Eingereicht bei Univ. Doz. Dr.

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Wölbitsch Mario
Gewalt u. Aggression in der Psychiatrie
Wie häufig werden Pflegepersonen im LKH Rankweil mit gewalttätigem
u. aggressivem Verhalten von Patienten konfrontiert?
Abschlussarbeit im Rahmen des Universitätslehrganges für
„Lehrkräfte im Gesundheitswesen“.
Eingereicht bei Univ. Doz. Dr. Wilhelm Urban im Juni
2004
1
Inhaltsangabe
1
EINLEITUNG
2
DIE BEGRIFFE „GEWALT UND AGGRESSION“
4
10
2.1
Aggression
10
2.2
Der Begriff „Gewalt“
12
2.3
Physische versus Psychische Gewalt
13
2.4
Aggressivität
14
2.5
Aggressive Emotionen = Aggressives Verhalten?
14
3 ALLGEMEINE ERKLÄRUNGSASPEKTE FÜR „AGGRESSIVES
VERHALTEN“!
15
4
AGGRESSIONSTHEORIEN
16
4.1
Trieb-, Instinkttheorien
17
4.2
Frustrations-, Aggressionstheorie
18
4.3
Lernpsychologische Theorien
4.3.1
Die klassische Konditionierung
4.3.2
Lernen am Modell
4.3.3
Operative Konditionierung (Lernen am Erfolg, Misserfolg)
19
20
22
25
5
29
GEWALT U. AGGRESSION IN DER HEUTIGEN PSYCHIATRIE
6 MÖGLICHKEITEN DER AGGRESSIONSMINDERUNG UND –
VERHINDERUNG
30
6.1
Aggression abreagieren
6.1.1
Katharsis-Hypothese
31
31
6.2
35
Erkennen u. Einschätzen von Frühwarnsymptomen
6.3
Die „Anreger“ verändern
6.3.1
Verminderung von Provokationen und Herabsetzungen
6.3.2
Verminderung von Einengungen, Stressoren, Entbehrungen
6.3.3
Verminderung aggressiver Modelle, Symbole
6.3.4
Förderung positiver Anreger
6.3.5
Anreiz-Verlagerung auf alternatives Verhalten
Wölbitsch Mario
38
38
40
42
42
42
Mai 2004
2
7 PRAXISBEZOGENE MÖGLICHKEITEN ZUR DEESKALATION U. ABWEHR
VON KÖRPERLICHEN ANGRIFFEN
43
7.1
Praktische Grundregeln zur Deeskalation
43
7.2
Konkretes persönliches Verhalten zur Deeskalation
46
7.3
Abwehr eines körperlichen Angriffs
7.3.1
Flucht
7.3.2
Abwehr
48
49
50
8
52
FIXIERUNG VON PATIENTEN
8.1
Allgemeines
52
8.2
Allgemeine Regeln zur Fixierung
52
8.3
Körperliche Tabuzonen
53
8.4
Eigentliche Fixierung
54
8.5
Kontrolle u. Überwachung
54
8.6
Dokumentation
55
9
PLANUNG U. DURCHFÜHRUNG DER UNTERSUCHUNG
56
9.1
Zweck der Untersuchung
56
9.2
Entstehung der Hypothesen
57
9.3
Untersuchungsmethode
59
9.4
Ablauf der Untersuchung u. Pretest
59
9.5
Auswertung und Ergebnisse
9.5.1
Demographische Daten Pflegepersonen
Geschlecht / Alter
9.5.1.1
Berufserfahrenheit
9.5.1.2
Berufszugehörigkeit
9.5.1.3
9.5.2
Demographische Daten Patienten
Geschlecht
9.5.2.1
Alter
9.5.2.2
Familienstand
9.5.2.3
Diagnosen (ICD 10)
9.5.2.4
Aufenthaltsdauer
9.5.2.5
9.5.2.6
Ausgangsregelung / Unterbringung (UBG)
9.5.3
Zeitpunkt der Übergriffe
9.5.3.1
Übergriffe je Kalenderwoche
9.5.3.2
Übergriffe Tagdienst / Nachtdienst
9.5.4
Häufigkeit, Anzahl nach Stationen
Wölbitsch Mario
60
60
60
61
61
62
62
62
63
63
64
65
66
66
67
68
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3
9.5.5
Verhalten vor dem Übergriff
9.5.5.1
Anamnese / Biographie
9.5.5.2
Fehlverhalten des Patienten
9.5.6
Ist-Zustand / Gegebenheiten zur Zeit des Übergriffs
9.5.6.1
Personalstand
9.5.6.2
Zusammenhang mit pflegerischer Tätigkeit
9.5.6.3
Bezugsperson / Tagesbezugsperson
9.5.7
Prävention
9.5.8
Folgen für Patienten u. Pflegepersonen
9.5.8.1
Art der physischen, (körperlichen) Aggressionen
9.5.8.2 Art der psychischen Aggressionen
9.5.8.3
Auswirkungen, Folgen für Pflegepersonen
9.5.8.4
Auswirkung auf die Dienstzeit
9.5.8.5
Bewältigung
9.5.8.6
Konsequenzen für Patienten
9.5.8.7
Verletzungsmeldung
69
69
70
71
72
73
74
74
76
76
77
78
80
80
81
82
10
ZUSAMMENFASSUNG
83
11
LITERATURVERZEICHNIS
87
12
ANHANG
88
Wölbitsch Mario
Mai 2004
4
1 Einleitung
Im Rahmen meiner Ausbildung zum „Akademisch geprüften Lehrer für
Gesundheits- und Krankenpflege“ wurde ich mit der Aufgabe konfrontiert, eine
Diplomarbeit zu erstellen. Nach kurzer Überlegung war für mich klar, dass sich
meine Arbeit mit dem Thema „Gewalt und Aggression in der Psychiatrie“
auseinandersetzen wird.
Der psychiatrische Mensch1 wurde im Verlauf der Psychiatriegeschichte so oft
zum Opfer therapeutischer und staatlicher Gewalt, dass es schwer zu fallen
scheint, ihn unter der Perspektive einer Täterrolle zu betrachten. Weiterhin mag
eine erneute Diskriminierung psychisch Kranker und der in der Psychiatrie Tätigen
befürchtet werden. Dieser Aussage von Steinert et al. (Psychiatrie Praxis, S.155)
kann ich mich nur anschließen.
Meine Intention geht jedoch in eine ganz andere Richtung. Die letzten 15 Jahre,
das habe ich selber erlebt, hat sich sehr viel in der Betreuung der Patienten in der
Psychiatrie, verändert. Viele Verbesserungen wurden zum „Wohle“ des Patienten
geplant und durchgeführt. Aber, ob man nun will oder nicht, das Thema „Gewalt
und Aggression“ ist und bleibt eine Problematik auch in der Psychiatrie! Neben
einem medizinischen Behandlungsauftrag haben die in der Psychiatrie Tätigen ja
auch
einen
„ordnungspolitischen“
Zwangseinweisungen
bei
Auftrag.
psychischen
Man
denke
Erkrankungen
mit
nur
an
Selbst-
die
u.
Fremdgefährdung, Betreuung u. Behandlung von „Forensischen Patienten“!
Leider, die folgenden Zeilen entsprechen dabei meinem persönlichen, subjektiven
Empfinden, musste ich feststellen, dass in diesem Zusammenhang die für die
Pflegepersonen entstandenen „Belastungen“ zusehens als „normal“ hingestellt
wurden, „aggressive Übergriffe“ sogar bagatellisiert wurden und werden.
1
Für die gesamte Arbeit gilt: Um den Schreibfluss nicht zu behindern u. wie im Sprachgebrauch
allgemein üblich, bleibe ich bei der männlichen Form des Benennens. Es gilt, wann immer
notwendig, synonym die weibliche Form.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
5
Aussagen wie: „Der ist ja selbst daran Schuld“, oder „Da kann man halt nichts
machen, das gehört eben einfach dazu“ sind leider immer wieder zu hören.
Auf anderer Ebene entstanden Diskussionen über spezielle finanzielle Zulagen.
Welchen Personen, in welchen Abteilungen steht diese zu? Ist eine Zulage
überhaupt noch gerechtfertigt usw.? Zudem berichteten Schüler im Unterricht
immer wieder von „gewalttätigen Übergriffen“ und zeigten enormes Interesse zu
diesem Thema. Für mich stellten sich dabei eine „Fülle“ von Fragen: Wie häufig
und in welcher Form kommt es überhaupt zu gewalttätigen Übergriffen von
Patienten gegenüber Pflegepersonen? Wie verhält es sich mit psychischer
Gewalt, denen Pflegepersonen ausgesetzt sind? Gibt es bzw. kann man
überhaupt „einigermaßen objektive Zahlen“ erarbeiten? Ist Gewalt und Aggression
überhaupt ein Thema auf den Stationen? Wie kann man Gewalt und Aggression
begegnen?
Im theoretischen Teil meiner Arbeit möchte ich die Hintergründe von „Gewalt u.
Aggression“ erarbeiten, gleichzeitig aber auch einige möglichst praxisnahe Tipps
u. Anregungen zu dieser Thematik vorstellen.
Im empirischen Teil, und da bin ich selber sehr neugierig, möchte ich erheben, wie
häufig Pflegepersonen zum Opfer von gewalttätigem, aggressivem Verhalten von
Patienten werden.
Mit einem Beispiel aus meinen persönlichen Erfahrungen zu Beginn meiner
„Psychiatrie – Karriere“ möchte ich nun in den folgenden Zeilen verdeutlichen, mit
welchen Ereignissen man in der Psychiatrie konfrontiert werden kann.
Schon mit Eintritt i. d. Psychiatrie begegnete mir Gewalt und Aggression in den
unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen. Das in der Folge beschriebene
Erlebnis hat sich 1989 im Landeskrankenhaus Rankweil ereignet.
Der Schwerpunkt meiner Ausführungen liegt im Bereich meiner persönlichen
Erfahrungen und vor allem der Empfindungen, die zur damaligen Zeit auf mich
eingewirkt haben. Natürlich kann ich nach so langer Zeit meine Erlebnisse nur
noch „sinngemäß“ wiedergeben. Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten
Wölbitsch Mario
Mai 2004
6
erinnern, und erhebe in dieser Richtung keinen Anspruch auf Vollständigkeit
meiner Ausführungen.
Meine ersten Tage in der Psychiatrie....
Zum bessern Verständnis beschreibe ich zuerst die räumliche Situation, sowie
einige, der zumindest für mich wichtigsten Besonderheiten, die damals auf dieser
Station vorherrschten. Wie gesagt, es geht nur darum, dass man einen kleinen
Einblick in die damalige Situation erhält.
Im Jahre 1989 waren im Landeskrankenhaus Rankweil (genannt „Valduna“)
nahezu alle Stationen geschlossen. Das heißt, dass kein Patient ohne Einwilligung
der Pflegepersonen oder der Ärzte, die Station verlassen konnte. Umgekehrt
konnte aber auch keine fremde Person die Station betreten. Die Pflegepersonen
trugen weiße Mäntel und jeder hatte auf Grund der geschlossenen Türen, Fenster,
Kästen etc., den .... obligatorischen Schlüsselbund nahezu ununterbrochen für alle
sichtbar und vor allem gut "hörbar" in Händen.
Die Station war gekennzeichnet durch eine eher sterile, sachliche Ausstattung. An
den Wänden hingen keine Bilder. Die Gänge und auch die Zimmer wirkten kahl
und leer. In der Mitte der Station befand sich das Dienstzimmer und trennte den
Frauen- vom Männerbereich. Da die einzelnen Räume durch riesige Glaswände
getrennt waren, konnte sowohl die Frauen- als auch die Männerseite vom
Dienstzimmer aus sehr gut überblickt werden. Privatsphäre für die Patienten war
dadurch, wie man sich gut vorstellen kann, nur in beschränktem Ausmaß
gegeben!
Alle Patienten waren gezwungen bei der Aufnahme sämtliche „Besitztümer“ beim
Pflegeteam abzugeben. Die Pflegepersonen „filzten“ und dokumentierten penibel
genau die persönlichen Besitztümer der Patienten und verwahrten diese in
abgeschlossenen Kästen. Alle Patienten erhielten Stationskleidung (blaue
Pyjama´s), unabhängig vom Schweregrad ihrer Erkrankung.
Wölbitsch Mario
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Ich kann mich noch gut an meinen ersten Dienst auf dieser Station erinnern.
Geprägt von Vorurteilen, ich hatte gerade den Film: „Einer flog übers
Kuckucknest“ gesehen und einer starken inneren Anspannung begann ich meinen
ersten Dienst.
Viele meiner Vorurteile schienen sich zu bestätigen. Die oben erwähnten
Strukturellen Bedingungen, aber vor allem auch der Zustand der Patienten hat
mich doch sehr „erschreckt“, betroffen gemacht.
Die Patienten waren praktisch in jeder Altersstufe, von 18 bis 80 Jahren vertreten.
Manche dieser Menschen wirkten auf mich völlig normal, einige redeten praktisch
ununterbrochen und andere wiederum sprachen gar nichts. Manche Patienten
bewegten sich wie Roboter, und der Speichel tropfte ihnen aus dem Mund. Andere
wiederum hatten einen „starren Blick“ und „schlichen“ auf der Station herum wie
„wilde Tiere“ in einem Käfig. „Na Bravo!“, dachte ich mir. „Das ist ja schlimmer als
im Film!“
Die ersten Tage vergingen wie „im Flug“! Vom Pflegeteam wurde ich sehr gut
aufgenommen
und
auch
genauestens
in
meinen
neuen
Arbeitsbereich
eingewiesen. Der Umgang mit den Patienten fiel mir von Tag zu Tag leichter und
auch die Handhabe mit der, sagen wir einmal strukturellen Gewalt, fiel mir
zusehens leichter. Doch schon nach kurzer Zeit wurde ich das erste mal „so
richtig“ mit Gewalt und Aggression konfrontiert.
Kung Fu oder alle gegen einen .....
Ich kann mich noch genau an den jungen Mann erinnern, der damals, für mich
plötzlich unerwartet, „völlig durchdrehte“! Schon zu Beginn meines Dienstes ist mir
der junge Bursche aufgefallen. Immer wieder betonte er, dass er hier nicht bleiben
werde, dass er seine „gefürchteten Kung Fu – Kräfte“ einsetzen werde, um die
Station zu verlassen. Ein geordnetes Gespräch mit dem Patienten war praktisch
unmöglich, immer wieder sprach er von Dingen und Gegebenheiten, denen ich
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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beim besten Willen nicht folgen konnte. Wohlgemerkt, ich war nur als
Begleitperson bei Gesprächen anwesend.
Schlussendlich, für mich total unerwartet, rannte der Patienten mit voller
Geschwindigkeit auf die geschlossene Ausgangstüre zu, nahm einen riesigen
Sprung und versuchte, waagrecht durch die Luft fliegend und mit den Beinen
voraus, die Türe in bester „Kung Fu Manier“ einzutreten! Für mich wahrlich ein
Bild, dass ich nie mehr in meinem Leben vergessen werde. Mit einem riesigen
Knall landete der Patient in der Türe (Sicherheitsglas!) und wurde von dieser
wieder zurück auf den Boden geschleudert.
Innert weniger Sekunden wurde der junge Mann dann vom Pflegeteam
„eingekreist“ und überwältigt.
Der Mann schrie „aus voller Kehle“, fluchte, schimpfte, versuchte zu beißen und
schlug wie „von Sinnen“ wild um sich. Er entwickelte enorme Kräfte und konnte
nur mit großer Mühe von den Pflegepersonen niedergerungen werden. Schließlich
wurde der Patient ins Bett getragen (gezerrt). Dort wurde ihm, obwohl er sich
immer noch gebärdete wie ein „Wilder“, eine intramuskuläre Injektion in das
Gesäß verabreicht. Anschließend wurde er dann mittels Bauch-, Arm-, und
Beingurten in das Bett fixiert! Wenige Minuten später „beruhigte“ sich der Patient
und schlief dann schließlich ein.
Minuten nach dem Vorfall war ich immer noch völlig perplex. Ich zitterte und hatte
weiche Knie. Ich konnte gar nicht fassen, was ich da beobachtet hatte. So etwas
gab es für mich bis dato nur im Kino.
Fragen schossen mir durch den Kopf. Wieso hat der Patient dies gemacht? Hätte
er vielleicht auch mich mit dieser Aggressivität angreifen können? Hätte er mich
verletzt? Oder hätte er mich sogar umgeb....? Ich wollte den Gedanken gar nicht
zu Ende führen. Wie konnten die Pflegepersonen den Patienten so schnell
überwältigen? Was passiert jetzt mit dem Patienten? Kommen solche Vorfälle
regelmäßig vor?......
Ich war geschockt und fasziniert in gleichem Maße. Was geht in solchen Köpfen
vor? Wie kann man diesen Menschen helfen?...........
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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Da kann man halt nichts machen.....
Von einem Pfleger wurde ich dann über den Patienten aufgeklärt. Der Patient
leide unter einer Psychose (... was auch immer das damals für mich bedeutet
hat...). Er wäre nicht im Stande gewesen, sich noch selber zu kontrollieren.
Er meinte auch, dass ich mich an solche Vorfälle gewöhnen müsste. Solche
Übergriffe wären zwar nicht an der Tagesordnung, aber je früher ich mich daran
gewöhnen würde umso besser für mich. Außerdem gehörten solche Vorfälle zum
Beruf des „Psychiatrie-Pflegers“ ganz einfach dazu, da könne man nun einmal
nichts machen.
Zum Glück haben sich aber solch massive Aggressionsdurchbrüche in den
folgenden Jahren meiner Ausbildung und Praxis nur noch sehr selten ereignet!
... und man kann doch etwas machen .....
Die Aussage: „Da kann man halt nichts machen“ habe ich im Laufe meiner
Ausbildung immer wieder gehört.
Doch mit jedem Vorfall, mit dem ich in irgend einer Form konfrontiert wurde, habe
ich neue Erfahrungen gesammelt und festgestellt, dass diese Aussage in dieser
Form ganz einfach nicht stimmt.
Heute weiß ich, dass diese Aggressionsdurchbrüche praktisch nur das Ende eines
Prozesses darstellen und dass wir während der Betreuung unserer Patienten sehr
großen Einfluss darauf haben, ob es zum Ausbruch von Gewalt und Aggression
kommt oder auch nicht.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
10
2 Die Begriffe „Gewalt und Aggression“
Gewalt
und
Aggression
–
was
versteht
man
darunter?
Damit
keine
Missverständnisse entstehen, möchte ich die Begriffe „Gewalt u. Aggression“
zuerst
genauer
definieren.
Erfahrungsgemäß
werden
sie
nämlich
sehr
unterschiedlich gedeutet und von persönlichen Vorstellungen beeinflusst.
2.1 Aggression
Ähnlich ist es auch in der Psychologie. Auch dort gibt es nicht „den“ allgemein
akzeptierten Aggressionsbegriff. Dennoch sind viele der Definitionen, mit denen
die Psychologie bislang aufwarten kann, in der Praxis durchaus brauchbar;
zumindest solange sie nicht den Anspruch erheben, alle Formen von
Aggressionsverhalten gleichermaßen abzudecken. Die in der Folge erwähnten
Definitionen stellen nur einen kleinen Teil, der schier unzählig vorhandenen
Begriffsdefinitionen, dar.
Verres & Sobez, (1980) unterscheiden zwischen einem „weiter (a) und enger (b)
gefasstem Aggressionsbegriff“.
a) jede gerichtete, offensive Aktivität
(wird meist „nicht wertend“ od. „positiv
wertend“ betrachtet)
„In Angriff nehmen“
b) aggressives
Verhalten
im
engeren
Sinne: „schädigendes, gewalttätiges
Angriffsverhalten“.
(wird
meist
„negativ
wertend“
betrachtet)
Wölbitsch Mario
Mai 2004
11
Für meine Arbeit als eher ungeeignet betrachte ich die Gruppe der „weit
gefassten“ Definitionen, welche jegliches Verhalten einschließen, das in Richtung
einer gerichteten, offensiven Aktivität geht (ausgehend von der ursprünglichen
Bedeutung
des
Wortes
Aggressionsverständnis
ist
aggredi
zu
=
herangehen);
unspezifisch
und
ein
solches
»verwässert«
den
Aggressionsbegriff so weit, dass er de facto mit dem Begriff der »Aktivität«
gleichzusetzen wäre.
Ich werde mich daher an den enger gefassten Definitionen orientieren, von denen
die meisten die zwei folgenden Kriterien für aggressives Verhalten beinhalten,
nämlich »Schaden« und »Intention«. Beide Komponenten, also „einer anderen
Person oder einem anderen Lebewesen Schaden oder eine Verletzung zufügen“
und die „Absicht des Handelnden [...] beim Opfer negative Folgen hervorzurufen“
(Mummendey und Otten 2002, S. 355) - mit letzterem soll eine zufällige
Schädigung (z.B. Unfall) bzw. eine Schädigung, die in hilfreicher Absicht erfolgt
(z.B. Zahnarzt) ausgeschlossen werden - finden sich beispielsweise bei den
folgenden zwei Definitionen:
„Aggression ist jegliche Form von Verhalten, mit dem das Ziel verfolgt wird, einem
anderen Lebewesen, das motiviert ist, eine derartige Behandlung zu vermeiden,
zu schaden oder es zu verletzen.“ (Baron und Richardson 1994, S. 7).
„Aggression umfasst jene Verhaltensweisen, mit denen die direkte oder indirekte
Schädigung eines Individuums, meist eines Artgenossen, intendiert wird.“ (Merz
1965, zitiert nach Nolting 1997, S. 22)
Der Begriff der Intention im Sinn von »klarer Absicht« stellt ein weiteres Problem
dar und wird bei Selg durch »Gerichtetheit« ersetzt. Und zwar mit der
Begründung, dass Aggression nicht unbedingt mit einer klaren Absicht verbunden
sein muss: Was ist z.B. mit Aggression als Mittel zum Zweck, d.h. wenn die
Schädigung nicht das eigentliche Ziel des Verhaltens ist? Wie erklärt es sich
sonst, wenn etwa Eltern ihr Kind schlagen, um eine Verhaltensänderung zu
bewirken? Und was ist mit Fällen von Unzurechnungsfähigkeit? Selg bringt dazu
Wölbitsch Mario
Mai 2004
12
noch folgenden Vergleich: „Das eine Motte in der Nacht trotz aller Umwege gezielt
zum Kerzenlicht fliegt, leugnet niemand; aber wer sagt, sie fliege absichtlich - in
ihren Tod?“; (Selg, H., Mees, U. & Berg, D. 1997, S. 5). Und so hört sich dann die
Aggressionsdefinition bei Selg an:
„Aggression
besteht
in
einem
gegen
einen
Organismus
oder
ein
Organismussurrogat gerichtetes Austeilen schädigender Reize.“ (Selg und a.
1997; S. 4); »Organismussurrogat« meint Stellvertreter oder Ersatz für einen
Organismus (z.B. das Zerreißen eines Fotos anstelle einer Aggression gegen die
abgebildete Person)
Diese Definition scheint eine der am meisten anerkannten zu sein .
Ganz ähnlich klingt auch die Definition nach Felson:
„Aggression wird hier definiert als eine Handlung, mit der eine Person eine andere
Person zu verletzen versucht oder zu verletzen droht, unabhängig davon, was
letztlich das Ziel dieser Handlung ist.“ (Felson 1984; übersetzt und zitiert nach
Nolting 1997, S. 24)
Die Liste der Definitionen ließe sich natürlich noch um ein vielfaches erweitern.
2.2 Der Begriff „Gewalt“
Für viele Menschen gibt es keinen Unterschied zwischen den Begriffen „Gewalt“
und „Aggression“ bzw. werden beide synonym verwendet.
Nolting meint dazu, dass man unter dem Begriff Gewalt nur „schwere,
insbesondere körperliche Formen der Aggression, die mit einem Ungleichgewicht
an Macht einhergehen“, versteht. Andere, wie z. B. „schimpfen, böse Blicke“ aber
gehören nicht dazu. So gesehen ist Gewalt ein engerer Begriff. (vgl. Nolting 2002,
S.25)
Wölbitsch Mario
Mai 2004
13
Auch für den Gewaltbegriff gibt es eine weiter gefasste Definition (nach Galtung
1975; vgl. Nolting 2002, S. 26), die strukturelle (nicht-aggressive) Gewalt mit
einschließt (ein Beispiel wäre hier die »stille«, repressive Unterdrückung durch ein
System sozialer Ungerechtigkeiten, wie man sie besonders deutlich in Diktaturen
vorfindet).
Wie schon beim Aggressionsbegriff plädiert Selg auch hier wieder für einen
wertfreien Gewaltbegriff; so gäbe es durchaus Fälle von gesellschaftlich tolerierter
Gewalt (als Beispiel nennt er die Attentate auf Hitler; Selg und a. 1997, S. 8).
Strukturelle
(nichtaggressive)
Gewalt
GEWALT
Personale
Gewalt
AGGRESSION
Andere
(nichtgewaltsame)
Aggression
Tafel 2: Schema zum Verhältnis der Begriffe „Aggression und Gewalt“. (Nolting 2002, S.26)
2.3 Physische versus Psychische Gewalt
Physische Gewalt meint alle Formen von Verletzung, Zerstörung oder
Einschränkung, die Menschen körperlich angetan werden. Sichtbarkeit des
Geschehens an sich sowie seiner Folgen ist hier das entscheidende Kriterium zur
Abgrenzung von psychischer Gewalt – eine Parallele zur Unterscheidung von
personaler und struktureller. Nach Galtung (1975, S. 24) schließt der Begriff der
psychischen Gewalt die Androhung physischer bzw. die indirekte Drohung mit
mentaler Gewalt ein. Sobald das Opfer geistig oder seelisch geschädigt ist
(kognitiv bzw. emotional-affektiv), spricht man von psychischer Gewalt.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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2.4 Aggressivität
In Abgrenzung zum Aggressionsbegriff versteht man unter der Aggressivität eine
Persönlichkeitsvariable: nämlich die prinzipielle Bereitschaft zu aggressivem
Verhalten. Die Aggressivität als einheitliches Verhaltens- oder Motivsystem zu
sehen wäre vermutlich falsch! Vielmehr geht man mittlerweile von einer Vielzahl
an »Aggressivitäten« aus, deren Ausprägung vermutlich unabhängig voneinander
erfolgt. Wer zu verbalen Aggressionen neigt, muss deswegen nicht unbedingt
auch ein Schläger sein. Auch das sog. »Radfahrerprinzip« („nach oben buckeln,
nach unten treten“) legt eine differenzierte Sichtweise nahe (vgl. Selg und a. 1997,
S. 11).
2.5 Aggressive Emotionen = Aggressives Verhalten?
Bedeuten
„Aggressive
Emotionen“
immer
auch
gleichzeitig
„Aggressives
Verhalten“? Die Grenze von „inneren aggressiven Empfindungen“ und „äußeren
aggressiven Verhalten“ ist oft „fließend“, so dass man dazu neigt, beide
Verhaltensweisen unter dem Begriff „Aggression“ zusammen zu fassen.
Nolting meint dazu: „Nicht jedes aggressive Gefühl drückt sich in aggressivem
Verhalten aus, und nicht jedes aggressive Verhalten beruht auf aggressiven
Gefühlen!“ (Nolting 2002, S. 30).
Aggressive Emotionen lassen sich (schon weil sie nicht direkt sichtbar werden) oft
nur schwer einordnen: die Übergänge verlaufen fließend. Generell spricht man
aber nur dann von aggressiven Emotionen, wenn sie auf Verletzung,
Herabsetzung, o.ä. abzielen und darin (!) auch ihre Befriedigung finden; schlechte
Laune, gereizte Stimmung, etc. würde man eher als »voraggressive« Emotionen
bezeichnen. Ärger, Wut und Hass hingegen sind Gefühle, die im Umfeld von
Aggressionen recht oft festgestellt werden können (man spricht auch von sog.
»aggressions-affinen Emotionen«). Ärger ist objektbezogen: man ärgert sich über
etwas, was i.d.R. als Störung oder Behinderung erlebt wird. Hier wird auch die
Nähe zur Aggression ersichtlich, denn Aggressionen eignen sich zuweilen
hervorragend dazu, Hindernisse zu beseitigen. Möglicherweise wird der Ärger
Wölbitsch Mario
Mai 2004
15
dann sogar als positiv erlebt, wenn etwa das Problem dadurch (bzw. durch ein
entsprechend gekoppeltes Verhalten) erfolgreich gelöst werden konnte. Mit der
Wut verhält es sich ähnlich, nur das Wut i.d.R. weit weniger zielgerichtet und
reflektiert auftritt (»blinde Wut«). Unter dem Begriff Hass wiederum versteht man
im Gegensatz dazu eher eine fortdauernde, intensive Grundhaltung gegen etwas
oder jemand, welche auf die Vernichtung des Objekts abzielt (Lersch 1956; zitiert
n. Selg und a. 1997, S. 10).
3 Allgemeine
Erklärungsaspekte
für
„Aggressives
Verhalten“!
Dass verschiedenste Faktoren zum „Ausbruch von aggressivem Verhalten“ führen
können, wurde in den bereits behandelten Themen schon „angedeutet“. Wie sieht
dies jetzt im Detail aus?
Zu erklären:
AGGRESSIVES
VERHALTEN
SITUATIONSBEDINGUNGEN
-
Anlässe
Anwesende
Personen ...
INNERE
PROZESSE
-
Absichten
Gefühle
Gedanken ...
PERSONALE
DISPOSITIONEN
-
Einstellungen
Fähigkeiten
Gewohnheiten ...
ENTWICKLUNGSBEDINGUNGEN
-
-
Erfahrungen i.d.
Erziehung mit
Altersgenossen,
Entfaltung von
Anlagen ...
(Nolting, H.P., 2002, S.47)
Nolting erläutert dazu: (vgl. Nolting 2002, S. 46)
Wölbitsch Mario
Mai 2004
16
Entwicklungsbedingungen:
Wie kommen wiederum die personalen Dispositionen zustande? Wieweit sind sie
erlernt bzw. sozialisationsbedingt (z. B. aggressiver Erziehungsstil der Eltern),
wieweit beruhen sie auf individuellen oder allgemeinmenschlichen Anlagen? Diese
Fragen kommen dem am nächsten, was man unter „Ursprung“ von Aggression
verstehen kann.
Innere Prozesse:
Welche Gefühle, Gedanken, Absichten usw. (z. B. Ärger, Wunsch nach
Beachtung) bestimmen das Verhalten? Was spielt sich also in einem Menschen
ab, wenn er sich aggressiv verhält? (Innere Prozesse und äußeres Verhalten
können zusammen auch als aktuelle Prozesse bezeichnet werden.)
Situation:
In welcher aktuellen Umwelt spielen sich diese Prozesse ab? Bei welchen
Anlässen, an welchen Orten, gegenüber welchen Personen usw. (Derselbe
Mensch verhält sich je nach Situation unterschiedlich.)
Person:
Bei welchen Menschen spielen sich diese Prozesse ab? Was für Dispositionen
(Einstellungen, Gewohnheiten, „Empfindlichkeiten usw..) bringen sie mit? (In
derselben Situation verhalten sich ja verschiedene Menschen unterschiedlich.)
Wichtig erscheint mir persönlich das Herausheben des „situativen Faktors“,
Speziell die Frage: „Gegenüber welchen Personen tritt die Aggression auf?“, gilt
es zu hinterfragen. Welchen Anteil habe ich als betreuende Person, als „Opfer“
dazu beigetragen? Auf die Reflexion des eigenen Verhaltens werde ich aber zu
einem späteren Zeitpunkt noch zu sprechen kommen.
4 Aggressionstheorien
Man unterscheidet in der Psychologie im Wesentlichen drei Theorieansätze:
Wölbitsch Mario
Mai 2004
17
•
Trieb- bzw. Instinkttheorien
•
Frustrations-Aggressions-Theorien und die
•
Gruppe der Lerntheorien.
Jede dieser Theorien versucht, „die“ menschliche Aggression auf „ihre Weise“ zu
klären.
Es ist allerdings festzuhalten, dass eigentlich kaum noch jemand, nur eine einzige
dieser Lehren für richtig oder falsch hält. Vielmehr ist man der Meinung, dass mit
keinem dieser 3 Kernbegriffe - „Trieb“, „Frustration“ und „Lernen“ alleine - die
Vielfalt aggressiver Erscheinungen zu erklären ist.
4.1 Trieb-, Instinkttheorien
Die Trieb- wie auch die Instinkttheorien gehen von der Annahme aus, dass es im
Organismus eine angeborene Quelle gibt, die spontan und fortwährend aggressive
Impulse erzeugt. Diese müssen in der einen oder anderen Form (nicht unbedingt
zerstörerisch) zum Ausdruck kommen. Andernfalls führen sie zu einem
Aggressionsstau bzw. zu seelischen Störungen.
Lt. Nolting (Nolting 2000, S.49) haben die Triebtheorien ausgedient, spielen in der
heutigen Psychologie praktisch keine Rolle mehr.
Als bekanntester Vertreter der psychoanalytischen Triebtheorien gilt Sigmund
Freud: in den 20er bzw. 30er Jahren entwickelte er (z.T. in Anlehnung an Alfred
Adler, seinem ehemaligen Schüler) die sog. »dualistische« Trieblehre. Nach
Auffassung Freuds gibt es demnach zwei Triebe, die in jedem Menschen
miteinander konkurrieren: einen Lebenstrieb (»Eros«) und einen Todestrieb
(vereinzelt auch Aggressions- bzw. Zerstörungstrieb genannt). Das Ziel des
Todestriebs ist es, das Lebendige zum Tode zu führen. Hier kommt dann der Eros
ins Spiel; indem er den Todestrieb in die Außenwelt »umleitet« (wo er dann in
Form aggressiver Verhaltensweisen zum Ausdruck kommt). Er bewahrt den
Wölbitsch Mario
Mai 2004
18
Menschen sozusagen vor der »Selbstzerstörung«. Diese Vorstellung ließ sich
empirisch jedoch nie bestätigen.
Neben Freud, machte auch Lorenz (1963) als einer der bekanntesten Vertreter der
Ethologie, der Vergleichenden Verhaltensforschung (Tierverhaltensforschung) auf
sich aufmerksam. Mit seinem Buch: „Das sogenannte Böse“ erreichte er einen
sehr hohen Bekannteitsgrad.
Lorenz ging davon aus, dass sich in unserem Organismus ständig aggressive
Impulse erzeugt werden, diese sich so lange aufstauen, bis eine bestimmte
Schwelle überschritten wird. Es kommt in der Folge zu einer Entladung in Form
von einer aggressiven Handlung. Diese Theorie wird auch, nicht schwer
nachvollziehbar, als „Dampfkesseltheorie“ bezeichnet. Nach dieser Theorie ist der
Mensch nicht wütend, weil ihm z. B. Ärgerliches wiederfuhr – dies hat allenfalls
das Ventil geöffnet – sondern weil der spontane Trieb sich wieder einmal entladen
musste. Nach dieser „Abreaktion“ herrscht Ruhe, bis wieder ein bestimmter
„Dampfdruck“ erreicht wird.
Je länger keine Entladung statt findet, desto größer ist der Triebstau und desto
kleiner kann der Anlass sein, der für einen aggressiven Ausbruch verantwortlich
ist. Im Extremfall könnte es sogar sein, dass die Entladung auch ohne äußeren
Auslöser stattfindet. (=Leerlaufreaktion)
Lorenz Vorschlag war es dann auch, Aggressionen möglichst sinnvoll und auf
sozial akzeptablen Bahnen zu kanalisieren - ursächlich hielt er sie für
unvermeidlich. Er hebt hier v.a. die Bedeutung des Sports als »kulturell ritualisierte
Form des Kämpfens« hervor. Dem zugrunde liegt die Idee, dass durch das
Ausüben vieler »kleiner« Aggressionen die aggressive Energie verzehrt wird, die
andernfalls eventuell zu schwerwiegenderen Manifestationen von Aggression
führen würde. Dieser Effekt ist in der Psychologie unter der Bezeichnung TriebKatharsis (siehe auch Kapitel 2.4.1.1.) geläufig.
4.2 Frustrations-, Aggressionstheorie
Wölbitsch Mario
Mai 2004
19
Im Unterschied zu den Triebtheorien entsteht die Aggression nach der
Frustrations-Aggressionstheorie nicht spontan, sondern als Reaktion auf störende,
unangenehme Reize. Die ursprüngliche Frustrations-Aggressionstheorie - wie sie
1939 von der sog. Yale-Gruppe (eine Forschergruppe bestehend aus Dollard,
Doob, Miller, Mowrer und Sears) formuliert wurde - beruhte im Wesentlichen auf
zwei Annahmen:
a.) Aggression ist immer eine Folge von Frustration,
b.) Frustration führt immer zu einer Form von Aggression.
Der Frustrationsbegriff wurde ursprünglich recht eng definiert als die »Störung
einer zielgerichteten Aktivität«; gemeint ist also die Frustrationssituation und nicht
das Frustrationserlebnis (= der innere Folgezustand, der entsteht, wenn die
Erreichung eines Ziels verhindert wird).
Im Gegensatz zu den Triebtheorien ließ sich die Frustrations-Aggressionstheorie
empirisch durchaus belegen. Allerdings konnten die o.g. Annahmen so nicht
gehalten werden, sie erwiesen sich als zu eng gefasst. Aggressionen gehen zwar
häufig auf eine Frustration zurück, aber eben nicht immer. Was ist mit Fällen
instrumenteller Aggressionen, also mit dem bezahlten Mörder oder mit dem
Bankräuber? Zwar mag auch hier Frustration vorausgehen, aber die Reaktion auf
die Frustration ist eben eine andere; erst sekundär - eben als Mittel zum Zweck; in
diesem Fall der Bereicherung - kommt dann Aggression ins Spiel; andere
Beispiele wären Aggression aus Gehorsam, Nachahmung oder gar Sadismus.
Nicht jede Frustration löst automatisch eine Aggression aus, oft kommt es
stattdessen zu Reaktion wie Fluchtverhalten oder Apathie. Auch ist es durchaus
möglich z.B. Kinder so zu trainieren, dass sie auf Frustrationen hin konstruktiv
reagieren. (Davitz 1952; zit. n. Selg und a. 1997, S. 24).
Alleine über Frustrationen lässt sich Aggression offenbar nur schwer erklären. An
dieser Stelle kommen dann die Lerntheorien ins Spiel.
4.3 Lernpsychologische Theorien
Im Gegensatz zu den Triebtheorien und der Frustrations-Aggressionstheorie
beschränkt sich der lerntheoretische Ansatz nicht nur auf die Erklärung
Wölbitsch Mario
Mai 2004
20
aggressiver Verhaltensweisen, sondern beschäftigt sich mit dem gesamten
Spektrum des Sozialverhaltens. Aggression nimmt hier keinen Sonderstatus ein,
sondern wird letztlich nur als eines von vielen möglichen Verhaltensmustern
gesehen, ausgehend von der Vorstellung, das Sozialverhalten überwiegend auf
Lernvorgängen beruhen. Ein sehr bedeutender Vertreter dieser Richtung ist der
Psychologe Albert Bandura. (Bandura, 1979). Er stellte eine komplexe sozialkognitive Lerntheorie auf, welche mehrere Lernmechanismen, insbesondere das
Lernen am Erfolg, beinhaltet.
Bei
der
Lerntheorie
handelt
es
sich
und
da
sind
sich
die
meisten
Aggressionsforscher einig, um den wohl wichtigsten der drei Ansätze.
Was versteht man zunächst einmal unter dem Begriff des »Lernens«? „Lernen
bedeutet die Veränderung personaler Dispositionen aufgrund von Erfahrungen.“
(Nolting 2000, S. 95). Mit Dispositionen sind in diesem Fall Einstellungen,
Fähigkeiten, Kenntnisse, Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen, Motive,
Gefühlsneigungen, usw. gemeint. Das Spektrum dessen was gelernt werden
kann, umfasst also eine ganze Menge und beschränkt sich keineswegs nur auf
den reinen Wissenserwerb. Viel wichtiger noch ist aber die Erkenntnis, dass es
unterschiedliche Arten von Lernvorgängen gibt: die Art und Weise wie man etwas
lernt unterscheidet sich also von Fall zu Fall.
4.3.1 Die klassische Konditionierung
Die wohl einfachste und bekannteste Art des Lernens ist die »klassische
Konditionierung« (auch »Signallernen« genannt): wer kennt nicht das Beispiel vom
Pawlow’schen Hund? In aller Kürze hier noch einmal die Versuchsanordnung:
•
gibt man einem hungrigen Hund Futter, sondert er Speichel ab; diese
Speichelabsonderung ist eine unbedingte Reaktion auf einen unbedingten Reiz
(nämlich »Futter im Maul«)
•
lässt man der Fütterung einen neutralen Reiz unmittelbar vorausgehen (in der
ursprünglichen Versuchsanordnung war das ein Glockenton), so zeigt sich
zunächst keine Speichelreaktion
Wölbitsch Mario
Mai 2004
21
•
nach mehrmaliger Wiederholung (selbst – oder gerade dann – wenn man das
Schema nicht konsequent beibehält) kommt es zu einer Kopplung von
neutralem und unbedingtem Reiz; der Speichelfluss kann jetzt bereits über den
Glockenton allein ausgelöst werden
•
der vormals neutrale Reiz (Glockenton) wird zum bedingenden Reiz, d.h. der
Hund »assoziiert« quasi den Glockenton mit der Fütterung und sondert
Speichel ab; damit hat sich ein bedingter Reflex ausgebildet (Speichelfluss auf
Glockenton nämlich)
•
diesen Vorgang bezeichnet man auch als »klassische Konditionierung«
Übertragen auf den Menschen und in den Kontext der Aggressionsforschung
bedeutet das, dass ein ursprünglich neutraler Reiz zum »Signal« für das Auslösen
aggressiver
Gefühle
wird,
nachdem
er
wiederholt
mit
einem
anderen,
ursprünglichen Affektauslöser gekoppelt aufgetreten ist. Diese Auslöser können
z.B. bestimmte körperliche Charakteristiken und Äußerlichkeiten (etwa Kleidung)
oder mimische, gestische bzw. sprachliche Angewohnheiten sein, aber auch
bestimmte Örtlichkeiten oder andere äußere Situationsmerkmale. In vielen Fällen
spricht
man
hier
von
unmittelbar
persönlich
erlebten
ärgererregenden
Erfahrungen, mit denen diese Reize verbunden waren, oder von indirekt
sprachlich und vorstellungsmäßig vermittelten Erfahrungen. Der Betreffende hat
gelernt, auf diesen Reiz mit einem negativen Affekt zu reagieren. Die klassische
Konditionierung führt also dazu, dass nicht nur Provokationen, Störungen und
andere Frustrationen, sondern auch die mit ihnen in Verbindung gebrachten
Personen, Gegenstände, Symbole usw. aggressive Gefühle auslösen können.
Je weniger sich die vegetativen und emotionalen Reaktionen, die von großer
Bedeutung für das Signallernen sind, von gedanklichen Prozessen steuern lassen,
umso eher folgen sie einer klassisch konditionierten Reiz-Reaktions-Automatik.
Der Begriff der klassischen Konditionierung ist recht eng gefasst: Voraussetzung
ist immer das Vorhandensein natürlicher, unbedingter Reflexe oder reflexartiger
Reaktionen. Zudem lernt man durch klassische Konditionierung kein »neues«
Verhalten im engeren Sinn (genauso wie der Speichelfluss im Beispiel des
Pawlow’schen Hundes kein »neues« Verhalten im eigentlichen Sinn darstellt).
Wölbitsch Mario
Mai 2004
22
Schon von daher spielt die klassische Konditionierung nur eine vergleichsweise
untergeordnete Rolle innerhalb der Aggressionsforschung. Dennoch kann sie
wichtige Hinweise liefern, z.B. was Generalisierungsprozesse anbelangt. Sammelt
man etwa mehrheitlich Negativerfahrungen im Umgang mit einem bestimmten
Mitmenschen, kann es sein, das in der Folge bereits der Anblick oder die bloße
Namensnennung des Betreffenden ausreicht, um die negativen Gefühle wieder
aufkeimen zu lassen. In bestimmten Fällen kann es dann durchaus auch zu einer
Generalisierung dieser Gefühlsreaktion auf Familienangehörige und Freunde
kommen. Evtl. kommt es sogar zu einer Ausweitung auf Kategorien wie
Schichtzugehörigkeit oder Nationalität (diesbezügliche Beispiele gibt es ja leider
zu Genüge; wobei hier natürlich auch andere Arten des Lernens ihren Anteil
haben).
4.3.2 Lernen am Modell
Eine andere Art des Lernens ist das »Lernen am Modell«; man spricht auch etwas anschaulicher - vom sog. »Beobachtungslernen«. Die zugrunde liegende
Vorstellung ist eigentlich trivial: man beobachtet ein bestimmtes Verhalten bei
einem Modell (i.S. eines Vorbilds) und imitiert es anschließend so gut wie möglich.
Durch Beobachtung können neue Verhaltensweisen schnell und effektiv erlernt
werden; auch solche, die der betreffende Mensch zuvor nicht ausführen konnte.
Das gilt für das Bedienen einer Kaffeemaschine oder für den Spracherwerb
ebenso,
wie
für
aggressives
Verhalten.
Neben
dem
Neuerwerb
von
Verhaltensweisen können durch Modelle aber auch solche Verhaltensmuster
angeregt werden, die bereits zum Verhaltensrepertoire der betreffenden Person
gehören. Modelle bestimmen also auch unser Verhalten in bestimmten Situationen
mit, indem sie stimulierend wirken oder Hemmungen reduzieren (man denke hier
nur an den »Gruppenzwang«).
Wenn man bedenkt, wie oft man im Alltag mit imitierendem Verhalten (wie es z.B.
bei Kindern recht deutlich zutage tritt) konfrontiert ist, erstaunt es ein wenig, das
die enorme Bedeutung des Modelllernens in der Aggressionsforschung lange Zeit
verkannt wurde; erst in den 60er Jahren fand hier ein Paradigmenwechsel statt.
Wölbitsch Mario
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23
Auch in der öffentlichen Meinung wurde (und wird z.T.) dem Modelllernen nicht die
Aufmerksamkeit geschenkt, die es eigentlich verdient hätte; nur in der bis heute
anhaltenden Diskussion um die Medienwirkung von Gewaltinhalten spielt das
Beobachtungslernen eine wichtige Rolle. Dass Eltern, Lehrkräfte und nicht zuletzt
auch Peer-Groups oft weitaus signifikantere Aggressionsmodelle abgeben, wurde
lange Zeit schlicht nicht wahrgenommen (vgl. Nolting 2002, S. 98).
Aggressiven Modellen begegnet man im Alltag auf Schritt und Tritt, sei es
innerhalb der Familie, sei an der Schule, am Arbeitsplatz, in den Medien, usw. Wie
bereits angedeutet kommt dabei der Familie und später den Peer-Groups
besondere Bedeutung zu, einfach weil sie im Rahmen der Entwicklung eines
Jugendlichen die zentralen Dreh- und Angelpunkte darstellen.
Ob ein bestimmtes Modell nun letzten Endes nachgeahmt wird oder nicht, hängt
von einer Reihe verschiedener Faktoren ab. So gibt es z.B. keinen Automatismus,
der misshandelte Kinder im späteren Leben zwangsläufig selbst zu Misshandlern
werden lässt. Und auch umgekehrt handelt es sich bei der überwiegenden Zahl
der Kindesmisshandler keineswegs selbst um Opfer von Kindesmisshandlungen
(vgl. Engfer 1986, Widom 1989, Schneider 1993; zit. n. Nolting 2002, S. 102).
Welche zusätzlichen Faktoren bestimmen nun also, welches Verhalten imitiert
wird? Dazu nun folgende Erkenntnisse (wiederum in Anlehnung an Nolting 2002,
S. 106-108):
•
Zunächst einmal scheint es prinzipiell keinen Unterschied zu machen, ob ein
Modell nun realen oder fiktiven Charakter (z.B. Zeichentrickfiguren) hat. Nolting
verweist hier unter anderem auf Mussen & Rutherford 1961 sowie Bandura
und Ross & Ross 1963a; für mich bleibt kritisch anzumerken, ob hier nicht eine
Differenzierung im Hinblick auf das Lebensalter angemessen wäre: Nimmt ein
Erwachsener z.B. „Popey“ od. „Tom u. Jerry“ wirklich ernsthaft als Vorbild?
•
Das Modell wird besonders leicht nachgeahmt, wenn es sich als erfolgreich
erwiesen hat, kaum hingegen, wenn es unangenehme Folgen mit sich bringt
(Bandura, Ross & Ross 1963b, Bandura 1965, Hicks 1968 und a. zit. nach
Nolting 2002 S.106). Hier kommt allerdings bereits die dritte Lerntheorie ins
Spiel: das »Lernen am Erfolg«.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
24
•
Die moralische Bewertung (also Kategorien wie »gut« und »böse« oder
»gerechtfertigt« od. »nicht gerechtfertigt«) des beobachteten Verhaltens ist
ebenfalls von großer Bedeutung.
•
Auch die Wahrnehmung bzw. Einschätzung derjenigen Person, die das Modell
liefert, ist von ausschlaggebender Bedeutung: besonders charismatische
Akteure oder solche, die Prestige und Macht ausstrahlen, werden eher imitiert
als andere (Bandura, Ross & Ross 1963c, Mischel & Grusec 1966 zit. nach
Nolting 2002 S.107).
•
Die (emotionale) Beziehung zwischen Betrachter und Modell ist ein weiterer
Faktor, der die Nachahmung von Aggression mitbestimmen mag: wie stehe ich
zum jeweiligen Vorbild? Ist er/sie mir eher sympathisch oder unsympathisch?
Steht er/sie mir nah oder nicht?
•
Der Beobachter selbst bringt natürlich auch gewisse Dispositionen mit, die sich
auf die Aggressionsnachahmung auswirken können.
•
Situative Bedingungen (z.B. akute Spannungszustände) können natürlich
ebenfalls Aggressionsnachahmung fördern bzw. hemmen.
•
Ein letzter wichtiger Punkt ist die Frage, wann die Nachahmung eintritt; in den
meisten Untersuchungen wird davon ausgegangen, dass die Nachahmung
unmittelbar auf ein beobachtetes Verhalten folgt. Das trifft aber nur auf einen
geringen Teil des Modelllernens zu. Viel öfter wird ein beobachtetes Verhalten
im Gedächtnis erst einmal »zwischengespeichert«, ohne das es zur
Ausführung kommt. Auch dann handelt es sich aber zweifelsfrei um einen
Lernprozess: das gelernte Verhalten gehört fortan zum Verhaltensrepertoire,
steht also bei Bedarf jederzeit zur Verfügung; ob später einmal Gebrauch
davon gemacht wird, hängt hingegen - so wird zumindest vermutet - von einer
Reihe von sog. »Ausführungsbedingungen« ab: z.B. ob man frustriert oder
angespannt ist, ob bestimmte aggressive Hinweisreize vorhanden sind (wenn
sich z.B. ein Gegenüber aggressiv verhält), ob Hemmnisse vorliegen, etc. Im
Prinzip also die gleichen Faktoren, die bei der Frustrations-AggressionsTheorie eine Rolle spielen. Darüber hinaus lässt sich generell sagen: je mehr
eine bestimmte Situation derjenigen Situation gleicht, in der das Verhalten
ursprünglich einmal beobachtet wurde, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit,
Wölbitsch Mario
Mai 2004
25
das das Verhalten auch ausgeführt wird; das kann mitunter auch noch Jahre
und Jahrzehnte nach der Aneignung der Fall sein.
4.3.3 Operative Konditionierung (Lernen am Erfolg, Misserfolg)
An dieser Stelle kommt dann die dritte Lerntheorie ins Spiel: das »Lernen am
Erfolg bzw. Misserfolg«. Alternativ spricht man auch von »operanter oder
instrumenteller
Konditionierung«,
von
»Lernen
durch
Bekräftigung
bzw.
Verstärkung« oder vom »Lernen am Effekt« (was Erfolg und Misserfolg ja dann
gleichermaßen mit abdeckt). Unabhängig davon für welche Bezeichnung man sich
entscheidet - gemeint ist immer ein- und dasselbe:
Ob ein Mensch dazu neigt, sich in irgendeiner Form aggressiv zu verhalten, hängt
immer auch von einer Erfolgserwartung ab. Mit anderen Worten: ein Verhalten
kommt vor allem dann zur Anwendung, wenn es in einer bestimmten Situation für
Erfolg versprechend gehalten wird. Mögliche »Erfolge« aggressiven Verhaltens
können z.B. sein:
•
Wenn es einem gelingt, sich durchzusetzen und man im Ergebnis als »Sieger«
oder als »Gewinner« dasteht,
•
wenn man auf diese Weise Beachtung und Anerkennung erfährt,
•
wenn man sich erfolgreich verteidigen oder zur Wehr setzen kann,
•
wenn man an Selbstbewusstsein gewinnt oder in der eigenen Achtung steigt,
•
wenn nach subjektivem Empfinden die Gerechtigkeit wiederhergestellt ist,
•
und nicht zuletzt manchmal auch einfach dadurch, das man seinem
Gegenüber Schaden oder Schmerz zufügt.
Anhand der genannten Beispiele zeigt sich bereits, das das Lernen am Erfolg
auch eng mit dem Motivationsbegriff verknüpft ist: so mag es z.B. für manchen
Menschen durchaus ein Anreiz für aggressives Verhalten sein, wenn man dadurch
z.B. Beachtung oder gar Anerkennung finden kann. Das Lernen am Erfolg ist
somit
nicht
nur
eine
Lerntheorie,
sondern
kann
gleichzeitig
auch
als
Motivationstheorie der Aggression verstanden werden.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
26
Wird nun ein Verhalten - in welcher Hinsicht auch immer - als Erfolg versprechend
eingestuft und kommt es somit zur Ausübung, so tritt - je nach Konsequenz des
Verhaltens - ein entsprechender Rückkoppelungseffekt ein: wird die Konsequenz
des Verhaltens als erfolgreich verbucht, kommt es zur Verstärkung des jeweiligen
Verhaltens. Das entsprechende Verhaltensmuster steigt quasi in der Hierarchie
des Verhaltensrepertoires ein Stück weit nach oben. Umgekehrt - wenn also das
Verhalten zu einem Misserfolg führt - erfährt es eine Abschwächung.
Welche Rückschlüsse ergeben sich daraus im Hinblick auf das Erlernen
aggressiver Verhaltensweisen? Dazu wieder einige lerntheoretische Erkenntnisse
(abermals in Anlehnung an Nolting 2002; S. 111-115):
•
Zunächst einmal: auch wenn Aggressionen für Außenstehende oft »erfolglos«
aussehen mögen (weil sie z.B. nicht zur Durchsetzung führen, oder weil der
Täter selbst zum Opfer - nämlich von Sanktionen - wird), können sie vom
subjektiven Empfinden des »Aggressors« her durchaus als Erfolg gewertet
werden (z.B. weil sie mit »inneren Effekten« verknüpft sein können;).
•
Es ist keineswegs erforderlich, das ein Verhalten jedes einzelne Mal Erfolg
zeigt, um eine positive Verstärkung zu erfahren; im Gegenteil: oft wird das
Verhalten sogar nachdrücklicher gelernt, wenn nur gelegentliche (sog.
»intermittierende«) Bekräftigungen auftreten. Selbst wenn Erfolge eine Zeit
lang ausbleiben, wird das Verhalten auf diese Weise beibehalten werden.
Misserfolge werden also in die Erfolgserwartung »miteingeplant«. Das gilt nicht
zuletzt auch für die folgende Beobachtung...
Eine eigentlich triviale Erkenntnis: gibt man aggressivem Verhalten gegenüber
nach, kann dies als positiver Verstärker wirken: das aggressive Verhalten führt
letztlich ja zum Erfolg (man setzt sich durch). Geradezu klassisch ist in diesem
Zusammenhang das Beispiel von den entnervten Eltern, die ihrem schreienden
Kind gegenüber nachgeben, damit endlich wieder Ruhe einkehrt; für den
Moment sind sie damit das Problem zwar los, auf Dauer werden
Verhaltensmuster so aber regelrecht zementiert.
•
Wie oben bereits angedeutet, kann aggressives Verhalten in bestimmten
Kreisen und Gruppen oder auch in besonderen situativen Bedingungen
Wölbitsch Mario
Mai 2004
27
durchaus einen »sozialen Wert« darstellen, und zwar unabhängig davon, ob es
prinzipiell mit Sanktionen belegt ist. Hier kommen dann oft Kategorien wie
»Ehre« oder »Stolz« ins Spiel, die besonders in der Gruppendynamik eine
große Rolle spielen: man reagiert aggressiv um »sein Gesicht zu wahren«, um
bei anderen »Eindruck zu machen« oder um »im Mittelpunkt zu stehen«; kurz:
man will sich Respekt und Anerkennung verschaffen. Bisweilen reicht sogar
schon die bloße Beachtung, gleich ob sie einem nun in Form einer positiven
oder einer negativen Reaktionen zugebracht wird: Hauptsache, man wird
überhaupt
wahrgenommen!
Man
denke
nur
an
die
zahlreichen
»Trittbrettfahrer«, die v.a. im Anschluss an besonders spektakuläre Coups
immer wieder einmal mit vergleichbaren (vermeintlich »harmlosen«) Aktionen
von sich Reden machen.
•
Abwehrreaktionen, deren Nutzen in erster Linie darin besteht, bestimmte
Formen der Aversion (egal ob sich nun um tätliche Angriffe, Drohungen oder
einfach nur etwaige Unannehmlichkeiten handelt) abzuwenden, führen bei
Erfolg zu einer negativen Verstärkung; »negativ« deshalb, weil ihr Sinn aus
lernpsychologischer Sicht in der „Aufhebung oder Vermeidung eines
unangenehmen Zustandes“ (Nolting 2002, S. 115) liegt (und nicht etwa, weil
die Reaktion auf das Verhalten negativ ausgefallen wäre bzw. das Verhalten
keinen Erfolg gezeigt hätte; der Erfolg – und damit die Verstärkung - liegt eben
hier gerade im Nicht-Eintreten einer Situation!). Abwehrreaktionen entstehen
oft im Spannungsfeld von Aggression und Angst. Zwar dominiert in einer
bedrohlichen Situation i.d.R. das Flucht- bzw. Ausweichverhalten (vgl. Fürntratt
1974) - schon deshalb, weil es vergleichsweise ungefährlich ist; wenn aber
Flucht bzw. Ausweichen - aus welchen Gründen auch immer - nicht möglich
ist, kommt es dann evtl. eben doch zur Aggression.
•
Unter bestimmten Umständen kann ein Verhalten auch dann noch als Erfolg
gewertet werden, wenn die Durchsetzung damit de facto nicht gelingt. Nämlich
dann, wenn das Verhalten selbst - unabhängig von seinem Resultat - als
positiv bewertet wird, z.B. weil es den eigenen Wertvorstellungen entspricht: so
mag sich jemand, der in einem Wettkampf unterliegt, vielleicht damit trösten,
das er zumindest »tapfer gekämpft« und sein Bestes gegeben hat.
Möglicherweise empfindet er sogar Stolz, weil er damit - der Niederlage zum
Wölbitsch Mario
Mai 2004
28
trotz - seinem eigenen Ideal entsprechen konnte (einen solchen Effekt
bezeichnet man auch als »positive Selbstbewertung«).
•
Auch das »Erleben von Gerechtigkeit« kann zu einer pos. Verstärkung führen;
z.B. wenn das eigene aggressive Verhalten als »gerechte« Strafe für einen
»Provokateur« verstanden wird. Die Aggression rechtfertigt man dann damit,
dass sie der Wiederherstellung des »normativen Gleichgewichts« dient. Dieser
Effekt spielt vor allem bei Rache- und Vergeltungsaggressionen eine Rolle.
•
Der »Erfolg« aggressiver Handlungen kann aber auch einfach darin bestehen,
das sie schlicht »Spaß macht«, sei es nun weil sie mit Nervenkitzel verbunden
ist oder man dabei - etwas überspitzt formuliert - seinen sadistischen
Neigungen Ausdruck verleihen kann. Bezeichnet wird das Ganze dann als
»Stimulierungs-Effekt«. Gerade bei der Stimulierung zeigt sich aber noch
etwas anderes: das nämlich die emotionale Befriedigung (bzw. der Erfolg)
auch an das Leid bzw. den Schmerz des Opfers gebunden sein kann, was ja
normalerweise eher einen (evtl. sogar unerwünschten) »Nebeneffekt« der
Aggression darstellt. Der Schmerz des anderen wird so zum Signal des
eigenen Erfolges (Nolting 2002, S. 119).
Wölbitsch Mario
Mai 2004
29
5 Gewalt u. Aggression in der heutigen Psychiatrie
In psychiatrischen Einrichtungen begegnet uns Aggression und Gewalt in den
unterschiedlichsten Formen. Generell lässt sich die Auto- und Fremdaggression
unterscheiden.
Unter Autoaggressionen versteht man „aggressives Verhalten“ gegen die eigene
Person. Dies kann sich als Verhalten in Form von „sich beißen, schlagen, kratzen,
Haare ausreißen, schneiden od. ritzen od. auch als Nahrungsverweigerung usw.,
zeigen. Nicht zu vergessen die wohl schwerwiegendste Form von Autoaggression:
„der vollendete Suizid!“
Auf den „ersten Blick“ könnte man meinen, dass diese Form der Gewalt die in der
„Psychiatrie Tätigen“ sozusagen nur am „Rande betrifft“! Bei genauerer
Betrachtung,
und da
spreche
ich aus eigener Erfahrung,
sind
solche
Verhaltensweisen eine sehr große, psychische Belastung!
Fremdaggressionen
können
als
Beleidigungen,
Drohungen,
Erpressung,
Sachbeschädigungen bis hin zu körperlichen Angriffen auftreten.
Durchgeführt
werden
solche
„wahrnehmungsbeeinträchtigten“
„Arten
von
Menschen.
Aggressionen“
Dazu
zählen
häufig
von
insbesondere
Menschen mit akuten Psychosen sowie Menschen die unter dem Einfluss von
Drogen stehen.
Nimmt man allerdings alle psychisch Kranken zusammen, dann geht von ihnen im
Durchschnitt kein größeres Risiko zur Gewaltausübung aus, als von der
„gesunden“ Bevölkerung!“ (Böker & Häfer, 1973)
Ich denke, dass das „Bewusst machen“, das sich „Darauf einstellen“, dass es zu
Aggressionen kommen kann, der erste Schritt zu einer präventiven Maßnahme
sein kann.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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Nicht unbeachtet sollte des weiteren der Aspekt des „ordnungspolitischen
Auftrages“ sein, der die in der Psychiatrie Tätigen sehr häufig, fast zwangsläufig
mit Gewalt u. Aggression in Zusammenhang bringt.
Die Gewalt wird, leider nicht selten, praktisch von außen ins Krankenhaus
„hineingetragen“. Man stelle sich nur vor, ein Mensch wird gegen seinen Willen mit
körperlichem Zwang in die Psychiatrie eingewiesen, gelegentlich in Begleitung der
Polizei, in Handschellen gefesselt, nachdem er sich in der Öffentlichkeit, der
Familie od. sich selbst gegenüber „gewalttätig“ verhalten hat. Wie wird so ein
Mensch dann reagieren? Welche Möglichkeiten stehen den in der Psychiatrie
Tätigen zur Verfügung? Abgesehen von der gesetzlichen Verpflichtung, zu
verhindern, dass ein per Gesetz untergebrachter Mensch das Krankenhaus
verlassen darf, spielt natürlich auch die emotionale Komponente eine große Rolle.
Einen Menschen gegen seinen Willen festzuhalten, ihn womöglich unter
Gewaltanwendung zu fixieren od. eine Zwangsmedikation durchzuführen, ist nicht
nur für den Betroffenen selbst ein oftmals „traumatisierendes Erlebnis“, sondern
gehört auch für die Pflegepersonen zu den wohl unangenehmsten, belastendsten
Tätigkeiten die es überhaupt in der Psychiatrie gibt (vgl. Richter, D., & Sauter, D.,
1998, S.8).
6 Möglichkeiten
der
Aggressionsminderung
und
–
verhinderung
Wie in meiner Einleitung schon erwähnt, bin ich der Meinung, dass es viele
Möglichkeiten zur Aggressionsverminderung bzw. –verhinderung gibt.
Es gibt zahlreiche, viel versprechende und in einigen Fällen auch bereits bewährte
Ansätze, wie man dem Problem effektiv entgegentreten kann. Auf der anderen
Seite allerdings, auch das hat sich bereits mehrfach gezeigt, leider auch nicht
wenige, die ein Stück weit am Ziel vorbeiführen bzw. sich im Nachhinein sogar als
kontraproduktiv erwiesen haben.
In den folgenden Zeilen habe ich mich unter anderem an den von Hans-Peter
Nolting
(vgl.
Wölbitsch Mario
Nolting
2002,
S.
195)
beschriebenen
„Möglichkeiten
zur
Mai 2004
31
Verminderung von aggressiven Verhalten“ orientiert. Er erörtert, welche Wege
man beschreiten kann, und nicht, welche man beschreiten soll. Des weiteren
meint er: „Es ist nicht Sache der Psychologie, sondern eine Frage persönlicher
Wertungen, ob und wo man die Verminderung aggressiven Verhaltens erachtet
oder nicht“ (vgl. Nolting 2002, S. 196). Die folgenden Ausführungen sind also
keine Aufforderung: „Tu dieses od. jenes“, sondern sie sind Wegweiser für
diejenigen, die bestimmte Änderungen suchen und fragen: “Was könnte ich tun?“
6.1 Aggression abreagieren
Dieser in weiten Teilen der Bevölkerung (bis vor kurzem auch bei mir..)
verbreiteten Vorstellung nach, soll es möglich sein, aggressive Energien
»abzureagieren«, indem man bereits im Vorfeld vergleichsweise harmlose Formen
von Aggression »auslebt« und so einen potenziell gefährlichen »Aggressionsstau«
(verbunden mit der Gefahr weitaus schwerwiegenderer Manifestationen von
Aggression) verhindert. Mit anderen Worten: man soll »rechtzeitig Dampf
ablassen, bevor der Kessel explodiert«. Diese umgangssprachliche Beschreibung
verdeutlicht bereits sehr schön die zugrunde liegende bildhafte Vorstellung eines
Dampfdruckventils (wir erinnern uns an die „Dampfkesseltheorie von K. Lorenz“ –
siehe Kapitel 2.2.1). Dieses Modell findet sich neben den Triebtheorien auch bei
der Frustrations-Aggressions-Theorie (Dollard – siehe Kapitel 2.2.2) wieder.
In der Psychologie kennt man diesen Ansatz des Abreagierens von Aggression
unter der Bezeichnung der Katharsis-Hypothese(n).
6.1.1 Katharsis-Hypothese
Der Katharsisbegriff stammt aus dem antiken Griechenland und bedeutet
übersetzt soviel wie »Reinigung« oder »Befreiung«. Dahinter steckt ursprünglich
die von Aristoteles vertretene Vorstellung einer Läuterung des Zuschauers durch
die Tragödie, indem sie in ihm Empfindungen von Furcht und Mitleid erweckt. Die
(und sei es nur indirekte) Konfrontation bzw. Auseinandersetzung mit Ängsten
oder
anderen
Wölbitsch Mario
leidvollen
(emotionalen)
Erfahrungen
bewirkt
eine
Art
Mai 2004
32
»Seelenreinigung« und befreit so von den eigenen Ängsten (respektive anderen
negativen Affekten; bildhaft vergleichbar vielleicht mit der reinigenden Wirkung
eines Gewitters).
So plausibel dieser Ansatz auf den ersten Blick auch erscheinen mag, empirisch
ist er (v.a. durch zahlreiche Untersuchungen in den 60er und 70er Jahren)
mittlerweile weitgehend widerlegt (vgl. Selg 1997, S. 22).
Klar ist auch, dass sehr unterschiedliche Wege und Wirkungen des „Auslebens“
gemeint sein können. So gesehen müsste man nicht von „der“, sondern „den“
Katharsis-Hypothesen sprechen. H.P. Nolting hat versucht, die Aktivitäten, die für
den Abbau aggressiver Impulse häufig genannt werden, systematisch zu erfassen.
Die Bandbreite möglicher Aktivitäten ist groß. Sie reicht vom „Ausdenken
aggressiver Geschichten“ bis hin zur „direkten Vergeltung am Provokateur“. Klar
ist, dass einerseits eine Differenzierung der einzelnen Aktivitäten unbedingt von
Nöten ist, und anderseits „nur“ entschärfte Aktivitäten als Beitrag zur
Aggressionsminderung angesehen werden können.
Wege zum
Eigene aggressive od.
Beobachtungen von
quasi-aggressive Aktivität.
Aggression
-
-
Phantasie-Aggression
„Abreagieren“?
Ersatzwege:
Unspezifisch
Quasi-aggressive
Anschauen von
-
Ausdenken aggressiver
Aktivitäten in Sport,
Aggression im Film,
Geschichten, Bilder
Spiel;
Sport usw.
usw.
-
Holzhacken und dgl.
-
„ins Leere brüllen,
-
Anhören aggressiver
Witze
schreien“
Ersatzwege:
-
Anlassbezogen
In Gegenwart Dritter
-
Hören von Witzen,
-
Spott usw. über
Provokateurs vorstellen,
schimpfen, spotten und
Provokateur
ggf. in Geschichten und
dgl.
Ersatzwege:
Aggression (Vergeltung)
-
Sich die Bestrafung des
über Ärger-Anlass
Eigene Vergeltung am
Provokateur
a.
-
Bestrafung des
-
Provokateurs durch
andere
Wesentliche Schlussfolgerungen zur Katharsis-Hypothese
(vgl. Nolting 1997; S. 214-216):
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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-
Generell geht man - wenn überhaupt - nur von einem recht kurzfristigen
Katharsiseffekt
aus,
der
bestenfalls
dazu
geeignet
wäre,
akute
Spannungszustände abzubauen (was andererseits ja schon ganz beachtlich
wäre); eine längerfristige Aggressionsminderung konnte nicht nachgewiesen
werden.
-
Nur ein Katharsiseffekt gilt empirisch als halbwegs gesichert: die sog.
»Vergeltung am Provokateur« (eigene oder beobachtete), d.h. nur dann, wenn
sich eine Aggression auch direkt gegen den Verursacher des Ärgers richtet,
kann es in einigen Fällen (also keinesfalls automatisch; gelegentlich kann man
auch gegenteilige aggressionssteigernde Effekte beobachten) zu einer
Reduzierung der Aggressionsbereitschaft kommen. Hinzu kommt, dass es sich
letztlich auch wieder nur um eine Form der Aggression handelt; eine echte
Aggressionsminderung wird somit nicht erreicht.
-
Im Hinblick auf echte »Ersatzwege« des Auslebens von Aggressionen fielen
die Ergebnisse hingegen eindeutig negativ aus, d.h. weder durch das
Betrachten von Gewaltinhalten, noch durch das Produzieren aggressiver
Fantasien,
noch
durch
irgendwelche
anderen
pseudo-aggressiven
Ersatzhandlungen (z.B. Schreien, intensive sportliche Betätigung) ist es
möglich, akuten Ärger loszuwerden oder gar vorbeugend ein »AggressionsReservoir« abzubauen. Ohnehin eine Vorstellung, von der man sich
verabschieden sollte. Es gibt keinen empirischen Beweis, der die These eines
unspezifischen Aggressions-Reservoirs, aus dem man Energien ablassen
kann, stützen würde. Ärgergefühle sind nicht so unspezifisch, dass man sie
durch »irgendeine« Aggression gegen irgendwen oder irgendwas abbauen
könnte.
Den
Groll
auf
den
Ehepartner
am
Punching-Ball
wieder
»loszuwerden«, ist eine völlig unrealistische Vorstellung. (vgl. Nolting 2002, S.
214). Bestenfalls stellt sich so etwas wie eine »Trivial-Katharsis« ein (vgl. Selg
und a. 1997, S. 26), d.h. es kommt schlicht zu einem Ermüdungseffekt, der
dann tatsächlich (kurzfristig) die Aggressionsbereitschaft senken kann.
Unabhängig von der zweifelhaften aggressionsmindernden Wirkung können
derartige Ersatzhandlungen aber durchaus als angenehm oder subjektiv
befreiend erlebt werden. Zudem sind sie i.d.R. unbedenklich, solange aus den
»spielerischen« Aggressionen keine ernsten werden.
Wölbitsch Mario
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-
Nicht von der Hand zu weisen ist, dass es die unterschiedlichsten Aktivitäten
gibt, die eine gereizte Stimmung zumindest vorübergehend auflockern können.
Das können pseudo-aggressive Ersatzhandlungen wie o.g. sein, müssen aber
nicht: andere »neutrale« Aktivitäten - wie z.B. das Lösen von Denksport- und
Rechenaufgaben (also simple Ablenkung) oder Musikhören - erzielen einen
durchaus vergleichbaren, in einigen Fällen sogar noch wirksameren, Effekt.
Selbst bloßes Abwarten kann ein probates Mittel für eine momentane
Beruhigung sein (das deckt sich auch mit alltagssprachlichen Vorstellungen
vom »Verrauchen« von Ärger). Das lässt den Rückschluss zu, dass nicht das
»Abreagieren« im Vordergrund steht, sondern viel mehr die Komponente der
Ablenkung. Es kommt also darauf an, den Kreislauf des »Brütens« über den
Ärger zu unterbrechen und so eine andere Stimmung zu erzeugen. Das kann
durch pseudo-aggressive Verhaltensweisen geschehen, muss aber eben nicht.
Genauso effektiv (wenn nicht effektiver) ist es, einfach etwas zu tun, was
einem Spaß macht.
-
Pseudo-aggressive Ersatzhandlungen mögen im Einzelfall als kurzfristig
befreiend erlebt werden. Einen konstruktiven Beitrag zur Behebung evtl.
ursächlicher Problemstellungen leisten sie aber nicht (das gilt freilich auch für
»neutrale« Aktivitäten, die nur auf Ablenkung abzielen)!
-
Den o.g. Einwänden zum Trotz können pseudo-aggressive Ersatzhandlungen
im Einzelfall - z.B. bei Menschen, die hinsichtlich ihrer emotionalen
Ausdrucksfähigkeit gehemmt sind, durchaus ein sinnvolles therapeutisches
Mittel sein (wenn auch nicht unbedingt im Kontext der Aggressionsminderung;
als Abreagieren von Aggressionen sollte dies nämlich nicht missverstanden
werden, vielmehr als Hilfe zum Erschließen der eigenen Gefühlswelt). Auch
sollte man sich vor dem Umkehrschluss hüten und die Ergebnisse nicht
dahingehend interpretieren, das die Unterdrückung oder gar Verdrängung
aggressiver Gefühle in irgendeiner Weise sinnvoll wäre. Dem ist ganz sicher
nicht so! Was bleibt ist die Erkenntnis, das andere Ansätze hinsichtlich der
Aggressionsminderung weitaus viel versprechender sind, sei es nun die bloße
Ablenkung (s.o.) oder eine kritische und differenzierte Selbstreflexion, ein Sichbewusst-machen der eigenen Gefühle und der Kausalzusammenhänge im
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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Wirkungsgefüge der Aggression (»Was macht mich wann und weshalb wütend
bzw. aggressiv?«).
Das die Vorstellungen, die sich hinter dem Katharsisbegriff verbergen, trotz dieser
recht eindeutigen Forschungsergebnisse - die ja zum großen Teil bereits aus den
60er und 70er Jahren stammen - in der Öffentlichkeit dennoch kaum an
Popularität eingebüsst haben, mag mehrere Gründe haben. Zum einen liegt es
nahe, aggressiven Gefühlen auch durch Aggressionen Ausdruck zu verleihen,
wobei es ja diesbezüglich durchaus auch zu den o.g. subjektiven Erleichterungen
kommen kann. Zum anderen ist die zugrunde liegende Vorstellung des
»Abreagierens« von Aggression in ihrer Simplizität so schön »griffig«. Und nicht
zuletzt erliegt man wohl auch der Suggestivkraft der in der Alltagssprache so fest
verwurzelten Metaphern (z.B. »Ventil«, »unter Druck / Dampf stehen«, »Dampf
ablassen«, »Gefühle herauslassen«, etc.). Auch deswegen noch einmal der
Hinweis: Das Bild vom Ventil ist irreführend! Gefühlen Ausdruck zu verleihen ist
nicht gleichbedeutend mit Gefühlen »loswerden«! „Gefühle kann man nicht
»rauslassen« wie Wasserdampf aus einem Ventil, und sie entschweben nicht
durch die Lüfte. Auch wenn man sie »äußert« - sie bleiben »in uns drin«“ (vgl.
Nolting 1997, S. 216).
6.2 Erkennen u. Einschätzen von Frühwarnsymptomen
Es stellt sich die Frage, ob aggressive Handlungen wirklich vorhersehbar sind.
Wäre dies wirklich der Fall, müsste es meiner Meinung nach relativ leicht möglich
sein, Aggressionen u. Gewalt verhindern zu können.
In einer Studie aus Großbritannien (vgl. Whittington, R., 1998, S.10) konnten
folgende Verhaltensweisen, die im Vorfeld eines Angriffes auftreten, erfasst
werden:
-
Verbale Beschimpfungen
-
Hohe allgemeine Aktivität
-
Unangenehme körperliche Aktivität
-
Laute Stimme
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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-
Starrender Blickkontakt
-
Fluchen
-
Bedrohliche Gesten
-
Schnelles sprechen
-
Bedrohliche Haltung
-
Hohe Stimmlage
-
Verbale Drohungen
-
Gewalt gegen Sachen
Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt auch Steinert (vgl. Steinert, T. 1991,
S.158) in seiner Studie „Aggressionen psychiatrischer Patienten in der Klinik“.
Generell handelt es sich in beiden Studien um Symptome, die zwar Hinweise auf
bevorstehende Angriffe geben können, aber durchaus nicht die logische
Konsequenz einer Tätlichkeit nach sich ziehen müssen. Es gibt also scheinbar
keine klaren und eindeutigen Hinweise, die als gesichert betrachtet werden
können (vgl. Richter, D. & Sauter, D. 1998, S.123).
Neben den bereits erwähnten Faktoren sollte man in der Biographie des Patienten
vor allem auf bereits „früher durchgeführte Aggressionen“ achten. Dies scheint der
verlässlichste Prädiktor für „folgende gewalttätige Übergriffe“ zu sein. (Jones 1995;
zitiert nach Richter, D. & Sauter, D. 1998, S.124)
Hilfreich ist in diesem Zusammenhang sicherlich auch das Wissen über den
Phasenverlauf einer Gewaltsituation.
Wölbitsch Mario
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Vorankündigung
Eskalation
Krise
Erholung
Depression
normales
Verhalten
Phasenverlauf einer „typischen“ Gewaltsituation (Breakwell 1995)
Orientiert man sich an dem Phasenverlauf einer „typischen“ Gewaltsituation,
wären die Frühsymptome sozusagen dem Bereich der „Vorankündigung“
zuzuteilen. Dies wiederum würde bedeuten, dass noch Zeit zur Verfügung stehen
würde, um eine Eskalation zu verhindern!
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass zwar eine „Fülle“ von Faktoren
festgestellt werden konnten, die unmittelbar vor einem „Übergriff“ stattfinden.
Diese jedoch nicht zwingend „Aggressionen“ nach sich ziehen müssen.
Beachtet man neben der Psychopathologie der Patienten auch noch die
Gestaltung des Umfeldes und das eigene Verhalten, besteht meiner Ansicht nach,
vorausgesetzt bei rechtzeitiger Intervention, eine sehr hohe Möglichkeit,
Aggressionen erst gar nicht entstehen zu lassen, sie praktisch schon im „Keime zu
ersticken“.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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6.3 Die „Anreger“ verändern
Damit sind die Anregungsfaktoren der Situation gemeint. Zur „Situation“ zählt man
alle Faktoren, die das Individuum aktuell umgeben, insbesondere andere
Menschen. Ziel ist es, Faktoren, die zu aggressiverem Verhalten anregen, zu
vermindern und Faktoren die zu nichtaggressivem Verhalten anregen, zu fördern.
6.3.1 Verminderung von Provokationen und Herabsetzungen
Provokationen zählen zu den wirksamsten Aggressionsanregern. Es handelt sich
hierbei um Verhaltensweisen, die man als Verstoß gegen Regeln des
Zusammenlebens bewertet (unfair, unverschämt) und, oder die man gegen sich
gerichtet
sieht.
Ihre
aggressive
Wirkung
beruht
überwiegend
auf
der
Beziehungsebene (vgl. Schulz von Thun, S. 74). Der Empfänger wird an einer
besonders empfindlichen Stelle, nämlich seinem Selbstwertgefühl, getroffen. Es ist
nicht schwer nachzuvollziehen, dass die häufige Anwendung von Provokationen
bzw. Herabsetzungen, die Entstehung eines verminderten Selbstbildes zur Folge
haben können. Dass Herabsetzungen in Form von „lächerlich machen, hänseln,
verspotten od. jemanden zu demütigen“ Verhaltensweisen sind, die abzulehnen
sind, leuchtet wohl jedem Menschen ein. Warum sie (zwar selten, aber doch)
immer noch (auch in der Psychiatrie) vorkommen, sollte wohl jedem zu „Denken
geben“!
Ebenso einleuchtend scheint mir die differenzierte Anwendung von Kritik.
Pauschale Personenkritik wie z.B.: „Du bist ein ausgesprochener Egoist“, wird
hinlänglich stärkere emotionale Abwehr od. Kränkung hervorrufen, als wenn sie
als „verhaltensbezogene Kritik“ (Du hast bisher nur von deinen Wünschen
gesprochen und zu meinen noch nichts gesagt) geäußert wird. Es handelt sich
also offensichtlich um ein Kommunikationsproblem. Missverständnisse im
Rahmen der Kommunikation sind schon bei „gesunden“ Menschen an der
Tagesordnung. Schulz von Thun beschreibt in seinem Buch „Miteinander reden“
(Band 1-3, 1981) sehr eindrücklich, wie häufig Botschaften vom Empfänger
„falsch“ aufgenommen werden. Es kommt also im Rahmen der Kommunikation
immer wieder zu dem Problem, dass die gesendeten und die verstandenen
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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Botschaften nicht immer gleich interpretiert werden. Man könnte sagen, dass beim
Empfänger etwas ankommt, was vom Sender gar nicht intendiert war, oder dass
etwas anderes verstanden wird, was der Sender eigentlich übermitteln wollte.
Entscheidend für die Reaktion des Empfängers und damit für den Fortgang der
Interaktion ist stets die empfangene und nicht die vom Sender gemeinte Botschaft.
Es kommt also vor, dass auch nichtaggressives Verhalten des Senders als
aggressive, zumindest „ärgerliche“ Botschaft empfangen wird. Dass es Menschen
gibt, die häufig dazu neigen, Äußerungen und Handlungen anderer als „böse
Absicht“, als „Feindseligkeit“ od. als „Missachtung“ zu interpretieren, konnte ich
immer wieder feststellen. Wohlgemerkt, nicht nur bei Patienten!. Allerdings geht es
mir
hier
nicht
um
eine
Schuldzuweisung,
vielmehr
geschehen
solche
Verhaltensweisen meist unbewusst.
Lancee et. Al. (Lancee et al. 1995) haben in einer Untersuchung, die
Auswirkungen verschiedener verweigernder Interaktionsstile des Pflegpersonals
auf die emotionale Reaktion der Patienten, untersucht. Sie kamen zu dem
Schluss, dass dem Interaktionsstil eine entscheidende Rolle, vor allem bei dem
Problem der Verweigerung von Wünschen, zukommt. Folgende Möglichkeiten
stehen demnach Pflegepersonen offen.
a) Schlecht- bzw. Lächerlichmachen
b) Platitüden
c) Lösungsvorschlag ohne Option für den Patienten
d) Lösungsvorschlag mit Option
e) Emotionale Beteiligung ohne Option
f) Emotionale Beteiligung mit Option
Der hervorgerufene Ärger nahm dabei bei allen Patienten, in der genannten
Reihenfolge von a) bis f,) in allen diagnostischen Gruppen, ab.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
40
6.3.2 Verminderung von Einengungen, Stressoren, Entbehrungen
Wenn eine zielbezogene Aktivität durch eine „Barriere“ gestört wird, kann es zu
Frustrationen und dadurch wiederum zu Aggressionen kommen. Man könnte sich
also überlegen, welchen Zweck erfüllen Regeln, Richtlinien eigentlich? Werden
diese überhaupt noch benötigt? Könnte man nicht gewisse „Dinge“ in den
Verantwortungsbereich der Betroffenen legen? Wer benötigt eigentlich diese
Regeln? Welches Milieu müsste also geschaffen werden, um dem Problem
Gewalt u. Aggression wirksam begegnen zu können?
Oberstes Ziel einer gewaltarmen Milieugestaltung muss die Vermeidung von
Gewalt sein.
Ebenso muss man sich aber darüber im Klaren sein, dass
Psychiatrische Krankenhäuser eine besondere Rolle spielen, sozusagen eine
Institution zwischen „Hilfe u. Gewalt“, darstellen. (vgl. Finzen, A. 1988).
Bei der Milieugestaltung muss man sich darüber bewusst sein, dass sowohl ein
hyper-,
wie
auch
hypostrukturierendes
Milieu
zu
Dysfunktionen,
aggressionsfördernden Situationen führen kann. (vgl. Zeiler, J. 1993, S.133)
Demnach
versteht
Zeiler
unter
einem
hyperstrukturierten
Milieu
„eine
überkontrollierende, überstrukturierende u. übersanktionierende Atmosphäre,
aggressives Verhalten der Patienten wird ausschließlich auf die Psychopathologie
attribuiert („Patient kann seine Impulse nicht kontrollieren“), hartes Verhalten
gegenüber der Patienten ohne eingehen auf Kompromisse, mangelnde Präsenz
der Pflegepersonen usw.“ - sozusagen ein Milieu, dass aus den Zeiten der
früheren Kustodialpsychiatrie bekannt ist.
Ebenso kann ein hypostrukturierendes Milieu, das primär gekennzeichnet ist durch
einen Mangel an formalen Rollenbeschreibungen u. Reaktionsmöglichkeiten zu
einer Dysfunktion, „sprich“ milieuinduzierten Aggressionen führen.
Wie so häufig, liegt wahrscheinlich auch hier die Wahrheit in der „goldenen Mitte“!
Dass aber auch die Gesellschaft, quasi in Form von struktureller Gewalt Einfluss
auf das Milieu haben kann, liegt auf der Hand, wenn z.B.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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•
im Staats(Landes)haushalt nicht genügend Finanzmittel für bauliche
Maßnahmen (kleine Zimmer, Ruheräume, Ausstattung der Räume.......)
etc. zur Verfügung gestellt werden;
•
zu wenig ausgebildetes Fachpersonal auf den Stationen angestellt ist;
•
es zu Arbeitsüberbelastung (zu viele „Pflegefälle“), nicht nachbesetzte
Stellen
(Pensionierungen,
Krankenstände,
Sparmaßnahmen.....)
etc.
kommt.
Die Gestaltung eines „therapeutischen Milieus“ hängt in sehr hohem Maße von
den
Kompetenzen,
Engagement
der
Pflegepersonen
ab.
Hier
haben
Pflegepersonen wirklich die Möglichkeit, entscheidend in die Betreuung von
psychisch kranken Menschen einzugreifen.
Es scheint also offensichtlich zu sein, dass Gewalt nicht nur von den
Eigenschaften der Psychopathologie beeinflusst wird, sondern dass auch
Milieufaktoren
(Umfeld)
und
Interaktionsformen
zwischen
Mitarbeiter
und
Patienten ebenso bedeutsam sind. (vgl. Richter, D. & Sauter, D. 1998, S.123).
Da in diesem Zusammenhang aber fast immer noch, sozusagen „automatisch“,
dass primäre Augenmerk auf dem Verhalten des Patienten liegt, möchte ich
nochmals
darauf
aufmerksam
machen,
sich
auch
und
vor
allem
das
Mitarbeiterverhalten kritisch vor Augen zu halten. Alle in der Psychiatrie Tätigen
sind also aufgefordert, sich das eigene Kommunikationsverhalten ständig bewusst
zu machen, bzw. reflektieren zu lassen.
Um es noch deutlicher zu sagen: Unmittelbare Präventionsmaßnahmen zielen
primär auf die Kontrolle des eigenen Verhaltens der Mitarbeiter. Nur über die
Kontrolle des eigenen Verhaltens kann der aggressive Patient so beeinflusst
werden, dass das Aggressionsniveau sinkt und die Situation einen positiven
Ausgang nimmt. (vgl. Richter, D. & Sauter, D. 1998, S.135)
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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6.3.3 Verminderung aggressiver Modelle, Symbole
In bestimmten Situationen als Vorbild zu fungieren, kann für andere Menschen ein
Grund sein, aggressives Verhalten zu unterlassen. Es ist also denkbar, dass sich
ein Mensch mit recht aggressivem Verhalten relativ friedlich wird, wenn er in eine
friedliche Umgebung kommt. Deshalb besteht eine der trivialsten, wenngleich
auch effektivsten Möglichkeiten, aggressives Verhalten zu vermindern darin, „ganz
einfach“ das eigene aggressive Verhalten zu vermindern (vgl. Nolting 2002, S
223).
6.3.4 Förderung positiver Anreger
Man sollte sich nicht nur fragen, wie man das unerwünschte Verhalten abbauen,
sondern auch, wie man das erwünschte Verhalten fördern kann. Kann man also
Situationen so gestalten, dass mit einiger Wahrscheinlichkeit alternatives
Verhalten stimuliert wird?
Solche Verhaltensweisen sind uns aus dem Alltag durchaus bekannt: Man sucht
z.B. eine Umgebung auf, die einen „auf andere Gedanken“ bringt, sucht
Zerstreuungen u. Ablenkungen, um Ärger, Trübseligkeit od. Langeweile
wenigstens vorübergehend zu vertreiben. Ähnlich geht man vor, um andere
Menschen
zu
beeinflussen.
Eltern
machen
spaßige
Faxen
gegen
die
Wehwehchen ihrer Kleinen, Lehrer bemühen sich um einen interessanten,
neugierweckenden Unterricht, u. (diktatorische) Regierungen sorgen vielleicht
durch Filme, sportliche Wettkämpfe usw. für gute Stimmung im Lande.
Die Beispiele machen deutlich, dass das Prinzip in vielfältiger Weise realisiert
(aber auch missbraucht) werden kann. (vgl. Nolting 2002, S.227)
6.3.5 Anreiz-Verlagerung auf alternatives Verhalten
Die Bedürfnisse von Menschen sind eine Sache; das Verhalten, das sie zur
Bedürfnisbefriedigung einsetzen, ist eine andere. Die Empfehlung lautet daher,
den Blick auf die gewünschten Verhaltensweisen wie etwa bitten, argumentieren,
verhandeln, zu richten und sie mit Beachtung, Anerkennung, Zuwendung,
Entgegenkommen usw. zu „belohnen“. Eben die Herstellung dieses neuen
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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Zusammenhangs
–
alternatives
statt
aggressives
Verhalten
bringt
die
gewünschten Effekte – ist mit „Verlagerung“ der Anreize gemeint. (vgl. Nolting
2002, S.230)
7 Praxisbezogene Möglichkeiten zur Deeskalation u.
Abwehr von körperlichen Angriffen
Die
folgenden
(Arbeitsgruppe
Vorschläge
der
wurden
Westfälischen
weitestgehend
u.
einem
Rheinischen
Arbeitspapier
Gemeindeunfall-
versicherungsverband) entnommen (vgl. Richter, D. 1999, S.134). Hervorzuheben
ist die hohe Praxistauglichkeit der vorgestellten Maßnahmen, welche als
praktische Ergänzung zu den bereits erwähnten theoretischen Möglichkeiten zu
sehen sind.
Es handelt sich hierbei um Vorschläge, welche meines Wissens nicht empirisch
evaluiert wurden. Da zu diesem Themenbereich nur „spärliche“ Informationen
vorhanden sind u. mich vor allem der Praxisbezug dieser Vorschläge beeindruckt
hat, habe ich diese in meine Arbeit mit einbezogen.
7.1 Praktische Grundregeln zur Deeskalation
Wie bereits erwähnt, geht einem Patientenübergriff in vielen Fällen eine
Eskalationsphase voraus. Diesen Eskalationszeitraum gilt es zu nutzen, um die
Eskalationskurve in eine deeskalierende Richtung umzuleiten. Um das Ziel der
Gewaltvermeidung zu erreichen, sollten folgende Grundregeln beachtet werden:
•
Reagieren Sie frühzeitig und angemessen auf eine drohende Eskalation; je
später die Reaktion, desto geringer ist die Chance eines gewaltlosen
Ausgangs!
•
Versuchen
Sie
den
aktuellen
Grund
des
aggressiven
Verhaltens
zuidentifizieren und stimmen Sie Ihre Handlungen darauf ab.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
44
•
Treten Sie selbstbewusst, ruhig, sicher und bestimmt auf, ohne zu
provozieren; bedenken Sie: Selbstbewusstes Verhalten ist nicht gleich
aggressives Verhalten!
•
Versuchen Sie nicht, den Patienten zu beherrschen, sondern versuchen
Sie, die Situation zu beherrschen!
•
Bedenken Sie auch die Sicherheit (noch) nicht unmittelbar beteiligter
Personen; wenn möglich, bringen Sie andere Personen, Mitpatienten und
Mitarbeiter in Sicherheit!
•
Setzten Sie sich realistische Erwartungen! (Ist die Situation wirklich
gewaltfrei zu beherrschen?).
•
Teilen Sie die Verantwortung mit anderen Mitarbeitern (Entfernung
gefährlicher Gegenstände, Aufhalten im Hintergrund, Beruhigung der
Mitpatienten etc.)! Aber:
o Treten Sie dem Patienten nicht mit mehreren Personen gleichzeitig
gegenüber, wenn Sie noch eine Chance zum gewaltfreien Ausgang
der Situation sehen! Die deeskalierende Intervention sollte von einer
Person durchgeführt werden.
•
Falls die Möglichkeit besteht, sollten Sie den Ort der Intervention mit
Bedacht
wählen;
insbesondere
Sicherheitsaspekte
(Flucht-
und
Notrufmöglichkeiten, gefährliche Gegenstände, Einbeziehung anderer
Mitarbeiter etc.) sollten Sie hier berücksichtigen!
•
Die Chance zu einer Deeskalation des Konflikts ist größer, wenn man den
Patienten, seine Vorgeschichte, seine Grunderkrankung, seine aktuelle
Situation, seine Sichtweise und emotionale Befindlichkeit kennt.
•
Wenn die Möglichkeit besteht, sollte die Kontaktaufnahme mit dem
Patienten durch einen Mitarbeiter geschehen, dessen Chance auf
Vertrauen durch den Patienten relativ groß ist (entscheidend ist nicht die
Berufsgruppe!).
•
Begegnen Sie dem Patienten mit Empathie, Respekt, Aufrichtigkeit und
Fairness!
•
Signalisieren Sie Einfühlung und Sorge!
Wölbitsch Mario
Mai 2004
45
•
Der Patient sollte nicht den Eindruck haben, er werde in eine ,Ecke’
gedrängt, daher sollten Sie das Gefühl vermitteln, dass er die Situation
mitkontrollieren kann!
•
Machtkämpfe zwischen Ihnen und dem Patienten müssen vermieden
werden!
•
Die
Frage,
wer
Recht
hat,
ist
in
diesem
Zusammenhang
zu
vernachlässigen; mitunter sollten Sie dem Patienten, auch gegen Ihre
eigene Überzeugung - zustimmen, wenn dies der Vermeidung von Gewalt
zuträglich ist, allerdings dürfen Sie keine Zusagen machen, die Sie oder
andere Personen zu einem späteren Zeitpunkt nicht einhalten können
(Konfliktgefahr zu einem späteren Zeitpunkt)!
•
Beschimpfungen sollten Sie ignorieren und nicht zum Anlass von
Bedrohungen oder ebenfalls Beschimpfungen werden lassen!
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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7.2 Konkretes persönliches Verhalten zur Deeskalation
Deeskalierende Verhaltensweisen sollten systematisch angewendet werden. Eine
sichere Beherrschung dieser Strategien setzt allerdings das Trainieren und
Einüben der Verhaltenweisen voraus. Es ist hilfreich, sich die Konfliktsituation aus
der
Perspektive
des
Patienten
zu
vergegenwärtigen.
Auch
in
diesem
Zusammenhang können Trainingseinheiten und Rollenspiele sinnvoll sein. Die
grundlegende Strategie kann folgendermaßen umrissen werden:
•
Achten Sie, besonders wenn Sie angespannt sind, auf Ihre Atmung; atmen
Sie vor allem bewusst aus!
•
Begegnen Sie dem Patienten auf gleicher Höhe; wenn er sitzt, versuchen
Sie sich ebenfalls hinzusetzen!
•
Kontrollieren Sie Ihre Körpersprache, Mimik und Gestik; vermitteln Sie dem
Patienten nicht das Gefühl der Bedrohung oder Beherrschung!
•
Vermeiden Sie ruckartige und hektische Bewegungen; diese könnten als
Bedrohungen registriert werden!
•
Bewegen Sie sich langsam auf den Patienten zu und entfernen Sie sich
ebenfalls langsam!
•
Stellen Sie eine ausreichende Körperdistanz zwischen Ihnen und dem
Patienten sicher; insbesondere psychotische Patienten brauchen eine
größere Distanz als zwischen Gesunden üblich ist!
•
Setzen Sie Ihre Sprache zielführend ein: adäquate Tonhöhe und
Lautstärke!
•
Stellen Sie Augenkontakt her, ohne dass es aufdringlich wird (nicht
starren!)! Von Deeskalationstrategen wird ein 45°-Winkel zum Patienten
empfohlen. Wenden Sie sich niemals ab!
•
Machen Sie den Patienten und sein Problem nicht lächerlich, signalisieren
Sie aktives Zuhören durch Antworten („aha, ich verstehe“, etc.), Kopfnicken
und Nachfragen!
•
Vermeiden Sie den Eindruck, dass Sie die Autorität in dieser Situation
verloren haben, ohne zu autoritär aufzutreten (Gratwanderung!)!
Wölbitsch Mario
Mai 2004
47
•
Vermeiden Sie Zugeständnisse in wesentlichen Punkten, machen Sie dafür
Zugeständnisse an anderer Stelle („Ich kann nichts dafür, dass Sie gegen
Ihren Willen eingewiesen wurden, aber ich könnte Ihre Frau anrufen...“)!
•
Zeigen Sie mögliche Konsequenzen und Reaktionen für den Patienten auf,
wenn er gewalttätig werden sollte; dies ist zielführender als offene
Drohungen, Ultimaten oder Zwang!
•
Unter Umständen (nicht in jedem Fall!) kann ein Hinweis auf die NichtAkzeptabilität bestimmter Verhaltensweisen wie Aggressionen hilfreich
sein, zeigen Sie verschiedene Optionen, Alternativen oder Lösungen für
den Patienten auf, vermeiden Sie geschlossene Fragestellungen, die nur
mit ja oder nein beantwortet werden können; es besteht hier die Gefahr des
Gefühls, eingeengt zu werden.
•
Benutzen Sie offene Fragestellungen („Was könnte Ihnen jetzt helfen? Wie
können wir diese Situation nun gemeinsam lösen?“)! Diese Fragen
veranlassen den Patienten zum nachdenken, eröffnen ihm eigene Optionen
und
bringen
Zeitgewinn
(aber
achten
Sie
auf
die
Gefahr
der
Überforderung!).
Vermeiden Sie
•
komplizierte Fragen
•
medizinisches oder technisches Vokabular
•
Ratschläge und Belehrungen
•
Beurteilungen oder Kritik des Patienten
•
Vermeiden Sie Phrasen wie die folgenden:
-
„Was ist denn hier los?“
-
„Nun regen Sie sich mal nicht so auf!“
-
„Nun seien Sie nicht so dumm!“
-
„Na los, dann machen Sie’s doch (angreifen, beschädigen etc.)!“
-
„Dafür werden Sie mich morgen kennen lernen“
-
„Warum“-Phrasen
(diese
erzwingen
eine
Rechtfertigung
des
Verhaltens).
Wölbitsch Mario
Mai 2004
48
Versuchen Sie - wenn möglich - mit dem Patienten in verbalem Kontakt zu
bleiben, somit bieten Sie Dialogbereitschaft an und geben dem Patienten auch
mögliche neue Anknüpfpunkte im Gespräch.
7.3 Abwehr eines körperlichen Angriffs
Oftmals und da muss man sich wirklich darüber im Klaren sein, kann es, extrem
formuliert, um das nackte Überleben gehen. Zumindest aber darum, eine
Verletzung zu vermeiden bzw. zu verhindern.
Welche Möglichkeiten der Reaktion gibt es also, wenn ein körperlicher Angriff akut
droht?
Gleichgültig ob sich ein gewalttätiger Angriff anbahnt oder unvermittelt stattfindet,
lassen sich vier Ziele formulieren:
1. Distanz
Nach Möglichkeit jederzeit außerhalb der Arm- und Beinreichweite des
Angreifers bleiben.
2. Flucht
Verlassen Sie die Situation und bringen Sie sich in Sicherheit.
3. Fürsorge
Wenn zumutbar, bringen Sie andere bedrohte Personen, Mitpatienten
und/oder Mitarbeiter in Sicherheit.
4. Notruf
Verständigen Sie frühestmöglich zusätzliche Hilfe, falls erforderlich über
den Polizeinotruf.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
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Erst dann, wenn diese Ziele nicht erreicht werden können, sollte eine körperliche
Abwehr des Angreifers erwogen werden.
Grundsätzlich gilt, dass Mitarbeiter sich auf ihre Intuition verlassen und nicht mit
einem Patienten alleine bleiben sollten, wenn sie ein „schlechtes Gefühl“ haben.
Mitarbeiter, die mit Menschen arbeiten, die potentiell gefährlich sind, sollten eine
„automatische Wachsamkeit“ für jedwede Abweichung vom Grundverhalten ihrer
Klienten haben.
7.3.1 Flucht
•
Sollten die äußeren Umstände eine Flucht zulassen, ist dies die sicherste
Möglichkeit, die Situation unbeschadet zu überstehen.
•
Tragen Sie nur Kleidung, die Ihnen schnelle Bewegungen ermöglicht und
nicht geeignet ist Sie festzuhalten!
•
Bei bedrohlichen Vorzeichen leiten Sie unverzüglich und energisch die
Flucht ein. Nehmen Sie Ihre Angst ernst, dieses Gefühl kommt nicht von
ungefähr!
•
Sie können versuchen, den Angreifer abzulenken oder zu verwirren, aber
provozieren Sie ihn nicht noch zusätzlich!
•
Reduzieren Sie Ihre Schrecksekunde und erstarren Sie nicht zu einer
„Salzsäule“, sondern bewegen Sie sich!
•
Rufen Sie konkret, klar und deutlich um Hilfe! Schreien Sie!
•
Bringen Sie Ihre Atmung unter Kontrolle! Atmen Sie aus und atmen Sie
ausreichend tief und regelmäßig weiter!
•
Nutzen Sie die bekannten Fluchtwege, Ausgänge und Notrufeinrichtungen!
•
Flüchten Sie nicht an abgelegene Orte, sondern dorthin, wo auch andere
Menschen sind, die Ihnen womöglich helfen können!
•
Wenn möglich, verriegeln oder versperren Sie Türen hinter sich!
•
Ist es Ziel des Angreifers bestimmte Dinge oder Gegenstände von Ihnen zu
erlangen, lassen Sie ihm diese (wenn möglich) zurück!
Wölbitsch Mario
Mai 2004
50
7.3.2 Abwehr
•
Die Anwendung körperlicher Abwehrtechniken und Selbstverteidigung sollte
das letzte Mittel der Gefahrenabwehr sein. Sie sollten nur angewendet
werden, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Es gelten die
Bestimmungen des Strafgesetzbuches unter besonderer Berücksichtigung
bzgl. Notwehr/Notstand.
•
Es ist Ihr Risiko, evtl. lebenslange Verletzungen davonzutragen oder gar
getötet zu werden. Sie haben das Recht, alles daran zu setzen, dies zu
verhindern!
•
Stehen Sie in den Knien leicht gebeugt, so können Sie sich notfalls schnell
bewegen!
•
Nehmen Sie eine etwas seitliche Stellung zum Angreifer ein um eine
kleinere Angriffsfläche zu bieten!
•
Nutzen Sie bei Bedarf Tische Betten etc. als Hindernis zwischen sich und
dem Angreifer!
•
Schreien Sie! Während Sie schreien, atmen Sie aus und verleihen dadurch
Ihren Bewegungen mehr Kraft!
•
Für Angriffe, bei denen der Angreifer Körperkontakt aufgenommen hat, gibt
es „nicht verletzende“ Befreiungstechniken, die Sie, wenn Sie sie erlernt
und geübt haben, einsetzen können, um zu entkommen.
Ansonsten
bewegen Sie sich schnell und heftig in alle möglichen Richtungen, um den
Griff oder die Umklammerung zu lösen. Bleiben Sie auf keinen Fall
unbeweglich!
•
Setzen Sie nicht Kraft gegen Kraft! Neutralisieren sie die Wucht des
Angriffs! Handeln Sie nach dem Grundsatz „Nachgeben um zu siegen“! Das
heißt: Wenn der Angreifer drückt oder schiebt, sollten Sie ziehen! Zerrt oder
zieht der Angreifer, dann drücken bzw. schieben Sie ihn!
•
Werden Sie mit Schlägen, Tritten oder Gegenständen angegriffen, weichen
Sie aus! Benutzen Sie Ihre Hände oder Gegenstände als Deckung!
Weichen Sie niemals nur zurück, das verleiht dem Angreifer nur noch mehr
Schwung. Versuchen Sie stets hinter ihn zu gelangen, um Zeit zu gewinnen
und zu entkommen!
Wölbitsch Mario
Mai 2004
51
•
Wenn unvermeidlich: Kämpfen Sie mit aller Energie und allen Ihnen
möglichen Methoden um den Angriff zu stoppen! Sie kämpfen eventuell um
Ihr Leben und es gibt womöglich keine zweite Chance. Fügen Sie sich
nicht in die Opferrolle! Es ist in diesem Moment völlig irrelevant, ob Sie
Angst haben, weil z.B. der Angreifer größer oder stärker ist. Sie können
sich nur Chancen erarbeiten, wenn Sie agieren und reagieren.
•
Sollten Sie entkommen sein, weil Sie den Angreifer verletzt haben, gehen
sie nicht alleine zurück, um nachzusehen, wie es Ihm geht! Er könnte sich
zwischenzeitlich erholt haben und Sie dann erneut attackieren.
•
Nach der Abwehr: Suchen Sie schnellstmöglichst Menschen auf, die Ihnen
helfen können! Verständigen Sie bei Bedarf die Polizei und den
Rettungsdienst!
•
Fertigen Sie zeitnah nach dem Ereignis Notizen über den Ablauf an!
Wölbitsch Mario
Mai 2004
52
8 FIXIERUNG VON PATIENTEN
8.1 Allgemeines
Gemeinsames Ziel aller Teammitglieder ist nicht das „Gewinnen“ einer
Auseinandersetzung, sondern das schonende und effektive Festlegen des
Patienten
innerhalb
einer
geplanten
strukturierten
Maßnahme
unter
Berücksichtigung der Würde des Patienten und der Eigensicherung der
eingesetzten Mitarbeiter.
Grundsätzlich gilt: „Eigensicherung geht vor Fremdsicherung!“ Mitarbeiter in der
Psychiatrie haben eine erhöhte Verantwortung gegenüber den Patienten, sind
jedoch nicht verpflichtet, ohne Rücksicht auf eigene Gefahren für Leib und Leben
zu handeln.
Fixierungsmaßnahmen sollten grundsätzlich nur von geschulten Mitarbeitern
durchgeführt werden. Sollten Mitarbeiter noch nicht in verletzenden Halte- und
Festlegetechniken ausgebildet sein, ist dies umgehend anzustreben.
Nur Patienten, die untergebracht sind oder bei denen Gefahr im Verzug ist!
8.2
Allgemeine Regeln zur Fixierung
Im Rahmen von Fixierungen gilt der Grundsatz:
Ein Minimum an Kraft und Gewalt für ein Minimum an Zeit führt zu einem
Maximum an Sicherheit und Menschenwürde!
Ø Die vom Team eingebrachte Gewalt sollte auf das notwendige Mindestmaß
begrenzt sein.
Ø Die Dauer der Einschränkung sollte auf ein Minimum an Zeit begrenzt sein.
Ø Die nachfolgend genannten Tabuzonen müssen samt ihren Gefahren
bekannt sein und respektiert werden.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
53
Ø Schläge und Tritte sind weder erforderlich noch angemessen.
Ø Unkontrollierter ruckartiger Druck auf Gelenke ist zu vermeiden.
Ø Alle Teammitglieder stellen sicher, dass Atmung und Blutzirkulation des
Patienten zu jeder Zeit gewährleistet sind.
8.3 Körperliche Tabuzonen
Auf
folgende
Körperbereiche
des
Patienten
wird
im
Rahmen
einer
Fixierungsmaßnahme keine Gewalt ausgeübt, da hier erhöhte und teilweise
folgenschwere Verletzungsgefahren bestehen.
•
Finger: Finger besitzen schwache Gelenke und sind schnell frakturiert.
•
Kehlkopf: Der Kehlkopf ist ein sensibler Bestandteil der oberen Luftwege.
Seine Funktionsfähigkeit sichert die Vitalfunktion der Atmung. Schläge oder
zu starker äußerer Druck auf den Kehlkopf können zu irreversiblen
Schäden bis hin zum Tod führen.
•
Brustkorb: Der Brustkorb ist Teil der Vitalfunktion Atmung. Rippenbrüche
können zu gravierenden Verletzungen innerer Organe führen. Zu großer
äußerer Druck auf den Brustkorb während der Ausatemphase verhindert
erneutes einatmen. Es besteht die Gefahr der Fehlhaltungserstickung.
•
Abdomen: Zu starker und schneller Druck auf das Abdomen kann zu
bedrohlichen Verletzungen und Blutungen innerer Organe führen.
•
Genitalien:
Sowohl
die
männlichen
als
auch
die
weiblichen
Geschlechtsorgane sind leicht verletzlich. Speziell bei Männern können
Verletzungen zu Blutungen und langfristigen Schädigungen bis hin zur
dauerhaften Zeugungsunfähigkeit führen. Jeder „Angriff’ der Genitalien
stellt zudem eine Schamverletzung dar.
•
Augen: Die menschlichen Augen sind äußerst verletzliche Weichteile.
Gewaltsame Schädigungen führen leicht zu irreparablen Verletzungen bis
hin zum bleibendem Verlust des Augenlichts.
•
Halswirbelsäule: Ruckartige Drehbewegungen des Kopfes sind zu
vermeiden, da sie zu Frakturen der Wirbelkörper führen können. Im
Wölbitsch Mario
Mai 2004
54
Extremfall kommt es zum sog. Genickbruch. Unvermittelte und heftige
Schleuderbewegungen des Kopfes führen zum HWS-Schleuder-Trauma.
8.4 Eigentliche Fixierung
•
„Alles“
für
die
Fixierung
vorbereiten
(Betthöhe,
Umfeld,
Gurte,
Medikation....).
•
Möglichst viele Helfer zusammenrufen (lieber zu viele als zu wenige – aber
immer dem Zustand des Pat. anpassen).
•
Die Helfer sollen, wenn noch Zeit bleibt – Brillen, Uhren, Schmuck, Kulli´s
etc. ablegen – zur Vorbeugung gegen Verletzungen von Helfern und
Patienten.
•
Teamleader gibt Kommando - Pat. konsequent und gemeinsam festhalten,
überwältigen – jeder übernimmt eine Extremität - voller Krafteinsatz –
Vorsicht vor den Beinen (Tritte sind gefährlicher als Schläge!) –
1Pflegeperson fixiert, die anderen halten!
•
Gurte straff anziehen – Patient kann sonst „herausschlüpfen“!
•
Für „Bequemlichkeit“ des Patienten sorgen.
8.5 Kontrolle u. Überwachung
•
Fixierte Pat. dürfen keine Streichhölzer, Feuerzeuge, Messer od. andere
gefährliche Gegenstände bei sich od. in Reichweite behalten! Vorsicht auch
vor Glasflaschen, Gläsern, die herumstehen od. von anderen Pat. zum
fixierten Patienten gebracht werden!
•
Rauchen nur unter Aufsicht!
•
Sitzwache oder Bett mit dem Pat. in Sichtweite behalten!
•
Bett von Wand wegstellen, aber auch Nachtkästchen etc. außer Reichweite
bringen!
Wölbitsch Mario
Mai 2004
55
•
Regelmäßige Kontrolle ob es dem Pat. gut geht, er etwas benötigt, sich
beruhigt hat.... à Vitalzeichenkontrolle!
•
Überlegen, ob die Fixierung noch notwendig ist!
8.6 Dokumentation
•
Grund (genaue Beschreibung), Beginn, Ende, Umfang der Fixierung sind
im Dokumentationssystem zu vermerken.
•
Verhalten des Pat. während der Fixierung ist im Dokumentationssystem zu
beschreiben.
•
„Überwachungsbogen“ vor allem wenn Patienten starke sedierende
Medikamente erhalten hat.
Patient selbst und die Mitpatienten sollten die Gelegenheit dazu bekommen über
ihre Gefühle bei einer so einschneidenden Maßnahme zu sprechen. Dies gilt auch
für die Mitarbeiter, die sich überlegen sollten, ob es Alternativen gegeben hätte
und welche in Frage gekommen wären.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
56
9 Planung u. Durchführung der Untersuchung
9.1 Zweck der Untersuchung
Ich bin nun mehr seit 1989 in der Psychiatrie am Landeskrankenhaus Rankweil in
verschiedensten Positionen tätig. Gleichgültig ob als völlig unerfahrener
"Praktikant", ob als diplomierte Pflegeperson, Stationsleiter od. nun als Lehrer in
der Gesundheits- u. Krankenschule. Das Thema Gewalt u. Aggression war und ist
dabei immer mein ständiger Begleiter gewesen.
Seit nunmehr 3 Jahren unterrichte
ich, als Lehrer für Gesundheits- u.
Krankenpflege, das Fach "Psychiatrie Pflege", in welchem auch das Thema
"Gewalt u. Aggression" behandelt wird! Dabei konnte ich immer wieder
beobachten, dass die Schüler diesem Thema mit sehr großem Interesse
begegneten. Immer wieder berichteten die Schüler von Situationen, in denen sie
mit dieser Thematik konfrontiert wurden, sie entweder selbst Opfer von Übergriffen
wurden oder aber selbst nahezu "gezwungen" waren, Gewalt u. Aggression
auszuüben.
Es stellten sich immer wieder die gleichen Fragen. Wie entsteht Gewalt u.
Aggression? Welche Arten von Gewalt u. Aggression gibt es? Wie häufig werden
Krankenpflegepersonen im Landeskrankenhaus Rankweil bzw. in anderen
Psychiatrischen Einrichtungen "Opfer" von aggressiven Übergriffen der Patienten?
Kommt es zu Verletzungen? Sind die Pflegepersonen der verschiedenen
Abteilungen (Psychiatrie, Neurologie, Gerontopsychiatrie) in selben Maße davon
betroffen od. gibt es Unterschiede? Wie sieht es eigentlich mit psychischer Gewalt
aus? Wie ist die psychische Belastung für Pflegepersonen wenn Sie "laufend"
beschimpft, bedroht werden? Welche Möglichkeiten gibt es, diesen Problemen
entgegen zu wirken? In welcher Häufigkeit müssen Patienten zwangsmediziert,
fixiert werden? Ist Gewalt u. Aggression überhaupt ein Thema auf den Stationen?
Gibt es Untersuchungen zu diesen Problemen? .....
Zum Bereich Theorien, Entstehung von Gewalt u. Aggression steht ein schier
unüberschaubares Angebot an Literatur zur Verfügung.
Ganz anders für meinen spezielles Interessensgebiet. Zum Thema Gewalt u.
Aggression in der Pflege gibt es nur sehr wenig "brauchbare" Literatur. Vor allem
Wölbitsch Mario
Mai 2004
57
im deutschsprachigen Raum scheint diese Thematik bis jetzt kaum das Interesse
von Untersuchungen geweckt zu haben. Der überwältigende Anteil der Literatur zu
diesem Themenkreis stammt aus den Vereinigten Staaten u. Großbritannien.
Sehr Interessant war auch zu beobachten, dass der Bereich der psychischen
Gewalt nur sehr selten bis gar nicht thematisiert bzw. erhoben wurde. Dies
verwundert, da jeder, der schon einmal in der Psychiatrie tätig war, weiß, wie oft
Mitarbeiter der Psychiatrie psychischer Gewalt in Form von Drohungen,
Beschimpfungen etc. ausgesetzt sind.
Das Interesse an diesen u. weiteren Fragen, sowie die Tatsache, dass es dazu im
deutschsprachigen Raum nur sehr wenige Untersuchungen gibt, haben mich
schließlich dazu bewegt, diese Untersuchung durchzuführen.
9.2 Entstehung der Hypothesen
Das Landeskrankenhaus Rankweil ist eine Sonderkrankenanstalt (Psychiatrie)
und hat das gesamte Bundesland Vorarlberg zu versorgen. (ca. 350 000
Einwohner). Das Krankenhaus gliedert sich in 3 große Bereiche:
•
Psychiatrie - Versorgung von Jugendlichen und Erwachsenen ab einem Alter
von 14 bis ca. 60/65 Jahren.
•
Gerontopsychiatrie - Versorgung von Menschen ab einem Alter von ca. 65
Jahren.
•
Neurologie
-
(ohne
Neurochirurgie),
dabei
werden
Menschen
aller
Altersgruppen betreut.
Die verschiedenen Abteilungen unterscheiden sich ganz wesentlich.
Die Psychiatrie ist geprägt durch Menschen in absoluten Krisensituationen
(Intoxikationen mit legalen u. illegalen Drogen, sexueller Missbrauch, Psychosen
aller Art, Persönlichkeitsstörungen......). Auf Grund meiner Erfahrungen vermute
ich hier die höchste Anzahl von Übergriffen. Vorstellbar ist auch, dass es hier zu
den
"intensivsten"
Auseinandersetzungen
(akute
Aggressionsdurchbrüche,
Zwangsmedikationen, Fixierungen...) kommen dürfte.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
58
In der Gerontopsychiatrie stellt vermutlich die Patientengruppe der "dementen"
Menschen das größte Problem dar. Was in den Köpfen von alten verwirrten
Menschen vor sich geht, ist oft auch für erfahrene Pflegepersonen nur sehr
schwer nachvollziehbar. Häufig kommt es deshalb zu "Missverständnissen", da
der alte Mensch nicht weiß, was mit ihm passiert, was man von ihm will. Fühlen
sie sich in die Enge getrieben, reagieren sie mit Aggressionen, schlagen um sich.
Meine Vermutung in diesem Bereich geht in die Richtung von häufigen, eher
„leichten“ körperlichen Aggressionen gegenüber von Pflegepersonen.
Die Neurologie stellt für mich das große Fragezeichen dar. Hier ist der
Unterschied zu Stationen der Allgemeinmedizin nur sehr gering bis gar nicht
vorhanden. Gerade deshalb ist es auch für mich spannend zu sehen, wie sich das
Verhältnis der Übergriffe zur Psychiatrie und Gerontopsychiatrie darstellt. Für mich
ist anzunehmen, dass es hier zu den geringsten Übergriffen kommen wird.
Aus den oben genannten Gründen leite ich folgende Hypothese ab:
Ø Pflegepersonen
der
Psychiatrie
werden
häufiger
„Opfer“
von
gewalttätigen Übergriffen als ihre Berufskollegen aus den Bereichen
Gerontopsychiatrie u. Neurologie!
Die zweite Hypothese richtet das Augenmerk auf den geschlechtlichen
Unterschied der betroffenen Pflegepersonen. Hier gehe ich davon aus, wieder
bezogen auf meine praktischen Erfahrungen, dass Frauen häufiger zum Opfer von
Übergriffen werden als Männer. Deshalb lautet meine Hypothese:
Ø Weibliche Pflegepersonen werden häufiger zum Opfer von gewalttätigen
Übergriffen von Patienten als ihre männlichen Kollegen.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
59
9.3 Untersuchungsmethode
Ich habe mich für eine quantitative Studie mittels Fragebogen entschieden. Der
Fragebogen bestand aus 29 Fragen. Bei seiner Erstellung wurde darauf geachtet,
dass dieser möglichst einfach und schnell zu bearbeiten ist.
Zum überwiegenden Teil wurden die Fragen nominalskaliert (26, mit div.
Untergruppen). Zusätzlich wurden 12 offene Fragen gestellt. Diese wurden
kategorisiert u. der Auswertung zugefügt.
Ø Mit Ausnahme der Rehabilitationseinrichtungen (Haus 4 u. Wohnstation 1 =
Wohngemeinschaften) und der Intensivstation (O1) wurden alle Stationen
(Gesamt
15
Stationen)
des
Landeskrankenhauses
Rankweil
in
die
Untersuchung miteinbezogen.
9.4 Ablauf der Untersuchung u. Pretest
Der Pflegedirektor u. der Chefarzt des Landeskrankenhauses Rankweil wurden
von mir in einem persönlichen Gespräch über die Untersuchung informiert. Nach
deren Zusage wurden die Stationsleiter im Rahmen der Stationsleitersitzung
(Anwesenheit aller Stationsleiter – alle 14 Tage stattfindend) über die
Untersuchung in Kenntnis gesetzt.
Für den Pretest wurden alle Stationsleitungen sowie die Pflegedirektion
(insgesamt 25 Personen) ausgewählt. Die Auswertung des Pretests ergab keine
gravierende Mängel des Fragebogens. Lediglich einige „kleinere“ Veränderungen
(Leerzeile bei dem Item „Unterbringung nach § ...“ u. einige Ergänzungen beim
Item „psychische Übergriffe“) mussten durchgeführt werden.
Die Beobachtungsdauer ging über einen Zeitraum von 9 Wochen (01.03. bis
02.05.2004). In dieser Zeit sollte jeder Patientenübergriff (psychisch u. physisch)
der aufgetreten ist, von der (den) jeweils betroffenen Pflegeperson(en) an Hand
der Fragebögen dokumentiert und an mich weitergeleitet werden. Das heißt aber
auch, dass von einem „Übergriff“ auch mehrere Pflegepersonen betroffen sein
können, also mehr Fragebögen zur Auswertung kommen können, als es von einer
Wölbitsch Mario
Mai 2004
60
Person Übergriffe gegeben hat. Bis zum Ablauf der Frist wurden schließlich 96
Fragebögen (= Übergriffe) retour gesandt.
9.5 Auswertung und Ergebnisse
Die
statistische
Auswertung
Computerprogramm
SPSS,
der
gesamten
Version
11.0,
Daten
die
erfolgte
grafische
mit
dem
Darstellung
der
Mehrfachantworten mittels Excel.
9.5.1 Demographische Daten Pflegepersonen
9.5.1.1 Geschlecht / Alter
N = 96
60
55
52
50
45
44
40
35
30
25
20
15
10
Count
5
0
männlich
weiblich
Von den Übergriffen waren 52 Männer (54,2%) u. 44 Frauen (45,8%) betroffen.
N = 96
45
40
40
35
30
32
25
24
20
15
10
Count
5
0
20 - 30
31 - 40
41 - 56
Bezüglich Alter wurden 3 Kategorien erstellt. Pflegepersonen im Alter von 31 bis
40 Jahren wurden zu 40 % , Personen im Alter von 20 bis 30 Jahren zu 32% u.
Personen im Alter von 41 bis 56 Jahren zu 24% zum Opfer von Übergriffen.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
61
9.5.1.2 Berufserfahrenheit
N = 96
80
70
71
60
50
40
30
20
Count
10
9
8
6
0
Missing
1-2 Jahre
weniger als 1 Jahr
mehr als 4 Jahre
3-4 Jahre
71 von 96 betroffenen Pflegepersonen sind seit mehr als 4 Jahren mit
abgeschlossener Ausbildung in der Psychiatrie tätig. Dieser sehr hohe Anteil von
„langjährigen“ Mitarbeitern lässt sich damit erklären, dass im LKH Rankweil
generell eine geringe Mitarbeiter-Fluktuation besteht u. zudem auf der Station E1,
auf der die überwiegende Anzahl der Übergriffe erfolgte, ein Pflegeteam aus
erfahrenen („langgedienten“) Personen besteht.
9.5.1.3 Berufszugehörigkeit
N = 96
100
95
90
85
88
80
75
70
65
60
55
50
45
40
35
30
25
20
Count
15
10
5
0
5
Psych.Dipl.
Pflegehelfer
Schüler OK
89 Personen (92,7%) zählten zur Berufsgruppe der „psychiatrischen diplomierten
Pflegepersonen“. 5 Personen (5,2%) zur Berufsgruppe der Pflegehelfer u. 2
Personen (2,1%) zur Gruppe der Gesundheits- u. Krankenpflege-Schüler.
Die geringe Anzahl der Schüler lässt sich damit erklären, dass während des
Beobachtungszeitraumes lediglich „die Schüler des 3 Ausbildungsjahres“ im
Praktikumseinsatz standen, u. dies auch nur für einen Zeitraum von 2 Wochen.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
62
9.5.2 Demographische Daten Patienten
9.5.2.1 Geschlecht
N = 96
60
53
50
43
40
30
20
Count
10
0
männlich
weiblich
55,2% (53 Personen) der „aggressionsausübenden“ Personen waren männlich.
44,8% (43 Personen) weiblich. Sehr interessant ist für mich die Tatsache, dass
diese Zahlen fast identisch sind mit denen der „Opfer“. Dort wurden zu 54,2%
Männer u. zu 45,8% Frauen erfasst. (vgl. Kapitel 9.5.1.1)
9.5.2.2 Alter
N = 96
40
30
29
29
20
20
Count
10
7
6
0
15-20
21-30
31-40
41-64
65-88
Mit jeweils 30,2% waren die 21-30 u. 41-64 Jährigen die am häufigsten vertretene
Altersgruppe. 6 Personen waren im Alter von 15-20 Jahren (6,3%) zu finden. Den
kleinsten Anteil stellten die Altersgruppen 15-20 Jahre (6,3%) u. 65-68 Jahren
(7,3%) dar.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
63
9.5.2.3 Familienstand
N = 96
90
80
78
70
60
50
40
30
Percent
20
14
10
0
Single
verheiratet geschieden verwitwet
Mit 78,1% (= 75 Personen) stellte die Gruppe der zur Zeit als Single lebenden
Personen die mit Abstand größte Gruppe dar!
13,5% (=13 Personen) der
Personen waren verheiratet. Richter ist in seiner Untersuchung (Richter, 1999,
S.106) zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen (ledig = 68%).
9.5.2.4 Diagnosen (ICD 10)
N = 96
40
35
36
30
25
20
18
17
15
Count
10
5
11
10
7
5
5
0
f0-
f20f10-
f40f30-
sonstige
f60-
Miss
Bezüglich der Diagnosen bei den einzelnen Übergriffen gab es folgendes
Ergebnis:
-
37,5% (36x) der Diagnosen waren der Gruppe der „Schizophrenie,
schizotypen u. wahnhaften Störungen“ zuzuordnen (ICD F20 – F29). Davon
wurden 19 Fälle der Diagnose „Schizoaffektive Störungen“ u. 11 Fälle der
Diagnose „Schizophrenie“ zugeordnet.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
64
-
18,8%
(18x)
der
Diagnosen
waren
der
Gruppe
„Psychische
u.
Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ zuzuordnen (ICD F10
– F19).
-
10,5% (11x) der Diagnosen waren der Gruppe der „Affektiven Störungen“
zuzuordnen (ICD F10 – F19).
-
Die restlichen 30,3% (27x) teilten sich hauptsächlich auf die Diagnosen
„Organische,
einschließlich
psychischer
Störungen
(F00
–
F09),
Neurotische, Belastungs- u. somatoforme Störungen (F40 – F48),
Persönlichkeits- u. Verhaltensstörungen (F60 – F69)“ auf.
-
Bei 4,2% (4x) der Fragebögen wurde keine Diagnose angeführt.
Dass die Schizophrenie, schizotypen u. wahnhaften Störungen im Spitzenfeld
dieser Auswertung liegen, überrascht wenig. Auch in den von mir zum Vergleich
herangezogenen Studien von Richter u. Steinert (Steinert et. al, 1991; Richter,
1999) waren die Häufigkeiten sehr ähnlich. Die ausgesprochen geringe Zahl von
Übergriffen (1x) durch Menschen mit geistiger Behinderung lässt sich dadurch
erklären, dass im Land Vorarlberg diese Patientengruppe von der Psychiatrie
ausgegliedert wurde.
9.5.2.5 Aufenthaltsdauer
N = 96
50
45
40
30
20
22
20
10
9
Count
0
weniger als 3 T age
4-7 Tage
8-14 T.
länger als 14T.
Hier zeigt sich, dass 46,9% der Übergriffe nach einem Aufenthalt von 14 Tagen
stattgefunden hat (= 45 Übergriffe ). Dies hat mich doch einigermaßen erstaunt, da
die Aufenthaltsdauer im Landeskrankenhaus in den letzten Jahren doch erheblich
gesunken ist.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
65
In den ersten 3 Tagen wurden 22,9% der Übergriffe festgestellt. Wenn man
bedenkt, dass 54,2% aller erfassten Übergriffe auf der Station e1 stattgefunden
haben, so verwundert diese Zahl ein wenig. Hier wäre doch zu erwarten gewesen,
dass die Zahl der Übergriffe deutlich höher gewesen wäre.
Betrachtet man allerdings die ersten 7 Tage zusammen, so stellt man fest, dass
immerhin 43,7% der Übergriffe in diesem Zeitraum stattgefunden haben. Für mich
doch ein Zeichen, dass zu Beginn der Behandlung ein hohes Risiko für Übergriffe
besteht.
In den Studien von Richter (vgl. Richter, D., 1999 S. 111) u. Steinert (vgl. Steinert
et. al, 1991 S.152) wurden ebenfalls in den ersten 7 Tagen (32% bzw. 28%) ein
erhöhtes Risiko für Übergriffe festgestellt.
9.5.2.6 Ausgangsregelung / Unterbringung (UBG)
N = 96
N = 96
100
60
50
53
80
80
40
60
30
40
20
18
20
10
16
4
0
kein Ausgang
reglementierter Ausg
nur in Begleitung
freier Ausgang
Count
Count
10
0
UBG gegen Willen
freiwillig
Von den 76 erfassten Personen hatten 55,2% (53 Personen) keinen Ausgang.
Zusätzlich wurde bei 29,2% (28 Personen) der Ausgang reglementiert (bestimmte
Zeiten, Orte...) bzw. hatten die Personen „nur in Begleitung“ Ausgang. Lediglich
4,2% (4 Personen) hatten „freien Ausgang“. Bei 11 Personen wurde keine
Ausgangsregelung angegeben. 83,3% (80 Personen) waren gegen ihren Willen
untergebracht. Lediglich 16,7% (16 Patienten) waren freiwillig zur Behandlung im
Landeskrankenhaus Rankweil. Dies erklärt vielleicht auch die hohe Zahl der
reglementierten, eingeschränkten od. gar nicht vorhandenen Ausgängen.
Immerhin besteht bei untergebrachten Personen neben einer (schweren)
Wölbitsch Mario
Mai 2004
66
psychiatrischen Erkrankung auch immer eine Selbst- u. oder Fremdgefährdung.
Das Ärzte- Pflegeteam überlegt sich also sehr gut, ob eine „untergebrachte
Person“ schon Ausgang haben kann od. eben nicht.
9.5.3 Zeitpunkt der Übergriffe
9.5.3.1 Übergriffe je Kalenderwoche
N = 96
25
20
15
10
Count
5
0
kw11
kw13
kw12
kw 15
kw14
kw17
kw16
kw19
kw18
Hier ging es darum, festzustellen, wie sich die erfassten Übergriffe auf den
Beobachtungszeitraum „aufgeteilt“ haben. Um eine bessere Übersicht zu
gewährleisten wurden die Übergriffe „in Kalenderwochen“ (KW) erfasst.
Hier ist interessant zu beobachten, dass zu Beginn der Untersuchung mit Abstand
die wenigsten Übergriffe stattgefunden haben (2 Übergriffe = 2,1%). Da die
Einführung u. die Mitarbeit der Pflegepersonen sehr gut war, kann ich mir diese
geringe Zahl eigentlich nicht erklären, bzw. handelt es sich hierbei vielleicht
wirklich um einen „Ausreißer“.
In der KW 12 u. 14 haben die meisten Übergriffe, nämlich 22,9% (22 Übergriffe)
bzw. 20,8% (20 Übergriffe) stattgefunden. In den KW 13, 15, 16 u. 18 sind nahezu
identische Häufungen der Übergriffe zwischen 9,4% u. 11,5% (= 9-11 Übergriffe)
zu beobachten gewesen.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
67
Um eine wirklich repräsentative Aussage machen zu können hätte der
Beobachtungszeitraum verlängert werden müssen, sind doch sehr starke
Schwankungen bezüglich Aufnahmezahlen etc. zu verzeichnen.
9.5.3.2 Übergriffe Tagdienst / Nachtdienst
N = 96
60
59
50
40
Count
37
30
TD
ND
61,5% der Übergriffe ( = 59x) haben während des Tagdienstes stattgefunden.
Überraschend war allerdings, dass immerhin 37,3% der Übergriffe ( = 36x) im ND
erfolgten.
Sowohl im Tag- wie auch Nachtdienst konnten keine nennenswerten Häufungen
zu bestimmten Uhrzeiten festgestellt werden.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
68
9.5.4 Häufigkeit, Anzahl nach Stationen
N = 96
80
76
70
60
50
40
30
Count
20
10
10
8
0
Missing
Neurologie
Psychiatrie
Gerontopsych.
Auf die einzelnen Fachbereiche aufgeteilt, entfielen 76 Übergriffe (79,2%) auf den
Bereich der Psychiatrie. 10 Übergriffe auf die Gerontopsychiatrie (10,4%) u. 8
Übergriffe (8,3%) auf die Neurologie.
N = 96
55
50
45
40
35
30
25
20
15
Count
10
5
0
e1
e3
o4
n2
e4
wst1
u1
n3
j1
miss
n4
f1
m2
Bei den psychiatrischen Stationen vielen wiederum nicht weniger als 54,2 % (52
Übergriffe) auf die Station E1. Es sind dort nicht nur die mit Abstand am meisten
Übergriffe der Psychiatrie festzustellen. Vielmehr konnten dort mehr Übergriffe
verzeichnet werden als auf allen anderen Stationen zusammen! (42 Übergriffe =
43,7%). Bei 2 Übergriffen blieb die Station unbekannt.
Vorstellbar ist dies dadurch, dass der überwiegende Teil der „psychiatrischen“
Neuaufnahmen durch die Station E1 vollzogen wird. Vor allem aber jene
Wölbitsch Mario
Mai 2004
69
Patienten, die in erster Linie eine „akute psychiatrische“ Versorgung benötigen (=
psychiatrischer Notfall).
9.5.5 Verhalten vor dem Übergriff
9.5.5.1 Anamnese / Biographie
Waren aggressive Verhaltensweisen aus der Anamnese bekannt?
N = 96
100
80
82
60
40
Count
20
12
0
ja
nein
Bei 85,4% (= 82x) aller Übergriffe war gewalttätiges, aggressives Verhalten aus
der Anamnese bekannt. Es scheint sich auch hier die Aussage von Jones (Jones
1995; zitiert nach Richter, D. & Sauter, D. 1998, S.124) zu bestätigen, dass bereits
„früher durchgeführte Aggressionen“ der verlässlichste Prädiktor für „folgende
gewalttätige Übergriffe“ sind. (vgl. Kapitel 6.2)
Wölbitsch Mario
Mai 2004
70
9.5.5.2 Fehlverhalten des Patienten
Konnte im Vorfeld des Übergriffes Fehlverhalten des Patienten beobachtet
werden?
N = 96
60
58
50
40
38
30
20
Count
10
0
ja
nein
Bei 60,4% der Übergriffe konnte im Vorfeld des Übergriffes Fehlverhalten der
Patienten festgestellt werden. Dies ist wie schon im Kapitel 6.2. angemerkt, keine
sonderliche Überraschung.
Ging dem Vorfall ein Konflikt (anderen Pat., Pflege ...) voraus?
N = 96
60
52
50
40
40
30
20
Count
10
3
0
ja
nein
nicht bekannt
Hier konnte immerhin noch bei 41,7% (40x) der Übergriffe ein Konflikt im Vorfeld
eruiert werden. Bei entsprechender Analyse der jeweiligen Situation könnte dies
bei der Einschätzung von aggressiven Personen durchaus hilfreich sein.
Welches „Fehlverhalten“ war vor dem Übergriff beobachtbar?
Wölbitsch Mario
Mai 2004
71
Diese offen formulierte Frage wurde nach Rücklauf aller Fragebögen kategorisiert
u. in die SPSS Datenmaske eingegeben. Hier waren Mehrfachantworten möglich.
56 Personen machten insgesamt 100 Angaben.
Group $F3NEU mehrfachf3neu
(Value tabulated = 1)
F13N1
F13PROVO
F13VERBD
F13GEWDI
F13ANGST
F13UNRUH
F13GESPA
F13DROHU
F13SONST
10 10,0
3
3,0
17 17,0
9
9,0
4
4,0
23 23,0
13 13,0
5
5,0
16 16,0
------- ----100 100,0
Total responses
17,9
5,4
30,4
16,1
7,1
41,1
23,2
8,9
28,6
----178,6
30
N = 96
25
23
20
17
15
16
13
10
Count
10
9
5
3
0
4
5
es
tig en ng
ns ärd mu
so
b
m
e
i
St
hg
ro nte ität
D
s
an vo
sp er
ge e N
n,
uh at. che
P Sa
nr
U d.
e
n
t
gs ege ., B
An lt g ung a
a
h
rh
e
ro
ew
G le D es V
d
a
ie
rb
en re
ve zier sch
,
o
ov en
pr erd
w
ut
la
Zu 23% wurde Unruhe u. Nervosität angegeben. 17% der Patienten äußerten
verbale Drohungen, Beschimpfungen u. 10% wurden im Gespräch laut bzw.
fingen an zu schreien. In 13% der Fälle wurde eine „gespannte Stimmung“
angegeben. Darunter wurden Begriffe wie „gereizt u. gespanntes Zustandsbild,
unterschwellig gereizt, Patient wirkt massiv gespannt“, etc. angegeben.
9.5.6 Ist-Zustand / Gegebenheiten zur Zeit des Übergriffs
Wölbitsch Mario
Mai 2004
72
9.5.6.1 Personalstand
Überbelegung mit Patienten / Personalstand zur Zeit des Übergriffes?
N = 96
100
84
80
60
40
Count
20
11
0
ja
nein
Hier scheinen die Resultate eindeutig. In 87,5% (= 84 Übergriffe) der Fälle war die
Station zum Zeitpunkt des Übergriffes nicht überbelegt.
N = 96
100
90
80
80
70
60
50
40
30
20
Count
10
13
0
überb ese tzt
unt erbes etzt
Stan dard bes etz ung
Außerdem waren die Stationen in 83,3% (= 80 Übergriffe) der Fälle ausreichend,
sprich
mit
der
vorgegebenen
Anzahl
von
Pflegepersonen
besetzt
(=
Standardbesetzung). Nur in 13,5% der Fälle waren die Stationen unterbesetzt.
Das heißt aber dennoch, dass jeder 8 Übergriff auf Stationen mit Unterbesetzung
stattgefunden hat.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
73
9.5.6.2 Zusammenhang mit pflegerischer Tätigkeit
Stand der Übergriff in einer direkten Zusammenhang mit einer pflegerischen
Tätigkeit? Und wenn ja, welche?
N = 96
60
56
54
52
48
44
42
40
36
32
28
24
20
16
12
Count
8
4
0
ja
nein
54 (56,3%) Pflegepersonen gaben an, dass der Übergriff mit einer direkten
pflegerischen Tätigkeit zusammenhing.
N = 96
20
17
15
13
10
9
6
5
Count
5
2
0
Blutabn.,Infus.
Vitalz-Ko.
Aufn., Gespräch
Medieinnahme
GP-Körperpfl.
sonstiges
Bei der offen gestellte Zusatzfrage: „Wenn ja, wie?“ wurden 52 Angaben gemacht.
Dabei bestand in 24,7% der Fälle die direkte pflegerische Tätigkeit in der
Verabreichung bzw. Kontrolle von Infusionen u. Blutabnahmen. In 33,6% der Fälle
wurden
grundpflegerische
Tätigkeiten
wie
z.B.
Körperpflege,
Nagel-
u.
Mundpflege, Lagerungen etc. durchgeführt. Gespräche machten immerhin noch
17% aus und 11% der Fälle standen in Zusammenhang mit der Verabreichung,
Aufforderung zur Medikamenteneinnahme.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
74
9.5.6.3 Bezugsperson / Tagesbezugsperson
Waren Sie die Bezugsperson / Tagesbezugsperson des betreffenden Patienten?
N = 96
55
50
51
45
43
40
35
30
25
20
15
Count
10
5
0
ja
nein
In 53,1% der Fälle (51x) wurde die Bezugsperson2 zum „Opfer“ des Übergriffs.
Vielleicht lässt sich die hohe Zahl der „Nicht-Bezugspersonen“ damit erklären,
dass, wie schon erwähnt, 38% der Übergriffe im Nachtdienst erfolgt sind.
9.5.7 Prävention
Wäre der Übergriff aus Ihrer Sicht zu verhindern gewesen? Wenn ja, wie? Wenn
nein, warum nicht? Mehrfachantworten möglich!
N = 96
90
85
84
80
87,5% (= 84 Personen) aller
75
„betroffenen
70
65
60
Pflegepersonen“
waren der Meinung, dass der
55
50
Übergriff
45
nicht
zu
verhindern
40
gewesen wäre.
35
30
25
20
Count
15
10
12
5
0
ja
nein
2
Bezugspersonenpflege: Wird im gesamten LKH Rankweil durchgeführt. 1 Pflegeperson (=
Bezugsperson) ist für 3-4 Patienten zuständig. Von der Aufnahme bis zu Entlassung. Ist die
Bezugsperson nicht anwesend, wird eine Tagesbezugsperson eingeteilt, die die Pflege im Sinne
der Bezugsperson durchführt.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
75
N = 96
40
35
30
25
20
15
10
5
0
nt
en
Pa
t.
rk
ve
u
Sit
n
n
es
tio
tig
nte
ika
x
ns
tie
o
o
t
a
s
In
sP
de
en
t
l
a
erh
on
ati
sV
ste
us
w
e
B
Die Auswertung der offenen Fragestellung gestaltete sich als schwierig, da viele
Pflegepersonen Angaben machten, die nicht verwertbar waren (z. B. benötigte
Unterstützung durch Pflegepersonen, Indikation für Tätigkeit gegeben usw.)
Als wichtigste Aussagen wurden schließlich folgende Kategorien gebildet. Je 16
Personen (16,7%) waren der Meinung, dass der Überbegriff nicht vorhersehbar
bzw. der Patient nicht zugänglich, korrigierbar gewesen ist und in 5,2% (5
Personen) der Fälle war der Patient intoxikiert (alle mit Alkohol). 34 Personen
(35,4%) haben zu dieser Frage keine Angaben gemacht.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
76
9.5.8 Folgen für Patienten u. Pflegepersonen
9.5.8.1 Art der physischen, (körperlichen) Aggressionen
Welcher Art von physischer, (körperlicher) Aggression waren Sie ausgesetzt?
Mehrfachantworten möglich!
40
Körperliche Aggression
35
30
25
20
15
10
5
0
N = 96
Schläge
(Hand)
Kratzen
Tritte
Bisse
Festkrallen
Spucken
bew erfen m.
Gegenständ.
51 Personen haben zu dieser Frage 95 Angaben gemacht. Zu 38,9% wurden die
Pflegepersonen Opfer von Schlägen, zu 23% von Tritten u. in 12,6% der Fälle
wurden die Betroffenen bespuckt.
Zusätzlich bestand noch die Möglichkeit andere Formen körperlicher Aggression
anzuführen. Dies wurde von 4 Personen wahrgenommen (3x stoßen, wegstoßen
u. 1x Schlagen mit Hosengürtel).
Wölbitsch Mario
Mai 2004
77
9.5.8.2 Art der psychischen Aggressionen
Welcher Art von psychischer Aggression waren Sie ausgesetzt?
Psychische Aggression
80
70
60
50
40
30
20
10
0
Ein. bed.
B eschimpfungen
Kö rperhaltungen
verbale
A ndro hung v.
Gew.
Lächerlich
machen
B edro hung m.
Gegesnst.
A bwertende
Gesten
A nspiel. auf
Sexualität
Auch hier waren Mehrfachantworten möglich. 83 Pflegepersonen machten 233
Angaben.
Group $F11 Mehrfachf11
(Value tabulated = 1)
of
Dichotomy label
Pct of
Pct of
Count Responses Cases
Name
F11BEDKÖ
F11BESCH
F11DROGE
F11LÄCHE
F11BEDGE
F11ABWGE
F11SEXUA
Total responses
46 19,7 55,4
68 29,2 81,9
43 18,5 51,8
24 10,3 28,9
5
2,1
6,0
36 15,5 43,4
11
4,7 13,3
------- ----- ----233 100,0 280,7
13 missing cases; 83 valid cases
Wölbitsch Mario
Mai 2004
78
In 29,2% der Fälle wurden die Pflegepersonen zum Opfer von Beschimpfungen,
zu 19,7% kam es zur Einnahme bedrohlicher Körperhaltungen durch die Patienten
und zu 18,5% kam es zur verbalen Androhung von Gewalt.
9.5.8.3 Auswirkungen, Folgen für Pflegepersonen
Körperliche Folgen des Übergriffes für die Pflegepersonen
N = 96
100
90
80
70
60
50
40
30
Count
20
10
0
Keine Folgen
Hämatome, Kratzer
Hämatome
Prellungen
Kratzer
Hier bleibt festzustellen dass die Übergriffe zu 88% keine (sichtbaren) körperlichen
Folgen für die betroffenen Pflegepersonen hatte. 2 Personen erlitten jeweils
Hämatome u. Kratzer, 3 Personen gleichzeitig Hämatome u. Kratzer u. 2
Personen Prellungen. Bei je einer Person kam es zu Beschädigungen, einmal der
Brille u. einmal der Kleidung.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
79
Psychische Folgen für die Pflegepersonen! Mehrfachantworten möglich!
25
20
15
10
5
s
es
Str
Zo
rn
Ag
gre
ssi
on
ng
nu
Wu
t
Ab
leh
ss
Ha
eit
en
h
ck
ho
Nie
de
rge
sch
lag
Sc
he
rhe
it
Un
sic
An
gs
t
0
Hier wurden von 71 Personen 130 Angaben gemacht. Die wichtigsten
Auswirkungen, die die Übergriffe auslösten, waren:
-
Aggressive Gefühle bei 15,4%
-
Angst bei 14,6%
-
Unsicherheit bei 14,6%
-
Wut bei 13,1%
-
Ablehnung bei 11,5% der Fälle.
Wenn man bedenkt, dass rund 74% aller betroffener Personen psychische Folgen
angeben, sollte man sich gut überlegen, wie mit dieser Problematik umgegangen
wird. Das die psychische Belastung mindestens den gleichen Stellenwert
einnehmen sollte bzw. sogar müsste wie die physische Belastung, kann jeder, der
schon einmal (bzw. öfters) zum Opfer geworden ist, gerade in der Psychiatrie, nur
bestätigen.
Die psychische Belastung im psychiatrischen Alltag lässt sich mit dieser
Auswertung natürlich nicht repräsentativ darstellen, allerdings wäre es einen
Gedanken wert, sich intensiver mit diesem Themenbereich auseinander zu
setzen.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
80
9.5.8.4 Auswirkung auf die Dienstzeit
70
67
65
60
55
50
45
40
35
30
Count
29
25
20
Keine Angaben
Dienst regul. beend.
69,8% (67 Personen) aller betroffenen Pflegepersonen haben Ihren Dienst
„regulär beendet“. 30,2% haben keine Angaben gemacht.
9.5.8.5 Bewältigung
Wie wurde der Übergriff von den betroffenen Pflegepersonen verarbeitet?
N = 96
50
45
45
40
35
30
25
24
20
15
14
Count
10
5
5
3
0
p
es
G
t
n
tn
r
Pa
t
rz
de
nd
lA
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St
am
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un
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w
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eu
Fr
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am
im
Te
p.
es
G
p.
es
G
p.
es
G
ch
ni
Te
p.
p.
es
G
es
G
Für 25% der Betroffenen bestand scheinbar kein Bedarf, den Übergriff zu
verarbeiten. 70,8% der Betroffenen haben allerdings nach Möglichkeiten der
Wölbitsch Mario
Mai 2004
81
Verarbeitung gesucht u. auch gefunden. Dabei scheint das Gespräch im Team mit
46,9% die wichtigste Form der Verarbeitung zu sein. Obwohl es sich bei dieser
Erhebung doch um weitgehend „milde Ausprägungen von Gewalt u. Aggression“
zu handeln scheint, haben doch 70% der Betroffenen das Bedürfnis nach
Verarbeitung des Übergriffs wahrgenommen.
9.5.8.6 Konsequenzen für Patienten
Folgen des Übergriffs für die Patienten. Mehrfachantworten möglich.
ga
Zw
an
gs
m
Au
s
ik
ed
ng
n
at
io
un
ie
r
ol
Is
Fi
x
ie
ru
ng
g
45
40
35
30
25
20
15
10
5
0
Mehrfachantworten. Auch hier bestand die Möglichkeit neben dem „Ankreuzen“
der nominalskalierten Items noch zusätzliche Angaben zu machen. 78 Personen
machten schließlich 118 Angaben. In 35% der Fälle hatte der Übergriff für den
Aggressor eine Fixierung zur Folge. In ebenfalls 35% der Fälle wurden
Zwangsmedikationen verabreicht. Darunter wurden Begriffe wie Erhöhung der
oralen, intramuskulären und intravenösen Medikation, aber auch Verabreichung
der Reservemedikation, etc. zusammengefasst. Interessant, aber durchwegs nicht
überraschend, dass es in 22% der Fälle zu einer Kombination von Fixierung u.
Zwangsmedikation gekommen ist. Sehr auffällig u. für mich ein absolutes Zeichen
der pflegerischen Qualität war, dass immerhin in 20% der Fälle versucht wurde,
mittels Gespräch die Situation zu bearbeiten. Nimmt man noch die unter „andere
pflegerische
Maßnahmen“
gemachten
Angaben
dazu
(1:1
Betreuung,
engmaschige Betreuung....), belaufen sich die rein pflegerischen Interventionen
auf rund 25%.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
82
9.5.8.7 Verletzungsmeldung
Wurde eine Verletzungsmeldung erstellt?
N = 96
100
90
88
80
70
60
50
40
30
Count
20
10
8
0
miss
nein
Keiner der erfolgten Übergriffe wurde mittels einer Verletzungsmeldung zur
Anzeige gebracht. Dies liegt sicher daran, dass es in dem Beobachtungszeitraum
von 9 Wochen, zu „nur“ 8 „sichtbaren körperlichen Verletzungen“ gekommen ist,
die alle durchwegs als „geringfügige“ Verletzungen bezeichnet werden können.
Dem Problem der Dunkelziffer nicht gemeldeter Patientenübergriffe (vgl. Richter,
1999, S.69) kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht nachgegangen werden.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
83
10 Zusammenfassung
Die
statistische
Auswertung
Computerprogramm
SPSS
der
Version
gesamten
Daten
11.0,
grafische
die
erfolgte
mit
Darstellung
dem
der
Mehrfachantworten mittels Excel.
Nach einem Beobachtungszeitraum von 8 Wochen konnten 97 gemeldete
Übergriffe von Patienten gegenüber Pflegepersonen erfasst werden. Dies
entspricht 1,7 Übergriffen pro Tag. Obwohl diese 2 Monate nicht ausreichen, um
ein repräsentatives Ergebnis an den Tag zu legen, so lassen sich doch einige
wichtige Tendenzen erkennen bzw. Rückschlüsse aufzeigen.
Hypothesen:
a. Pflegepersonen der Psychiatrie werden häufiger zum „Opfer“ von
gewalttätigen Übergriffen als ihre Berufskollegen aus den Bereichen
Gerontopsychiatrie u. Neurologie!
b. Weibliche
Pflegepersonen
werden
häufiger
zum
Opfer
von
gewalttätigen Übergriffen von Patienten als ihre männlichen
Kollegen.
Ad. a:
Diese Hypothese kann eindeutig mit ja beantwortet werden. Sowohl bei den
physischen Übergriffen, hier erfolgten 39 von 54 erfolgten Übergriffen (= 72%), wie
auch bei den psychischen Übergriffen, hier erfolgten 67 von 82 Übergriffen (=
88%), auf psychiatrischen Stationen. (vgl. Kapitel 9.5.1.4)
Ad. b:
Wie schon bei Kapitel 9.5.2.1 angeführt, waren 55,2% (53 Personen) der
„aggressionsausübenden“ Personen männlich u. 44,8% (43 Personen) weiblich.
Umgekehrt wurden Männer zu 54,2% u. Frauen zu 45,8% zum Opfer von
Übergriffen.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
84
Die Hypothese „weibliche Pflegepersonen werden häufiger zum Opfer von
gewalttätigen Übergriffen von Patienten als ihre männlichen Kollegen“ kann
hiermit nicht bestätigt werden.
Bei der Bearbeitung dieser Hypothese stellte sich mir eine weitere Frage: „Wer
wird eigentlich gegenüber wem aggressiv. Neigen Männer vermehrt zu
aggressivem Verhalten gegenüber Männern oder Frauen? (und natürlich
umgekehrt!)“
Nach Durchführung des Chi-Quadrat-Tests nach Pearson konnte folgendes
Ergebnis erarbeitet werden. Männliche Patienten führten zu 77% nur gegenüber
männlichen Pflegpersonen Übergriffe durch. Weibliche Patienten führten Ihrerseits
wieder zu 71% nur Übergriffe gegenüber Frauen durch. Bei dieser Untersuchung
zeigten also Männer hauptsächlich gegenüber Männern u. Frauen hauptsächlich
gegenüber Frauen aggressives Verhalten.
SEX Crosstabulation - N = 96
F19
männlich
Pflege
weilbich
Pflege
Total
Count
Expected Count
% within F19
% within SEX
% of Total
Count
Expected Count
% within F19
% within SEX
% of Total
Count
Expected Count
% within F19
% within SEX
% of Total
SEX - Patienten
männlich
weiblich
40
12
28,7
23,3
76,9%
23,1%
75,5%
27,9%
41,7%
12,5%
13
31
24,3
19,7
29,5%
70,5%
24,5%
72,1%
13,5%
32,3%
53
43
53,0
43,0
55,2%
44,8%
100,0%
100,0%
55,2%
44,8%
Total
52
52,0
100,0%
54,2%
54,2%
44
44,0
100,0%
45,8%
45,8%
96
96,0
100,0%
100,0%
100,0%
Dass 78% der erfassten Übergriffe auf das „Konto“ von „als Single lebenden
Personen“ ausgeübt wurde hat mich doch einigermaßen erstaunt. Die Gründe
können nicht nur auf einen allgemeinen Anstieg von „Single-Haushalten“
zurückzuführen sein. Es könnte allerdings sein, dass es sich bei einem Teil der
erfassten Personen um Menschen handelt, die schon seit längerer Zeit an einer
psychischen Erkrankung leiden u. dadurch häufig nicht mehr in einer stabilen
Wölbitsch Mario
Mai 2004
85
Beziehung leben. Sollte dies zutreffen, könnten diese, auf Grund häufigerer
Aufenthalte in der Psychiatrie, auch öfters in der Statistik aufscheinen.
Der hohe Anteil an psychischer Gewalt war nicht überraschend - 83 Personen
berichteten über 233 erfolgte „psychische Übergriffe“. Dass Pflegepersonen
allerdings Gefühle wie Aggressionen (15,4%), Angst (14,6%), Unsicherheit
(14,6%), Wut (13,1%) u. Ablehnung (11,5%) in dieser Häufigkeit zum Ausdruck
gebracht wurden war bemerkenswert u. zeigt für mich sehr deutlich auf, wie
belastend u. meist nach außen hin nicht sichtbar, solch psychische Übergriffe auf
die Pflegepersonen wirken. Wenig verwunderlich deshalb auch, dass immerhin
70% aller Betroffener Pflegepersonen versucht haben die entsprechenden
Übergriffe, hauptsächlich in Gesprächen im Team (fast 50%), zu verarbeiten.
51 Personen wurden zum Opfer von körperlichen Übergriffen. Glücklicherweise
hatten nur 8 Personen körperliche Folgen davon zu tragen. Da der Großteil der
Übergriffe (79%) auf der Station E1 stattgefunden hat, könnte man annehmen,
dass die Fachkenntnis u. Routine, die sich die Pflegepersonen auf dieser Station
erworben haben, dazu geführt haben, dass es „nur“ zu dieser geringen Anzahl von
körperlichen Folgen für die Pflegepersonen gekommen ist.
Sehr interessant ist auch die Tatsache, dass mehr als ein Drittel aller Übergriffe
(37%) im Nachtdienst stattgefunden haben. Hier muss die Belastung, neben der
allgemeinen Problematik des Nachtdienstes (Umstellung Biorhythmus, alleinige
Ansprechperson ...) noch wesentlich höher wirken als im Tagdienst. Dies wäre
vielleicht eine eigene Untersuchung wert.
Als schwierig gestaltete sich die Auswertung der Fragen zum Thema Prävention.
Hier wurden von den betroffenen Pflegepersonen zur offenen Fragestellung sehr
häufig nicht verwertbare Daten angegeben. Obwohl aus der Anamnese bekannt
war, dass der entsprechende Patient schon einmal gewalttätiges, aggressives
Verhalten (85%) gezeigt hat u. obwohl der Patient zu 60% durch Fehlverhalten im
Vorfeld des Übergriffes aufgefallen ist, waren 87% der betroffenen Pflegepersonen
der Meinung, dass der Übergriff nicht zu verhindern gewesen ist. Dies könnte
Wölbitsch Mario
Mai 2004
86
darauf hindeuten, dass die Patienten schon so schwer von ihrer Erkrankung
beeinträchtig waren, dass es für sie keine andere Möglichkeit (unbewusst!) mehr
gegeben hat, als ihre Interessen mit Gewalt u. Aggression durchzusetzen, oder
aber, dass die Frühwarnsymptome zwar von den Pflegepersonen erkannt wurden,
sie jedoch nicht in der Lage waren, Maßnahmen zur Deeskalation in adäquater
Form umzusetzen.
Wölbitsch Mario
Mai 2004
87
11 Literaturverzeichnis
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McGraw-Hill.
Ø Böker,
W.,
Häfner,
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Gewalttaten
Untersuchung
Geistesgestörter.
Untersuchung
Eine
in
der
Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Springer.
Ø Fürntratt, E. (1974). Angst und instrumentelle Aggression. Weinheim: Beltz.
Ø Galtung, J. (1975). Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und
Konfliktforschung. Reinbek: Rowohlt.
Ø Lancee W.J., Gallop, R., McCay, E. & Toner, B. (1995). The Relationship
Between Nurses´Limit-Setting Styles and Anger in Psychiatric Patients.
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vermindern ist. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Ø Richter, D. (1999). Patientenübergriffe auf Mitarbeiter psychiatrischer Kliniken.
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Wölbitsch Mario
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88
12 Anhang
Fragebogen (Muster)
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Eidesstattliche Erklärung
Ich erkläre, dass die vorliegende Arbeit von mir selbst erfasst wurde und dass ich
keine anderen als die angeführten Behelfe verwendet habe.
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