum 2006-2009 zufolge lag die durchschnittliche Armutsgefährdungsquote in der EU unter der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bei 14 %. Aus einer dynamischen Analyse der Längsschnittdaten geht jedoch hervor, dass in dieser Zeitspanne doppelt so viele Menschen – 28 % der EU-Bevölkerung – zumindest einmal Armut erlebt haben! Eine klare Trennung zwischen „den Armen“ auf der einen und „dem Rest“ der Bevölkerung auf der anderen Seite ist jedenfalls nicht möglich. Soziale Daten sind in zunehmendem Maße mehrdimensional, dynamisch und zeitnah. Sie schließen daher, was ihre Bedeutung angeht, immer mehr zu den Beschäftigungs- und Wirtschaftsdaten auf. Diese drei Arten von Daten bilden zusammen das Grundgerüst für eine umfassendere und stärker integrierte politische Vision: integratives Wachstum. Der dynamische Charakter der Armut Armut und soziale Ausgrenzung sind in vielen Mitgliedstaaten auf dem Vormarsch, und insbesondere bei bestimmten Bevölkerungsgruppen ist eine Verschärfung der Lage zu beobachten. Dies erhöht auch die Gefahr eines Anstiegs langfristiger Ausgrenzung. Um besser zu verstehen, was zur Bekämpfung und Vermeidung von Armut und langfristiger Ausgrenzung unternommen werden kann, ist der dynamische Charakter dieser Phänomene in Betracht zu ziehen. Die Gefahr, in Armut zu geraten bzw. die Chancen, wieder herauszukommen, ist von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich. Eine evidenzbasierte Profilerstellung für die verschiedenen, von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffenen Bevölkerungsgruppen legt nahe, dass Menschen, die über längere Zeit in der Armutsfalle gefangen sind oder in anhaltender Armut leben, im Vergleich zu Menschen mit kürzeren (möglicherweise wiederkehrenden) Armutsphasen über ein bestimmtes Profil verfügen. http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=738&langId= de&pubId=7315 SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 / 19 THEMA SPEZIAL Langzeitarbeitslosigkeit © Imageglobe Neue Art von Daten vermitteln besseres Bild von der Realität hinter den Statistiken Immer länger: Die Zahl befristet beschäftigter Arbeitnehmer, die nunmehr langfristig beschäftigt sind, steigt deutlich. Wer sind diese Arbeitslosen, die in all den statistischen Erhebungen gezählt werden? Statische Gesamtzahlen können zwar die Arbeitslosenrate zu einem bestimmten Zeitpunkt wiedergeben, sie sagen jedoch nichts darüber aus, ob dieselben Personen wie in der letzten Erhebung betroffen sind. Auch die Übergänge, die diese Menschen durchmachen, bleiben ganz im Dunkeln. Was haben sie getan, bevor sie ihren Job verloren haben? Was für einen Arbeitsvertrag hatten sie? Was ist aus den sogenannten Kurzzeitarbeitslosen der letzten Erhebungen geworden? Und wie geht es denen, die gerade kurzzeitarbeitslos sind? Eurostat, das Statistische Amt der EU, hat 2012 aus der EU-Arbeitskräfteerhebung erstmals Längsschnittdaten (siehe vorherigen Artikel) extrahiert, die die Entwicklung des Erwerbsstatus in 17 EU-Mitgliedstaaten über einen Zeitraum von einem Jahr – 2005 auf 2006, 2006 auf 2007 usw. bis 2010 auf 2011 – zeigen. Damit ist nunmehr eine dynamische Analyse möglich: Berechnung der Fluktuationsrate unter den Arbeitslosen und Ermittlung der Faktoren, die zu Langzeitarbeitslosigkeit führen. Deutlicher Anstieg Es zeigt sich ein deutlicher Anstieg der Zahl früher Kurzzeitund jetzt Langzeitarbeitslosen, während ein erheblicher Teil der Befragten, die zuvor langzeitarbeitslos waren, sich jetzt als „nicht erwerbstätig“ einstuften, d. h. nicht mehr für den Arbeitsmarkt verfügbar oder einfach entmutigt (wollen arbeiten, sind aber nicht mehr auf Jobsuche). Dennoch ist die allgemeine Nichterwerbsquote nicht gestiegen. Dies steht in krassem Gegensatz zu früheren Rezessionen, als die Leute aufgefordert wurden, den Arbeitsmarkt ganz zu verlassen. Die Langzeitarbeitslosigkeit nimmt in den meisten EU-Mitgliedstaaten zu, insbesondere in den am stärksten von der gegenwärtigen Krise betroffenen Ländern (den baltischen Staaten, Spanien, der Slowakei und Griechenland). Der Anstieg dürfte noch eine gewisse Zeit anhalten. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Erwerbsbevölkerung ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat sehr unterschiedlich. In Österreich liegt er bei nur 1 %, in der Slowakei hingegen bei 9 %. 90 % der Zunahme der Zahl der Langzeitarbeitslosen seit 2008 sind jedoch auf 8 Länder konzentriert, 43 % entfallen allein auf Spanien. Männer, geringqualifizierte und junge Menschen Aus der dynamischen Analyse geht hervor, welche Gruppen von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind. Zur Jahrhundertwende traf es noch vor allem Frauen, seit 2007 hat sich der Trend jedoch umgedreht: Die Auswirkungen der Krise auf die Bauwirtschaft und die Schwerindustrie haben die Zahlen bei den Männern in die Höhe getrieben. 20 / SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 THEMA SPEZIAL Allerdings wechseln Frauen eher in die Kategorie „Nichter­ werbsperson“ und bleiben dort für einen längeren Zeitraum: Die Betreuung nicht nur von Kindern, sondern auch der Eltern (der eigenen und manchmal auch der des Partners) ist in der Praxis oft Frauensache. Dies wirft nicht nur die Frage nach einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis, sondern auch nach der Verfügbarkeit erschwinglicher Dienstleistungen für die Betreuung abhängiger Menschen auf. Der Anteil der jungen Arbeitslosen, die einen Arbeitsplatz gefunden haben, ist gesunken (von 40 % im Zeitraum 20062007 auf 30 % für 2010/2011). In der Vergangenheit lag dieser Wert noch über dem der 25-49-jährigen Arbeitnehmer. Bei den Höchstqualifizierten ist der Anteil zwar von 48 auf 40 % zurückgegangen, liegt aber immer noch weit über dem der Geringqualifizierten (Rückgang von 33 auf 24 %). Es konnte auch gemessen werden, wie sich die jeweilige berufliche Situation vor dem Jobverlust auf die weitere Entwicklung der Personen auswirkt. Menschen, die in Sektoren wie der Bauwirtschaft, dem Hotel- und Gastgewerbe oder im Bereich der Verwaltungsdienstleistungen für Unternehmen tätig waren, haben es doppelt schwer: Einerseits haben sie ein hohes Arbeitslosigkeitsrisiko, und zudem ist für sie die Wahrscheinlichkeit, eine neue Stelle zu finden, am geringsten. Beständigkeitsraten Die dynamische Analyse gibt ebenfalls Aufschluss über den Grad der Beständigkeit der Arbeitslosigkeit: Das heißt, wie die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt oder die Beständigkeit von Langzeitarbeitslosigkeit abschneiden. So waren die nördlichen EU-Länder anfänglich zwar schwer von der Krise betroffen, weisen jedoch eine niedrige Beständigkeitsrate und folglich eine hohe Wiedereingliederungsrate auf. Policy-Mix aus Arbeitslosenunterstützung, aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, Kündigungsschutz und Lohnergänzungsleistungen, um die Arbeitslosen zu schützen, aber auch zu aktivieren. Der passende Policy-Mix ist für jedes Land unterschiedlich, es gibt keine universelle Lösung.“ Länderspezifischer Policy-Mix Der Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit war uneinheitlich zwischen den Mitgliedstaaten und in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, Berufsfeldern und Branchen. Die Wahrscheinlichkeit, einen Arbeitsplatz zu finden, ist für Kurzzeitarbeitslose größer als für Langzeitarbeitslose, während die Übergangsquoten in Beschäftigung für beide Gruppen rückläufig sind. Zur Verhinderung und Eindämmung der Langzeit­ arbeitslosigkeit ist ein länderspezifischer, auf die verschiedenen Gruppen zugeschnittener Policy-Mix erforderlich (z. B. für Kurzzeitarbeitslose mit geringem bzw. hohem Risiko für Langzeitarbeitslosigkeit und für die, die bereits lange Zeit beschäftigungslos sind). Es gibt keinen universellen Policy-Mix. Um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen angemessenem Einkommensschutz und entsprechenden Arbeitsan­reizen herstellen zu können, bedarf es sowohl funktionierender Unterstützungssysteme für Arbeitslose als auch wirksamer Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik. http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=738&langId=de &pubId=7315 Im Kapitel über die Langzeitarbeitslosigkeit des Berichts aus dem Jahr 2012 über die Entwicklungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales steht abschließend: „Die verfügbaren Daten sprechen für eine Förderung günstiger institutioneller Rahmenbedingungen, nämlich eines gut ­abgestimmten © Imageglobe In Bulgarien, Griechenland und der Slowakei dagegen stehen die meisten Arbeitslosen nach einem Jahr noch nicht wieder in Arbeit. In Italien rechnen sich 40 % der Langzeitarbeitslosen ein Jahr später der Kategorie „nicht erwerbstätig“ zu. Dies ist auf die hier niedrige Arbeitslosenunterstützung, auf die mangelnde Effizienz der öffentlichen Arbeitsverwaltung und die fehlende soziale Unterstützung (z. B. Kinderbetreuung) zurückzuführen. Hartnäckige Arbeitslosigkeit: In Griechenland sind die meisten Arbeitslosen auch ein Jahr später noch arbeitslos. SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 / 21 THEMA SPEZIAL faktengestützte Grundlage für Politik schaffen © Europäische Union Radek Maly und Robert Strauss sind in der Europäischen Kommission für den Bereich Sozial- bzw. Beschäftigungsanalyse zuständig Kombination von Statistiken zu Sozial- und Beschäftigungsanalyse: Radek Maly (links) und Robert Strauss (rechts). Was bringt es, Statistiken und Analysen der Bereiche Soziales und Beschäftigung zu kombinieren? Robert Strauss: So kann eine gemeinsame Wissensbasis und damit die Grundlage für eine faktengestützte Politik in diesen Bereichen geschaffen werden. Krisenbedingte Arbeitslosigkeit wirkt sich unmittelbar auf die Einkommen der Menschen aus. Ein funktionierendes System der sozialen Sicherheit kann diese Folgen zwar abfedern, früher oder später schlägt dies jedoch auf die Einkommenssituation durch und beeinflusst daher auch die Sozialpolitik. Wirksam und kostengünstig arbeitende soziale Dienste können dazu beitragen, die Teilhabe der Menschen am Arbeitsmarkt zu verbessern. Ein gutes Beispiel dafür ist die Kinderbetreuung für Alleinerziehende – alleinstehende Mütter – oder Frauen im Allgemeinen. Die Verfügbarkeit solcher Dienste ist sowohl in sozial- als auch beschäftigungspolitischer Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Haben soziale Daten denselben Stellenwert wie Beschäftigungsdaten? Radek Maly: Die Krise hat aufgezeigt, dass dringend aktuelle Sozialstatistiken benötigt werden. Wir haben einfach nicht genügend zeitnahe Daten, um Untersuchungen der sozialen Entwicklung in den Mitgliedstaaten zu unterstützen und, was noch wichtiger ist, eine wirksame Überwachung der Fortschritte bei der Verwirklichung des Europa-2020-Ziels zu gewährleisten, 20 Millionen Menschen aus Armut und sozialer Ausgrenzung herauszuführen. Die Einkommensdaten aus den auf EU-Ebene durchgeführten Erhebungen sind meist zwei oder drei Jahre alt. Als es wie in den frühen 2000er-Jahren stabile Entwicklungen und relative schwache Konjunkturzyklen gab, war dies vielleicht noch eher hinnehmbar. Seit dem Ausbruch der Krise ist das aber völlig inakzeptabel. Es gibt durchaus Möglichkeiten, diese Situation zu verbessern. Wir arbeiten derzeit diesbezüglich eng mit unseren Kollegen bei Eurostat zusammen. Was ist die Ursache dieses Aktualitätsproblems? Robert Strauss: Zum Teil ist es vielleicht einem Ressourcenmangel zuzuschreiben, vor allem jedoch ist es ein methodisches Problem: Der Großteil der Zahlen zum Thema Armut oder Einkommensverteilung basiert auf Einkommensdaten. Diese werden jedoch per Definition auf Jahresbasis erhoben, denn das Monatseinkommen unterliegt oft Schwankungen. Aussagekräftige Daten über das Jahreseinkommen beziehen sich daher immer auf das vorhergehende Jahr. Und auch die unterschiedlichen Methoden, in den einzelnen Mitgliedstaaten soziale Daten zu sammeln, führen zu weiteren Verzögerungen: In einigen Ländern basieren sie auf Verwaltungsberichten, in anderen auf Umfragen, in denen das letztjährige Jahreseinkommen abgefragt wird. Armut kann nicht auf Zahlen reduziert werden Hohe Arbeitslosenzahlen haben schon so manche Regierung zu Fall gebracht. Könnte eine hohe Armutsrate dasselbe bewirken? Radek Maly: Armut ist ein sehr komplexes Phänomen, das nicht so einfach beschrieben und in Zahlen gefasst werden kann, die als Wahlkampfargument taugen. In Bezug auf Armut und soziale Ausgrenzung verfolgen wir einen 22 / SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 © Imageglobe THEMA SPEZIAL Kurz vor der Belastungsgrenze: Aufgrund der Sparmaßnahmen der Regierung ist es dringlicher denn je, Sozialausgaben als Investitionen in Produktivität zu betrachten. recht komplexen dreifachen Ansatz, der einerseits das nationale Medianeinkommen, den Faktor materielle Entbehrung (Menschen, die sich wesentliche Haushaltsausgaben nicht leisten können) und den Anteil der Personen in erwerbslosen Haushalten, d. h. den Beschäftigungsaspekt, berücksichtigt. Diese ziemlich komplexe Struktur wurde von den Mitgliedstaaten bereits angenommen, wird in wissenschaftlichen Kreisen aber noch heiß diskutiert. Analysen und Statistiken müssen für das (von der Europäischen Kommission zum Zeitpunkt der Drucklegung vorbereitete) Sozialinvestitionspaket (SIP) von entscheidender Bedeutung sein? Robert Strauss: Auf jeden Fall. Das SIP enthält Dokumente über die jüngsten sozialen Entwicklungen und die Messung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Es behandelt Fragen wie die Kosten der Armut, und eine Empfehlung zur Kinderarmut ist ebenfalls dabei... Sozialausgaben als produktive Investitionen zu verstehen, ist kein völlig neuer Ansatz. Die jüngsten Entwicklungen, d. h. die Sparmaßnahmen der nationalen Regierungen, haben den Handlungsbedarf für Maßnahmen auf EU-Ebene erhöht. Um die langfristige Nachhaltigkeit von Wachstum zu gewährleisten, bedarf es Investitionen, um das vorhandene Humankapital zu erhalten und seine Zukunftsfähigkeit im Rahmen eines lebenszyklusorientierten Ansatzes, vom Kleinkindalter an, zu sichern. Meinen Sie, dass Beschäftigungsstatistiken und -analysen dazu beitragen, die Lücke zwischen sozialen und wirtschaftlichen Analysen zu schließen? Radek Maly: Ja, Arbeitsmarktanalysen waren immer sehr wichtig in der Ökonomie, die EU-Beschäftigungsstrategie hatte jedoch seit Anbeginn im Jahre 1997 immer eine recht ausgeprägte soziale Komponente. Und in den beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU ging es von Anfang an nicht bloß um die Zahl der Arbeitsplätze, sondern auch um ihre Qualität. Beschäftigung wurde nie nur als Motor für Wirtschaftswachstum gesehen, sondern auch als Instrument der sozialen Integration. Es herrscht allgemeine Einigkeit darüber, dass die große Mehrheit der Menschen die Möglichkeit zur Teilhabe am Arbeitsmarkt haben sollte; ausgenommen sind nur Schwerstbehinderte und Schwerkranke. Alle andere sollten, um ihrer selbst und der Gesellschaft willen, ermutigt und unterstützt werden, einer bezahlten Beschäftigung nachzugehen. Keine starke Wirtschaft ohne soziale Komponente Die Arbeitsmarktpolitik auf EU-Ebene hat also immer auch ein soziales Ziel? Robert Strauss: Das SIP versucht zu verdeutlichen, dass die soziale Komponente ein fester Bestandteil nicht nur eines SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 / 23 THEMA SPEZIAL s­tarken Europas, sondern einer starken Wirtschaft ist. In Europa sind es insbesondere die stärksten Länder, die eine ausgeprägte soziale Dimension aufweisen. Und dies nicht nur, weil sie es sich leisten können, sondern vor allem weil das ihre soziale Vision ist. Die Ausnahme in der Welt sind die Vereinigten Staaten. Die aktuelle Krise hatte ihren Ausgangspunkt jedoch in den USA. Der produktive Beitrag von Sozialausgaben ist in besseren Zeiten ein bisschen in Vergessenheit geraten. Vor dem Hintergrund der aktuellen Sparmaßnahmen gilt es, dieses Argument wieder aufzugreifen. Den Ruf nach einem Lebenszyklusansatz und lebenslangem Lernen gibt es schon seit 25 Jahren, zumindest die Vorschulerziehung hat dadurch an Stellenwert gewonnen. zeigen, dass jeder zum frühesten Zeitpunkt in Bildung, d. h. in Vorschulerziehung investierte Euro volkswirtschaftlich mehr bringt als in jeder anderen Lebensphase. Im Bereich Arbeitsund Gesundheitsschutz ist auch hinlänglich belegt, dass kleine Investitionen die Kosten infolge von Arbeitsunfällen drastisch senken können. Gleiches gilt für Maßnahmen zur Bekämpfung von Kriminalität und Drogenabhängigkeit. Die Kinderbetreuung ist also der Prüfstein für einen wirklich integrierten Ansatz? Robert Strauss: In der Öffentlichkeit ist die Meinung weit verbreitet, dass Sozialausgaben eher Kosten als Investitionen sind. In vielen Ländern tut die Presse ihr Übriges dazu. Die Überzeugungsarbeit ist oft sehr mühselig, obwohl die Belege eigentlich nicht schwer zu finden sind. Eine größere Herausforderung ist vielleicht, dass viele der Primärdaten, die im Rahmen von Umfragen gesammelt werden oder direkt aus Verwaltungsquellen stammen, auf europäischer Ebene nicht so einfach verfügbar sind. Politiker wollen die neuesten harten Wirtschaftsdaten, einschließlich der Arbeitslosenzahlen, um daraus die aktuelle Wirtschaftsentwicklung abzulesen. Sie werden sich langsam bewusst, dass sie auch soziale Daten benötigen, um die Auswirkungen ihrer Maßnahmen, u. a. auf die Arbeitslosenzahlen, besser einschätzen zu können. Erfordert ein solcher vorbeugender Ansatz ein Umdenken? © Imageglobe Radek Maly: Das immer schon starke Engagement der Kommission für Kinderbetreuungseinrichtungen hatte von Anfang an eine ausgeprägte beschäftigungspolitische Dimension, um beiden Elternteilen die Berufstätigkeit zu ermöglichen. Man war immer der Ansicht, dass dies eine der besten Möglichkeiten ist, zu verhindern, dass sich Armut von Generation zu Generation fortsetzt. Erschwingliche Kinderbetreuung ist ein Weg, um diesen Kreislauf zu durchbrechen. Dadurch erhalten Kinder aus sozial benachteiligten Familien eine Chance auf professionelle Vorschulerziehung und damit auch auf sozialen Aufstieg. Wir konnten ganz klar Politiker werden sich langsam über die Bedeutung von sozialen Daten bewusst Die Kosten von Kinderarmut: Gewisse Investitionen sind unverzichtbar, um das vorhandene Humankapital zu bewahren – und das schon ab dem frühen Kindesalter. 24 / SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 SOZIAL­ WIRTSCHAFT Lektionen aus der Praxis Nationale, regionale und lokale Behörden erkennen zunehmend das Potenzial von Sozialunternehmen an © Europäische Union Sie produzieren Güter zu erschwinglichen Preisen und erbringen qualitativ hochwertige Dienstleistungen, die kollektive Bedürfnisse erfüllen. Auch spielen sie eine wichtige Rolle, was die soziale Eingliederung und die Hilfe zur Selbsthilfe angeht, da sie Menschen aus benachteiligten Gruppen beschäftigen und soziale Dienstleistungen für schutzbedürftige Personen anbieten. Gut für die Menschen und für die Wirtschaft: In sozialen Unternehmen steckt viel Potenzial für integratives Wachstum und nachhaltige Arbeitsplätze. Konzepte wie integratives Wachstum, Sozialinvestitionen usw. versuchen, die Kluft zwischen Wirtschaft und Sozialem auf EU-Ebene zu schließen. In der Praxis haben zwei Millionen Unternehmen in der EU diese Kluft bereits erfolgreich überwunden. Im Zeitraum 2002-2003 bzw. 2009-2010 stieg der Anteil der Sozialwirtschaft an der Beschäftigung in Europa von 11 auf 14,5 Mio. Arbeitsplätze (6,5 % der Erwerbstätigen in der EU). Die Sozialwirtschaft ist in ihrer jetzigen Form 150 Jahre alt, hat ihr Potenzial aber lange noch nicht ausgeschöpft. In einigen EU-Mitgliedstaaten steckt sie noch in den Kinderschuhen. Soziale Unternehmen stellen eine weitgehend unerschlossene Quelle für integratives Wachstum und nachhaltige Arbeitsplätze dar. Sie sind Vorreiter bei der Erschließung neuer Märkte und Schaffung zukunftsfähiger Jobs in Schlüsselbereichen wie Gesundheit, beruflicher Integration, Bildung und lebenslangem Lernen, Kultur, grüner Wirtschaft, digitaler Gesellschaft, fairem Handel, Verkehr und Gemeinschaftsentwicklung im Allgemeinen. Sie sind auch oft an zivilgesellschaftlichen Initiativen im Hinblick auf sozialen Wandel und Innovation beteiligt. So sind sie Pioniere in der Emissions- und Abfallvermeidung sowie im Bereich der Energieeffizienz und partizipativen Internetnutzung. Widerstandsfähiger Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise beschäftigen soziale Unternehmen (bezogen auf den Umsatz) i. d. R. mehr Mitarbeiter als normale Kleinunternehmen. Oft sind hier aktive Bürgerinnen und Bürger mit Kontakt zur Basis tätig, die ein Gespür für neue Bedürfnisse haben. Sie konnten, auf die Grundwerte Solidarität und Zusammenarbeit setzend, auch der Krise besser trotzen. Die aktuelle Krise entwickelt sich immer mehr von einer Finanz- und Wirtschaftskrise zu einer sozialen Krise. Dies erfordert ein Umdenken in der Wirtschafts- und Sozialpolitik und eine Wiederbesinnung auf die Werte soziale Gerechtigkeit und Solidarität – genau das, wofür die Sozialwirtschaft steht. Soziale Unternehmen haben jedoch auch mit speziellen Nachteilen und Hindernissen zu kämpfen. Sie kommen schwerer an Kredite und in den Rechtsvorschriften bzw. der Verwaltungspraxis im öffentlichen Beschaffungswesen, im Bereich der staatlichen Beihilfen und Besteuerung sowie von den Finanzmärkten wird ihren Besonderheiten nicht ausreichend Rechnung getragen. Sozialen Unternehmern fehlt es manchmal auch an betriebswirtschaftlichen Kompetenzen. Statistiken und Instrumente, die den gesellschaftliche Mehrwert messen, den soziale Unternehmen erbringen, sind ebenfalls Mangelware. Ein spezielles „Ökosystem“ Nationale, regionale und lokale Behörden werden sich langsam bewusst, welches Potenzial soziale Unternehmen bergen, und die Europäische Kommission bemüht sich, diesen Prozess zu unterstützen. Ihr Ziel ist es, ein für ihre Entwicklung förderliches „Ökosystem“ zu schaffen. „Work in stations“: Eine Fahrradreparaturwerkstatt nach Prinzipien der sozialen Wirtschaft neben einem Bahnhof in Brüssel, Belgien, die EU-Mittel erhält. 2011 hat die Kommission die Initiative für soziales Unternehmertum angenommen. Es handelt sich dabei um einen EU-Aktionsplan, der den Zugang zu Finanzmitteln für Sozialunternehmen erleichtern, ihre Sichtbarkeit erhöhen und ihr rechtliches Umfeld verbessern soll. Ziel ist, die Benachteiligung gegenüber anderen Unternehmensformen zu vermeiden. Das im April 2012 verabschiedete Beschäftigungspaket kurbelt die Nachfrage nach Arbeitskräften und die Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Förderung und Unterstützung von Selbständigkeit, Sozialunternehmen und Unternehmensgründungen an. Im EU-Haushaltsplanungszeitraum 2007-2013 hat die Kommission die Bereiche soziale Innovation, Sozialwirtschaft und soziale Erprobung im Rahmen des Europäischen Sozialfonds (6 Mrd. € für soziale innovative Ansätze), des Programms PROGRESS (10 Mio. € für die sozialpolitische Experimente) und des europäischen ProgressMikrofinanzierungsinstruments (203 Mio. € für Mikrokredite zur Gründung und Entwicklung von Kleinstunternehmen) finanziell unterstützt. Die im Dezember 2011 von der Kommission ins Leben gerufene Initiative „Chancen für junge Menschen“ stellt ESF-Mittel in Höhe von 3 Mio. € für technische Hilfe bei der Einrichtung von Förderprogrammen für junge Existenzgründer und Sozialunternehmer bereit. ihre ESF-Programme ­ aufnehmen. Solche Aktivitäten wären die Unterstützung bei der Geschäftsentwicklung oder der Umstellung der Geschäftstätigkeit von Sozialunternehmen, beim Zugang zu Finanzmitteln (auch über Finanzinstrumente) sowie Kampagnen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit und Verbesserung der Anerkennung des Sektors. Die Kommission hat ferner vorgeschlagen, das Programm PROGRESS, das europäische Progress-Mikrofinanzierungs­ instrument und das EURES-Netzwerk der Arbeitsverwaltungen zu einem einzigen Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation zusammenzufassen und den Interventionsbereich zu erweitern. Mindestens 17 % der Progress-Mittel würden für die Förderung sozialpolitischer Experimente im Hinblick auf die Umsetzung sozialer Innovationen bereitgestellt. Quer durch alle Wirtschaftssektoren Sozialunternehmen sind laut EU-Definitionen Unter­ nehmen, denen es, unabhängig von ihrer Rechtsform, eher um die Erzielung messbarer, positiver sozialer Auswirkungen denn um die Erwirtschaftung von Gewinnen geht, und die den Profit in erster Linie zur Erreichung ihres vorrangigen Ziels einsetzen. 70 % der Beschäftigten der Sozialwirtschaft sind in gemeinnützigen Vereinen, 28 % in Genossenschaften und 3 % in Gegenseitigkeitsgesellschaften tätig. Investitionsschwerpunkt Für die nächste Haushaltsperiode 2014-2020 hat die Kommission vorgeschlagen, den Investitionsschwerpunkt Sozialwirtschaft und Sozialunternehmen einzuführen. Dadurch könnten die EU-Mitgliedstaaten auf der Grundlage eines integrierten politischen Rahmens für die Förderung der Sozialwirtschaft und des sozialen Unternehmertums gezielte Maßnahmen in Sozialunternehmen sind in fast allen Wirtschafts­bereichen anzutreffen, einschließlich Banken, Versicherungen, Landwirtschaft, Handwerk und verschiedener kommer­ zieller Dienstleistungen. http://ec.europa.eu/enterprise/policies/sme/promotingentrepreneurship/social-economy © Europäische Union SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 / 25 26 / SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 ANDERE STIMMEN Schlüsselrolle der Sozialwissenschaften Schon vor dem Ausbruch der Krise im Jahr 2008 stand der Wohlfahrtsstaat vor erheblichen Herausforderungen und auch mit dem sozialen Zusammenhalt stand es schon damals nicht zum Besten. Dies betraf nicht nur Finanzierungs-, sondern auch Verwaltungsfragen sowie die Anpassung an die veränderten wirtschaftlichen und sozialen Strukturen. Die leeren Staatskassen, die ständig steigende Arbeitslosigkeit, die Stagnation der Produktivität und die Alterung der Bevölkerung tragen nunmehr zusätzlich zur Verschärfung der Lage bei. Dabei stellt sich die Frage, was die Mitgliedstaaten über ihre Institutionen und Politik tun können, um auch künftig das Wohlergehen aller Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten? Sozial- und beschäftigungspolitische Analysen können mithelfen, Schlichtungsbedarf, Spannungen und Widersprüche auszumachen und hervorzuheben, die von den politischen Entscheidungsträgern angegangen werden müssen. Sie können dazu beitragen, Bekanntes von Unbekanntem zu trennen, komplexe Sachverhalte zu entwirren, Verborgenes sichtbar zu machen, und auf die bestehenden politischen Optionen und ihre Auswirkungen hinweisen. Sie können auch Anstoß für die Sammlung von Daten und Informationen sein, die für ein besseres Verständnis der Inputs, Prozesse und Outputs der Institutionen und politischen Maßnahmen erforderlich sind. Damit schaffen sie die Grundlagen für eine faktengestützte Politik. Evidenzbasierte Forschung Evidenzbasierte, d. h. auf wissenschaftliche Belege gestützte Forschung kann auf unterschiedliche Weise betrieben werden und auf verschiedenen Modellen beruhen. Am weitesten verbreitet ist der evaluative Ansatz, der von politischen Problemstellungen ausgeht und auf die Beantwortung von Fragen abzielt wie: Welche Maßnahmen sind und unter welchen Umständen wirksam? Dieses Modell der evidenzbasierten Forschung nimmt den gegenwärtigen Zustand als Ausgangspunkt und grenzt die zu untersuchenden Faktoren auf das konkrete Problem ein. Ziel ist es, in einem bestimmten Kontext Lösungen und Anpassungen vorzuschlagen. Dieser Ansatz dient oft zur Ermittlung bewährter Verfahren als Orientierungshilfe für politische Ansätze und offene strategische Fragen. Am anderen Ende des Spektrums steht der „Problemsuch“Ansatz, bei dem es keine oder kaum Grenzen zwischen Forschung, Gesellschaft und Politik gibt. Er beruht auf kritischer Sozialforschung und ist nicht auf die Anpassung oder Aufrechterhaltung eines gegenwärtigen Zustands ausgerichtet. Es geht dabei weniger darum, Probleme zu vereinfachen und zu lösen, sondern vielmehr darum, neue und kritische Fragen zu stellen. Die evidenzbasierte Forschung auf einen Ansatz zu beschränken, würde dem Potenzial der Sozialwissenschaften als Instrument der politischen Gestaltung nicht gerecht werden. Ihr Ziel ist es nämlich nicht nur, politisch relevante Fragen zu beantworten, sondern auch zu einem anderen Verständnis der Fragestellungen beizutragen. Nachhaltige Beziehung Die Beziehung und Zusammenarbeit zwischen Forschern und Politikern ist natürlich für den Erfolg des Prozesses von entscheidender Bedeutung. In einigen Ländern ist die faktengestützte Politik schon lange Tradition. In anderen ist diese Beziehung hingegen komplizierter und weniger institutionalisiert. © ETUI Eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Forschung und Politik muss auf folgenden Grundsätzen beruhen: Respekt für die jeweilige Rolle des anderen, Vertrauen, Akzeptanz von Nähe und Distanz sowie Transparenz. Zeit und Kapazitätenaufbau sind auf beiden Seiten erforderlich, um geeignete Formen für den Dialog über Fragen, Methoden sowie die Ergebnisse zu finden und von einem linearen zu einem interaktiven Modell der Forschung zu kommen. Maria Jepsen: Die Analyse der Sozial- und Beschäftigungspolitik kann die notwendigen Grundlagen für eine faktengestützte Politik schaffen. Forschung zur Unterstützung der Politik kann und darf jedoch die Politik nicht ersetzen. Die Grundlage für soziale Gerechtigkeit in unseren Gesellschaften zu schaffen, ist eine hoch politische und richtungsweisende Frage, die nicht allein den Sozialwissenschaftlern überlassen werden darf. Maria Jepsen Leiterin der Forschungsabteilung des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI) SOZIAL AGENDA / FEBRUAR 2013 / 27 Max Uebe: Von der Wiedervereinigung Zyperns bis zu Jugendarbeitslosigkeit: konkrete Sachverhalte anpacken, bei denen die EU Berge versetzen kann. INTERVIEW Max Uebe ist seit Februar 2012 Leiter des Referats für Jugendbeschäftigung, Unternehmertum und Mikrofinanzierung der GD Beschäftigung und Soziales der Europäischen Kommission. © Europäische Union Von einem heißen Eisen zum nächsten Ihr erster Job in der Europäischen Kommission war die Wiedervereinigung und EU-Mitgliedschaft Zyperns? Ja, von 2002 bis 2005 habe ich im Zypern-Team der GD Erweiterung gearbeitet. Im Frühjahr 2004 wurde ich in das Team der Vereinten Nationen Team zur Verhandlung der Wiedervereinigung der Insel aufgenommen. Der oberste Chef war Peruaner, mein direkter Vorgesetzter Inder, und ich arbeitete eng mit einer Chinesin aus Taiwan zusammen. Das macht das Flair einer Weltorganisation aus! Und Nikosia ist außerdem die letzte geteilte Stadt Europas. Als Deutscher hatte ich da einen besonderen Bezug. Es gibt sogar ein „Café Berlin“ in Nikosia, direkt an der Trennlinie! Im Team von Kommissar Špidla in Brüssel hatten Sie dann mit einem weiteren heißen Eisen, der Arbeitszeit in der EU, zu tun. Im Jahr 2001 entschied der Europäische Gerichtshof, dass Bereitschaftsdienst (Zeit, in der der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz anwesend ist, aber nicht arbeitet, z. B. Feuerwehrleute mit 24-Stunden-Schichten oder Ärzte, die über Nacht im Krankenhaus bleiben) als Arbeitszeit zählt. Die Wochenarbeitszeit vieler Menschen hätte dadurch die erlaubte Höchstzahl von 48 Stunden weit überschritten, also mussten wir eine Lösung finden, um z. B. zwischen „aktivem“ und „inaktivem“ Bereitschaftsdienst zu unterscheiden. Es dauerte vier Jahre, um die Überarbeitung des EU-Arbeitszeitrechts durch den Ministerrat zu bringen, im Vermittlungsverfahren mit dem Europäischen Parlament konnte jedoch in diesem Fall keine Einigung erzielt werden. Ich arbeitete an dieser Angelegenheit dann auch noch unter Kommissar Andor weiter, dem Nachfolger von Vladimír Špidla. Die Sozialpartner verhandeln jetzt über die Überarbeitung der Arbeitszeitrichtlinie. Jetzt sind Sie Leiter des Referats Jugendbeschäftigung, Unternehmertum und Mikrofinanzierung geworden. Ich übernahm diese Stelle, als die Kommission gerade „Aktionsteams“ in die Mitgliedstaaten mit den höchsten Jugendarbeitslosenzahlen schickte, um ihnen insbesondere zu helfen, die Mittel des Europäischen Sozialfonds zu Jugendprojekten umzuleiten. Ich arbeitete an einem „Jugendbeschäftigungspaket“, um jungen Menschen unter 25 Jahren innerhalb von vier Monaten nach Schulabgang oder Arbeitsplatzverlust eine Ausbildung, Weiterbildung oder Arbeitsstelle zu garantieren, die Qualität von Praktika zu verbessern, eine europäische Ausbildungsallianz einzurichten und die Mobilität junger Menschen zu fördern. Die Kommission hat das Paket am 5. Dezember 2012 vorgelegt. Friedensplan und EU-Beitritt Zyperns, Arbeitszeit, Jugendarbeitslosigkeit, ... Seit Sie in die Kommission eingetreten sind, hatten Sie mit heißen Eisen zu tun! Ich habe mich auch mit anderen Themen wie Renten beschäftigt, damit kann dann jeder etwas anfangen, selbst meine Eltern. Das ist auch das Schöne am Bereich Beschäftigung und Soziales. Die aktuelle Krise ist natürlich prinzipiell unerfreulich, es gibt aber auch das Gefühl, dass wir in der Kommission den Menschen bis zu einem gewissen Grad helfen können. In meiner derzeitigen Position bin ich zudem für den Bereich Unternehmertum, der soziale Unternehmen mit vorrangig sozialen oder gesellschaftlichen Zielen einschließt, und das europäische PROGRESS-Mikrofinanzierungsinstrument zuständig. Auch hier handelt es sich um konkrete Fragen, wo man das Gefühl hat, dass man etwas bewirken kann. Ich war zur Einjahresfeier eines belgischen Mikrofinanzanbieters in Saint-Gilles eingeladen. Dort habe ich junge Migranten getroffen, die mithilfe eines Kleinstkredits ihre eigene Bäckerei eröffnet haben. Es ist einfach großartig, Menschen, die von unserem Angebot profitiert haben, dann im realen Leben gegenüberzustehen. KE-AF-12-032-DE-C ISSN:1977-270X KE-BD-12-001-EN-C Employment and Social Developments in Europe 2012 eneral n mmission’s free wsletter Entwicklungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales in Europa 2012 Die GD Beschäftigung analysiert in dieser zweiten Ausgabe aufbauend auf der ersten Überprüfung der Entwicklungen der Bereiche Beschäftigung und Soziales die wirtschaftliche und soziale Lage in Europa. Nach einem Jahr, das von der eskalierenden Schuldenkrise einiger Mitgliedstaaten geprägt war, sind die öffentlichen Ausgaben rückläufig. Soziale und Beschäftigungsentwicklungen verlaufen ungleich in den verschiedenen Teilen Europas, geeignete politische Lösungskonzepte für bestimmte Schlüsselbereiche sind daher dringend erforderlich. Die Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit auf den Arbeitsmarkt und die breitere soziale Dimension des Phänomens werden ebenfalls behandelt. Die Funktionsweise und Wirksamkeit der verschiedenen Sozialschutzsysteme wird untersucht. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf Verteilungs- und Ausgestaltungsfragen. Außerdem geht der Bericht näher auf die Folgen der Lohn- und Gehaltsentwicklungen und das Missverhältnis von Qualifikationsangebot und -nachfrage ein und fordert abschließend eine Agenda für faire und ausgewogene Strukturanpassungen. Die Druckausgabe dieser Veröffentlichung ist in Englisch erhältlich. Employmentand SocialDevelopments in Europe 2012 Social Europe doi:10.2767/86080 Katalog-Nr.: KE-BD-12-001-EN-C Bericht über offene Stellen und Einstellungen in Europa 2012 European Vacancy and Recruitment Report 2012 Social Europe Der Bericht über offene Stellen und Einstellungen ist der erste einer Reihe von Zweijahresberichten, die die Europäische Kommission im Rahmen des EU-Kompetenzpanoramas herausbringt. Hauptthema des Berichts ist die Entwicklung der Arbeitskräftenachfrage. Außerdem werden Themen wie Vertragsvereinbarungen, die Nachfragesituation in bestimmten Branchen oder Berufen, Wachstums- und Engpassberufe (in denen offene Stellen nur schwer zu besetzen sind), der Kompetenzbedarf sowie die Marktanteile von öffentlichen Arbeitsverwaltungen und Zeitarbeitsfirmen behandelt. Dem Bericht zufolge gibt es Engpassberufe europaweit vor allem in den Bereichen Gesundheit, IKT, Maschinenbau, Vertrieb und Finanzen. Die elektronische Ausgabe dieser Veröffentlichung ist nur in Englisch erhältlich. Katalog-Nr.: KE-30-12-983-EN-N Der Europäische Sozialfonds – in Menschen investieren In dieser Broschüre wird der Europäische Sozialfonds vorgestellt: Was er ist und was er tut, auf welche Weise seine Aktivitäten viele Gruppen von Menschen aus ganz Europa dabei unterstützen, sich zu qualifizieren und ihre Beschäftigungsaussichten zu verbessern. Die Druckausgabe dieser Veröffentlichung ist in allen Amtssprachen der EU erhältlich. Katalog-Nr.: KE-31-12-665-**-C DER EUROPÄISCHE SOZIALFONDS IN MENSCHEN INVESTIEREN Was ist der ESF und was bewirkt er? Soziales Europa EMP-11-019_LeafletESF_DE.indd COV1 15/11/12 12:26 Nützliche Websites Die Homepage von Kommissar Andor: http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/andor/index_de.htm Die Homepage der Generaldirektion für Beschäftigung, Soziales und Integration: http://ec.europa.eu/social/ Die Website des Europäischen Sozialfonds: http://ec.europa.eu/esf Falls Sie diese Veröffentlichungen bestellen möchten, wenden Sie sich bitte an: Europäische Kommission | GD Beschäftigung, Soziales und Integration InfoCentre | B-1049 Brüssel | Fax: (32-2) 296 23 93 | http://ec.europa.eu/social/contact Möchten Sie die Zeitschrift „Sozial Agenda“ oder andere Veröffentlichungen der Generaldirektion Beschäftigung, soziales und Integration abonnieren, füllen Sie bitte das elektronische Antragsformular auf folgender Internetseite aus: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=740&langId=de