Wölbitsch Mario Gewalt u. Aggression in der Psychiatrie Wie häufig werden Pflegepersonen im LKH Rankweil mit gewalttätigem u. aggressivem Verhalten von Patienten konfrontiert? Abschlussarbeit im Rahmen des Universitätslehrganges für „Lehrkräfte im Gesundheitswesen“. Eingereicht bei Univ. Doz. Dr. Wilhelm Urban im Juni 2004 1 Inhaltsangabe 1 EINLEITUNG 2 DIE BEGRIFFE „GEWALT UND AGGRESSION“ 4 10 2.1 Aggression 10 2.2 Der Begriff „Gewalt“ 12 2.3 Physische versus Psychische Gewalt 13 2.4 Aggressivität 14 2.5 Aggressive Emotionen = Aggressives Verhalten? 14 3 ALLGEMEINE ERKLÄRUNGSASPEKTE FÜR „AGGRESSIVES VERHALTEN“! 15 4 AGGRESSIONSTHEORIEN 16 4.1 Trieb-, Instinkttheorien 17 4.2 Frustrations-, Aggressionstheorie 18 4.3 Lernpsychologische Theorien 4.3.1 Die klassische Konditionierung 4.3.2 Lernen am Modell 4.3.3 Operative Konditionierung (Lernen am Erfolg, Misserfolg) 19 20 22 25 5 29 GEWALT U. AGGRESSION IN DER HEUTIGEN PSYCHIATRIE 6 MÖGLICHKEITEN DER AGGRESSIONSMINDERUNG UND – VERHINDERUNG 30 6.1 Aggression abreagieren 6.1.1 Katharsis-Hypothese 31 31 6.2 35 Erkennen u. Einschätzen von Frühwarnsymptomen 6.3 Die „Anreger“ verändern 6.3.1 Verminderung von Provokationen und Herabsetzungen 6.3.2 Verminderung von Einengungen, Stressoren, Entbehrungen 6.3.3 Verminderung aggressiver Modelle, Symbole 6.3.4 Förderung positiver Anreger 6.3.5 Anreiz-Verlagerung auf alternatives Verhalten Wölbitsch Mario 38 38 40 42 42 42 Mai 2004 2 7 PRAXISBEZOGENE MÖGLICHKEITEN ZUR DEESKALATION U. ABWEHR VON KÖRPERLICHEN ANGRIFFEN 43 7.1 Praktische Grundregeln zur Deeskalation 43 7.2 Konkretes persönliches Verhalten zur Deeskalation 46 7.3 Abwehr eines körperlichen Angriffs 7.3.1 Flucht 7.3.2 Abwehr 48 49 50 8 52 FIXIERUNG VON PATIENTEN 8.1 Allgemeines 52 8.2 Allgemeine Regeln zur Fixierung 52 8.3 Körperliche Tabuzonen 53 8.4 Eigentliche Fixierung 54 8.5 Kontrolle u. Überwachung 54 8.6 Dokumentation 55 9 PLANUNG U. DURCHFÜHRUNG DER UNTERSUCHUNG 56 9.1 Zweck der Untersuchung 56 9.2 Entstehung der Hypothesen 57 9.3 Untersuchungsmethode 59 9.4 Ablauf der Untersuchung u. Pretest 59 9.5 Auswertung und Ergebnisse 9.5.1 Demographische Daten Pflegepersonen Geschlecht / Alter 9.5.1.1 Berufserfahrenheit 9.5.1.2 Berufszugehörigkeit 9.5.1.3 9.5.2 Demographische Daten Patienten Geschlecht 9.5.2.1 Alter 9.5.2.2 Familienstand 9.5.2.3 Diagnosen (ICD 10) 9.5.2.4 Aufenthaltsdauer 9.5.2.5 9.5.2.6 Ausgangsregelung / Unterbringung (UBG) 9.5.3 Zeitpunkt der Übergriffe 9.5.3.1 Übergriffe je Kalenderwoche 9.5.3.2 Übergriffe Tagdienst / Nachtdienst 9.5.4 Häufigkeit, Anzahl nach Stationen Wölbitsch Mario 60 60 60 61 61 62 62 62 63 63 64 65 66 66 67 68 Mai 2004 3 9.5.5 Verhalten vor dem Übergriff 9.5.5.1 Anamnese / Biographie 9.5.5.2 Fehlverhalten des Patienten 9.5.6 Ist-Zustand / Gegebenheiten zur Zeit des Übergriffs 9.5.6.1 Personalstand 9.5.6.2 Zusammenhang mit pflegerischer Tätigkeit 9.5.6.3 Bezugsperson / Tagesbezugsperson 9.5.7 Prävention 9.5.8 Folgen für Patienten u. Pflegepersonen 9.5.8.1 Art der physischen, (körperlichen) Aggressionen 9.5.8.2 Art der psychischen Aggressionen 9.5.8.3 Auswirkungen, Folgen für Pflegepersonen 9.5.8.4 Auswirkung auf die Dienstzeit 9.5.8.5 Bewältigung 9.5.8.6 Konsequenzen für Patienten 9.5.8.7 Verletzungsmeldung 69 69 70 71 72 73 74 74 76 76 77 78 80 80 81 82 10 ZUSAMMENFASSUNG 83 11 LITERATURVERZEICHNIS 87 12 ANHANG 88 Wölbitsch Mario Mai 2004 4 1 Einleitung Im Rahmen meiner Ausbildung zum „Akademisch geprüften Lehrer für Gesundheits- und Krankenpflege“ wurde ich mit der Aufgabe konfrontiert, eine Diplomarbeit zu erstellen. Nach kurzer Überlegung war für mich klar, dass sich meine Arbeit mit dem Thema „Gewalt und Aggression in der Psychiatrie“ auseinandersetzen wird. Der psychiatrische Mensch1 wurde im Verlauf der Psychiatriegeschichte so oft zum Opfer therapeutischer und staatlicher Gewalt, dass es schwer zu fallen scheint, ihn unter der Perspektive einer Täterrolle zu betrachten. Weiterhin mag eine erneute Diskriminierung psychisch Kranker und der in der Psychiatrie Tätigen befürchtet werden. Dieser Aussage von Steinert et al. (Psychiatrie Praxis, S.155) kann ich mich nur anschließen. Meine Intention geht jedoch in eine ganz andere Richtung. Die letzten 15 Jahre, das habe ich selber erlebt, hat sich sehr viel in der Betreuung der Patienten in der Psychiatrie, verändert. Viele Verbesserungen wurden zum „Wohle“ des Patienten geplant und durchgeführt. Aber, ob man nun will oder nicht, das Thema „Gewalt und Aggression“ ist und bleibt eine Problematik auch in der Psychiatrie! Neben einem medizinischen Behandlungsauftrag haben die in der Psychiatrie Tätigen ja auch einen „ordnungspolitischen“ Zwangseinweisungen bei Auftrag. psychischen Man denke Erkrankungen mit nur an Selbst- die u. Fremdgefährdung, Betreuung u. Behandlung von „Forensischen Patienten“! Leider, die folgenden Zeilen entsprechen dabei meinem persönlichen, subjektiven Empfinden, musste ich feststellen, dass in diesem Zusammenhang die für die Pflegepersonen entstandenen „Belastungen“ zusehens als „normal“ hingestellt wurden, „aggressive Übergriffe“ sogar bagatellisiert wurden und werden. 1 Für die gesamte Arbeit gilt: Um den Schreibfluss nicht zu behindern u. wie im Sprachgebrauch allgemein üblich, bleibe ich bei der männlichen Form des Benennens. Es gilt, wann immer notwendig, synonym die weibliche Form. Wölbitsch Mario Mai 2004 5 Aussagen wie: „Der ist ja selbst daran Schuld“, oder „Da kann man halt nichts machen, das gehört eben einfach dazu“ sind leider immer wieder zu hören. Auf anderer Ebene entstanden Diskussionen über spezielle finanzielle Zulagen. Welchen Personen, in welchen Abteilungen steht diese zu? Ist eine Zulage überhaupt noch gerechtfertigt usw.? Zudem berichteten Schüler im Unterricht immer wieder von „gewalttätigen Übergriffen“ und zeigten enormes Interesse zu diesem Thema. Für mich stellten sich dabei eine „Fülle“ von Fragen: Wie häufig und in welcher Form kommt es überhaupt zu gewalttätigen Übergriffen von Patienten gegenüber Pflegepersonen? Wie verhält es sich mit psychischer Gewalt, denen Pflegepersonen ausgesetzt sind? Gibt es bzw. kann man überhaupt „einigermaßen objektive Zahlen“ erarbeiten? Ist Gewalt und Aggression überhaupt ein Thema auf den Stationen? Wie kann man Gewalt und Aggression begegnen? Im theoretischen Teil meiner Arbeit möchte ich die Hintergründe von „Gewalt u. Aggression“ erarbeiten, gleichzeitig aber auch einige möglichst praxisnahe Tipps u. Anregungen zu dieser Thematik vorstellen. Im empirischen Teil, und da bin ich selber sehr neugierig, möchte ich erheben, wie häufig Pflegepersonen zum Opfer von gewalttätigem, aggressivem Verhalten von Patienten werden. Mit einem Beispiel aus meinen persönlichen Erfahrungen zu Beginn meiner „Psychiatrie – Karriere“ möchte ich nun in den folgenden Zeilen verdeutlichen, mit welchen Ereignissen man in der Psychiatrie konfrontiert werden kann. Schon mit Eintritt i. d. Psychiatrie begegnete mir Gewalt und Aggression in den unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen. Das in der Folge beschriebene Erlebnis hat sich 1989 im Landeskrankenhaus Rankweil ereignet. Der Schwerpunkt meiner Ausführungen liegt im Bereich meiner persönlichen Erfahrungen und vor allem der Empfindungen, die zur damaligen Zeit auf mich eingewirkt haben. Natürlich kann ich nach so langer Zeit meine Erlebnisse nur noch „sinngemäß“ wiedergeben. Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten Wölbitsch Mario Mai 2004 6 erinnern, und erhebe in dieser Richtung keinen Anspruch auf Vollständigkeit meiner Ausführungen. Meine ersten Tage in der Psychiatrie.... Zum bessern Verständnis beschreibe ich zuerst die räumliche Situation, sowie einige, der zumindest für mich wichtigsten Besonderheiten, die damals auf dieser Station vorherrschten. Wie gesagt, es geht nur darum, dass man einen kleinen Einblick in die damalige Situation erhält. Im Jahre 1989 waren im Landeskrankenhaus Rankweil (genannt „Valduna“) nahezu alle Stationen geschlossen. Das heißt, dass kein Patient ohne Einwilligung der Pflegepersonen oder der Ärzte, die Station verlassen konnte. Umgekehrt konnte aber auch keine fremde Person die Station betreten. Die Pflegepersonen trugen weiße Mäntel und jeder hatte auf Grund der geschlossenen Türen, Fenster, Kästen etc., den .... obligatorischen Schlüsselbund nahezu ununterbrochen für alle sichtbar und vor allem gut "hörbar" in Händen. Die Station war gekennzeichnet durch eine eher sterile, sachliche Ausstattung. An den Wänden hingen keine Bilder. Die Gänge und auch die Zimmer wirkten kahl und leer. In der Mitte der Station befand sich das Dienstzimmer und trennte den Frauen- vom Männerbereich. Da die einzelnen Räume durch riesige Glaswände getrennt waren, konnte sowohl die Frauen- als auch die Männerseite vom Dienstzimmer aus sehr gut überblickt werden. Privatsphäre für die Patienten war dadurch, wie man sich gut vorstellen kann, nur in beschränktem Ausmaß gegeben! Alle Patienten waren gezwungen bei der Aufnahme sämtliche „Besitztümer“ beim Pflegeteam abzugeben. Die Pflegepersonen „filzten“ und dokumentierten penibel genau die persönlichen Besitztümer der Patienten und verwahrten diese in abgeschlossenen Kästen. Alle Patienten erhielten Stationskleidung (blaue Pyjama´s), unabhängig vom Schweregrad ihrer Erkrankung. Wölbitsch Mario Mai 2004 7 Ich kann mich noch gut an meinen ersten Dienst auf dieser Station erinnern. Geprägt von Vorurteilen, ich hatte gerade den Film: „Einer flog übers Kuckucknest“ gesehen und einer starken inneren Anspannung begann ich meinen ersten Dienst. Viele meiner Vorurteile schienen sich zu bestätigen. Die oben erwähnten Strukturellen Bedingungen, aber vor allem auch der Zustand der Patienten hat mich doch sehr „erschreckt“, betroffen gemacht. Die Patienten waren praktisch in jeder Altersstufe, von 18 bis 80 Jahren vertreten. Manche dieser Menschen wirkten auf mich völlig normal, einige redeten praktisch ununterbrochen und andere wiederum sprachen gar nichts. Manche Patienten bewegten sich wie Roboter, und der Speichel tropfte ihnen aus dem Mund. Andere wiederum hatten einen „starren Blick“ und „schlichen“ auf der Station herum wie „wilde Tiere“ in einem Käfig. „Na Bravo!“, dachte ich mir. „Das ist ja schlimmer als im Film!“ Die ersten Tage vergingen wie „im Flug“! Vom Pflegeteam wurde ich sehr gut aufgenommen und auch genauestens in meinen neuen Arbeitsbereich eingewiesen. Der Umgang mit den Patienten fiel mir von Tag zu Tag leichter und auch die Handhabe mit der, sagen wir einmal strukturellen Gewalt, fiel mir zusehens leichter. Doch schon nach kurzer Zeit wurde ich das erste mal „so richtig“ mit Gewalt und Aggression konfrontiert. Kung Fu oder alle gegen einen ..... Ich kann mich noch genau an den jungen Mann erinnern, der damals, für mich plötzlich unerwartet, „völlig durchdrehte“! Schon zu Beginn meines Dienstes ist mir der junge Bursche aufgefallen. Immer wieder betonte er, dass er hier nicht bleiben werde, dass er seine „gefürchteten Kung Fu – Kräfte“ einsetzen werde, um die Station zu verlassen. Ein geordnetes Gespräch mit dem Patienten war praktisch unmöglich, immer wieder sprach er von Dingen und Gegebenheiten, denen ich Wölbitsch Mario Mai 2004 8 beim besten Willen nicht folgen konnte. Wohlgemerkt, ich war nur als Begleitperson bei Gesprächen anwesend. Schlussendlich, für mich total unerwartet, rannte der Patienten mit voller Geschwindigkeit auf die geschlossene Ausgangstüre zu, nahm einen riesigen Sprung und versuchte, waagrecht durch die Luft fliegend und mit den Beinen voraus, die Türe in bester „Kung Fu Manier“ einzutreten! Für mich wahrlich ein Bild, dass ich nie mehr in meinem Leben vergessen werde. Mit einem riesigen Knall landete der Patient in der Türe (Sicherheitsglas!) und wurde von dieser wieder zurück auf den Boden geschleudert. Innert weniger Sekunden wurde der junge Mann dann vom Pflegeteam „eingekreist“ und überwältigt. Der Mann schrie „aus voller Kehle“, fluchte, schimpfte, versuchte zu beißen und schlug wie „von Sinnen“ wild um sich. Er entwickelte enorme Kräfte und konnte nur mit großer Mühe von den Pflegepersonen niedergerungen werden. Schließlich wurde der Patient ins Bett getragen (gezerrt). Dort wurde ihm, obwohl er sich immer noch gebärdete wie ein „Wilder“, eine intramuskuläre Injektion in das Gesäß verabreicht. Anschließend wurde er dann mittels Bauch-, Arm-, und Beingurten in das Bett fixiert! Wenige Minuten später „beruhigte“ sich der Patient und schlief dann schließlich ein. Minuten nach dem Vorfall war ich immer noch völlig perplex. Ich zitterte und hatte weiche Knie. Ich konnte gar nicht fassen, was ich da beobachtet hatte. So etwas gab es für mich bis dato nur im Kino. Fragen schossen mir durch den Kopf. Wieso hat der Patient dies gemacht? Hätte er vielleicht auch mich mit dieser Aggressivität angreifen können? Hätte er mich verletzt? Oder hätte er mich sogar umgeb....? Ich wollte den Gedanken gar nicht zu Ende führen. Wie konnten die Pflegepersonen den Patienten so schnell überwältigen? Was passiert jetzt mit dem Patienten? Kommen solche Vorfälle regelmäßig vor?...... Ich war geschockt und fasziniert in gleichem Maße. Was geht in solchen Köpfen vor? Wie kann man diesen Menschen helfen?........... Wölbitsch Mario Mai 2004 9 Da kann man halt nichts machen..... Von einem Pfleger wurde ich dann über den Patienten aufgeklärt. Der Patient leide unter einer Psychose (... was auch immer das damals für mich bedeutet hat...). Er wäre nicht im Stande gewesen, sich noch selber zu kontrollieren. Er meinte auch, dass ich mich an solche Vorfälle gewöhnen müsste. Solche Übergriffe wären zwar nicht an der Tagesordnung, aber je früher ich mich daran gewöhnen würde umso besser für mich. Außerdem gehörten solche Vorfälle zum Beruf des „Psychiatrie-Pflegers“ ganz einfach dazu, da könne man nun einmal nichts machen. Zum Glück haben sich aber solch massive Aggressionsdurchbrüche in den folgenden Jahren meiner Ausbildung und Praxis nur noch sehr selten ereignet! ... und man kann doch etwas machen ..... Die Aussage: „Da kann man halt nichts machen“ habe ich im Laufe meiner Ausbildung immer wieder gehört. Doch mit jedem Vorfall, mit dem ich in irgend einer Form konfrontiert wurde, habe ich neue Erfahrungen gesammelt und festgestellt, dass diese Aussage in dieser Form ganz einfach nicht stimmt. Heute weiß ich, dass diese Aggressionsdurchbrüche praktisch nur das Ende eines Prozesses darstellen und dass wir während der Betreuung unserer Patienten sehr großen Einfluss darauf haben, ob es zum Ausbruch von Gewalt und Aggression kommt oder auch nicht. Wölbitsch Mario Mai 2004 10 2 Die Begriffe „Gewalt und Aggression“ Gewalt und Aggression – was versteht man darunter? Damit keine Missverständnisse entstehen, möchte ich die Begriffe „Gewalt u. Aggression“ zuerst genauer definieren. Erfahrungsgemäß werden sie nämlich sehr unterschiedlich gedeutet und von persönlichen Vorstellungen beeinflusst. 2.1 Aggression Ähnlich ist es auch in der Psychologie. Auch dort gibt es nicht „den“ allgemein akzeptierten Aggressionsbegriff. Dennoch sind viele der Definitionen, mit denen die Psychologie bislang aufwarten kann, in der Praxis durchaus brauchbar; zumindest solange sie nicht den Anspruch erheben, alle Formen von Aggressionsverhalten gleichermaßen abzudecken. Die in der Folge erwähnten Definitionen stellen nur einen kleinen Teil, der schier unzählig vorhandenen Begriffsdefinitionen, dar. Verres & Sobez, (1980) unterscheiden zwischen einem „weiter (a) und enger (b) gefasstem Aggressionsbegriff“. a) jede gerichtete, offensive Aktivität (wird meist „nicht wertend“ od. „positiv wertend“ betrachtet) „In Angriff nehmen“ b) aggressives Verhalten im engeren Sinne: „schädigendes, gewalttätiges Angriffsverhalten“. (wird meist „negativ wertend“ betrachtet) Wölbitsch Mario Mai 2004 11 Für meine Arbeit als eher ungeeignet betrachte ich die Gruppe der „weit gefassten“ Definitionen, welche jegliches Verhalten einschließen, das in Richtung einer gerichteten, offensiven Aktivität geht (ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Aggressionsverständnis ist aggredi zu = herangehen); unspezifisch und ein solches »verwässert« den Aggressionsbegriff so weit, dass er de facto mit dem Begriff der »Aktivität« gleichzusetzen wäre. Ich werde mich daher an den enger gefassten Definitionen orientieren, von denen die meisten die zwei folgenden Kriterien für aggressives Verhalten beinhalten, nämlich »Schaden« und »Intention«. Beide Komponenten, also „einer anderen Person oder einem anderen Lebewesen Schaden oder eine Verletzung zufügen“ und die „Absicht des Handelnden [...] beim Opfer negative Folgen hervorzurufen“ (Mummendey und Otten 2002, S. 355) - mit letzterem soll eine zufällige Schädigung (z.B. Unfall) bzw. eine Schädigung, die in hilfreicher Absicht erfolgt (z.B. Zahnarzt) ausgeschlossen werden - finden sich beispielsweise bei den folgenden zwei Definitionen: „Aggression ist jegliche Form von Verhalten, mit dem das Ziel verfolgt wird, einem anderen Lebewesen, das motiviert ist, eine derartige Behandlung zu vermeiden, zu schaden oder es zu verletzen.“ (Baron und Richardson 1994, S. 7). „Aggression umfasst jene Verhaltensweisen, mit denen die direkte oder indirekte Schädigung eines Individuums, meist eines Artgenossen, intendiert wird.“ (Merz 1965, zitiert nach Nolting 1997, S. 22) Der Begriff der Intention im Sinn von »klarer Absicht« stellt ein weiteres Problem dar und wird bei Selg durch »Gerichtetheit« ersetzt. Und zwar mit der Begründung, dass Aggression nicht unbedingt mit einer klaren Absicht verbunden sein muss: Was ist z.B. mit Aggression als Mittel zum Zweck, d.h. wenn die Schädigung nicht das eigentliche Ziel des Verhaltens ist? Wie erklärt es sich sonst, wenn etwa Eltern ihr Kind schlagen, um eine Verhaltensänderung zu bewirken? Und was ist mit Fällen von Unzurechnungsfähigkeit? Selg bringt dazu Wölbitsch Mario Mai 2004 12 noch folgenden Vergleich: „Das eine Motte in der Nacht trotz aller Umwege gezielt zum Kerzenlicht fliegt, leugnet niemand; aber wer sagt, sie fliege absichtlich - in ihren Tod?“; (Selg, H., Mees, U. & Berg, D. 1997, S. 5). Und so hört sich dann die Aggressionsdefinition bei Selg an: „Aggression besteht in einem gegen einen Organismus oder ein Organismussurrogat gerichtetes Austeilen schädigender Reize.“ (Selg und a. 1997; S. 4); »Organismussurrogat« meint Stellvertreter oder Ersatz für einen Organismus (z.B. das Zerreißen eines Fotos anstelle einer Aggression gegen die abgebildete Person) Diese Definition scheint eine der am meisten anerkannten zu sein . Ganz ähnlich klingt auch die Definition nach Felson: „Aggression wird hier definiert als eine Handlung, mit der eine Person eine andere Person zu verletzen versucht oder zu verletzen droht, unabhängig davon, was letztlich das Ziel dieser Handlung ist.“ (Felson 1984; übersetzt und zitiert nach Nolting 1997, S. 24) Die Liste der Definitionen ließe sich natürlich noch um ein vielfaches erweitern. 2.2 Der Begriff „Gewalt“ Für viele Menschen gibt es keinen Unterschied zwischen den Begriffen „Gewalt“ und „Aggression“ bzw. werden beide synonym verwendet. Nolting meint dazu, dass man unter dem Begriff Gewalt nur „schwere, insbesondere körperliche Formen der Aggression, die mit einem Ungleichgewicht an Macht einhergehen“, versteht. Andere, wie z. B. „schimpfen, böse Blicke“ aber gehören nicht dazu. So gesehen ist Gewalt ein engerer Begriff. (vgl. Nolting 2002, S.25) Wölbitsch Mario Mai 2004 13 Auch für den Gewaltbegriff gibt es eine weiter gefasste Definition (nach Galtung 1975; vgl. Nolting 2002, S. 26), die strukturelle (nicht-aggressive) Gewalt mit einschließt (ein Beispiel wäre hier die »stille«, repressive Unterdrückung durch ein System sozialer Ungerechtigkeiten, wie man sie besonders deutlich in Diktaturen vorfindet). Wie schon beim Aggressionsbegriff plädiert Selg auch hier wieder für einen wertfreien Gewaltbegriff; so gäbe es durchaus Fälle von gesellschaftlich tolerierter Gewalt (als Beispiel nennt er die Attentate auf Hitler; Selg und a. 1997, S. 8). Strukturelle (nichtaggressive) Gewalt GEWALT Personale Gewalt AGGRESSION Andere (nichtgewaltsame) Aggression Tafel 2: Schema zum Verhältnis der Begriffe „Aggression und Gewalt“. (Nolting 2002, S.26) 2.3 Physische versus Psychische Gewalt Physische Gewalt meint alle Formen von Verletzung, Zerstörung oder Einschränkung, die Menschen körperlich angetan werden. Sichtbarkeit des Geschehens an sich sowie seiner Folgen ist hier das entscheidende Kriterium zur Abgrenzung von psychischer Gewalt – eine Parallele zur Unterscheidung von personaler und struktureller. Nach Galtung (1975, S. 24) schließt der Begriff der psychischen Gewalt die Androhung physischer bzw. die indirekte Drohung mit mentaler Gewalt ein. Sobald das Opfer geistig oder seelisch geschädigt ist (kognitiv bzw. emotional-affektiv), spricht man von psychischer Gewalt. Wölbitsch Mario Mai 2004 14 2.4 Aggressivität In Abgrenzung zum Aggressionsbegriff versteht man unter der Aggressivität eine Persönlichkeitsvariable: nämlich die prinzipielle Bereitschaft zu aggressivem Verhalten. Die Aggressivität als einheitliches Verhaltens- oder Motivsystem zu sehen wäre vermutlich falsch! Vielmehr geht man mittlerweile von einer Vielzahl an »Aggressivitäten« aus, deren Ausprägung vermutlich unabhängig voneinander erfolgt. Wer zu verbalen Aggressionen neigt, muss deswegen nicht unbedingt auch ein Schläger sein. Auch das sog. »Radfahrerprinzip« („nach oben buckeln, nach unten treten“) legt eine differenzierte Sichtweise nahe (vgl. Selg und a. 1997, S. 11). 2.5 Aggressive Emotionen = Aggressives Verhalten? Bedeuten „Aggressive Emotionen“ immer auch gleichzeitig „Aggressives Verhalten“? Die Grenze von „inneren aggressiven Empfindungen“ und „äußeren aggressiven Verhalten“ ist oft „fließend“, so dass man dazu neigt, beide Verhaltensweisen unter dem Begriff „Aggression“ zusammen zu fassen. Nolting meint dazu: „Nicht jedes aggressive Gefühl drückt sich in aggressivem Verhalten aus, und nicht jedes aggressive Verhalten beruht auf aggressiven Gefühlen!“ (Nolting 2002, S. 30). Aggressive Emotionen lassen sich (schon weil sie nicht direkt sichtbar werden) oft nur schwer einordnen: die Übergänge verlaufen fließend. Generell spricht man aber nur dann von aggressiven Emotionen, wenn sie auf Verletzung, Herabsetzung, o.ä. abzielen und darin (!) auch ihre Befriedigung finden; schlechte Laune, gereizte Stimmung, etc. würde man eher als »voraggressive« Emotionen bezeichnen. Ärger, Wut und Hass hingegen sind Gefühle, die im Umfeld von Aggressionen recht oft festgestellt werden können (man spricht auch von sog. »aggressions-affinen Emotionen«). Ärger ist objektbezogen: man ärgert sich über etwas, was i.d.R. als Störung oder Behinderung erlebt wird. Hier wird auch die Nähe zur Aggression ersichtlich, denn Aggressionen eignen sich zuweilen hervorragend dazu, Hindernisse zu beseitigen. Möglicherweise wird der Ärger Wölbitsch Mario Mai 2004 15 dann sogar als positiv erlebt, wenn etwa das Problem dadurch (bzw. durch ein entsprechend gekoppeltes Verhalten) erfolgreich gelöst werden konnte. Mit der Wut verhält es sich ähnlich, nur das Wut i.d.R. weit weniger zielgerichtet und reflektiert auftritt (»blinde Wut«). Unter dem Begriff Hass wiederum versteht man im Gegensatz dazu eher eine fortdauernde, intensive Grundhaltung gegen etwas oder jemand, welche auf die Vernichtung des Objekts abzielt (Lersch 1956; zitiert n. Selg und a. 1997, S. 10). 3 Allgemeine Erklärungsaspekte für „Aggressives Verhalten“! Dass verschiedenste Faktoren zum „Ausbruch von aggressivem Verhalten“ führen können, wurde in den bereits behandelten Themen schon „angedeutet“. Wie sieht dies jetzt im Detail aus? Zu erklären: AGGRESSIVES VERHALTEN SITUATIONSBEDINGUNGEN - Anlässe Anwesende Personen ... INNERE PROZESSE - Absichten Gefühle Gedanken ... PERSONALE DISPOSITIONEN - Einstellungen Fähigkeiten Gewohnheiten ... ENTWICKLUNGSBEDINGUNGEN - - Erfahrungen i.d. Erziehung mit Altersgenossen, Entfaltung von Anlagen ... (Nolting, H.P., 2002, S.47) Nolting erläutert dazu: (vgl. Nolting 2002, S. 46) Wölbitsch Mario Mai 2004 16 Entwicklungsbedingungen: Wie kommen wiederum die personalen Dispositionen zustande? Wieweit sind sie erlernt bzw. sozialisationsbedingt (z. B. aggressiver Erziehungsstil der Eltern), wieweit beruhen sie auf individuellen oder allgemeinmenschlichen Anlagen? Diese Fragen kommen dem am nächsten, was man unter „Ursprung“ von Aggression verstehen kann. Innere Prozesse: Welche Gefühle, Gedanken, Absichten usw. (z. B. Ärger, Wunsch nach Beachtung) bestimmen das Verhalten? Was spielt sich also in einem Menschen ab, wenn er sich aggressiv verhält? (Innere Prozesse und äußeres Verhalten können zusammen auch als aktuelle Prozesse bezeichnet werden.) Situation: In welcher aktuellen Umwelt spielen sich diese Prozesse ab? Bei welchen Anlässen, an welchen Orten, gegenüber welchen Personen usw. (Derselbe Mensch verhält sich je nach Situation unterschiedlich.) Person: Bei welchen Menschen spielen sich diese Prozesse ab? Was für Dispositionen (Einstellungen, Gewohnheiten, „Empfindlichkeiten usw..) bringen sie mit? (In derselben Situation verhalten sich ja verschiedene Menschen unterschiedlich.) Wichtig erscheint mir persönlich das Herausheben des „situativen Faktors“, Speziell die Frage: „Gegenüber welchen Personen tritt die Aggression auf?“, gilt es zu hinterfragen. Welchen Anteil habe ich als betreuende Person, als „Opfer“ dazu beigetragen? Auf die Reflexion des eigenen Verhaltens werde ich aber zu einem späteren Zeitpunkt noch zu sprechen kommen. 4 Aggressionstheorien Man unterscheidet in der Psychologie im Wesentlichen drei Theorieansätze: Wölbitsch Mario Mai 2004 17 • Trieb- bzw. Instinkttheorien • Frustrations-Aggressions-Theorien und die • Gruppe der Lerntheorien. Jede dieser Theorien versucht, „die“ menschliche Aggression auf „ihre Weise“ zu klären. Es ist allerdings festzuhalten, dass eigentlich kaum noch jemand, nur eine einzige dieser Lehren für richtig oder falsch hält. Vielmehr ist man der Meinung, dass mit keinem dieser 3 Kernbegriffe - „Trieb“, „Frustration“ und „Lernen“ alleine - die Vielfalt aggressiver Erscheinungen zu erklären ist. 4.1 Trieb-, Instinkttheorien Die Trieb- wie auch die Instinkttheorien gehen von der Annahme aus, dass es im Organismus eine angeborene Quelle gibt, die spontan und fortwährend aggressive Impulse erzeugt. Diese müssen in der einen oder anderen Form (nicht unbedingt zerstörerisch) zum Ausdruck kommen. Andernfalls führen sie zu einem Aggressionsstau bzw. zu seelischen Störungen. Lt. Nolting (Nolting 2000, S.49) haben die Triebtheorien ausgedient, spielen in der heutigen Psychologie praktisch keine Rolle mehr. Als bekanntester Vertreter der psychoanalytischen Triebtheorien gilt Sigmund Freud: in den 20er bzw. 30er Jahren entwickelte er (z.T. in Anlehnung an Alfred Adler, seinem ehemaligen Schüler) die sog. »dualistische« Trieblehre. Nach Auffassung Freuds gibt es demnach zwei Triebe, die in jedem Menschen miteinander konkurrieren: einen Lebenstrieb (»Eros«) und einen Todestrieb (vereinzelt auch Aggressions- bzw. Zerstörungstrieb genannt). Das Ziel des Todestriebs ist es, das Lebendige zum Tode zu führen. Hier kommt dann der Eros ins Spiel; indem er den Todestrieb in die Außenwelt »umleitet« (wo er dann in Form aggressiver Verhaltensweisen zum Ausdruck kommt). Er bewahrt den Wölbitsch Mario Mai 2004 18 Menschen sozusagen vor der »Selbstzerstörung«. Diese Vorstellung ließ sich empirisch jedoch nie bestätigen. Neben Freud, machte auch Lorenz (1963) als einer der bekanntesten Vertreter der Ethologie, der Vergleichenden Verhaltensforschung (Tierverhaltensforschung) auf sich aufmerksam. Mit seinem Buch: „Das sogenannte Böse“ erreichte er einen sehr hohen Bekannteitsgrad. Lorenz ging davon aus, dass sich in unserem Organismus ständig aggressive Impulse erzeugt werden, diese sich so lange aufstauen, bis eine bestimmte Schwelle überschritten wird. Es kommt in der Folge zu einer Entladung in Form von einer aggressiven Handlung. Diese Theorie wird auch, nicht schwer nachvollziehbar, als „Dampfkesseltheorie“ bezeichnet. Nach dieser Theorie ist der Mensch nicht wütend, weil ihm z. B. Ärgerliches wiederfuhr – dies hat allenfalls das Ventil geöffnet – sondern weil der spontane Trieb sich wieder einmal entladen musste. Nach dieser „Abreaktion“ herrscht Ruhe, bis wieder ein bestimmter „Dampfdruck“ erreicht wird. Je länger keine Entladung statt findet, desto größer ist der Triebstau und desto kleiner kann der Anlass sein, der für einen aggressiven Ausbruch verantwortlich ist. Im Extremfall könnte es sogar sein, dass die Entladung auch ohne äußeren Auslöser stattfindet. (=Leerlaufreaktion) Lorenz Vorschlag war es dann auch, Aggressionen möglichst sinnvoll und auf sozial akzeptablen Bahnen zu kanalisieren - ursächlich hielt er sie für unvermeidlich. Er hebt hier v.a. die Bedeutung des Sports als »kulturell ritualisierte Form des Kämpfens« hervor. Dem zugrunde liegt die Idee, dass durch das Ausüben vieler »kleiner« Aggressionen die aggressive Energie verzehrt wird, die andernfalls eventuell zu schwerwiegenderen Manifestationen von Aggression führen würde. Dieser Effekt ist in der Psychologie unter der Bezeichnung TriebKatharsis (siehe auch Kapitel 2.4.1.1.) geläufig. 4.2 Frustrations-, Aggressionstheorie Wölbitsch Mario Mai 2004 19 Im Unterschied zu den Triebtheorien entsteht die Aggression nach der Frustrations-Aggressionstheorie nicht spontan, sondern als Reaktion auf störende, unangenehme Reize. Die ursprüngliche Frustrations-Aggressionstheorie - wie sie 1939 von der sog. Yale-Gruppe (eine Forschergruppe bestehend aus Dollard, Doob, Miller, Mowrer und Sears) formuliert wurde - beruhte im Wesentlichen auf zwei Annahmen: a.) Aggression ist immer eine Folge von Frustration, b.) Frustration führt immer zu einer Form von Aggression. Der Frustrationsbegriff wurde ursprünglich recht eng definiert als die »Störung einer zielgerichteten Aktivität«; gemeint ist also die Frustrationssituation und nicht das Frustrationserlebnis (= der innere Folgezustand, der entsteht, wenn die Erreichung eines Ziels verhindert wird). Im Gegensatz zu den Triebtheorien ließ sich die Frustrations-Aggressionstheorie empirisch durchaus belegen. Allerdings konnten die o.g. Annahmen so nicht gehalten werden, sie erwiesen sich als zu eng gefasst. Aggressionen gehen zwar häufig auf eine Frustration zurück, aber eben nicht immer. Was ist mit Fällen instrumenteller Aggressionen, also mit dem bezahlten Mörder oder mit dem Bankräuber? Zwar mag auch hier Frustration vorausgehen, aber die Reaktion auf die Frustration ist eben eine andere; erst sekundär - eben als Mittel zum Zweck; in diesem Fall der Bereicherung - kommt dann Aggression ins Spiel; andere Beispiele wären Aggression aus Gehorsam, Nachahmung oder gar Sadismus. Nicht jede Frustration löst automatisch eine Aggression aus, oft kommt es stattdessen zu Reaktion wie Fluchtverhalten oder Apathie. Auch ist es durchaus möglich z.B. Kinder so zu trainieren, dass sie auf Frustrationen hin konstruktiv reagieren. (Davitz 1952; zit. n. Selg und a. 1997, S. 24). Alleine über Frustrationen lässt sich Aggression offenbar nur schwer erklären. An dieser Stelle kommen dann die Lerntheorien ins Spiel. 4.3 Lernpsychologische Theorien Im Gegensatz zu den Triebtheorien und der Frustrations-Aggressionstheorie beschränkt sich der lerntheoretische Ansatz nicht nur auf die Erklärung Wölbitsch Mario Mai 2004 20 aggressiver Verhaltensweisen, sondern beschäftigt sich mit dem gesamten Spektrum des Sozialverhaltens. Aggression nimmt hier keinen Sonderstatus ein, sondern wird letztlich nur als eines von vielen möglichen Verhaltensmustern gesehen, ausgehend von der Vorstellung, das Sozialverhalten überwiegend auf Lernvorgängen beruhen. Ein sehr bedeutender Vertreter dieser Richtung ist der Psychologe Albert Bandura. (Bandura, 1979). Er stellte eine komplexe sozialkognitive Lerntheorie auf, welche mehrere Lernmechanismen, insbesondere das Lernen am Erfolg, beinhaltet. Bei der Lerntheorie handelt es sich und da sind sich die meisten Aggressionsforscher einig, um den wohl wichtigsten der drei Ansätze. Was versteht man zunächst einmal unter dem Begriff des »Lernens«? „Lernen bedeutet die Veränderung personaler Dispositionen aufgrund von Erfahrungen.“ (Nolting 2000, S. 95). Mit Dispositionen sind in diesem Fall Einstellungen, Fähigkeiten, Kenntnisse, Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen, Motive, Gefühlsneigungen, usw. gemeint. Das Spektrum dessen was gelernt werden kann, umfasst also eine ganze Menge und beschränkt sich keineswegs nur auf den reinen Wissenserwerb. Viel wichtiger noch ist aber die Erkenntnis, dass es unterschiedliche Arten von Lernvorgängen gibt: die Art und Weise wie man etwas lernt unterscheidet sich also von Fall zu Fall. 4.3.1 Die klassische Konditionierung Die wohl einfachste und bekannteste Art des Lernens ist die »klassische Konditionierung« (auch »Signallernen« genannt): wer kennt nicht das Beispiel vom Pawlow’schen Hund? In aller Kürze hier noch einmal die Versuchsanordnung: • gibt man einem hungrigen Hund Futter, sondert er Speichel ab; diese Speichelabsonderung ist eine unbedingte Reaktion auf einen unbedingten Reiz (nämlich »Futter im Maul«) • lässt man der Fütterung einen neutralen Reiz unmittelbar vorausgehen (in der ursprünglichen Versuchsanordnung war das ein Glockenton), so zeigt sich zunächst keine Speichelreaktion Wölbitsch Mario Mai 2004 21 • nach mehrmaliger Wiederholung (selbst – oder gerade dann – wenn man das Schema nicht konsequent beibehält) kommt es zu einer Kopplung von neutralem und unbedingtem Reiz; der Speichelfluss kann jetzt bereits über den Glockenton allein ausgelöst werden • der vormals neutrale Reiz (Glockenton) wird zum bedingenden Reiz, d.h. der Hund »assoziiert« quasi den Glockenton mit der Fütterung und sondert Speichel ab; damit hat sich ein bedingter Reflex ausgebildet (Speichelfluss auf Glockenton nämlich) • diesen Vorgang bezeichnet man auch als »klassische Konditionierung« Übertragen auf den Menschen und in den Kontext der Aggressionsforschung bedeutet das, dass ein ursprünglich neutraler Reiz zum »Signal« für das Auslösen aggressiver Gefühle wird, nachdem er wiederholt mit einem anderen, ursprünglichen Affektauslöser gekoppelt aufgetreten ist. Diese Auslöser können z.B. bestimmte körperliche Charakteristiken und Äußerlichkeiten (etwa Kleidung) oder mimische, gestische bzw. sprachliche Angewohnheiten sein, aber auch bestimmte Örtlichkeiten oder andere äußere Situationsmerkmale. In vielen Fällen spricht man hier von unmittelbar persönlich erlebten ärgererregenden Erfahrungen, mit denen diese Reize verbunden waren, oder von indirekt sprachlich und vorstellungsmäßig vermittelten Erfahrungen. Der Betreffende hat gelernt, auf diesen Reiz mit einem negativen Affekt zu reagieren. Die klassische Konditionierung führt also dazu, dass nicht nur Provokationen, Störungen und andere Frustrationen, sondern auch die mit ihnen in Verbindung gebrachten Personen, Gegenstände, Symbole usw. aggressive Gefühle auslösen können. Je weniger sich die vegetativen und emotionalen Reaktionen, die von großer Bedeutung für das Signallernen sind, von gedanklichen Prozessen steuern lassen, umso eher folgen sie einer klassisch konditionierten Reiz-Reaktions-Automatik. Der Begriff der klassischen Konditionierung ist recht eng gefasst: Voraussetzung ist immer das Vorhandensein natürlicher, unbedingter Reflexe oder reflexartiger Reaktionen. Zudem lernt man durch klassische Konditionierung kein »neues« Verhalten im engeren Sinn (genauso wie der Speichelfluss im Beispiel des Pawlow’schen Hundes kein »neues« Verhalten im eigentlichen Sinn darstellt). Wölbitsch Mario Mai 2004 22 Schon von daher spielt die klassische Konditionierung nur eine vergleichsweise untergeordnete Rolle innerhalb der Aggressionsforschung. Dennoch kann sie wichtige Hinweise liefern, z.B. was Generalisierungsprozesse anbelangt. Sammelt man etwa mehrheitlich Negativerfahrungen im Umgang mit einem bestimmten Mitmenschen, kann es sein, das in der Folge bereits der Anblick oder die bloße Namensnennung des Betreffenden ausreicht, um die negativen Gefühle wieder aufkeimen zu lassen. In bestimmten Fällen kann es dann durchaus auch zu einer Generalisierung dieser Gefühlsreaktion auf Familienangehörige und Freunde kommen. Evtl. kommt es sogar zu einer Ausweitung auf Kategorien wie Schichtzugehörigkeit oder Nationalität (diesbezügliche Beispiele gibt es ja leider zu Genüge; wobei hier natürlich auch andere Arten des Lernens ihren Anteil haben). 4.3.2 Lernen am Modell Eine andere Art des Lernens ist das »Lernen am Modell«; man spricht auch etwas anschaulicher - vom sog. »Beobachtungslernen«. Die zugrunde liegende Vorstellung ist eigentlich trivial: man beobachtet ein bestimmtes Verhalten bei einem Modell (i.S. eines Vorbilds) und imitiert es anschließend so gut wie möglich. Durch Beobachtung können neue Verhaltensweisen schnell und effektiv erlernt werden; auch solche, die der betreffende Mensch zuvor nicht ausführen konnte. Das gilt für das Bedienen einer Kaffeemaschine oder für den Spracherwerb ebenso, wie für aggressives Verhalten. Neben dem Neuerwerb von Verhaltensweisen können durch Modelle aber auch solche Verhaltensmuster angeregt werden, die bereits zum Verhaltensrepertoire der betreffenden Person gehören. Modelle bestimmen also auch unser Verhalten in bestimmten Situationen mit, indem sie stimulierend wirken oder Hemmungen reduzieren (man denke hier nur an den »Gruppenzwang«). Wenn man bedenkt, wie oft man im Alltag mit imitierendem Verhalten (wie es z.B. bei Kindern recht deutlich zutage tritt) konfrontiert ist, erstaunt es ein wenig, das die enorme Bedeutung des Modelllernens in der Aggressionsforschung lange Zeit verkannt wurde; erst in den 60er Jahren fand hier ein Paradigmenwechsel statt. Wölbitsch Mario Mai 2004 23 Auch in der öffentlichen Meinung wurde (und wird z.T.) dem Modelllernen nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die es eigentlich verdient hätte; nur in der bis heute anhaltenden Diskussion um die Medienwirkung von Gewaltinhalten spielt das Beobachtungslernen eine wichtige Rolle. Dass Eltern, Lehrkräfte und nicht zuletzt auch Peer-Groups oft weitaus signifikantere Aggressionsmodelle abgeben, wurde lange Zeit schlicht nicht wahrgenommen (vgl. Nolting 2002, S. 98). Aggressiven Modellen begegnet man im Alltag auf Schritt und Tritt, sei es innerhalb der Familie, sei an der Schule, am Arbeitsplatz, in den Medien, usw. Wie bereits angedeutet kommt dabei der Familie und später den Peer-Groups besondere Bedeutung zu, einfach weil sie im Rahmen der Entwicklung eines Jugendlichen die zentralen Dreh- und Angelpunkte darstellen. Ob ein bestimmtes Modell nun letzten Endes nachgeahmt wird oder nicht, hängt von einer Reihe verschiedener Faktoren ab. So gibt es z.B. keinen Automatismus, der misshandelte Kinder im späteren Leben zwangsläufig selbst zu Misshandlern werden lässt. Und auch umgekehrt handelt es sich bei der überwiegenden Zahl der Kindesmisshandler keineswegs selbst um Opfer von Kindesmisshandlungen (vgl. Engfer 1986, Widom 1989, Schneider 1993; zit. n. Nolting 2002, S. 102). Welche zusätzlichen Faktoren bestimmen nun also, welches Verhalten imitiert wird? Dazu nun folgende Erkenntnisse (wiederum in Anlehnung an Nolting 2002, S. 106-108): • Zunächst einmal scheint es prinzipiell keinen Unterschied zu machen, ob ein Modell nun realen oder fiktiven Charakter (z.B. Zeichentrickfiguren) hat. Nolting verweist hier unter anderem auf Mussen & Rutherford 1961 sowie Bandura und Ross & Ross 1963a; für mich bleibt kritisch anzumerken, ob hier nicht eine Differenzierung im Hinblick auf das Lebensalter angemessen wäre: Nimmt ein Erwachsener z.B. „Popey“ od. „Tom u. Jerry“ wirklich ernsthaft als Vorbild? • Das Modell wird besonders leicht nachgeahmt, wenn es sich als erfolgreich erwiesen hat, kaum hingegen, wenn es unangenehme Folgen mit sich bringt (Bandura, Ross & Ross 1963b, Bandura 1965, Hicks 1968 und a. zit. nach Nolting 2002 S.106). Hier kommt allerdings bereits die dritte Lerntheorie ins Spiel: das »Lernen am Erfolg«. Wölbitsch Mario Mai 2004 24 • Die moralische Bewertung (also Kategorien wie »gut« und »böse« oder »gerechtfertigt« od. »nicht gerechtfertigt«) des beobachteten Verhaltens ist ebenfalls von großer Bedeutung. • Auch die Wahrnehmung bzw. Einschätzung derjenigen Person, die das Modell liefert, ist von ausschlaggebender Bedeutung: besonders charismatische Akteure oder solche, die Prestige und Macht ausstrahlen, werden eher imitiert als andere (Bandura, Ross & Ross 1963c, Mischel & Grusec 1966 zit. nach Nolting 2002 S.107). • Die (emotionale) Beziehung zwischen Betrachter und Modell ist ein weiterer Faktor, der die Nachahmung von Aggression mitbestimmen mag: wie stehe ich zum jeweiligen Vorbild? Ist er/sie mir eher sympathisch oder unsympathisch? Steht er/sie mir nah oder nicht? • Der Beobachter selbst bringt natürlich auch gewisse Dispositionen mit, die sich auf die Aggressionsnachahmung auswirken können. • Situative Bedingungen (z.B. akute Spannungszustände) können natürlich ebenfalls Aggressionsnachahmung fördern bzw. hemmen. • Ein letzter wichtiger Punkt ist die Frage, wann die Nachahmung eintritt; in den meisten Untersuchungen wird davon ausgegangen, dass die Nachahmung unmittelbar auf ein beobachtetes Verhalten folgt. Das trifft aber nur auf einen geringen Teil des Modelllernens zu. Viel öfter wird ein beobachtetes Verhalten im Gedächtnis erst einmal »zwischengespeichert«, ohne das es zur Ausführung kommt. Auch dann handelt es sich aber zweifelsfrei um einen Lernprozess: das gelernte Verhalten gehört fortan zum Verhaltensrepertoire, steht also bei Bedarf jederzeit zur Verfügung; ob später einmal Gebrauch davon gemacht wird, hängt hingegen - so wird zumindest vermutet - von einer Reihe von sog. »Ausführungsbedingungen« ab: z.B. ob man frustriert oder angespannt ist, ob bestimmte aggressive Hinweisreize vorhanden sind (wenn sich z.B. ein Gegenüber aggressiv verhält), ob Hemmnisse vorliegen, etc. Im Prinzip also die gleichen Faktoren, die bei der Frustrations-AggressionsTheorie eine Rolle spielen. Darüber hinaus lässt sich generell sagen: je mehr eine bestimmte Situation derjenigen Situation gleicht, in der das Verhalten ursprünglich einmal beobachtet wurde, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, Wölbitsch Mario Mai 2004 25 das das Verhalten auch ausgeführt wird; das kann mitunter auch noch Jahre und Jahrzehnte nach der Aneignung der Fall sein. 4.3.3 Operative Konditionierung (Lernen am Erfolg, Misserfolg) An dieser Stelle kommt dann die dritte Lerntheorie ins Spiel: das »Lernen am Erfolg bzw. Misserfolg«. Alternativ spricht man auch von »operanter oder instrumenteller Konditionierung«, von »Lernen durch Bekräftigung bzw. Verstärkung« oder vom »Lernen am Effekt« (was Erfolg und Misserfolg ja dann gleichermaßen mit abdeckt). Unabhängig davon für welche Bezeichnung man sich entscheidet - gemeint ist immer ein- und dasselbe: Ob ein Mensch dazu neigt, sich in irgendeiner Form aggressiv zu verhalten, hängt immer auch von einer Erfolgserwartung ab. Mit anderen Worten: ein Verhalten kommt vor allem dann zur Anwendung, wenn es in einer bestimmten Situation für Erfolg versprechend gehalten wird. Mögliche »Erfolge« aggressiven Verhaltens können z.B. sein: • Wenn es einem gelingt, sich durchzusetzen und man im Ergebnis als »Sieger« oder als »Gewinner« dasteht, • wenn man auf diese Weise Beachtung und Anerkennung erfährt, • wenn man sich erfolgreich verteidigen oder zur Wehr setzen kann, • wenn man an Selbstbewusstsein gewinnt oder in der eigenen Achtung steigt, • wenn nach subjektivem Empfinden die Gerechtigkeit wiederhergestellt ist, • und nicht zuletzt manchmal auch einfach dadurch, das man seinem Gegenüber Schaden oder Schmerz zufügt. Anhand der genannten Beispiele zeigt sich bereits, das das Lernen am Erfolg auch eng mit dem Motivationsbegriff verknüpft ist: so mag es z.B. für manchen Menschen durchaus ein Anreiz für aggressives Verhalten sein, wenn man dadurch z.B. Beachtung oder gar Anerkennung finden kann. Das Lernen am Erfolg ist somit nicht nur eine Lerntheorie, sondern kann gleichzeitig auch als Motivationstheorie der Aggression verstanden werden. Wölbitsch Mario Mai 2004 26 Wird nun ein Verhalten - in welcher Hinsicht auch immer - als Erfolg versprechend eingestuft und kommt es somit zur Ausübung, so tritt - je nach Konsequenz des Verhaltens - ein entsprechender Rückkoppelungseffekt ein: wird die Konsequenz des Verhaltens als erfolgreich verbucht, kommt es zur Verstärkung des jeweiligen Verhaltens. Das entsprechende Verhaltensmuster steigt quasi in der Hierarchie des Verhaltensrepertoires ein Stück weit nach oben. Umgekehrt - wenn also das Verhalten zu einem Misserfolg führt - erfährt es eine Abschwächung. Welche Rückschlüsse ergeben sich daraus im Hinblick auf das Erlernen aggressiver Verhaltensweisen? Dazu wieder einige lerntheoretische Erkenntnisse (abermals in Anlehnung an Nolting 2002; S. 111-115): • Zunächst einmal: auch wenn Aggressionen für Außenstehende oft »erfolglos« aussehen mögen (weil sie z.B. nicht zur Durchsetzung führen, oder weil der Täter selbst zum Opfer - nämlich von Sanktionen - wird), können sie vom subjektiven Empfinden des »Aggressors« her durchaus als Erfolg gewertet werden (z.B. weil sie mit »inneren Effekten« verknüpft sein können;). • Es ist keineswegs erforderlich, das ein Verhalten jedes einzelne Mal Erfolg zeigt, um eine positive Verstärkung zu erfahren; im Gegenteil: oft wird das Verhalten sogar nachdrücklicher gelernt, wenn nur gelegentliche (sog. »intermittierende«) Bekräftigungen auftreten. Selbst wenn Erfolge eine Zeit lang ausbleiben, wird das Verhalten auf diese Weise beibehalten werden. Misserfolge werden also in die Erfolgserwartung »miteingeplant«. Das gilt nicht zuletzt auch für die folgende Beobachtung... Eine eigentlich triviale Erkenntnis: gibt man aggressivem Verhalten gegenüber nach, kann dies als positiver Verstärker wirken: das aggressive Verhalten führt letztlich ja zum Erfolg (man setzt sich durch). Geradezu klassisch ist in diesem Zusammenhang das Beispiel von den entnervten Eltern, die ihrem schreienden Kind gegenüber nachgeben, damit endlich wieder Ruhe einkehrt; für den Moment sind sie damit das Problem zwar los, auf Dauer werden Verhaltensmuster so aber regelrecht zementiert. • Wie oben bereits angedeutet, kann aggressives Verhalten in bestimmten Kreisen und Gruppen oder auch in besonderen situativen Bedingungen Wölbitsch Mario Mai 2004 27 durchaus einen »sozialen Wert« darstellen, und zwar unabhängig davon, ob es prinzipiell mit Sanktionen belegt ist. Hier kommen dann oft Kategorien wie »Ehre« oder »Stolz« ins Spiel, die besonders in der Gruppendynamik eine große Rolle spielen: man reagiert aggressiv um »sein Gesicht zu wahren«, um bei anderen »Eindruck zu machen« oder um »im Mittelpunkt zu stehen«; kurz: man will sich Respekt und Anerkennung verschaffen. Bisweilen reicht sogar schon die bloße Beachtung, gleich ob sie einem nun in Form einer positiven oder einer negativen Reaktionen zugebracht wird: Hauptsache, man wird überhaupt wahrgenommen! Man denke nur an die zahlreichen »Trittbrettfahrer«, die v.a. im Anschluss an besonders spektakuläre Coups immer wieder einmal mit vergleichbaren (vermeintlich »harmlosen«) Aktionen von sich Reden machen. • Abwehrreaktionen, deren Nutzen in erster Linie darin besteht, bestimmte Formen der Aversion (egal ob sich nun um tätliche Angriffe, Drohungen oder einfach nur etwaige Unannehmlichkeiten handelt) abzuwenden, führen bei Erfolg zu einer negativen Verstärkung; »negativ« deshalb, weil ihr Sinn aus lernpsychologischer Sicht in der „Aufhebung oder Vermeidung eines unangenehmen Zustandes“ (Nolting 2002, S. 115) liegt (und nicht etwa, weil die Reaktion auf das Verhalten negativ ausgefallen wäre bzw. das Verhalten keinen Erfolg gezeigt hätte; der Erfolg – und damit die Verstärkung - liegt eben hier gerade im Nicht-Eintreten einer Situation!). Abwehrreaktionen entstehen oft im Spannungsfeld von Aggression und Angst. Zwar dominiert in einer bedrohlichen Situation i.d.R. das Flucht- bzw. Ausweichverhalten (vgl. Fürntratt 1974) - schon deshalb, weil es vergleichsweise ungefährlich ist; wenn aber Flucht bzw. Ausweichen - aus welchen Gründen auch immer - nicht möglich ist, kommt es dann evtl. eben doch zur Aggression. • Unter bestimmten Umständen kann ein Verhalten auch dann noch als Erfolg gewertet werden, wenn die Durchsetzung damit de facto nicht gelingt. Nämlich dann, wenn das Verhalten selbst - unabhängig von seinem Resultat - als positiv bewertet wird, z.B. weil es den eigenen Wertvorstellungen entspricht: so mag sich jemand, der in einem Wettkampf unterliegt, vielleicht damit trösten, das er zumindest »tapfer gekämpft« und sein Bestes gegeben hat. Möglicherweise empfindet er sogar Stolz, weil er damit - der Niederlage zum Wölbitsch Mario Mai 2004 28 trotz - seinem eigenen Ideal entsprechen konnte (einen solchen Effekt bezeichnet man auch als »positive Selbstbewertung«). • Auch das »Erleben von Gerechtigkeit« kann zu einer pos. Verstärkung führen; z.B. wenn das eigene aggressive Verhalten als »gerechte« Strafe für einen »Provokateur« verstanden wird. Die Aggression rechtfertigt man dann damit, dass sie der Wiederherstellung des »normativen Gleichgewichts« dient. Dieser Effekt spielt vor allem bei Rache- und Vergeltungsaggressionen eine Rolle. • Der »Erfolg« aggressiver Handlungen kann aber auch einfach darin bestehen, das sie schlicht »Spaß macht«, sei es nun weil sie mit Nervenkitzel verbunden ist oder man dabei - etwas überspitzt formuliert - seinen sadistischen Neigungen Ausdruck verleihen kann. Bezeichnet wird das Ganze dann als »Stimulierungs-Effekt«. Gerade bei der Stimulierung zeigt sich aber noch etwas anderes: das nämlich die emotionale Befriedigung (bzw. der Erfolg) auch an das Leid bzw. den Schmerz des Opfers gebunden sein kann, was ja normalerweise eher einen (evtl. sogar unerwünschten) »Nebeneffekt« der Aggression darstellt. Der Schmerz des anderen wird so zum Signal des eigenen Erfolges (Nolting 2002, S. 119). Wölbitsch Mario Mai 2004 29 5 Gewalt u. Aggression in der heutigen Psychiatrie In psychiatrischen Einrichtungen begegnet uns Aggression und Gewalt in den unterschiedlichsten Formen. Generell lässt sich die Auto- und Fremdaggression unterscheiden. Unter Autoaggressionen versteht man „aggressives Verhalten“ gegen die eigene Person. Dies kann sich als Verhalten in Form von „sich beißen, schlagen, kratzen, Haare ausreißen, schneiden od. ritzen od. auch als Nahrungsverweigerung usw., zeigen. Nicht zu vergessen die wohl schwerwiegendste Form von Autoaggression: „der vollendete Suizid!“ Auf den „ersten Blick“ könnte man meinen, dass diese Form der Gewalt die in der „Psychiatrie Tätigen“ sozusagen nur am „Rande betrifft“! Bei genauerer Betrachtung, und da spreche ich aus eigener Erfahrung, sind solche Verhaltensweisen eine sehr große, psychische Belastung! Fremdaggressionen können als Beleidigungen, Drohungen, Erpressung, Sachbeschädigungen bis hin zu körperlichen Angriffen auftreten. Durchgeführt werden solche „wahrnehmungsbeeinträchtigten“ „Arten von Menschen. Aggressionen“ Dazu zählen häufig von insbesondere Menschen mit akuten Psychosen sowie Menschen die unter dem Einfluss von Drogen stehen. Nimmt man allerdings alle psychisch Kranken zusammen, dann geht von ihnen im Durchschnitt kein größeres Risiko zur Gewaltausübung aus, als von der „gesunden“ Bevölkerung!“ (Böker & Häfer, 1973) Ich denke, dass das „Bewusst machen“, das sich „Darauf einstellen“, dass es zu Aggressionen kommen kann, der erste Schritt zu einer präventiven Maßnahme sein kann. Wölbitsch Mario Mai 2004 30 Nicht unbeachtet sollte des weiteren der Aspekt des „ordnungspolitischen Auftrages“ sein, der die in der Psychiatrie Tätigen sehr häufig, fast zwangsläufig mit Gewalt u. Aggression in Zusammenhang bringt. Die Gewalt wird, leider nicht selten, praktisch von außen ins Krankenhaus „hineingetragen“. Man stelle sich nur vor, ein Mensch wird gegen seinen Willen mit körperlichem Zwang in die Psychiatrie eingewiesen, gelegentlich in Begleitung der Polizei, in Handschellen gefesselt, nachdem er sich in der Öffentlichkeit, der Familie od. sich selbst gegenüber „gewalttätig“ verhalten hat. Wie wird so ein Mensch dann reagieren? Welche Möglichkeiten stehen den in der Psychiatrie Tätigen zur Verfügung? Abgesehen von der gesetzlichen Verpflichtung, zu verhindern, dass ein per Gesetz untergebrachter Mensch das Krankenhaus verlassen darf, spielt natürlich auch die emotionale Komponente eine große Rolle. Einen Menschen gegen seinen Willen festzuhalten, ihn womöglich unter Gewaltanwendung zu fixieren od. eine Zwangsmedikation durchzuführen, ist nicht nur für den Betroffenen selbst ein oftmals „traumatisierendes Erlebnis“, sondern gehört auch für die Pflegepersonen zu den wohl unangenehmsten, belastendsten Tätigkeiten die es überhaupt in der Psychiatrie gibt (vgl. Richter, D., & Sauter, D., 1998, S.8). 6 Möglichkeiten der Aggressionsminderung und – verhinderung Wie in meiner Einleitung schon erwähnt, bin ich der Meinung, dass es viele Möglichkeiten zur Aggressionsverminderung bzw. –verhinderung gibt. Es gibt zahlreiche, viel versprechende und in einigen Fällen auch bereits bewährte Ansätze, wie man dem Problem effektiv entgegentreten kann. Auf der anderen Seite allerdings, auch das hat sich bereits mehrfach gezeigt, leider auch nicht wenige, die ein Stück weit am Ziel vorbeiführen bzw. sich im Nachhinein sogar als kontraproduktiv erwiesen haben. In den folgenden Zeilen habe ich mich unter anderem an den von Hans-Peter Nolting (vgl. Wölbitsch Mario Nolting 2002, S. 195) beschriebenen „Möglichkeiten zur Mai 2004 31 Verminderung von aggressiven Verhalten“ orientiert. Er erörtert, welche Wege man beschreiten kann, und nicht, welche man beschreiten soll. Des weiteren meint er: „Es ist nicht Sache der Psychologie, sondern eine Frage persönlicher Wertungen, ob und wo man die Verminderung aggressiven Verhaltens erachtet oder nicht“ (vgl. Nolting 2002, S. 196). Die folgenden Ausführungen sind also keine Aufforderung: „Tu dieses od. jenes“, sondern sie sind Wegweiser für diejenigen, die bestimmte Änderungen suchen und fragen: “Was könnte ich tun?“ 6.1 Aggression abreagieren Dieser in weiten Teilen der Bevölkerung (bis vor kurzem auch bei mir..) verbreiteten Vorstellung nach, soll es möglich sein, aggressive Energien »abzureagieren«, indem man bereits im Vorfeld vergleichsweise harmlose Formen von Aggression »auslebt« und so einen potenziell gefährlichen »Aggressionsstau« (verbunden mit der Gefahr weitaus schwerwiegenderer Manifestationen von Aggression) verhindert. Mit anderen Worten: man soll »rechtzeitig Dampf ablassen, bevor der Kessel explodiert«. Diese umgangssprachliche Beschreibung verdeutlicht bereits sehr schön die zugrunde liegende bildhafte Vorstellung eines Dampfdruckventils (wir erinnern uns an die „Dampfkesseltheorie von K. Lorenz“ – siehe Kapitel 2.2.1). Dieses Modell findet sich neben den Triebtheorien auch bei der Frustrations-Aggressions-Theorie (Dollard – siehe Kapitel 2.2.2) wieder. In der Psychologie kennt man diesen Ansatz des Abreagierens von Aggression unter der Bezeichnung der Katharsis-Hypothese(n). 6.1.1 Katharsis-Hypothese Der Katharsisbegriff stammt aus dem antiken Griechenland und bedeutet übersetzt soviel wie »Reinigung« oder »Befreiung«. Dahinter steckt ursprünglich die von Aristoteles vertretene Vorstellung einer Läuterung des Zuschauers durch die Tragödie, indem sie in ihm Empfindungen von Furcht und Mitleid erweckt. Die (und sei es nur indirekte) Konfrontation bzw. Auseinandersetzung mit Ängsten oder anderen Wölbitsch Mario leidvollen (emotionalen) Erfahrungen bewirkt eine Art Mai 2004 32 »Seelenreinigung« und befreit so von den eigenen Ängsten (respektive anderen negativen Affekten; bildhaft vergleichbar vielleicht mit der reinigenden Wirkung eines Gewitters). So plausibel dieser Ansatz auf den ersten Blick auch erscheinen mag, empirisch ist er (v.a. durch zahlreiche Untersuchungen in den 60er und 70er Jahren) mittlerweile weitgehend widerlegt (vgl. Selg 1997, S. 22). Klar ist auch, dass sehr unterschiedliche Wege und Wirkungen des „Auslebens“ gemeint sein können. So gesehen müsste man nicht von „der“, sondern „den“ Katharsis-Hypothesen sprechen. H.P. Nolting hat versucht, die Aktivitäten, die für den Abbau aggressiver Impulse häufig genannt werden, systematisch zu erfassen. Die Bandbreite möglicher Aktivitäten ist groß. Sie reicht vom „Ausdenken aggressiver Geschichten“ bis hin zur „direkten Vergeltung am Provokateur“. Klar ist, dass einerseits eine Differenzierung der einzelnen Aktivitäten unbedingt von Nöten ist, und anderseits „nur“ entschärfte Aktivitäten als Beitrag zur Aggressionsminderung angesehen werden können. Wege zum Eigene aggressive od. Beobachtungen von quasi-aggressive Aktivität. Aggression - - Phantasie-Aggression „Abreagieren“? Ersatzwege: Unspezifisch Quasi-aggressive Anschauen von - Ausdenken aggressiver Aktivitäten in Sport, Aggression im Film, Geschichten, Bilder Spiel; Sport usw. usw. - Holzhacken und dgl. - „ins Leere brüllen, - Anhören aggressiver Witze schreien“ Ersatzwege: - Anlassbezogen In Gegenwart Dritter - Hören von Witzen, - Spott usw. über Provokateurs vorstellen, schimpfen, spotten und Provokateur ggf. in Geschichten und dgl. Ersatzwege: Aggression (Vergeltung) - Sich die Bestrafung des über Ärger-Anlass Eigene Vergeltung am Provokateur a. - Bestrafung des - Provokateurs durch andere Wesentliche Schlussfolgerungen zur Katharsis-Hypothese (vgl. Nolting 1997; S. 214-216): Wölbitsch Mario Mai 2004 33 - Generell geht man - wenn überhaupt - nur von einem recht kurzfristigen Katharsiseffekt aus, der bestenfalls dazu geeignet wäre, akute Spannungszustände abzubauen (was andererseits ja schon ganz beachtlich wäre); eine längerfristige Aggressionsminderung konnte nicht nachgewiesen werden. - Nur ein Katharsiseffekt gilt empirisch als halbwegs gesichert: die sog. »Vergeltung am Provokateur« (eigene oder beobachtete), d.h. nur dann, wenn sich eine Aggression auch direkt gegen den Verursacher des Ärgers richtet, kann es in einigen Fällen (also keinesfalls automatisch; gelegentlich kann man auch gegenteilige aggressionssteigernde Effekte beobachten) zu einer Reduzierung der Aggressionsbereitschaft kommen. Hinzu kommt, dass es sich letztlich auch wieder nur um eine Form der Aggression handelt; eine echte Aggressionsminderung wird somit nicht erreicht. - Im Hinblick auf echte »Ersatzwege« des Auslebens von Aggressionen fielen die Ergebnisse hingegen eindeutig negativ aus, d.h. weder durch das Betrachten von Gewaltinhalten, noch durch das Produzieren aggressiver Fantasien, noch durch irgendwelche anderen pseudo-aggressiven Ersatzhandlungen (z.B. Schreien, intensive sportliche Betätigung) ist es möglich, akuten Ärger loszuwerden oder gar vorbeugend ein »AggressionsReservoir« abzubauen. Ohnehin eine Vorstellung, von der man sich verabschieden sollte. Es gibt keinen empirischen Beweis, der die These eines unspezifischen Aggressions-Reservoirs, aus dem man Energien ablassen kann, stützen würde. Ärgergefühle sind nicht so unspezifisch, dass man sie durch »irgendeine« Aggression gegen irgendwen oder irgendwas abbauen könnte. Den Groll auf den Ehepartner am Punching-Ball wieder »loszuwerden«, ist eine völlig unrealistische Vorstellung. (vgl. Nolting 2002, S. 214). Bestenfalls stellt sich so etwas wie eine »Trivial-Katharsis« ein (vgl. Selg und a. 1997, S. 26), d.h. es kommt schlicht zu einem Ermüdungseffekt, der dann tatsächlich (kurzfristig) die Aggressionsbereitschaft senken kann. Unabhängig von der zweifelhaften aggressionsmindernden Wirkung können derartige Ersatzhandlungen aber durchaus als angenehm oder subjektiv befreiend erlebt werden. Zudem sind sie i.d.R. unbedenklich, solange aus den »spielerischen« Aggressionen keine ernsten werden. Wölbitsch Mario Mai 2004 34 - Nicht von der Hand zu weisen ist, dass es die unterschiedlichsten Aktivitäten gibt, die eine gereizte Stimmung zumindest vorübergehend auflockern können. Das können pseudo-aggressive Ersatzhandlungen wie o.g. sein, müssen aber nicht: andere »neutrale« Aktivitäten - wie z.B. das Lösen von Denksport- und Rechenaufgaben (also simple Ablenkung) oder Musikhören - erzielen einen durchaus vergleichbaren, in einigen Fällen sogar noch wirksameren, Effekt. Selbst bloßes Abwarten kann ein probates Mittel für eine momentane Beruhigung sein (das deckt sich auch mit alltagssprachlichen Vorstellungen vom »Verrauchen« von Ärger). Das lässt den Rückschluss zu, dass nicht das »Abreagieren« im Vordergrund steht, sondern viel mehr die Komponente der Ablenkung. Es kommt also darauf an, den Kreislauf des »Brütens« über den Ärger zu unterbrechen und so eine andere Stimmung zu erzeugen. Das kann durch pseudo-aggressive Verhaltensweisen geschehen, muss aber eben nicht. Genauso effektiv (wenn nicht effektiver) ist es, einfach etwas zu tun, was einem Spaß macht. - Pseudo-aggressive Ersatzhandlungen mögen im Einzelfall als kurzfristig befreiend erlebt werden. Einen konstruktiven Beitrag zur Behebung evtl. ursächlicher Problemstellungen leisten sie aber nicht (das gilt freilich auch für »neutrale« Aktivitäten, die nur auf Ablenkung abzielen)! - Den o.g. Einwänden zum Trotz können pseudo-aggressive Ersatzhandlungen im Einzelfall - z.B. bei Menschen, die hinsichtlich ihrer emotionalen Ausdrucksfähigkeit gehemmt sind, durchaus ein sinnvolles therapeutisches Mittel sein (wenn auch nicht unbedingt im Kontext der Aggressionsminderung; als Abreagieren von Aggressionen sollte dies nämlich nicht missverstanden werden, vielmehr als Hilfe zum Erschließen der eigenen Gefühlswelt). Auch sollte man sich vor dem Umkehrschluss hüten und die Ergebnisse nicht dahingehend interpretieren, das die Unterdrückung oder gar Verdrängung aggressiver Gefühle in irgendeiner Weise sinnvoll wäre. Dem ist ganz sicher nicht so! Was bleibt ist die Erkenntnis, das andere Ansätze hinsichtlich der Aggressionsminderung weitaus viel versprechender sind, sei es nun die bloße Ablenkung (s.o.) oder eine kritische und differenzierte Selbstreflexion, ein Sichbewusst-machen der eigenen Gefühle und der Kausalzusammenhänge im Wölbitsch Mario Mai 2004 35 Wirkungsgefüge der Aggression (»Was macht mich wann und weshalb wütend bzw. aggressiv?«). Das die Vorstellungen, die sich hinter dem Katharsisbegriff verbergen, trotz dieser recht eindeutigen Forschungsergebnisse - die ja zum großen Teil bereits aus den 60er und 70er Jahren stammen - in der Öffentlichkeit dennoch kaum an Popularität eingebüsst haben, mag mehrere Gründe haben. Zum einen liegt es nahe, aggressiven Gefühlen auch durch Aggressionen Ausdruck zu verleihen, wobei es ja diesbezüglich durchaus auch zu den o.g. subjektiven Erleichterungen kommen kann. Zum anderen ist die zugrunde liegende Vorstellung des »Abreagierens« von Aggression in ihrer Simplizität so schön »griffig«. Und nicht zuletzt erliegt man wohl auch der Suggestivkraft der in der Alltagssprache so fest verwurzelten Metaphern (z.B. »Ventil«, »unter Druck / Dampf stehen«, »Dampf ablassen«, »Gefühle herauslassen«, etc.). Auch deswegen noch einmal der Hinweis: Das Bild vom Ventil ist irreführend! Gefühlen Ausdruck zu verleihen ist nicht gleichbedeutend mit Gefühlen »loswerden«! „Gefühle kann man nicht »rauslassen« wie Wasserdampf aus einem Ventil, und sie entschweben nicht durch die Lüfte. Auch wenn man sie »äußert« - sie bleiben »in uns drin«“ (vgl. Nolting 1997, S. 216). 6.2 Erkennen u. Einschätzen von Frühwarnsymptomen Es stellt sich die Frage, ob aggressive Handlungen wirklich vorhersehbar sind. Wäre dies wirklich der Fall, müsste es meiner Meinung nach relativ leicht möglich sein, Aggressionen u. Gewalt verhindern zu können. In einer Studie aus Großbritannien (vgl. Whittington, R., 1998, S.10) konnten folgende Verhaltensweisen, die im Vorfeld eines Angriffes auftreten, erfasst werden: - Verbale Beschimpfungen - Hohe allgemeine Aktivität - Unangenehme körperliche Aktivität - Laute Stimme Wölbitsch Mario Mai 2004 36 - Starrender Blickkontakt - Fluchen - Bedrohliche Gesten - Schnelles sprechen - Bedrohliche Haltung - Hohe Stimmlage - Verbale Drohungen - Gewalt gegen Sachen Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt auch Steinert (vgl. Steinert, T. 1991, S.158) in seiner Studie „Aggressionen psychiatrischer Patienten in der Klinik“. Generell handelt es sich in beiden Studien um Symptome, die zwar Hinweise auf bevorstehende Angriffe geben können, aber durchaus nicht die logische Konsequenz einer Tätlichkeit nach sich ziehen müssen. Es gibt also scheinbar keine klaren und eindeutigen Hinweise, die als gesichert betrachtet werden können (vgl. Richter, D. & Sauter, D. 1998, S.123). Neben den bereits erwähnten Faktoren sollte man in der Biographie des Patienten vor allem auf bereits „früher durchgeführte Aggressionen“ achten. Dies scheint der verlässlichste Prädiktor für „folgende gewalttätige Übergriffe“ zu sein. (Jones 1995; zitiert nach Richter, D. & Sauter, D. 1998, S.124) Hilfreich ist in diesem Zusammenhang sicherlich auch das Wissen über den Phasenverlauf einer Gewaltsituation. Wölbitsch Mario Mai 2004 37 Vorankündigung Eskalation Krise Erholung Depression normales Verhalten Phasenverlauf einer „typischen“ Gewaltsituation (Breakwell 1995) Orientiert man sich an dem Phasenverlauf einer „typischen“ Gewaltsituation, wären die Frühsymptome sozusagen dem Bereich der „Vorankündigung“ zuzuteilen. Dies wiederum würde bedeuten, dass noch Zeit zur Verfügung stehen würde, um eine Eskalation zu verhindern! Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass zwar eine „Fülle“ von Faktoren festgestellt werden konnten, die unmittelbar vor einem „Übergriff“ stattfinden. Diese jedoch nicht zwingend „Aggressionen“ nach sich ziehen müssen. Beachtet man neben der Psychopathologie der Patienten auch noch die Gestaltung des Umfeldes und das eigene Verhalten, besteht meiner Ansicht nach, vorausgesetzt bei rechtzeitiger Intervention, eine sehr hohe Möglichkeit, Aggressionen erst gar nicht entstehen zu lassen, sie praktisch schon im „Keime zu ersticken“. Wölbitsch Mario Mai 2004 38 6.3 Die „Anreger“ verändern Damit sind die Anregungsfaktoren der Situation gemeint. Zur „Situation“ zählt man alle Faktoren, die das Individuum aktuell umgeben, insbesondere andere Menschen. Ziel ist es, Faktoren, die zu aggressiverem Verhalten anregen, zu vermindern und Faktoren die zu nichtaggressivem Verhalten anregen, zu fördern. 6.3.1 Verminderung von Provokationen und Herabsetzungen Provokationen zählen zu den wirksamsten Aggressionsanregern. Es handelt sich hierbei um Verhaltensweisen, die man als Verstoß gegen Regeln des Zusammenlebens bewertet (unfair, unverschämt) und, oder die man gegen sich gerichtet sieht. Ihre aggressive Wirkung beruht überwiegend auf der Beziehungsebene (vgl. Schulz von Thun, S. 74). Der Empfänger wird an einer besonders empfindlichen Stelle, nämlich seinem Selbstwertgefühl, getroffen. Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, dass die häufige Anwendung von Provokationen bzw. Herabsetzungen, die Entstehung eines verminderten Selbstbildes zur Folge haben können. Dass Herabsetzungen in Form von „lächerlich machen, hänseln, verspotten od. jemanden zu demütigen“ Verhaltensweisen sind, die abzulehnen sind, leuchtet wohl jedem Menschen ein. Warum sie (zwar selten, aber doch) immer noch (auch in der Psychiatrie) vorkommen, sollte wohl jedem zu „Denken geben“! Ebenso einleuchtend scheint mir die differenzierte Anwendung von Kritik. Pauschale Personenkritik wie z.B.: „Du bist ein ausgesprochener Egoist“, wird hinlänglich stärkere emotionale Abwehr od. Kränkung hervorrufen, als wenn sie als „verhaltensbezogene Kritik“ (Du hast bisher nur von deinen Wünschen gesprochen und zu meinen noch nichts gesagt) geäußert wird. Es handelt sich also offensichtlich um ein Kommunikationsproblem. Missverständnisse im Rahmen der Kommunikation sind schon bei „gesunden“ Menschen an der Tagesordnung. Schulz von Thun beschreibt in seinem Buch „Miteinander reden“ (Band 1-3, 1981) sehr eindrücklich, wie häufig Botschaften vom Empfänger „falsch“ aufgenommen werden. Es kommt also im Rahmen der Kommunikation immer wieder zu dem Problem, dass die gesendeten und die verstandenen Wölbitsch Mario Mai 2004 39 Botschaften nicht immer gleich interpretiert werden. Man könnte sagen, dass beim Empfänger etwas ankommt, was vom Sender gar nicht intendiert war, oder dass etwas anderes verstanden wird, was der Sender eigentlich übermitteln wollte. Entscheidend für die Reaktion des Empfängers und damit für den Fortgang der Interaktion ist stets die empfangene und nicht die vom Sender gemeinte Botschaft. Es kommt also vor, dass auch nichtaggressives Verhalten des Senders als aggressive, zumindest „ärgerliche“ Botschaft empfangen wird. Dass es Menschen gibt, die häufig dazu neigen, Äußerungen und Handlungen anderer als „böse Absicht“, als „Feindseligkeit“ od. als „Missachtung“ zu interpretieren, konnte ich immer wieder feststellen. Wohlgemerkt, nicht nur bei Patienten!. Allerdings geht es mir hier nicht um eine Schuldzuweisung, vielmehr geschehen solche Verhaltensweisen meist unbewusst. Lancee et. Al. (Lancee et al. 1995) haben in einer Untersuchung, die Auswirkungen verschiedener verweigernder Interaktionsstile des Pflegpersonals auf die emotionale Reaktion der Patienten, untersucht. Sie kamen zu dem Schluss, dass dem Interaktionsstil eine entscheidende Rolle, vor allem bei dem Problem der Verweigerung von Wünschen, zukommt. Folgende Möglichkeiten stehen demnach Pflegepersonen offen. a) Schlecht- bzw. Lächerlichmachen b) Platitüden c) Lösungsvorschlag ohne Option für den Patienten d) Lösungsvorschlag mit Option e) Emotionale Beteiligung ohne Option f) Emotionale Beteiligung mit Option Der hervorgerufene Ärger nahm dabei bei allen Patienten, in der genannten Reihenfolge von a) bis f,) in allen diagnostischen Gruppen, ab. Wölbitsch Mario Mai 2004 40 6.3.2 Verminderung von Einengungen, Stressoren, Entbehrungen Wenn eine zielbezogene Aktivität durch eine „Barriere“ gestört wird, kann es zu Frustrationen und dadurch wiederum zu Aggressionen kommen. Man könnte sich also überlegen, welchen Zweck erfüllen Regeln, Richtlinien eigentlich? Werden diese überhaupt noch benötigt? Könnte man nicht gewisse „Dinge“ in den Verantwortungsbereich der Betroffenen legen? Wer benötigt eigentlich diese Regeln? Welches Milieu müsste also geschaffen werden, um dem Problem Gewalt u. Aggression wirksam begegnen zu können? Oberstes Ziel einer gewaltarmen Milieugestaltung muss die Vermeidung von Gewalt sein. Ebenso muss man sich aber darüber im Klaren sein, dass Psychiatrische Krankenhäuser eine besondere Rolle spielen, sozusagen eine Institution zwischen „Hilfe u. Gewalt“, darstellen. (vgl. Finzen, A. 1988). Bei der Milieugestaltung muss man sich darüber bewusst sein, dass sowohl ein hyper-, wie auch hypostrukturierendes Milieu zu Dysfunktionen, aggressionsfördernden Situationen führen kann. (vgl. Zeiler, J. 1993, S.133) Demnach versteht Zeiler unter einem hyperstrukturierten Milieu „eine überkontrollierende, überstrukturierende u. übersanktionierende Atmosphäre, aggressives Verhalten der Patienten wird ausschließlich auf die Psychopathologie attribuiert („Patient kann seine Impulse nicht kontrollieren“), hartes Verhalten gegenüber der Patienten ohne eingehen auf Kompromisse, mangelnde Präsenz der Pflegepersonen usw.“ - sozusagen ein Milieu, dass aus den Zeiten der früheren Kustodialpsychiatrie bekannt ist. Ebenso kann ein hypostrukturierendes Milieu, das primär gekennzeichnet ist durch einen Mangel an formalen Rollenbeschreibungen u. Reaktionsmöglichkeiten zu einer Dysfunktion, „sprich“ milieuinduzierten Aggressionen führen. Wie so häufig, liegt wahrscheinlich auch hier die Wahrheit in der „goldenen Mitte“! Dass aber auch die Gesellschaft, quasi in Form von struktureller Gewalt Einfluss auf das Milieu haben kann, liegt auf der Hand, wenn z.B. Wölbitsch Mario Mai 2004 41 • im Staats(Landes)haushalt nicht genügend Finanzmittel für bauliche Maßnahmen (kleine Zimmer, Ruheräume, Ausstattung der Räume.......) etc. zur Verfügung gestellt werden; • zu wenig ausgebildetes Fachpersonal auf den Stationen angestellt ist; • es zu Arbeitsüberbelastung (zu viele „Pflegefälle“), nicht nachbesetzte Stellen (Pensionierungen, Krankenstände, Sparmaßnahmen.....) etc. kommt. Die Gestaltung eines „therapeutischen Milieus“ hängt in sehr hohem Maße von den Kompetenzen, Engagement der Pflegepersonen ab. Hier haben Pflegepersonen wirklich die Möglichkeit, entscheidend in die Betreuung von psychisch kranken Menschen einzugreifen. Es scheint also offensichtlich zu sein, dass Gewalt nicht nur von den Eigenschaften der Psychopathologie beeinflusst wird, sondern dass auch Milieufaktoren (Umfeld) und Interaktionsformen zwischen Mitarbeiter und Patienten ebenso bedeutsam sind. (vgl. Richter, D. & Sauter, D. 1998, S.123). Da in diesem Zusammenhang aber fast immer noch, sozusagen „automatisch“, dass primäre Augenmerk auf dem Verhalten des Patienten liegt, möchte ich nochmals darauf aufmerksam machen, sich auch und vor allem das Mitarbeiterverhalten kritisch vor Augen zu halten. Alle in der Psychiatrie Tätigen sind also aufgefordert, sich das eigene Kommunikationsverhalten ständig bewusst zu machen, bzw. reflektieren zu lassen. Um es noch deutlicher zu sagen: Unmittelbare Präventionsmaßnahmen zielen primär auf die Kontrolle des eigenen Verhaltens der Mitarbeiter. Nur über die Kontrolle des eigenen Verhaltens kann der aggressive Patient so beeinflusst werden, dass das Aggressionsniveau sinkt und die Situation einen positiven Ausgang nimmt. (vgl. Richter, D. & Sauter, D. 1998, S.135) Wölbitsch Mario Mai 2004 42 6.3.3 Verminderung aggressiver Modelle, Symbole In bestimmten Situationen als Vorbild zu fungieren, kann für andere Menschen ein Grund sein, aggressives Verhalten zu unterlassen. Es ist also denkbar, dass sich ein Mensch mit recht aggressivem Verhalten relativ friedlich wird, wenn er in eine friedliche Umgebung kommt. Deshalb besteht eine der trivialsten, wenngleich auch effektivsten Möglichkeiten, aggressives Verhalten zu vermindern darin, „ganz einfach“ das eigene aggressive Verhalten zu vermindern (vgl. Nolting 2002, S 223). 6.3.4 Förderung positiver Anreger Man sollte sich nicht nur fragen, wie man das unerwünschte Verhalten abbauen, sondern auch, wie man das erwünschte Verhalten fördern kann. Kann man also Situationen so gestalten, dass mit einiger Wahrscheinlichkeit alternatives Verhalten stimuliert wird? Solche Verhaltensweisen sind uns aus dem Alltag durchaus bekannt: Man sucht z.B. eine Umgebung auf, die einen „auf andere Gedanken“ bringt, sucht Zerstreuungen u. Ablenkungen, um Ärger, Trübseligkeit od. Langeweile wenigstens vorübergehend zu vertreiben. Ähnlich geht man vor, um andere Menschen zu beeinflussen. Eltern machen spaßige Faxen gegen die Wehwehchen ihrer Kleinen, Lehrer bemühen sich um einen interessanten, neugierweckenden Unterricht, u. (diktatorische) Regierungen sorgen vielleicht durch Filme, sportliche Wettkämpfe usw. für gute Stimmung im Lande. Die Beispiele machen deutlich, dass das Prinzip in vielfältiger Weise realisiert (aber auch missbraucht) werden kann. (vgl. Nolting 2002, S.227) 6.3.5 Anreiz-Verlagerung auf alternatives Verhalten Die Bedürfnisse von Menschen sind eine Sache; das Verhalten, das sie zur Bedürfnisbefriedigung einsetzen, ist eine andere. Die Empfehlung lautet daher, den Blick auf die gewünschten Verhaltensweisen wie etwa bitten, argumentieren, verhandeln, zu richten und sie mit Beachtung, Anerkennung, Zuwendung, Entgegenkommen usw. zu „belohnen“. Eben die Herstellung dieses neuen Wölbitsch Mario Mai 2004 43 Zusammenhangs – alternatives statt aggressives Verhalten bringt die gewünschten Effekte – ist mit „Verlagerung“ der Anreize gemeint. (vgl. Nolting 2002, S.230) 7 Praxisbezogene Möglichkeiten zur Deeskalation u. Abwehr von körperlichen Angriffen Die folgenden (Arbeitsgruppe Vorschläge der wurden Westfälischen weitestgehend u. einem Rheinischen Arbeitspapier Gemeindeunfall- versicherungsverband) entnommen (vgl. Richter, D. 1999, S.134). Hervorzuheben ist die hohe Praxistauglichkeit der vorgestellten Maßnahmen, welche als praktische Ergänzung zu den bereits erwähnten theoretischen Möglichkeiten zu sehen sind. Es handelt sich hierbei um Vorschläge, welche meines Wissens nicht empirisch evaluiert wurden. Da zu diesem Themenbereich nur „spärliche“ Informationen vorhanden sind u. mich vor allem der Praxisbezug dieser Vorschläge beeindruckt hat, habe ich diese in meine Arbeit mit einbezogen. 7.1 Praktische Grundregeln zur Deeskalation Wie bereits erwähnt, geht einem Patientenübergriff in vielen Fällen eine Eskalationsphase voraus. Diesen Eskalationszeitraum gilt es zu nutzen, um die Eskalationskurve in eine deeskalierende Richtung umzuleiten. Um das Ziel der Gewaltvermeidung zu erreichen, sollten folgende Grundregeln beachtet werden: • Reagieren Sie frühzeitig und angemessen auf eine drohende Eskalation; je später die Reaktion, desto geringer ist die Chance eines gewaltlosen Ausgangs! • Versuchen Sie den aktuellen Grund des aggressiven Verhaltens zuidentifizieren und stimmen Sie Ihre Handlungen darauf ab. Wölbitsch Mario Mai 2004 44 • Treten Sie selbstbewusst, ruhig, sicher und bestimmt auf, ohne zu provozieren; bedenken Sie: Selbstbewusstes Verhalten ist nicht gleich aggressives Verhalten! • Versuchen Sie nicht, den Patienten zu beherrschen, sondern versuchen Sie, die Situation zu beherrschen! • Bedenken Sie auch die Sicherheit (noch) nicht unmittelbar beteiligter Personen; wenn möglich, bringen Sie andere Personen, Mitpatienten und Mitarbeiter in Sicherheit! • Setzten Sie sich realistische Erwartungen! (Ist die Situation wirklich gewaltfrei zu beherrschen?). • Teilen Sie die Verantwortung mit anderen Mitarbeitern (Entfernung gefährlicher Gegenstände, Aufhalten im Hintergrund, Beruhigung der Mitpatienten etc.)! Aber: o Treten Sie dem Patienten nicht mit mehreren Personen gleichzeitig gegenüber, wenn Sie noch eine Chance zum gewaltfreien Ausgang der Situation sehen! Die deeskalierende Intervention sollte von einer Person durchgeführt werden. • Falls die Möglichkeit besteht, sollten Sie den Ort der Intervention mit Bedacht wählen; insbesondere Sicherheitsaspekte (Flucht- und Notrufmöglichkeiten, gefährliche Gegenstände, Einbeziehung anderer Mitarbeiter etc.) sollten Sie hier berücksichtigen! • Die Chance zu einer Deeskalation des Konflikts ist größer, wenn man den Patienten, seine Vorgeschichte, seine Grunderkrankung, seine aktuelle Situation, seine Sichtweise und emotionale Befindlichkeit kennt. • Wenn die Möglichkeit besteht, sollte die Kontaktaufnahme mit dem Patienten durch einen Mitarbeiter geschehen, dessen Chance auf Vertrauen durch den Patienten relativ groß ist (entscheidend ist nicht die Berufsgruppe!). • Begegnen Sie dem Patienten mit Empathie, Respekt, Aufrichtigkeit und Fairness! • Signalisieren Sie Einfühlung und Sorge! Wölbitsch Mario Mai 2004 45 • Der Patient sollte nicht den Eindruck haben, er werde in eine ,Ecke’ gedrängt, daher sollten Sie das Gefühl vermitteln, dass er die Situation mitkontrollieren kann! • Machtkämpfe zwischen Ihnen und dem Patienten müssen vermieden werden! • Die Frage, wer Recht hat, ist in diesem Zusammenhang zu vernachlässigen; mitunter sollten Sie dem Patienten, auch gegen Ihre eigene Überzeugung - zustimmen, wenn dies der Vermeidung von Gewalt zuträglich ist, allerdings dürfen Sie keine Zusagen machen, die Sie oder andere Personen zu einem späteren Zeitpunkt nicht einhalten können (Konfliktgefahr zu einem späteren Zeitpunkt)! • Beschimpfungen sollten Sie ignorieren und nicht zum Anlass von Bedrohungen oder ebenfalls Beschimpfungen werden lassen! Wölbitsch Mario Mai 2004 46 7.2 Konkretes persönliches Verhalten zur Deeskalation Deeskalierende Verhaltensweisen sollten systematisch angewendet werden. Eine sichere Beherrschung dieser Strategien setzt allerdings das Trainieren und Einüben der Verhaltenweisen voraus. Es ist hilfreich, sich die Konfliktsituation aus der Perspektive des Patienten zu vergegenwärtigen. Auch in diesem Zusammenhang können Trainingseinheiten und Rollenspiele sinnvoll sein. Die grundlegende Strategie kann folgendermaßen umrissen werden: • Achten Sie, besonders wenn Sie angespannt sind, auf Ihre Atmung; atmen Sie vor allem bewusst aus! • Begegnen Sie dem Patienten auf gleicher Höhe; wenn er sitzt, versuchen Sie sich ebenfalls hinzusetzen! • Kontrollieren Sie Ihre Körpersprache, Mimik und Gestik; vermitteln Sie dem Patienten nicht das Gefühl der Bedrohung oder Beherrschung! • Vermeiden Sie ruckartige und hektische Bewegungen; diese könnten als Bedrohungen registriert werden! • Bewegen Sie sich langsam auf den Patienten zu und entfernen Sie sich ebenfalls langsam! • Stellen Sie eine ausreichende Körperdistanz zwischen Ihnen und dem Patienten sicher; insbesondere psychotische Patienten brauchen eine größere Distanz als zwischen Gesunden üblich ist! • Setzen Sie Ihre Sprache zielführend ein: adäquate Tonhöhe und Lautstärke! • Stellen Sie Augenkontakt her, ohne dass es aufdringlich wird (nicht starren!)! Von Deeskalationstrategen wird ein 45°-Winkel zum Patienten empfohlen. Wenden Sie sich niemals ab! • Machen Sie den Patienten und sein Problem nicht lächerlich, signalisieren Sie aktives Zuhören durch Antworten („aha, ich verstehe“, etc.), Kopfnicken und Nachfragen! • Vermeiden Sie den Eindruck, dass Sie die Autorität in dieser Situation verloren haben, ohne zu autoritär aufzutreten (Gratwanderung!)! Wölbitsch Mario Mai 2004 47 • Vermeiden Sie Zugeständnisse in wesentlichen Punkten, machen Sie dafür Zugeständnisse an anderer Stelle („Ich kann nichts dafür, dass Sie gegen Ihren Willen eingewiesen wurden, aber ich könnte Ihre Frau anrufen...“)! • Zeigen Sie mögliche Konsequenzen und Reaktionen für den Patienten auf, wenn er gewalttätig werden sollte; dies ist zielführender als offene Drohungen, Ultimaten oder Zwang! • Unter Umständen (nicht in jedem Fall!) kann ein Hinweis auf die NichtAkzeptabilität bestimmter Verhaltensweisen wie Aggressionen hilfreich sein, zeigen Sie verschiedene Optionen, Alternativen oder Lösungen für den Patienten auf, vermeiden Sie geschlossene Fragestellungen, die nur mit ja oder nein beantwortet werden können; es besteht hier die Gefahr des Gefühls, eingeengt zu werden. • Benutzen Sie offene Fragestellungen („Was könnte Ihnen jetzt helfen? Wie können wir diese Situation nun gemeinsam lösen?“)! Diese Fragen veranlassen den Patienten zum nachdenken, eröffnen ihm eigene Optionen und bringen Zeitgewinn (aber achten Sie auf die Gefahr der Überforderung!). Vermeiden Sie • komplizierte Fragen • medizinisches oder technisches Vokabular • Ratschläge und Belehrungen • Beurteilungen oder Kritik des Patienten • Vermeiden Sie Phrasen wie die folgenden: - „Was ist denn hier los?“ - „Nun regen Sie sich mal nicht so auf!“ - „Nun seien Sie nicht so dumm!“ - „Na los, dann machen Sie’s doch (angreifen, beschädigen etc.)!“ - „Dafür werden Sie mich morgen kennen lernen“ - „Warum“-Phrasen (diese erzwingen eine Rechtfertigung des Verhaltens). Wölbitsch Mario Mai 2004 48 Versuchen Sie - wenn möglich - mit dem Patienten in verbalem Kontakt zu bleiben, somit bieten Sie Dialogbereitschaft an und geben dem Patienten auch mögliche neue Anknüpfpunkte im Gespräch. 7.3 Abwehr eines körperlichen Angriffs Oftmals und da muss man sich wirklich darüber im Klaren sein, kann es, extrem formuliert, um das nackte Überleben gehen. Zumindest aber darum, eine Verletzung zu vermeiden bzw. zu verhindern. Welche Möglichkeiten der Reaktion gibt es also, wenn ein körperlicher Angriff akut droht? Gleichgültig ob sich ein gewalttätiger Angriff anbahnt oder unvermittelt stattfindet, lassen sich vier Ziele formulieren: 1. Distanz Nach Möglichkeit jederzeit außerhalb der Arm- und Beinreichweite des Angreifers bleiben. 2. Flucht Verlassen Sie die Situation und bringen Sie sich in Sicherheit. 3. Fürsorge Wenn zumutbar, bringen Sie andere bedrohte Personen, Mitpatienten und/oder Mitarbeiter in Sicherheit. 4. Notruf Verständigen Sie frühestmöglich zusätzliche Hilfe, falls erforderlich über den Polizeinotruf. Wölbitsch Mario Mai 2004 49 Erst dann, wenn diese Ziele nicht erreicht werden können, sollte eine körperliche Abwehr des Angreifers erwogen werden. Grundsätzlich gilt, dass Mitarbeiter sich auf ihre Intuition verlassen und nicht mit einem Patienten alleine bleiben sollten, wenn sie ein „schlechtes Gefühl“ haben. Mitarbeiter, die mit Menschen arbeiten, die potentiell gefährlich sind, sollten eine „automatische Wachsamkeit“ für jedwede Abweichung vom Grundverhalten ihrer Klienten haben. 7.3.1 Flucht • Sollten die äußeren Umstände eine Flucht zulassen, ist dies die sicherste Möglichkeit, die Situation unbeschadet zu überstehen. • Tragen Sie nur Kleidung, die Ihnen schnelle Bewegungen ermöglicht und nicht geeignet ist Sie festzuhalten! • Bei bedrohlichen Vorzeichen leiten Sie unverzüglich und energisch die Flucht ein. Nehmen Sie Ihre Angst ernst, dieses Gefühl kommt nicht von ungefähr! • Sie können versuchen, den Angreifer abzulenken oder zu verwirren, aber provozieren Sie ihn nicht noch zusätzlich! • Reduzieren Sie Ihre Schrecksekunde und erstarren Sie nicht zu einer „Salzsäule“, sondern bewegen Sie sich! • Rufen Sie konkret, klar und deutlich um Hilfe! Schreien Sie! • Bringen Sie Ihre Atmung unter Kontrolle! Atmen Sie aus und atmen Sie ausreichend tief und regelmäßig weiter! • Nutzen Sie die bekannten Fluchtwege, Ausgänge und Notrufeinrichtungen! • Flüchten Sie nicht an abgelegene Orte, sondern dorthin, wo auch andere Menschen sind, die Ihnen womöglich helfen können! • Wenn möglich, verriegeln oder versperren Sie Türen hinter sich! • Ist es Ziel des Angreifers bestimmte Dinge oder Gegenstände von Ihnen zu erlangen, lassen Sie ihm diese (wenn möglich) zurück! Wölbitsch Mario Mai 2004 50 7.3.2 Abwehr • Die Anwendung körperlicher Abwehrtechniken und Selbstverteidigung sollte das letzte Mittel der Gefahrenabwehr sein. Sie sollten nur angewendet werden, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Es gelten die Bestimmungen des Strafgesetzbuches unter besonderer Berücksichtigung bzgl. Notwehr/Notstand. • Es ist Ihr Risiko, evtl. lebenslange Verletzungen davonzutragen oder gar getötet zu werden. Sie haben das Recht, alles daran zu setzen, dies zu verhindern! • Stehen Sie in den Knien leicht gebeugt, so können Sie sich notfalls schnell bewegen! • Nehmen Sie eine etwas seitliche Stellung zum Angreifer ein um eine kleinere Angriffsfläche zu bieten! • Nutzen Sie bei Bedarf Tische Betten etc. als Hindernis zwischen sich und dem Angreifer! • Schreien Sie! Während Sie schreien, atmen Sie aus und verleihen dadurch Ihren Bewegungen mehr Kraft! • Für Angriffe, bei denen der Angreifer Körperkontakt aufgenommen hat, gibt es „nicht verletzende“ Befreiungstechniken, die Sie, wenn Sie sie erlernt und geübt haben, einsetzen können, um zu entkommen. Ansonsten bewegen Sie sich schnell und heftig in alle möglichen Richtungen, um den Griff oder die Umklammerung zu lösen. Bleiben Sie auf keinen Fall unbeweglich! • Setzen Sie nicht Kraft gegen Kraft! Neutralisieren sie die Wucht des Angriffs! Handeln Sie nach dem Grundsatz „Nachgeben um zu siegen“! Das heißt: Wenn der Angreifer drückt oder schiebt, sollten Sie ziehen! Zerrt oder zieht der Angreifer, dann drücken bzw. schieben Sie ihn! • Werden Sie mit Schlägen, Tritten oder Gegenständen angegriffen, weichen Sie aus! Benutzen Sie Ihre Hände oder Gegenstände als Deckung! Weichen Sie niemals nur zurück, das verleiht dem Angreifer nur noch mehr Schwung. Versuchen Sie stets hinter ihn zu gelangen, um Zeit zu gewinnen und zu entkommen! Wölbitsch Mario Mai 2004 51 • Wenn unvermeidlich: Kämpfen Sie mit aller Energie und allen Ihnen möglichen Methoden um den Angriff zu stoppen! Sie kämpfen eventuell um Ihr Leben und es gibt womöglich keine zweite Chance. Fügen Sie sich nicht in die Opferrolle! Es ist in diesem Moment völlig irrelevant, ob Sie Angst haben, weil z.B. der Angreifer größer oder stärker ist. Sie können sich nur Chancen erarbeiten, wenn Sie agieren und reagieren. • Sollten Sie entkommen sein, weil Sie den Angreifer verletzt haben, gehen sie nicht alleine zurück, um nachzusehen, wie es Ihm geht! Er könnte sich zwischenzeitlich erholt haben und Sie dann erneut attackieren. • Nach der Abwehr: Suchen Sie schnellstmöglichst Menschen auf, die Ihnen helfen können! Verständigen Sie bei Bedarf die Polizei und den Rettungsdienst! • Fertigen Sie zeitnah nach dem Ereignis Notizen über den Ablauf an! Wölbitsch Mario Mai 2004 52 8 FIXIERUNG VON PATIENTEN 8.1 Allgemeines Gemeinsames Ziel aller Teammitglieder ist nicht das „Gewinnen“ einer Auseinandersetzung, sondern das schonende und effektive Festlegen des Patienten innerhalb einer geplanten strukturierten Maßnahme unter Berücksichtigung der Würde des Patienten und der Eigensicherung der eingesetzten Mitarbeiter. Grundsätzlich gilt: „Eigensicherung geht vor Fremdsicherung!“ Mitarbeiter in der Psychiatrie haben eine erhöhte Verantwortung gegenüber den Patienten, sind jedoch nicht verpflichtet, ohne Rücksicht auf eigene Gefahren für Leib und Leben zu handeln. Fixierungsmaßnahmen sollten grundsätzlich nur von geschulten Mitarbeitern durchgeführt werden. Sollten Mitarbeiter noch nicht in verletzenden Halte- und Festlegetechniken ausgebildet sein, ist dies umgehend anzustreben. Nur Patienten, die untergebracht sind oder bei denen Gefahr im Verzug ist! 8.2 Allgemeine Regeln zur Fixierung Im Rahmen von Fixierungen gilt der Grundsatz: Ein Minimum an Kraft und Gewalt für ein Minimum an Zeit führt zu einem Maximum an Sicherheit und Menschenwürde! Ø Die vom Team eingebrachte Gewalt sollte auf das notwendige Mindestmaß begrenzt sein. Ø Die Dauer der Einschränkung sollte auf ein Minimum an Zeit begrenzt sein. Ø Die nachfolgend genannten Tabuzonen müssen samt ihren Gefahren bekannt sein und respektiert werden. Wölbitsch Mario Mai 2004 53 Ø Schläge und Tritte sind weder erforderlich noch angemessen. Ø Unkontrollierter ruckartiger Druck auf Gelenke ist zu vermeiden. Ø Alle Teammitglieder stellen sicher, dass Atmung und Blutzirkulation des Patienten zu jeder Zeit gewährleistet sind. 8.3 Körperliche Tabuzonen Auf folgende Körperbereiche des Patienten wird im Rahmen einer Fixierungsmaßnahme keine Gewalt ausgeübt, da hier erhöhte und teilweise folgenschwere Verletzungsgefahren bestehen. • Finger: Finger besitzen schwache Gelenke und sind schnell frakturiert. • Kehlkopf: Der Kehlkopf ist ein sensibler Bestandteil der oberen Luftwege. Seine Funktionsfähigkeit sichert die Vitalfunktion der Atmung. Schläge oder zu starker äußerer Druck auf den Kehlkopf können zu irreversiblen Schäden bis hin zum Tod führen. • Brustkorb: Der Brustkorb ist Teil der Vitalfunktion Atmung. Rippenbrüche können zu gravierenden Verletzungen innerer Organe führen. Zu großer äußerer Druck auf den Brustkorb während der Ausatemphase verhindert erneutes einatmen. Es besteht die Gefahr der Fehlhaltungserstickung. • Abdomen: Zu starker und schneller Druck auf das Abdomen kann zu bedrohlichen Verletzungen und Blutungen innerer Organe führen. • Genitalien: Sowohl die männlichen als auch die weiblichen Geschlechtsorgane sind leicht verletzlich. Speziell bei Männern können Verletzungen zu Blutungen und langfristigen Schädigungen bis hin zur dauerhaften Zeugungsunfähigkeit führen. Jeder „Angriff’ der Genitalien stellt zudem eine Schamverletzung dar. • Augen: Die menschlichen Augen sind äußerst verletzliche Weichteile. Gewaltsame Schädigungen führen leicht zu irreparablen Verletzungen bis hin zum bleibendem Verlust des Augenlichts. • Halswirbelsäule: Ruckartige Drehbewegungen des Kopfes sind zu vermeiden, da sie zu Frakturen der Wirbelkörper führen können. Im Wölbitsch Mario Mai 2004 54 Extremfall kommt es zum sog. Genickbruch. Unvermittelte und heftige Schleuderbewegungen des Kopfes führen zum HWS-Schleuder-Trauma. 8.4 Eigentliche Fixierung • „Alles“ für die Fixierung vorbereiten (Betthöhe, Umfeld, Gurte, Medikation....). • Möglichst viele Helfer zusammenrufen (lieber zu viele als zu wenige – aber immer dem Zustand des Pat. anpassen). • Die Helfer sollen, wenn noch Zeit bleibt – Brillen, Uhren, Schmuck, Kulli´s etc. ablegen – zur Vorbeugung gegen Verletzungen von Helfern und Patienten. • Teamleader gibt Kommando - Pat. konsequent und gemeinsam festhalten, überwältigen – jeder übernimmt eine Extremität - voller Krafteinsatz – Vorsicht vor den Beinen (Tritte sind gefährlicher als Schläge!) – 1Pflegeperson fixiert, die anderen halten! • Gurte straff anziehen – Patient kann sonst „herausschlüpfen“! • Für „Bequemlichkeit“ des Patienten sorgen. 8.5 Kontrolle u. Überwachung • Fixierte Pat. dürfen keine Streichhölzer, Feuerzeuge, Messer od. andere gefährliche Gegenstände bei sich od. in Reichweite behalten! Vorsicht auch vor Glasflaschen, Gläsern, die herumstehen od. von anderen Pat. zum fixierten Patienten gebracht werden! • Rauchen nur unter Aufsicht! • Sitzwache oder Bett mit dem Pat. in Sichtweite behalten! • Bett von Wand wegstellen, aber auch Nachtkästchen etc. außer Reichweite bringen! Wölbitsch Mario Mai 2004 55 • Regelmäßige Kontrolle ob es dem Pat. gut geht, er etwas benötigt, sich beruhigt hat.... à Vitalzeichenkontrolle! • Überlegen, ob die Fixierung noch notwendig ist! 8.6 Dokumentation • Grund (genaue Beschreibung), Beginn, Ende, Umfang der Fixierung sind im Dokumentationssystem zu vermerken. • Verhalten des Pat. während der Fixierung ist im Dokumentationssystem zu beschreiben. • „Überwachungsbogen“ vor allem wenn Patienten starke sedierende Medikamente erhalten hat. Patient selbst und die Mitpatienten sollten die Gelegenheit dazu bekommen über ihre Gefühle bei einer so einschneidenden Maßnahme zu sprechen. Dies gilt auch für die Mitarbeiter, die sich überlegen sollten, ob es Alternativen gegeben hätte und welche in Frage gekommen wären. Wölbitsch Mario Mai 2004 56 9 Planung u. Durchführung der Untersuchung 9.1 Zweck der Untersuchung Ich bin nun mehr seit 1989 in der Psychiatrie am Landeskrankenhaus Rankweil in verschiedensten Positionen tätig. Gleichgültig ob als völlig unerfahrener "Praktikant", ob als diplomierte Pflegeperson, Stationsleiter od. nun als Lehrer in der Gesundheits- u. Krankenschule. Das Thema Gewalt u. Aggression war und ist dabei immer mein ständiger Begleiter gewesen. Seit nunmehr 3 Jahren unterrichte ich, als Lehrer für Gesundheits- u. Krankenpflege, das Fach "Psychiatrie Pflege", in welchem auch das Thema "Gewalt u. Aggression" behandelt wird! Dabei konnte ich immer wieder beobachten, dass die Schüler diesem Thema mit sehr großem Interesse begegneten. Immer wieder berichteten die Schüler von Situationen, in denen sie mit dieser Thematik konfrontiert wurden, sie entweder selbst Opfer von Übergriffen wurden oder aber selbst nahezu "gezwungen" waren, Gewalt u. Aggression auszuüben. Es stellten sich immer wieder die gleichen Fragen. Wie entsteht Gewalt u. Aggression? Welche Arten von Gewalt u. Aggression gibt es? Wie häufig werden Krankenpflegepersonen im Landeskrankenhaus Rankweil bzw. in anderen Psychiatrischen Einrichtungen "Opfer" von aggressiven Übergriffen der Patienten? Kommt es zu Verletzungen? Sind die Pflegepersonen der verschiedenen Abteilungen (Psychiatrie, Neurologie, Gerontopsychiatrie) in selben Maße davon betroffen od. gibt es Unterschiede? Wie sieht es eigentlich mit psychischer Gewalt aus? Wie ist die psychische Belastung für Pflegepersonen wenn Sie "laufend" beschimpft, bedroht werden? Welche Möglichkeiten gibt es, diesen Problemen entgegen zu wirken? In welcher Häufigkeit müssen Patienten zwangsmediziert, fixiert werden? Ist Gewalt u. Aggression überhaupt ein Thema auf den Stationen? Gibt es Untersuchungen zu diesen Problemen? ..... Zum Bereich Theorien, Entstehung von Gewalt u. Aggression steht ein schier unüberschaubares Angebot an Literatur zur Verfügung. Ganz anders für meinen spezielles Interessensgebiet. Zum Thema Gewalt u. Aggression in der Pflege gibt es nur sehr wenig "brauchbare" Literatur. Vor allem Wölbitsch Mario Mai 2004 57 im deutschsprachigen Raum scheint diese Thematik bis jetzt kaum das Interesse von Untersuchungen geweckt zu haben. Der überwältigende Anteil der Literatur zu diesem Themenkreis stammt aus den Vereinigten Staaten u. Großbritannien. Sehr Interessant war auch zu beobachten, dass der Bereich der psychischen Gewalt nur sehr selten bis gar nicht thematisiert bzw. erhoben wurde. Dies verwundert, da jeder, der schon einmal in der Psychiatrie tätig war, weiß, wie oft Mitarbeiter der Psychiatrie psychischer Gewalt in Form von Drohungen, Beschimpfungen etc. ausgesetzt sind. Das Interesse an diesen u. weiteren Fragen, sowie die Tatsache, dass es dazu im deutschsprachigen Raum nur sehr wenige Untersuchungen gibt, haben mich schließlich dazu bewegt, diese Untersuchung durchzuführen. 9.2 Entstehung der Hypothesen Das Landeskrankenhaus Rankweil ist eine Sonderkrankenanstalt (Psychiatrie) und hat das gesamte Bundesland Vorarlberg zu versorgen. (ca. 350 000 Einwohner). Das Krankenhaus gliedert sich in 3 große Bereiche: • Psychiatrie - Versorgung von Jugendlichen und Erwachsenen ab einem Alter von 14 bis ca. 60/65 Jahren. • Gerontopsychiatrie - Versorgung von Menschen ab einem Alter von ca. 65 Jahren. • Neurologie - (ohne Neurochirurgie), dabei werden Menschen aller Altersgruppen betreut. Die verschiedenen Abteilungen unterscheiden sich ganz wesentlich. Die Psychiatrie ist geprägt durch Menschen in absoluten Krisensituationen (Intoxikationen mit legalen u. illegalen Drogen, sexueller Missbrauch, Psychosen aller Art, Persönlichkeitsstörungen......). Auf Grund meiner Erfahrungen vermute ich hier die höchste Anzahl von Übergriffen. Vorstellbar ist auch, dass es hier zu den "intensivsten" Auseinandersetzungen (akute Aggressionsdurchbrüche, Zwangsmedikationen, Fixierungen...) kommen dürfte. Wölbitsch Mario Mai 2004 58 In der Gerontopsychiatrie stellt vermutlich die Patientengruppe der "dementen" Menschen das größte Problem dar. Was in den Köpfen von alten verwirrten Menschen vor sich geht, ist oft auch für erfahrene Pflegepersonen nur sehr schwer nachvollziehbar. Häufig kommt es deshalb zu "Missverständnissen", da der alte Mensch nicht weiß, was mit ihm passiert, was man von ihm will. Fühlen sie sich in die Enge getrieben, reagieren sie mit Aggressionen, schlagen um sich. Meine Vermutung in diesem Bereich geht in die Richtung von häufigen, eher „leichten“ körperlichen Aggressionen gegenüber von Pflegepersonen. Die Neurologie stellt für mich das große Fragezeichen dar. Hier ist der Unterschied zu Stationen der Allgemeinmedizin nur sehr gering bis gar nicht vorhanden. Gerade deshalb ist es auch für mich spannend zu sehen, wie sich das Verhältnis der Übergriffe zur Psychiatrie und Gerontopsychiatrie darstellt. Für mich ist anzunehmen, dass es hier zu den geringsten Übergriffen kommen wird. Aus den oben genannten Gründen leite ich folgende Hypothese ab: Ø Pflegepersonen der Psychiatrie werden häufiger „Opfer“ von gewalttätigen Übergriffen als ihre Berufskollegen aus den Bereichen Gerontopsychiatrie u. Neurologie! Die zweite Hypothese richtet das Augenmerk auf den geschlechtlichen Unterschied der betroffenen Pflegepersonen. Hier gehe ich davon aus, wieder bezogen auf meine praktischen Erfahrungen, dass Frauen häufiger zum Opfer von Übergriffen werden als Männer. Deshalb lautet meine Hypothese: Ø Weibliche Pflegepersonen werden häufiger zum Opfer von gewalttätigen Übergriffen von Patienten als ihre männlichen Kollegen. Wölbitsch Mario Mai 2004 59 9.3 Untersuchungsmethode Ich habe mich für eine quantitative Studie mittels Fragebogen entschieden. Der Fragebogen bestand aus 29 Fragen. Bei seiner Erstellung wurde darauf geachtet, dass dieser möglichst einfach und schnell zu bearbeiten ist. Zum überwiegenden Teil wurden die Fragen nominalskaliert (26, mit div. Untergruppen). Zusätzlich wurden 12 offene Fragen gestellt. Diese wurden kategorisiert u. der Auswertung zugefügt. Ø Mit Ausnahme der Rehabilitationseinrichtungen (Haus 4 u. Wohnstation 1 = Wohngemeinschaften) und der Intensivstation (O1) wurden alle Stationen (Gesamt 15 Stationen) des Landeskrankenhauses Rankweil in die Untersuchung miteinbezogen. 9.4 Ablauf der Untersuchung u. Pretest Der Pflegedirektor u. der Chefarzt des Landeskrankenhauses Rankweil wurden von mir in einem persönlichen Gespräch über die Untersuchung informiert. Nach deren Zusage wurden die Stationsleiter im Rahmen der Stationsleitersitzung (Anwesenheit aller Stationsleiter – alle 14 Tage stattfindend) über die Untersuchung in Kenntnis gesetzt. Für den Pretest wurden alle Stationsleitungen sowie die Pflegedirektion (insgesamt 25 Personen) ausgewählt. Die Auswertung des Pretests ergab keine gravierende Mängel des Fragebogens. Lediglich einige „kleinere“ Veränderungen (Leerzeile bei dem Item „Unterbringung nach § ...“ u. einige Ergänzungen beim Item „psychische Übergriffe“) mussten durchgeführt werden. Die Beobachtungsdauer ging über einen Zeitraum von 9 Wochen (01.03. bis 02.05.2004). In dieser Zeit sollte jeder Patientenübergriff (psychisch u. physisch) der aufgetreten ist, von der (den) jeweils betroffenen Pflegeperson(en) an Hand der Fragebögen dokumentiert und an mich weitergeleitet werden. Das heißt aber auch, dass von einem „Übergriff“ auch mehrere Pflegepersonen betroffen sein können, also mehr Fragebögen zur Auswertung kommen können, als es von einer Wölbitsch Mario Mai 2004 60 Person Übergriffe gegeben hat. Bis zum Ablauf der Frist wurden schließlich 96 Fragebögen (= Übergriffe) retour gesandt. 9.5 Auswertung und Ergebnisse Die statistische Auswertung Computerprogramm SPSS, der gesamten Version 11.0, Daten die erfolgte grafische mit dem Darstellung der Mehrfachantworten mittels Excel. 9.5.1 Demographische Daten Pflegepersonen 9.5.1.1 Geschlecht / Alter N = 96 60 55 52 50 45 44 40 35 30 25 20 15 10 Count 5 0 männlich weiblich Von den Übergriffen waren 52 Männer (54,2%) u. 44 Frauen (45,8%) betroffen. N = 96 45 40 40 35 30 32 25 24 20 15 10 Count 5 0 20 - 30 31 - 40 41 - 56 Bezüglich Alter wurden 3 Kategorien erstellt. Pflegepersonen im Alter von 31 bis 40 Jahren wurden zu 40 % , Personen im Alter von 20 bis 30 Jahren zu 32% u. Personen im Alter von 41 bis 56 Jahren zu 24% zum Opfer von Übergriffen. Wölbitsch Mario Mai 2004 61 9.5.1.2 Berufserfahrenheit N = 96 80 70 71 60 50 40 30 20 Count 10 9 8 6 0 Missing 1-2 Jahre weniger als 1 Jahr mehr als 4 Jahre 3-4 Jahre 71 von 96 betroffenen Pflegepersonen sind seit mehr als 4 Jahren mit abgeschlossener Ausbildung in der Psychiatrie tätig. Dieser sehr hohe Anteil von „langjährigen“ Mitarbeitern lässt sich damit erklären, dass im LKH Rankweil generell eine geringe Mitarbeiter-Fluktuation besteht u. zudem auf der Station E1, auf der die überwiegende Anzahl der Übergriffe erfolgte, ein Pflegeteam aus erfahrenen („langgedienten“) Personen besteht. 9.5.1.3 Berufszugehörigkeit N = 96 100 95 90 85 88 80 75 70 65 60 55 50 45 40 35 30 25 20 Count 15 10 5 0 5 Psych.Dipl. Pflegehelfer Schüler OK 89 Personen (92,7%) zählten zur Berufsgruppe der „psychiatrischen diplomierten Pflegepersonen“. 5 Personen (5,2%) zur Berufsgruppe der Pflegehelfer u. 2 Personen (2,1%) zur Gruppe der Gesundheits- u. Krankenpflege-Schüler. Die geringe Anzahl der Schüler lässt sich damit erklären, dass während des Beobachtungszeitraumes lediglich „die Schüler des 3 Ausbildungsjahres“ im Praktikumseinsatz standen, u. dies auch nur für einen Zeitraum von 2 Wochen. Wölbitsch Mario Mai 2004 62 9.5.2 Demographische Daten Patienten 9.5.2.1 Geschlecht N = 96 60 53 50 43 40 30 20 Count 10 0 männlich weiblich 55,2% (53 Personen) der „aggressionsausübenden“ Personen waren männlich. 44,8% (43 Personen) weiblich. Sehr interessant ist für mich die Tatsache, dass diese Zahlen fast identisch sind mit denen der „Opfer“. Dort wurden zu 54,2% Männer u. zu 45,8% Frauen erfasst. (vgl. Kapitel 9.5.1.1) 9.5.2.2 Alter N = 96 40 30 29 29 20 20 Count 10 7 6 0 15-20 21-30 31-40 41-64 65-88 Mit jeweils 30,2% waren die 21-30 u. 41-64 Jährigen die am häufigsten vertretene Altersgruppe. 6 Personen waren im Alter von 15-20 Jahren (6,3%) zu finden. Den kleinsten Anteil stellten die Altersgruppen 15-20 Jahre (6,3%) u. 65-68 Jahren (7,3%) dar. Wölbitsch Mario Mai 2004 63 9.5.2.3 Familienstand N = 96 90 80 78 70 60 50 40 30 Percent 20 14 10 0 Single verheiratet geschieden verwitwet Mit 78,1% (= 75 Personen) stellte die Gruppe der zur Zeit als Single lebenden Personen die mit Abstand größte Gruppe dar! 13,5% (=13 Personen) der Personen waren verheiratet. Richter ist in seiner Untersuchung (Richter, 1999, S.106) zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen (ledig = 68%). 9.5.2.4 Diagnosen (ICD 10) N = 96 40 35 36 30 25 20 18 17 15 Count 10 5 11 10 7 5 5 0 f0- f20f10- f40f30- sonstige f60- Miss Bezüglich der Diagnosen bei den einzelnen Übergriffen gab es folgendes Ergebnis: - 37,5% (36x) der Diagnosen waren der Gruppe der „Schizophrenie, schizotypen u. wahnhaften Störungen“ zuzuordnen (ICD F20 – F29). Davon wurden 19 Fälle der Diagnose „Schizoaffektive Störungen“ u. 11 Fälle der Diagnose „Schizophrenie“ zugeordnet. Wölbitsch Mario Mai 2004 64 - 18,8% (18x) der Diagnosen waren der Gruppe „Psychische u. Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ zuzuordnen (ICD F10 – F19). - 10,5% (11x) der Diagnosen waren der Gruppe der „Affektiven Störungen“ zuzuordnen (ICD F10 – F19). - Die restlichen 30,3% (27x) teilten sich hauptsächlich auf die Diagnosen „Organische, einschließlich psychischer Störungen (F00 – F09), Neurotische, Belastungs- u. somatoforme Störungen (F40 – F48), Persönlichkeits- u. Verhaltensstörungen (F60 – F69)“ auf. - Bei 4,2% (4x) der Fragebögen wurde keine Diagnose angeführt. Dass die Schizophrenie, schizotypen u. wahnhaften Störungen im Spitzenfeld dieser Auswertung liegen, überrascht wenig. Auch in den von mir zum Vergleich herangezogenen Studien von Richter u. Steinert (Steinert et. al, 1991; Richter, 1999) waren die Häufigkeiten sehr ähnlich. Die ausgesprochen geringe Zahl von Übergriffen (1x) durch Menschen mit geistiger Behinderung lässt sich dadurch erklären, dass im Land Vorarlberg diese Patientengruppe von der Psychiatrie ausgegliedert wurde. 9.5.2.5 Aufenthaltsdauer N = 96 50 45 40 30 20 22 20 10 9 Count 0 weniger als 3 T age 4-7 Tage 8-14 T. länger als 14T. Hier zeigt sich, dass 46,9% der Übergriffe nach einem Aufenthalt von 14 Tagen stattgefunden hat (= 45 Übergriffe ). Dies hat mich doch einigermaßen erstaunt, da die Aufenthaltsdauer im Landeskrankenhaus in den letzten Jahren doch erheblich gesunken ist. Wölbitsch Mario Mai 2004 65 In den ersten 3 Tagen wurden 22,9% der Übergriffe festgestellt. Wenn man bedenkt, dass 54,2% aller erfassten Übergriffe auf der Station e1 stattgefunden haben, so verwundert diese Zahl ein wenig. Hier wäre doch zu erwarten gewesen, dass die Zahl der Übergriffe deutlich höher gewesen wäre. Betrachtet man allerdings die ersten 7 Tage zusammen, so stellt man fest, dass immerhin 43,7% der Übergriffe in diesem Zeitraum stattgefunden haben. Für mich doch ein Zeichen, dass zu Beginn der Behandlung ein hohes Risiko für Übergriffe besteht. In den Studien von Richter (vgl. Richter, D., 1999 S. 111) u. Steinert (vgl. Steinert et. al, 1991 S.152) wurden ebenfalls in den ersten 7 Tagen (32% bzw. 28%) ein erhöhtes Risiko für Übergriffe festgestellt. 9.5.2.6 Ausgangsregelung / Unterbringung (UBG) N = 96 N = 96 100 60 50 53 80 80 40 60 30 40 20 18 20 10 16 4 0 kein Ausgang reglementierter Ausg nur in Begleitung freier Ausgang Count Count 10 0 UBG gegen Willen freiwillig Von den 76 erfassten Personen hatten 55,2% (53 Personen) keinen Ausgang. Zusätzlich wurde bei 29,2% (28 Personen) der Ausgang reglementiert (bestimmte Zeiten, Orte...) bzw. hatten die Personen „nur in Begleitung“ Ausgang. Lediglich 4,2% (4 Personen) hatten „freien Ausgang“. Bei 11 Personen wurde keine Ausgangsregelung angegeben. 83,3% (80 Personen) waren gegen ihren Willen untergebracht. Lediglich 16,7% (16 Patienten) waren freiwillig zur Behandlung im Landeskrankenhaus Rankweil. Dies erklärt vielleicht auch die hohe Zahl der reglementierten, eingeschränkten od. gar nicht vorhandenen Ausgängen. Immerhin besteht bei untergebrachten Personen neben einer (schweren) Wölbitsch Mario Mai 2004 66 psychiatrischen Erkrankung auch immer eine Selbst- u. oder Fremdgefährdung. Das Ärzte- Pflegeteam überlegt sich also sehr gut, ob eine „untergebrachte Person“ schon Ausgang haben kann od. eben nicht. 9.5.3 Zeitpunkt der Übergriffe 9.5.3.1 Übergriffe je Kalenderwoche N = 96 25 20 15 10 Count 5 0 kw11 kw13 kw12 kw 15 kw14 kw17 kw16 kw19 kw18 Hier ging es darum, festzustellen, wie sich die erfassten Übergriffe auf den Beobachtungszeitraum „aufgeteilt“ haben. Um eine bessere Übersicht zu gewährleisten wurden die Übergriffe „in Kalenderwochen“ (KW) erfasst. Hier ist interessant zu beobachten, dass zu Beginn der Untersuchung mit Abstand die wenigsten Übergriffe stattgefunden haben (2 Übergriffe = 2,1%). Da die Einführung u. die Mitarbeit der Pflegepersonen sehr gut war, kann ich mir diese geringe Zahl eigentlich nicht erklären, bzw. handelt es sich hierbei vielleicht wirklich um einen „Ausreißer“. In der KW 12 u. 14 haben die meisten Übergriffe, nämlich 22,9% (22 Übergriffe) bzw. 20,8% (20 Übergriffe) stattgefunden. In den KW 13, 15, 16 u. 18 sind nahezu identische Häufungen der Übergriffe zwischen 9,4% u. 11,5% (= 9-11 Übergriffe) zu beobachten gewesen. Wölbitsch Mario Mai 2004 67 Um eine wirklich repräsentative Aussage machen zu können hätte der Beobachtungszeitraum verlängert werden müssen, sind doch sehr starke Schwankungen bezüglich Aufnahmezahlen etc. zu verzeichnen. 9.5.3.2 Übergriffe Tagdienst / Nachtdienst N = 96 60 59 50 40 Count 37 30 TD ND 61,5% der Übergriffe ( = 59x) haben während des Tagdienstes stattgefunden. Überraschend war allerdings, dass immerhin 37,3% der Übergriffe ( = 36x) im ND erfolgten. Sowohl im Tag- wie auch Nachtdienst konnten keine nennenswerten Häufungen zu bestimmten Uhrzeiten festgestellt werden. Wölbitsch Mario Mai 2004 68 9.5.4 Häufigkeit, Anzahl nach Stationen N = 96 80 76 70 60 50 40 30 Count 20 10 10 8 0 Missing Neurologie Psychiatrie Gerontopsych. Auf die einzelnen Fachbereiche aufgeteilt, entfielen 76 Übergriffe (79,2%) auf den Bereich der Psychiatrie. 10 Übergriffe auf die Gerontopsychiatrie (10,4%) u. 8 Übergriffe (8,3%) auf die Neurologie. N = 96 55 50 45 40 35 30 25 20 15 Count 10 5 0 e1 e3 o4 n2 e4 wst1 u1 n3 j1 miss n4 f1 m2 Bei den psychiatrischen Stationen vielen wiederum nicht weniger als 54,2 % (52 Übergriffe) auf die Station E1. Es sind dort nicht nur die mit Abstand am meisten Übergriffe der Psychiatrie festzustellen. Vielmehr konnten dort mehr Übergriffe verzeichnet werden als auf allen anderen Stationen zusammen! (42 Übergriffe = 43,7%). Bei 2 Übergriffen blieb die Station unbekannt. Vorstellbar ist dies dadurch, dass der überwiegende Teil der „psychiatrischen“ Neuaufnahmen durch die Station E1 vollzogen wird. Vor allem aber jene Wölbitsch Mario Mai 2004 69 Patienten, die in erster Linie eine „akute psychiatrische“ Versorgung benötigen (= psychiatrischer Notfall). 9.5.5 Verhalten vor dem Übergriff 9.5.5.1 Anamnese / Biographie Waren aggressive Verhaltensweisen aus der Anamnese bekannt? N = 96 100 80 82 60 40 Count 20 12 0 ja nein Bei 85,4% (= 82x) aller Übergriffe war gewalttätiges, aggressives Verhalten aus der Anamnese bekannt. Es scheint sich auch hier die Aussage von Jones (Jones 1995; zitiert nach Richter, D. & Sauter, D. 1998, S.124) zu bestätigen, dass bereits „früher durchgeführte Aggressionen“ der verlässlichste Prädiktor für „folgende gewalttätige Übergriffe“ sind. (vgl. Kapitel 6.2) Wölbitsch Mario Mai 2004 70 9.5.5.2 Fehlverhalten des Patienten Konnte im Vorfeld des Übergriffes Fehlverhalten des Patienten beobachtet werden? N = 96 60 58 50 40 38 30 20 Count 10 0 ja nein Bei 60,4% der Übergriffe konnte im Vorfeld des Übergriffes Fehlverhalten der Patienten festgestellt werden. Dies ist wie schon im Kapitel 6.2. angemerkt, keine sonderliche Überraschung. Ging dem Vorfall ein Konflikt (anderen Pat., Pflege ...) voraus? N = 96 60 52 50 40 40 30 20 Count 10 3 0 ja nein nicht bekannt Hier konnte immerhin noch bei 41,7% (40x) der Übergriffe ein Konflikt im Vorfeld eruiert werden. Bei entsprechender Analyse der jeweiligen Situation könnte dies bei der Einschätzung von aggressiven Personen durchaus hilfreich sein. Welches „Fehlverhalten“ war vor dem Übergriff beobachtbar? Wölbitsch Mario Mai 2004 71 Diese offen formulierte Frage wurde nach Rücklauf aller Fragebögen kategorisiert u. in die SPSS Datenmaske eingegeben. Hier waren Mehrfachantworten möglich. 56 Personen machten insgesamt 100 Angaben. Group $F3NEU mehrfachf3neu (Value tabulated = 1) F13N1 F13PROVO F13VERBD F13GEWDI F13ANGST F13UNRUH F13GESPA F13DROHU F13SONST 10 10,0 3 3,0 17 17,0 9 9,0 4 4,0 23 23,0 13 13,0 5 5,0 16 16,0 ------- ----100 100,0 Total responses 17,9 5,4 30,4 16,1 7,1 41,1 23,2 8,9 28,6 ----178,6 30 N = 96 25 23 20 17 15 16 13 10 Count 10 9 5 3 0 4 5 es tig en ng ns ärd mu so b m e i St hg ro nte ität D s an vo sp er ge e N n, uh at. che P Sa nr U d. e n t gs ege ., B An lt g ung a a h rh e ro ew G le D es V d a ie rb en re ve zier sch , o ov en pr erd w ut la Zu 23% wurde Unruhe u. Nervosität angegeben. 17% der Patienten äußerten verbale Drohungen, Beschimpfungen u. 10% wurden im Gespräch laut bzw. fingen an zu schreien. In 13% der Fälle wurde eine „gespannte Stimmung“ angegeben. Darunter wurden Begriffe wie „gereizt u. gespanntes Zustandsbild, unterschwellig gereizt, Patient wirkt massiv gespannt“, etc. angegeben. 9.5.6 Ist-Zustand / Gegebenheiten zur Zeit des Übergriffs Wölbitsch Mario Mai 2004 72 9.5.6.1 Personalstand Überbelegung mit Patienten / Personalstand zur Zeit des Übergriffes? N = 96 100 84 80 60 40 Count 20 11 0 ja nein Hier scheinen die Resultate eindeutig. In 87,5% (= 84 Übergriffe) der Fälle war die Station zum Zeitpunkt des Übergriffes nicht überbelegt. N = 96 100 90 80 80 70 60 50 40 30 20 Count 10 13 0 überb ese tzt unt erbes etzt Stan dard bes etz ung Außerdem waren die Stationen in 83,3% (= 80 Übergriffe) der Fälle ausreichend, sprich mit der vorgegebenen Anzahl von Pflegepersonen besetzt (= Standardbesetzung). Nur in 13,5% der Fälle waren die Stationen unterbesetzt. Das heißt aber dennoch, dass jeder 8 Übergriff auf Stationen mit Unterbesetzung stattgefunden hat. Wölbitsch Mario Mai 2004 73 9.5.6.2 Zusammenhang mit pflegerischer Tätigkeit Stand der Übergriff in einer direkten Zusammenhang mit einer pflegerischen Tätigkeit? Und wenn ja, welche? N = 96 60 56 54 52 48 44 42 40 36 32 28 24 20 16 12 Count 8 4 0 ja nein 54 (56,3%) Pflegepersonen gaben an, dass der Übergriff mit einer direkten pflegerischen Tätigkeit zusammenhing. N = 96 20 17 15 13 10 9 6 5 Count 5 2 0 Blutabn.,Infus. Vitalz-Ko. Aufn., Gespräch Medieinnahme GP-Körperpfl. sonstiges Bei der offen gestellte Zusatzfrage: „Wenn ja, wie?“ wurden 52 Angaben gemacht. Dabei bestand in 24,7% der Fälle die direkte pflegerische Tätigkeit in der Verabreichung bzw. Kontrolle von Infusionen u. Blutabnahmen. In 33,6% der Fälle wurden grundpflegerische Tätigkeiten wie z.B. Körperpflege, Nagel- u. Mundpflege, Lagerungen etc. durchgeführt. Gespräche machten immerhin noch 17% aus und 11% der Fälle standen in Zusammenhang mit der Verabreichung, Aufforderung zur Medikamenteneinnahme. Wölbitsch Mario Mai 2004 74 9.5.6.3 Bezugsperson / Tagesbezugsperson Waren Sie die Bezugsperson / Tagesbezugsperson des betreffenden Patienten? N = 96 55 50 51 45 43 40 35 30 25 20 15 Count 10 5 0 ja nein In 53,1% der Fälle (51x) wurde die Bezugsperson2 zum „Opfer“ des Übergriffs. Vielleicht lässt sich die hohe Zahl der „Nicht-Bezugspersonen“ damit erklären, dass, wie schon erwähnt, 38% der Übergriffe im Nachtdienst erfolgt sind. 9.5.7 Prävention Wäre der Übergriff aus Ihrer Sicht zu verhindern gewesen? Wenn ja, wie? Wenn nein, warum nicht? Mehrfachantworten möglich! N = 96 90 85 84 80 87,5% (= 84 Personen) aller 75 „betroffenen 70 65 60 Pflegepersonen“ waren der Meinung, dass der 55 50 Übergriff 45 nicht zu verhindern 40 gewesen wäre. 35 30 25 20 Count 15 10 12 5 0 ja nein 2 Bezugspersonenpflege: Wird im gesamten LKH Rankweil durchgeführt. 1 Pflegeperson (= Bezugsperson) ist für 3-4 Patienten zuständig. Von der Aufnahme bis zu Entlassung. Ist die Bezugsperson nicht anwesend, wird eine Tagesbezugsperson eingeteilt, die die Pflege im Sinne der Bezugsperson durchführt. Wölbitsch Mario Mai 2004 75 N = 96 40 35 30 25 20 15 10 5 0 nt en Pa t. rk ve u Sit n n es tio tig nte ika x ns tie o o t a s In sP de en t l a erh on ati sV ste us w e B Die Auswertung der offenen Fragestellung gestaltete sich als schwierig, da viele Pflegepersonen Angaben machten, die nicht verwertbar waren (z. B. benötigte Unterstützung durch Pflegepersonen, Indikation für Tätigkeit gegeben usw.) Als wichtigste Aussagen wurden schließlich folgende Kategorien gebildet. Je 16 Personen (16,7%) waren der Meinung, dass der Überbegriff nicht vorhersehbar bzw. der Patient nicht zugänglich, korrigierbar gewesen ist und in 5,2% (5 Personen) der Fälle war der Patient intoxikiert (alle mit Alkohol). 34 Personen (35,4%) haben zu dieser Frage keine Angaben gemacht. Wölbitsch Mario Mai 2004 76 9.5.8 Folgen für Patienten u. Pflegepersonen 9.5.8.1 Art der physischen, (körperlichen) Aggressionen Welcher Art von physischer, (körperlicher) Aggression waren Sie ausgesetzt? Mehrfachantworten möglich! 40 Körperliche Aggression 35 30 25 20 15 10 5 0 N = 96 Schläge (Hand) Kratzen Tritte Bisse Festkrallen Spucken bew erfen m. Gegenständ. 51 Personen haben zu dieser Frage 95 Angaben gemacht. Zu 38,9% wurden die Pflegepersonen Opfer von Schlägen, zu 23% von Tritten u. in 12,6% der Fälle wurden die Betroffenen bespuckt. Zusätzlich bestand noch die Möglichkeit andere Formen körperlicher Aggression anzuführen. Dies wurde von 4 Personen wahrgenommen (3x stoßen, wegstoßen u. 1x Schlagen mit Hosengürtel). Wölbitsch Mario Mai 2004 77 9.5.8.2 Art der psychischen Aggressionen Welcher Art von psychischer Aggression waren Sie ausgesetzt? Psychische Aggression 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Ein. bed. B eschimpfungen Kö rperhaltungen verbale A ndro hung v. Gew. Lächerlich machen B edro hung m. Gegesnst. A bwertende Gesten A nspiel. auf Sexualität Auch hier waren Mehrfachantworten möglich. 83 Pflegepersonen machten 233 Angaben. Group $F11 Mehrfachf11 (Value tabulated = 1) of Dichotomy label Pct of Pct of Count Responses Cases Name F11BEDKÖ F11BESCH F11DROGE F11LÄCHE F11BEDGE F11ABWGE F11SEXUA Total responses 46 19,7 55,4 68 29,2 81,9 43 18,5 51,8 24 10,3 28,9 5 2,1 6,0 36 15,5 43,4 11 4,7 13,3 ------- ----- ----233 100,0 280,7 13 missing cases; 83 valid cases Wölbitsch Mario Mai 2004 78 In 29,2% der Fälle wurden die Pflegepersonen zum Opfer von Beschimpfungen, zu 19,7% kam es zur Einnahme bedrohlicher Körperhaltungen durch die Patienten und zu 18,5% kam es zur verbalen Androhung von Gewalt. 9.5.8.3 Auswirkungen, Folgen für Pflegepersonen Körperliche Folgen des Übergriffes für die Pflegepersonen N = 96 100 90 80 70 60 50 40 30 Count 20 10 0 Keine Folgen Hämatome, Kratzer Hämatome Prellungen Kratzer Hier bleibt festzustellen dass die Übergriffe zu 88% keine (sichtbaren) körperlichen Folgen für die betroffenen Pflegepersonen hatte. 2 Personen erlitten jeweils Hämatome u. Kratzer, 3 Personen gleichzeitig Hämatome u. Kratzer u. 2 Personen Prellungen. Bei je einer Person kam es zu Beschädigungen, einmal der Brille u. einmal der Kleidung. Wölbitsch Mario Mai 2004 79 Psychische Folgen für die Pflegepersonen! Mehrfachantworten möglich! 25 20 15 10 5 s es Str Zo rn Ag gre ssi on ng nu Wu t Ab leh ss Ha eit en h ck ho Nie de rge sch lag Sc he rhe it Un sic An gs t 0 Hier wurden von 71 Personen 130 Angaben gemacht. Die wichtigsten Auswirkungen, die die Übergriffe auslösten, waren: - Aggressive Gefühle bei 15,4% - Angst bei 14,6% - Unsicherheit bei 14,6% - Wut bei 13,1% - Ablehnung bei 11,5% der Fälle. Wenn man bedenkt, dass rund 74% aller betroffener Personen psychische Folgen angeben, sollte man sich gut überlegen, wie mit dieser Problematik umgegangen wird. Das die psychische Belastung mindestens den gleichen Stellenwert einnehmen sollte bzw. sogar müsste wie die physische Belastung, kann jeder, der schon einmal (bzw. öfters) zum Opfer geworden ist, gerade in der Psychiatrie, nur bestätigen. Die psychische Belastung im psychiatrischen Alltag lässt sich mit dieser Auswertung natürlich nicht repräsentativ darstellen, allerdings wäre es einen Gedanken wert, sich intensiver mit diesem Themenbereich auseinander zu setzen. Wölbitsch Mario Mai 2004 80 9.5.8.4 Auswirkung auf die Dienstzeit 70 67 65 60 55 50 45 40 35 30 Count 29 25 20 Keine Angaben Dienst regul. beend. 69,8% (67 Personen) aller betroffenen Pflegepersonen haben Ihren Dienst „regulär beendet“. 30,2% haben keine Angaben gemacht. 9.5.8.5 Bewältigung Wie wurde der Übergriff von den betroffenen Pflegepersonen verarbeitet? N = 96 50 45 45 40 35 30 25 24 20 15 14 Count 10 5 5 3 0 p es G t n tn r Pa t rz de nd lA at St am rz un am re .A m .F m Te d. en w ot eu Fr tn am im Te p. es G p. es G p. es G ch ni Te p. p. es G es G Für 25% der Betroffenen bestand scheinbar kein Bedarf, den Übergriff zu verarbeiten. 70,8% der Betroffenen haben allerdings nach Möglichkeiten der Wölbitsch Mario Mai 2004 81 Verarbeitung gesucht u. auch gefunden. Dabei scheint das Gespräch im Team mit 46,9% die wichtigste Form der Verarbeitung zu sein. Obwohl es sich bei dieser Erhebung doch um weitgehend „milde Ausprägungen von Gewalt u. Aggression“ zu handeln scheint, haben doch 70% der Betroffenen das Bedürfnis nach Verarbeitung des Übergriffs wahrgenommen. 9.5.8.6 Konsequenzen für Patienten Folgen des Übergriffs für die Patienten. Mehrfachantworten möglich. ga Zw an gs m Au s ik ed ng n at io un ie r ol Is Fi x ie ru ng g 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Mehrfachantworten. Auch hier bestand die Möglichkeit neben dem „Ankreuzen“ der nominalskalierten Items noch zusätzliche Angaben zu machen. 78 Personen machten schließlich 118 Angaben. In 35% der Fälle hatte der Übergriff für den Aggressor eine Fixierung zur Folge. In ebenfalls 35% der Fälle wurden Zwangsmedikationen verabreicht. Darunter wurden Begriffe wie Erhöhung der oralen, intramuskulären und intravenösen Medikation, aber auch Verabreichung der Reservemedikation, etc. zusammengefasst. Interessant, aber durchwegs nicht überraschend, dass es in 22% der Fälle zu einer Kombination von Fixierung u. Zwangsmedikation gekommen ist. Sehr auffällig u. für mich ein absolutes Zeichen der pflegerischen Qualität war, dass immerhin in 20% der Fälle versucht wurde, mittels Gespräch die Situation zu bearbeiten. Nimmt man noch die unter „andere pflegerische Maßnahmen“ gemachten Angaben dazu (1:1 Betreuung, engmaschige Betreuung....), belaufen sich die rein pflegerischen Interventionen auf rund 25%. Wölbitsch Mario Mai 2004 82 9.5.8.7 Verletzungsmeldung Wurde eine Verletzungsmeldung erstellt? N = 96 100 90 88 80 70 60 50 40 30 Count 20 10 8 0 miss nein Keiner der erfolgten Übergriffe wurde mittels einer Verletzungsmeldung zur Anzeige gebracht. Dies liegt sicher daran, dass es in dem Beobachtungszeitraum von 9 Wochen, zu „nur“ 8 „sichtbaren körperlichen Verletzungen“ gekommen ist, die alle durchwegs als „geringfügige“ Verletzungen bezeichnet werden können. Dem Problem der Dunkelziffer nicht gemeldeter Patientenübergriffe (vgl. Richter, 1999, S.69) kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht nachgegangen werden. Wölbitsch Mario Mai 2004 83 10 Zusammenfassung Die statistische Auswertung Computerprogramm SPSS der Version gesamten Daten 11.0, grafische die erfolgte mit Darstellung dem der Mehrfachantworten mittels Excel. Nach einem Beobachtungszeitraum von 8 Wochen konnten 97 gemeldete Übergriffe von Patienten gegenüber Pflegepersonen erfasst werden. Dies entspricht 1,7 Übergriffen pro Tag. Obwohl diese 2 Monate nicht ausreichen, um ein repräsentatives Ergebnis an den Tag zu legen, so lassen sich doch einige wichtige Tendenzen erkennen bzw. Rückschlüsse aufzeigen. Hypothesen: a. Pflegepersonen der Psychiatrie werden häufiger zum „Opfer“ von gewalttätigen Übergriffen als ihre Berufskollegen aus den Bereichen Gerontopsychiatrie u. Neurologie! b. Weibliche Pflegepersonen werden häufiger zum Opfer von gewalttätigen Übergriffen von Patienten als ihre männlichen Kollegen. Ad. a: Diese Hypothese kann eindeutig mit ja beantwortet werden. Sowohl bei den physischen Übergriffen, hier erfolgten 39 von 54 erfolgten Übergriffen (= 72%), wie auch bei den psychischen Übergriffen, hier erfolgten 67 von 82 Übergriffen (= 88%), auf psychiatrischen Stationen. (vgl. Kapitel 9.5.1.4) Ad. b: Wie schon bei Kapitel 9.5.2.1 angeführt, waren 55,2% (53 Personen) der „aggressionsausübenden“ Personen männlich u. 44,8% (43 Personen) weiblich. Umgekehrt wurden Männer zu 54,2% u. Frauen zu 45,8% zum Opfer von Übergriffen. Wölbitsch Mario Mai 2004 84 Die Hypothese „weibliche Pflegepersonen werden häufiger zum Opfer von gewalttätigen Übergriffen von Patienten als ihre männlichen Kollegen“ kann hiermit nicht bestätigt werden. Bei der Bearbeitung dieser Hypothese stellte sich mir eine weitere Frage: „Wer wird eigentlich gegenüber wem aggressiv. Neigen Männer vermehrt zu aggressivem Verhalten gegenüber Männern oder Frauen? (und natürlich umgekehrt!)“ Nach Durchführung des Chi-Quadrat-Tests nach Pearson konnte folgendes Ergebnis erarbeitet werden. Männliche Patienten führten zu 77% nur gegenüber männlichen Pflegpersonen Übergriffe durch. Weibliche Patienten führten Ihrerseits wieder zu 71% nur Übergriffe gegenüber Frauen durch. Bei dieser Untersuchung zeigten also Männer hauptsächlich gegenüber Männern u. Frauen hauptsächlich gegenüber Frauen aggressives Verhalten. SEX Crosstabulation - N = 96 F19 männlich Pflege weilbich Pflege Total Count Expected Count % within F19 % within SEX % of Total Count Expected Count % within F19 % within SEX % of Total Count Expected Count % within F19 % within SEX % of Total SEX - Patienten männlich weiblich 40 12 28,7 23,3 76,9% 23,1% 75,5% 27,9% 41,7% 12,5% 13 31 24,3 19,7 29,5% 70,5% 24,5% 72,1% 13,5% 32,3% 53 43 53,0 43,0 55,2% 44,8% 100,0% 100,0% 55,2% 44,8% Total 52 52,0 100,0% 54,2% 54,2% 44 44,0 100,0% 45,8% 45,8% 96 96,0 100,0% 100,0% 100,0% Dass 78% der erfassten Übergriffe auf das „Konto“ von „als Single lebenden Personen“ ausgeübt wurde hat mich doch einigermaßen erstaunt. Die Gründe können nicht nur auf einen allgemeinen Anstieg von „Single-Haushalten“ zurückzuführen sein. Es könnte allerdings sein, dass es sich bei einem Teil der erfassten Personen um Menschen handelt, die schon seit längerer Zeit an einer psychischen Erkrankung leiden u. dadurch häufig nicht mehr in einer stabilen Wölbitsch Mario Mai 2004 85 Beziehung leben. Sollte dies zutreffen, könnten diese, auf Grund häufigerer Aufenthalte in der Psychiatrie, auch öfters in der Statistik aufscheinen. Der hohe Anteil an psychischer Gewalt war nicht überraschend - 83 Personen berichteten über 233 erfolgte „psychische Übergriffe“. Dass Pflegepersonen allerdings Gefühle wie Aggressionen (15,4%), Angst (14,6%), Unsicherheit (14,6%), Wut (13,1%) u. Ablehnung (11,5%) in dieser Häufigkeit zum Ausdruck gebracht wurden war bemerkenswert u. zeigt für mich sehr deutlich auf, wie belastend u. meist nach außen hin nicht sichtbar, solch psychische Übergriffe auf die Pflegepersonen wirken. Wenig verwunderlich deshalb auch, dass immerhin 70% aller Betroffener Pflegepersonen versucht haben die entsprechenden Übergriffe, hauptsächlich in Gesprächen im Team (fast 50%), zu verarbeiten. 51 Personen wurden zum Opfer von körperlichen Übergriffen. Glücklicherweise hatten nur 8 Personen körperliche Folgen davon zu tragen. Da der Großteil der Übergriffe (79%) auf der Station E1 stattgefunden hat, könnte man annehmen, dass die Fachkenntnis u. Routine, die sich die Pflegepersonen auf dieser Station erworben haben, dazu geführt haben, dass es „nur“ zu dieser geringen Anzahl von körperlichen Folgen für die Pflegepersonen gekommen ist. Sehr interessant ist auch die Tatsache, dass mehr als ein Drittel aller Übergriffe (37%) im Nachtdienst stattgefunden haben. Hier muss die Belastung, neben der allgemeinen Problematik des Nachtdienstes (Umstellung Biorhythmus, alleinige Ansprechperson ...) noch wesentlich höher wirken als im Tagdienst. Dies wäre vielleicht eine eigene Untersuchung wert. Als schwierig gestaltete sich die Auswertung der Fragen zum Thema Prävention. Hier wurden von den betroffenen Pflegepersonen zur offenen Fragestellung sehr häufig nicht verwertbare Daten angegeben. Obwohl aus der Anamnese bekannt war, dass der entsprechende Patient schon einmal gewalttätiges, aggressives Verhalten (85%) gezeigt hat u. obwohl der Patient zu 60% durch Fehlverhalten im Vorfeld des Übergriffes aufgefallen ist, waren 87% der betroffenen Pflegepersonen der Meinung, dass der Übergriff nicht zu verhindern gewesen ist. Dies könnte Wölbitsch Mario Mai 2004 86 darauf hindeuten, dass die Patienten schon so schwer von ihrer Erkrankung beeinträchtig waren, dass es für sie keine andere Möglichkeit (unbewusst!) mehr gegeben hat, als ihre Interessen mit Gewalt u. Aggression durchzusetzen, oder aber, dass die Frühwarnsymptome zwar von den Pflegepersonen erkannt wurden, sie jedoch nicht in der Lage waren, Maßnahmen zur Deeskalation in adäquater Form umzusetzen. Wölbitsch Mario Mai 2004 87 11 Literaturverzeichnis Ø Berkowitz, L. (1962). Aggression. A social psychological analysis. New York : McGraw-Hill. Ø Böker, W., Häfner, H. (1973). psychiatrisch-epidemiologische Gewalttaten Untersuchung Geistesgestörter. Untersuchung Eine in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Springer. Ø Fürntratt, E. (1974). Angst und instrumentelle Aggression. Weinheim: Beltz. Ø Galtung, J. (1975). Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek: Rowohlt. Ø Lancee W.J., Gallop, R., McCay, E. & Toner, B. (1995). The Relationship Between Nurses´Limit-Setting Styles and Anger in Psychiatric Patients. Psychiatric Services, 46, 609-613. Ø Nolting, Hans-Peter (1997). Lernfall Aggression. Wie sie entsteht – wie sie zu vermindern ist. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. Ø Richter, D. (1999). Patientenübergriffe auf Mitarbeiter psychiatrischer Kliniken. Häufigkeit, Folgen, Präventionsmöglichkeiten. Freiburg: Lambertus. 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Psychiatrische Praxis, 20, 130-135 Wölbitsch Mario Mai 2004 88 12 Anhang Fragebogen (Muster) Wölbitsch Mario Mai 2004 89 Eidesstattliche Erklärung Ich erkläre, dass die vorliegende Arbeit von mir selbst erfasst wurde und dass ich keine anderen als die angeführten Behelfe verwendet habe. Wölbitsch Mario Mai 2004