EMANZIPATION DER DISSONANZ I Arnold Schönberg empfand das Wort "atonal" als Kränkung, als die es ursprünglich auch gemeint sein mochte. Nicht das negative Moment, das Fehlen einer Tonart, sei entscheidend, sondern die Ursache des Verzichts: die "Emanzipation der Dissonanz". Und zur Rechtfertigung der Emanzipation, des Verfahrens, Dissonanzen nicht anders als Konsonanzen zu behandeln 1 ), stützte sich Schönberg auf das Argument, daß zwischen Konsonanzen und Dissonanzen nur eine graduelle, nicht eine spezifische, wesentliche Differenz bestehe. ttSie sind, was sich ja auch in den Schwingungszahlen ausdrückt, ebensowenig Gegensätze, wie zwei und zehn Gegensätze sind; und die Ausdrücke Konsonanz und Dissonanz, die einen Gegensatz bezeichnen, sind falsch tt2 ). Die Gruppierung der Zusammenklänge in Konsonanzen und Dissonanzen war eine der Voraussetzungen der Kontraplmktlehre: Eine Konsonanz kann für sich stehen; eine Dissonanz muß aufgelöst werden. In der Harmonielehre wurde die Unterscheidung schon im 18. Jahrhundert zum Problem. Johann Philipp Kirnberger schrieb im Artikel ,Dissonanz in Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste: tlWie aber das Konsonieren nichts absolutes i.st, sondern von der vollkommenen Harmonie zweier im Unisonus gestimmter Saiten allmählich abnimmt, bis man endlich zwischen den Tönen mehr einen Streit, als eine Übereinsti.m,~ mung empfindet, so läßt sich nicht mit Genauigkeit sagen, wo das Kon" sonieren zweier Töne aufhöre und das Dissonieren anfange. tt urteilte 1824 Gottfried Weber im Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst: ttDenn ich möchte doch wohl den Diktator sehen, der auf" träte und die Grenze absteckte, wo das mehr Wohlklingende aufhöre, und das minder Wohlklingende anfange ," welche T als dies seit, welche als jenseit der Grenze liegend gelten sollten Schönbergs Behauptung, eine Dissonanz sei nichts anderes als eine ent" ferntere Konsonanz, stützt sich also auf eine Inusiktheoretische Tradi" tion. Auch ist sie weder akustisch noch ton psychologisch widerleg," bar. Von Natur gegeben sind die graduellen Differenzen der Intervalle, die Abstufungen von der Oktave als höchstem bis zum Halbton oder der großen Septime als niedrigstem Konsonanzgrad. Und sie werden auch von den Komponisten atonaler oder serieller Musik nicht verleugnet, weder von Schönberg noch von Krenek oder von Pierre Boulez 4 ). Die Meinung, die ttEmanzipation der Dissonanz!! bedeute eine Auslöschung der Konsonanz- und Dissonanzgrade , eine Verwandlung der Intervalle in bloße Abstände, beruht auf einem Mißverständnis Aufgehoben wurde einzig die spezifische Differenz zwischen Konsonanz lmd Dissonanz, die Einteilung der Intervalle in zwei kontrastierende Gruppen: eine Einteilung, die in der Kompositionstechnik, nicht in einer unveränderlichen Natur der Sache begründet war (Da sie von der Kompositionstechnik 0 0 146 abhing, war die Abgrenzung der Dissonanzen von den Konsonanzen, die Beurteilung einerseits der Quarte und andererseits der Terzen und Sexten, geschichtlich variabeL) Nimmt man die Formel von der Emanzipation der Dissonanz beim Wort, so richtet sie sich gegen den Auflösungszwang . Unaufgelöste Dissonanzen waren zwar auch in der tonalen Musik nicht selten, wurden aber als Ellipsen aufgefaßt. Der Auflösungston, der unterdrückt war, sollte mitgedacht und sein :Fehlen als Charaktereigenschaft der Dissonanz empfunden werden. Demgegenüber ist die Emanzipation, die Schönberg meint, als Umdeutung der abhängigen Dissonanzen zu selbständigen Zusammenklängen zu verstehen Die Ausnahme wird zur Hegel, die charakteristische Abweichung zur neutralen Norm, die Ellipse zum geschlossenen Gebilde. Die EmanzipatIon ist nach Schönberg die Konsequenz einer Entwicklung, in der allmählich auf3er den einfachen und naheliegenden auch die entfernteren, komplizierteren Tonbeziehungen unmittelbar verständlich wurden. tlWas Dissonanzen von Konsonanzen unterscheidet, ist nicht ein größerer oder geringerer Grad von Schönheit, sondern ein größerer oder geringerer Grad von Verständlichkeit o. Der Ausdruck 'Emanzipation der Dissonanz' bezieht sich auf die Verständlichkeit, die der Verständlichkeit der Konsonanz gleichgesetzt wird. Ein Stil, der auf dieser Voraussetzung beruht" behandelt Dissonanzen wie Konsonanzen und verzichtet auf ein tonales Zentrum!! 5)" Schönberg betrachtet die traditionelle Entgegensetzung von Konsonanzen und Dissonanzen als Mittel der Kompositionstechnik: als Methode, um musikalische Gedanken faßlich darzustellen. Und als bloßes Verfahren sei sie an dem Zweck zu mes" sen, den sie erfüllen soll; erweise sie sich als überflüssig oder un,~ brauchbar, so dürfe und müsse sie preisgegeben werden. Der Ausdruck "Verständlichkeit" ist allerdings nicht eindeutig. Von den unmittelbaren Tonbeziehungen sind die :Funktionen der Töne in einer Tonart zu unterscheiden. Als Tonbez:iehung ist ein Tritonus schwerer verständlich als eine Sexte; dennoch wird die Dominantfunktion eines Tritonus im allgemeinen eher begriffen als die Subdominantfunktion einer neapolitanischen Sexte, Muß demnach der Begriff der Verständlichkeit differenziert werden, wenn Verwirrung vermieden werden so11, so ist andererseits der Kon," nex, der nach Schönberg zwischen der Selbständigkeit oder Unselbstän,~ digkeit der Zusammenklänge und dem Grad ihrer Verständlichkeit be ," steht, sehwer bestimmbar. Zwar scheint es, als beruhe die Theorie und Praxis des Kontrapunkts auf eIner festen und eindeutigen BezIehung zwischen der Behandlung der Intervalle und dem Grad ihrer Verständ," lichkeit: Die einfachen, unmittelbar verständlichen Tonrelationen bilden selbständige, die komplizierteren unselbständige Zusammenklänge, Die Korrelation ist aber nicht lückenlos, Die Quarte über dem Baß wird als unselbständiger Zusammenklang behandelt, obwohl sie als Tonbezie ~ hung einfach und unmittelbar verständlich ist. (Und umgekehrt werden manche alterierten Intervalle, die als Tonrelationen kompliziert sind, im Kontrapunkt des 17, und 18. Jahrhunderts an der Stelle von ,K,onso~ nanzen verwendet: Die verminderte Quinte erscheint als Auflösungsintervall der Quartdissonanz, die übermäßige Sexte als Auflösungsinter~ vall der SeptImendissonan:6. ~rohann Mattheson zog 1739 die Konsequenz, 0 0 147 daß die verminderte Quinte und die übermäßige Sexte zu den Konsonanzen zu zählen seien; über das Wesen eines Intervalls entscheide nicht die mathematisch bestimmbare Tonrelation, sondern die kontrapunktische Verwendung 6 ).) Andererseits ist die Unterscheidung zwischen selbständigen und unselbständigen Zusammenklängen mit der Bestimmung der tonalen Funktionen der Töne und Intervalle nur ungenügend verknüpft. Läßt man die Funktionstheorie Hugo Riemanns als adäquate Beschreibung der tonalen Harmonik gelten, so ist man gezwungen, das Verständnis der Tonfunktionen und - bedeutungen von der Satztechnik, der Behandlung eines Tones als Konsonanz oder Dissonanz, zu trennen. Von dem Unterschied, ob der Ton f in C-dur als Grundton eines Dreiklangs, als Quartvorhalt vor der Tonikaterz oder als Septime zum Dominantakkord. erscheint, ist nach Riemann die Bedeutung des Tones nicht betroffen; der Ton f repräsentiert, unabhängig vom Kontext, in C-dur stets die Subdominante. Die Funktionstheorie ist, wenn man sie in ihre extremen, von Rie v. mann vermiedenen Konsequenzen verfolgt, gegenüber der Satztechnik indifferent 7 ). (Und so war es möglich, daß Hugo Leichtentritt die Tonalitätstheorie Riemanns einer Analyse von Schönbergs Klavierstücken opus 11 zugrundelegen konnte, ohne in Widerspruch zum Buchstaben der Theorie zu geraten 8 ). Aus dem Mangel an Vermittlung zwischen den Regeln der Satztechnik und der Bestimmung der Tonbedeutungen zog Leichtentritt den Schluß, daß die tonale Verständlichkeit von einer Veränderung der Satztechnik, auch einer so tief eingreifenden wie der Emanzipation der Dissonanz, nicht betroffen seL Die Analyse mag als gewaltsam oder sogar widersinnig empfunden werden; daß sie ohne Un·· logik möglich war, ist ein Zeichen ungelöster Schwierigkeiten.) Die These von der Verständlichkeit emanzipierter Dissonanzen besagt nichts anderes, als daß auch ein verwickelter Zusammenklang bei ge· nügender Anstrengung in seinen Tonbeziehungen durchschaubar und alf3 in sich begründetes Gebilde begreiflich sei. Doch ist es ungewiß, ob die bloße Faßlichkeit entscheidend ist. Der Quartenakkord c-f·~b-es ist zwar als Gefüge von Tonrelationen unmittelbar verständlich; nach den Normen des pythagoreischen Tonsystems ist er sogar einfacher als der Terzquartakkord c,"f,·a··es, in den er in einem tonalen Tonsatz werden müßte. Die emanzipierte Dissonanz ist jedoch, im Unterschied zu abhängigen, ein Ereignis ohne Folgen, ein isolierter Zusammenklang. Nicht die Verständlichkeit ist dem Akkord abgeschnitten, sondern die Konsequenz. v II Beim Wort genommen ist eine Dissonanz ein flAuseinanderkJ.ingen"; und es lag nahe, die These von der Emanzipation der Dissonanz mit einer Theorie des Kontrapunkts zu verbinden,also in dem sperrigen, die Tö·ne trennenden Zusammenklang das Korrelat einer Polyphonie zu sehen, die primär um deutliche Unterscheidung und Abhebung der Stimmen bemüht ist9). Allerdings sollte der Gedanke einer prinzipiell dissonieren," den Polyphonie nicht mit dem mißverstandenen Begriff des "linearen Kontrapunkts" 10) verwechselt werden: Die Dissonanz ist als Auseinanderstreben der Töne, also als wirkendes Moment, nicht als gleichgül- 148 tiges Zufallsresultat eines rücksichtslosen, um die Zusammenklänge unbekümmerten Kontrapunkts gemeint. Die Erklärung mag durch ihre Simplizität bestechen, reicht aber nicht aus, Schönbergs früheste atonale Werke sind weniger polyphon als di.e vorausgegangenen tonalen l l ), und als Theoretiker bemühte sich Schönberg eher um eine harmonische als um eine kontrapunktische Rechtfertigung der emanzipierten Dissonanzen. Er verknüpfte sogar die These von der Emanzipation der Dissonanz mit einer Polemik gegen den Be" griff des "harmoniefremden Tones"12); und ein "harmoniefremderTon" ist nichts anderes als eine ausschließlich melodisch-polyphon begründete Dissonanz. Der Terminus stammt von Gottfried Weber 13 ). IIHarmonie'n ll sind nach Weber Zusammenklänge, die ohne melodische Motivation als Akkorde gesetzt werden können: Dreiklänge und Septakkorde. Dagegen müssen "harmoniefremde Töne", Durchgänge und Vorhalte, melodisch-polyphon begründet sein. Der Begriff der "Harmonie" umfaßte aber außer der Struktur der Akkorde auch deren Verkettung und Zusammenhang 14 ). Eine Dissonanz ist darum nach Weber "harmonisch", wenn die Auflösung einen Wechsel des Akkordfundaments erzwingt, also einen harmonischen Fortgang bewirkt. Bleibt das Fundament liegen, so gilt sie als "harmonie fremd" , als ornamentaler Zusatz ohne Einfluß auf die harmo.nische Entwicklung. Die Behauptung, daß Durchgänge und Vorhalte einflußlos seien, forderte Schönbergs Widerspruch heraus. Er analysierte einige Durchgänge in einem Choralsatz von Bach, um zu zeigen, daß sie eine harmonische Funktion erfüllen, also nicht "harmoniefremd" si.nd: Sie unterbrechen monotone Wiederholungen des Tonika-Akkords und deuten di.e Subdomi,," nante an 15 ) . Das ästhetische Motiv der Kritik am Begriff des "harmoniefremden '1'0". nes" war der Abscheu gegen Ornamente und Füllungen, den Schönberg mit Adolf Loos teilte. In der Aufspaltung des Tonsatzes in wesentliche und ornamentale 'Töne, in dem Verfahren, manche Dissonanzen ha r:m. nisch und andere melodisch zu begründen, sah Schönberg einen Mangel 16 1. Die Idee, di.e seiner Polemik zugrunde lag, war die eines Sat·zes, in dem jeder Ton sowohl harmonisch als auch melodisch,· gerechtfertigt ist. Die Behandlung einer Dissonanz als Vorhalt oder Durchgang, die Technik, die bei Gottfried Weber den Begriff des "harmonie fremden Tones" motiviert, ist nach Schönberg ein bloßes DarstellungsmitteL Das Vi/esen der Sache sei die Dissonanz selbst, das unmittelbare Phänomen17); und in der emanzipierten Dissonanz, die sich nicht mehr durch eine Auflösung als Vorhalt oder Durchgang zu rechtfertigen suche, trete es unverhüllt hervor. Die Argumentation krankt an einem Widerspruch. Einerseits kehrt Schönberg die Funktion der Dissonanz hervor, andererseits das Phäno .. men als solches. Einerseits betont er den Einftuß der Töne, die irrig als "harmonie fremd" betrachtet worden seien, auf die harmonische Entwicklung eines Satzes. Andererseits scheint es, als sehe er im dissonierenden Zusammenklang als isoliertem Faktum ein in sich begründe,tes und sinnvolles Ereignis. Und der Widerspruch ist ein Zeichen, daß Schönberg die Isolation emanzipierter Dissonanzen als Problem erkann·~ °, ,. 149 te, dessen Lösung durch eine erweiterte Harmonielehre ebenso notwendig wie schwierig ist. Der Gedanke eines prinzipiell dissonierenden Kontrapunkts genügt nicht, um die emanzipierte Dissonanz zu rechtfertigen. 1 t . ! I . . 11 Charakteristisch ist der Versuch, harmonwfremden Tonen verschwiegene Fundamentei! zu unterlegen, um zu demonstrieren, daß sie in Wahrheit Itharmonische tt Töne seien 18 ). Die Konstruktion ttverschwiegener Fundamente" war in der traditionellen Harmonielehre, in der Stufentheorie Rameaus und Simon Sechters, ein Mittel, um Zusammenhänge zwischen Akkorden zu erklä~en. ~~hönber~s Experi~~n~. besa~t also, daß ihm die These, die schembar harmonwfremden rone selen in Wahrheit ttharmonisch", erst dann als genügend gestützt erschien" wenn außer der Struktur der Akkorde auch deren Verkettung verständlich wurde. Daß die "verschwiegenen Fundamente" imaginär und als spekulative Hypothese fragwürdig sind, ist gleichgültig; entscheidend ist das Problem, das den Erklärungsversuch motivierte: das der Konsequenzlosigkeit emanzipierter Dissonanzen. III In manchen atonalen Werken oder Werkteilen sind die dissonierenden, in sich und gegeneinander sperrigen Zusammenklänge durch komplementäre Harmonik aufeinander bezogen: durch die Methode, einem ersten Akkord einen zweiten folgen zu lassen, der fehlende Tönc der chromatischen Skala ergänzt 19 ). Das Verfahren ist in der frühen Atonalität noch mit der Tradition der chromatischen Harmonik verbunden; es bildet die extreme Konsequenz der bis zu Wagner und Liszt zurück,reichenden Technik, Zusammenklänge durch Leittonschritte der einzel,,· nen Stimmen ineinander übergehen zu lassen. (Später" in der Dodekaphonie, erscheint die komplernentäre Harmonik in der Gestalt eines .. " Prinzips, das MiHon Babbitt tlcombinatoriality" nannte: rhe erste .HaIt·, te der Grundform. einer Heihe und die erste Hälfte einer der Umkehrung ergänzen sich zur Zwöl:ftönigkeit 20 ), Die Tropentechnik .J osef lVIatthias Hauers ist . .) :Ein zweites Verfahren" aus der der Dissonanz torisehe Konsequenzen zu ziehen, war die Technik des die allerdings in Ansätzen bereits bei Debussy und net war 21 ). Ein dissonierender Zusammenklang, der allmählich ent,·, steht oder zu Anfang exponiert und dann festgehalten bildet das harmonische Gerüst eines Satzes, Das Klangzentrum ist ein harInoni,~ scher Ostinato; und es ist kein Zufall, daß Alban Berg gerade in einer Passacaglia, im fünften der Altenberg··Lieder, einen 'I'onkomplex zunächst als Tonfolge, später als Zusammenklang darstellt: die Entste" hung des Klangzentrums aus dem Ostinato wird gl.eichsam auskon;po~. niert. Die Technik des Klangzentrums wal' aUerdmgs ephemer. Sw lleß die Stücke zu äußerster Kürze schrumpfen, und es lag außerdem nahe, daf3 Schönberg seine Skepsis gegenüber der Ostinatomanier auf das Klangzentrum übertrug. . . Entscheidend war nicht die harmonische Ostinatotecfl1uk als solche, sondern die Voraussetzung, die ihr zugrunde lag: der Gedanke, daß Akkorde, analog zu Tonfolgen, Motive seien. IIDies beobachtete ich", 150 schrieb Schönberg, tlsogar vor der Einführung von Grundgestalten, zur Zeit, als ich 'Pierrot lunaire' , 'Die glückliche Hand' und andere Werke komponierte. Töne der Begleitung kamen mir oft wie gebrochene Akkorde in den Sinn, mehr aufeinanderf'olgend als gleichzeitig, in der Art eie ner Me1odietl22). Schon in einem der ersten atonalen Werke, den Klavierstiicken opus 11, werden manchmal Tonfolgen in Zusammenklänge verwandelt oder umgekehrt. Der scheinbar paradoxe Begriff des harmonischen Motivs, die Vorstel .. lung, daß Zusammenklänge Motive seien, ist eine Konsequenz aus An .. sätzen oder Vorformen bei Wagner und Liszt. Ernst Kurth sah im Tristanakkord ein "unabhängiges Akkordgebilde", sogar ein "Leitmotiv"23); und Alfred Lorenz analysierte die motivischen Funktionen des Tristanakkords , den er als "mystischen Akkord" bezeichnete, im ParsifaI24). (Daß der Akkord "unabhängig" sei., wie Kurth behauptet, besagt, daß er in verschiedenen enharmonischen Umdeutungen und in wechselndem Kontext erscheint, ohne seine Identität zu verlieren.) Werden Akkorde als Motive verstanden, als individuelle, in sich begrün,.. dete Gebilde, so ist das Problem der harmonischen Folgenlosigkeit der emanzipierten Dissonanzen zwar nicht aufgehoben; doch erscheint es in anderer Fassung. Motive brauchen, um im Zusammenhang eines Satzes gerechtfertigt zu sein, keine unmittelbaren Konsequenzen zu haben; es gen.ügt, daß sie sich einen Kontext von VarIanten und Kontrasten sinnvoll einfügen. Das Prinzi.p, durch das Schön berg Zusammenhang zwischen Motiven zu stiften suehte, war die Dodekaphonie, die IIKomposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen". Sie ist von Theodor W. Adorno und an .. deren als Verallgemei.nerung der thematiseh,·motivischen ,Arbeit er,klärt worden 2 5) Die Interpretation ist zweIfellOG triftLg, muß aber durch den Zusatz ergänzt werden, daß der des Motivs in Schön .., musikalischem Denken außer Tonfolgen auch umfaßte; und es scheint sogar, als Gei die SchwierigkeIt, Dissonanzen zueinander in Beziehung zu eines der treibenden Momente bei. der Entwicklung der Heihentechnik gewesen" Die unmittelbare eines als Motiv Akkords wur· de in der sekundär.. solche ", schrieb Sehönberg, "nieht auf Fundamenten beruhen, steht B,armonie nicht zur und eine Wertung struktureller Funktionen kann nicht in Betracht gezogen werden . It Anderers(jits war daß eine spätere Theorie funktionale Zusarnmenhänge zwischen den Akkor~ den entdecken werde" "Eines Tages wird es eine Theorie geben, die He .. geln von diesen Kompositionen ableitet Sicherlich, eine Bewertung der Struktur dieser Klänge wird wiederum auf den Möglichkeiten ihrer FunkHopen beruhen lt2 6). Von der Harmonie, die "nieht zur Diskussion steht tI , nahm Schönberg an" daß sie einmal analysierbar sein werde. Es genügte ihm also nicht, Zusammenklänge dodekaphon, durch Ableitung von der Reihe, zu begründen Die Schwierigkeit, daß emanzipierte Dis . " sonanzen folgenlos sind oder zu sein scheinen, blieb bestehen; sie hat." te durch den Gedanken" j\.kkorde als harmonische Motive zu behandeln, zwar an Dringlichkeit verloren" war aber nicht restlos aufgehoben oder gleichgültig geworden" 0 0 o 151 Daß Schönberg die Lösung einer künftigen Theorie überließ, darf nicht als Ausdruck von Unsicherheit mißverstanden werden. Schönberg sah in der Schwierigkeit ein Problem der theoretischen Darstellung, nicht des kompositorischen Denkens. "Die Wertung von (quasi- )harmonischen Fortschreitungen in solcher Musik ist offenbar eine Notwendigkeit - doch mehr für den Lehrer als für den Komponisten"27). "Gedanke" und "Darstellung ll sind die tragenden Kategorien in Schönbergs Ästhetik oder Poetik, einer Genieästhetik, deren Prinzip in die Formel gefaßt werden kann, daß allein der Gedanke entscheidend und die Darstellung se-· kundär sei. Als Darstellung begriff Schönberg alles Analysierbare: die Form, den Funktionszusammenhang der Teile 28 ) und auch die tonale oder dodekaphone Struktur. Die Vorstellung, Schönberg habe gering von der Tonalität gedacht, als er sie zu den bloßen Darstellungsmitteln zählte29), wäre irrig, Von der Zwölftontechnik sprach er kaum anders; Versuche, die Reihenstruktur dodekaphoner Werke zu analysieren, erschienen ihm als nutzlose MÜhe 30 ). Die gesetzgebende Instanz musikalischer Phänomene ist das Formgefühl des Genies; die nachhinkende Theorie mag folgen oder nicht. 13) G. Weber, a.a.O., S. 217, 14) D' Alembert, Elements de musique theoretique et pratique, Paris 1752; F. W. Marpurg, Systematische Einleitung in die Musicalische Setzkunst, Leipzig 1757. 15) Harmonielehre, S. 386. 16) Harmonielehre, S. 371: "Denn di.e gegenseitige Durchdringung der beiden Disziplinen, Harmonielehre und Kontrapunkt, ist so vollkommen, wie ihre Trennung unvollkommen ist. " 17) Harmonielehre, S. 368: Bach "hat dem Trieb, kompliziertere Zusammenklänge unterzubringen, dort nachgegeben, wo er vermeinte, daß es ohne Gefahr für die verständliche Gesamtwirkung geschehen könne. Aber das Wesentliche, der Trieb, harte Zusammenklänge zu schreiben, ... war vorhanden." 18) Harmonielehre, S. 354. 19) Th. W. Adorno, a.a.O., S. 79 fr. 20) A. Schönberg, Style and Idea, S. 116 und S. 126 f.; M. Babbitt, The Function of Set Structure in the Twelve-Tone System, Princeton 1946; G. Perle, Se rial Composition and Atonality, Berkeley and Los Angeles 1962, S. 99 fr. 21) R. Stephan, Neue Musik, Göttingen 1958, S. 32 ff. 22) A. Schönberg, Die formbildenden Tendenzen der Harmonie, S. 189 f. 23) E. Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners "Tristan" , Bern 1920, s. 61. Anmerkungen 24) A. Lorenz, Der musikalische Aufbau von Richard Wagners "Parsifal", Berlin 1933, S. 29 fr. 1) A. Schönberg, Gesinnung oder Erkenntnis, in: 25 Jahre Neue Musik, Jahrbueh 1926 der Universal Edition, Wien 1926, S. 25; Style and Idea, New York i950, S. 104 f.; Die form bildenden Tendenzen der Harmonie, Mainz 1954, S. 189 f. 25) Th. W. Adorno, a. a. 0., S. 56 fr.; später betonte Adorno die Bedeutung des Kontrapunkts für die Entstehung der Reihentechnik (Die Funktion des Kontrapunkts in der Neuen Musik, in: Klangfiguren, Frankfurt am Main 1959, S. 210 ff.). 2) A. Schönberg, Harmonielehre, Leipzig und Wien 1911, S. 19. 26) Die formbildenden Tendenzen der Harmonie, S. 189 f. 3) G. Weber, Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst, 2. Auflage Mainz 1824, Band I, S. 252; vgl. auch A.B. Marx, Die alte Musiklehre im Streit mit tm·· serer Zeit, Lei.pzig 1841, S. 79 f. 27) Die formbi.ldenden Tendenzen der Harmonie, S. 189. 4) P. Boulez, Musikdenken heute 1, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik V, Mainz 1963, S. 38. 5) Style ami Idea, S. 104 f.: "What distinguishes dissonances from eonsonanees is not a greater 01' lesser degree of beauty, but a g1'eater 01' lesser degree of eomprehen .. sibility ... The term emancipation of the dissonance refers to Hs whieh is considered equivalent to the consonanee's comprehensibi.l.ity. style on this premise treats dissonances like consonanees and renounces a tonal center'," 6) J. Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, Faksimile··Nachdruck Kassel 1954, S. 253. 7) Riemanns Versuch, aus den Bestimmungen der Tonbedeutungen satztechnische :Regeln abzuleiten, führte zu haltlosen Konsequenzen, die von E. Kurth widerlegt worden sind (Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssyste .. me, Bern 1913, S. 110 f.). 2H) Style and Idea, S. 63: "No matter what the purpose 01' meaning of an idea in thc aggregate may be, no matter whether its function be introductory, establishing, varying, preparing, elaborating, deviating, developing, conc1uding, subdi.vidi.ng, subordinate, 01' basic, it must be an idea which had to take this place even i.I it were not to serve for this purpose 01' meaning 01' function; and ihis idea must look i.n construetion and in thematic content as if it wel'C not there to fulfill a structural task. " 29) Harmonielehre, S. 28 j'f. und S. 145 f.; Gesinnung und Erkenntnis, S. 2G. 30) A. Schönberg, Briefe, Mainz 1958, S. J 78 L Aus: Aspekte der Neuen Musik, hg. von W. Burde, Kassel 1968. Mit frdl. Genehmi··· gung des Bärenreitcr- Verlags. 8) H. Leichtentritt, Musikalisehe Formenlehre, 5. Auflage Leipzig 1952, S. 436 ff.; vgl. aueh E. von der Nüll, Moderne Harmonik, Leipzig 1932, S. 102 ff. 9) Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, 2. Auflage Frankfurt 1958, S. 59 f. und S. H9. 10) Gegen das Mißverständnis, er habe einem "um alle Zusammenklänge unbekümmerten Kontrapunkt" das Wort geredet, verwahrte sich Kurth in der dritten Auflage (Berlin 1922) der Grundlagen des linearen Kontrapunkts (S. XIII). 11) Die Behauptung gilt nicht nur für die Klavierstücke opus 11, deren relativ einfache Struktur, gemessen an opus 9 oder 10, dUl'ch das Instrument mitbestimmt sein moehte, sondern auch für die Orchesterstücke opus 16. 12) Harmonielehre, So 344 ff.; dazu E. Toch, Melodielehre, Berlin 1923, S. 108 ff. 152 153