Essay - Institut für Mathematik - Hu

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Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Philosophie
Sommersemester 2007
Seminar: Philosophie der Mathematik
Wahrscheinlichkeitstheorie(n)
- Zwischen „Gott würfelt nicht“ und „Alles ist Zufall“ -
Name:
e-Mail:
Abgabe:
Michael Stauch
[email protected]
September 2007
頴頴頴蘟蘟虒蘟
Inhalt
1. Einleitung
S. 3
2. Annäherung an „wahrscheinlich“
S. 4
3. Dichotomische Weltbilder und wahrscheinlich ein Zwischenglied
S. 5
4. Wittgensteins Idee des Zwischengliedes
S. 8
5. Vergleich deterministischer und probabilistischer Gesetzesaussagen
S. 10
6. Schlußbemerkungen
S. 12
Quellen:
Carnap, Rudolf: Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit. Wien 1959.
Georgii, Hans-Otto: Stochastik. Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik.
Berlin 2004.
Häggström, Olle: Streifzüge durch die Wahrscheinlichkeitstheorie. Berlin 2005.
Max, Ingolf: Metasuche - Das (Er-)Finden von Zwischengliedern. Analysen zu ausgewählten
Texten von Kant, Schlick, Aristoteles und Austin. In: Philosophieren über Philosophie. Hrsg.
v. R. Raatzsch, Leipzig 1999, 241-262.
Stegmüller, Wolfgang: Personelle Wahrscheinlichkeit und rationale Entscheidungen. Berlin
1973
Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Band 1: Tractatus logicophilosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/Main
1984.
Anmerkungen:
1
bekannt unter dem „Nadelproblem des Grafen von Buffon“
2
Dieser rational allerfassende Weltgeist ist auch als „Laplacescher Dämon“ bekannt. Für viele Philosophen
stellte der Determiniertheitsaspekt einen Affront gegen den freien Willen dar.
3
Ich habe versucht durchgehend von Chaos zu reden, wenn es sich um völlige Unregelmäßigkeit handelt und
von Zufall, wenn darin eine gewisse Gesetzmäßigkeit erkennbar sein kann.
4
Wahrscheinlichkeit hier verstanden als Bestätigungsgrad, in einem mathematischen Sinne
-2-
„Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen,
sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind,
beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“
(A. Einstein, Geometrie und Erfahrung)
1. Einleitung. Einsteins mathematische Unsicherheit.
Die vorliegende Arbeit stellt eine Ausarbeitung des im Vortrag Gesagten dar und soll
verschiedene Ideen noch einmal erläutern, darstellen und eventuell klarstellen. Sie ist erneut
dem Ziel gewidmet, unseren Begriffen von „Wahrscheinlichkeit“ und „wahrscheinlich“ einen
Platz zuzuordnen in einer Gedankenwelt zwischen Determinismus und Chaos.
Das vorangestellte Einsteinzitat ist in zweierlei Hinsicht programmatisch zu verstehen: zum
einen als Problem der Philosophie der Mathematik. Inwieweit können mathematische
Ergebnisse Vorraussagen über die Wirklichkeit treffen? Auf welcher Grundlage betreiben wir
überhaupt Mathematik und woher ist sie der Prototyp von sicheren Aussagen? Zum zweiten
als Projektionsfläche des Begriffs der „Wahrscheinlichkeit“. Von welcher Art ist unsere
Sicherheit
bezüglich
stochastischer
Vorraussagen?
Können
wir
überhaupt
von
„wahrscheinlicher Sicherheit“ oder ähnlichem sprechen oder schließt sich dieses nicht schon
analytisch, auf Grund beider Wortbedeutungen aus? Selbst der Titel hat dieses Problem. Eine
Theorie versucht Zusammenhänge und Gesetze aufzustellen, sich ein Modell der Wirklichkeit
zu schaffen und daran Vorraussagen zu treffen. Doch inwieweit lassen sich Gesetze und
Zusammenhänge vorstellen, wenn von Zufall die Rede ist?
Wir stehen also vor dem Problem, wie eine Theorie des Zufälligen überhaupt möglich ist und
besonders inwieweit eine Mathematik des Wahrscheinlichen möglich sein kann, diese sich im
Einsteinschen Sinne auf die Wirklichkeit beziehen und auch noch von Sicherheit die Rede
sein kann.
Zunächst möchte ich in einem ersten Teil eine Annäherung an unsere Verwendung von
„wahrscheinlich“ versuchen und an Hand einiger Sätze den Gegenstandsbereich der
wissenschaftlichen Sprechweise von Wahrscheinlichkeit herausarbeiten. In einem weiteren
Teil möchte ich, Wahrscheinlichkeit als ein Zwischenglied von Deterministischer Weltsicht
und einem Bild der Welt, daß vom Chaos bestimmt ist, präsentieren und an Wittgensteins
Idee des Zwischengliedes anknüpfen. Schließlich soll eine Abgrenzung probabilistischer von
deterministischen Aussagen dargestellt werden.
Ziel ist also die Abgrenzung und der Vergleich vor allem mit deterministischen
Gesetzesaussagen.
Dabei
soll
ein
besonderes
Augenmerk
Zwischengliedpositionen von Wahrscheinlichkeit gelegt werden.
-3-
auf
vielerlei
2. Annäherung an „wahrscheinlich“
In mehr oder weniger Alltagssituationen verwenden wir die Begriffe „wahrscheinlich“ und
„zufällig“ auf unterschiedlichste Weise. Hier einige Beispiele:
a) „Ich werde heute wahrscheinlich zu dir kommen.“
b) „Die Person ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schuldig“
c) „Wahrscheinlich wird ein solcher Anschlag wieder passieren.“
d) „Die Wahrscheinlichkeit im Lotto zu gewinnen liegt bei etwa 1 zu 10 Millionen.“
e) „Pi kann man bestimmen, indem man zufällig Nadeln auf Parallelen fallen läßt.“ 1
Ihnen allen gemeinsam ist eine Wahrscheinlichkeitsaussage. In Satz a) wird ein persönliches
Vorhaben ausgesprochen, in dem „wahrscheinlich“ im Sinne von „vermutlich“ gebraucht
wird, falls nicht andere, nicht erwartete Umstände das Kommen verhindern. Diese
Wahrscheinlichkeit läßt sich nicht weiter quantifizieren, ist an den Sprecher und dessen
Erwartungen und situationsspezifische Einschätzung gebunden. Auch Satz b) ist
situationsgebunden. In Anbetracht der vorgebrachten Argumente und Beweise kann nicht
anders als auf schuldig plädiert werden. Sollten neue Argumente hervorgebracht werden, so
änderte sich das Urteil möglicherweise. In diesem Satz wird auch die Abgrenzung zwischen
Sicherheit und Wahrscheinlichkeit deutlich: Wahrscheinlichkeit scheint sich an Sicherheit
annähern zu können, gleichsam zwischen Unsicherheit und Sicherheit zu stehen. Satz c)
spricht von der Wiederholbarkeit eines singulären Ereignisses. Gemeint ist nicht, daß sich
genau dieses Ereignis wiederholt, sondern daß das Risiko für ähnliche Anschläge sehr hoch.
B) und c) lassen also auf einen graduellen Charakter unseres Begriffes von
Wahrscheinlichkeit schließen. Satz d) nun quantifiziert ein Wahrscheinlichkeitsurteil konkret.
Die Wahrscheinlichkeit ist in diesem Fall wiederholbar, berechenbar und mit anderen
Ergebnissen vergleichbar und letztlich dadurch überprüfbar. Diese Prüfbarkeit stellt allerdings
Probleme, die weiter unten angedeutet werden sollen. Schließlich bietet Satz e) ein Beispiel
dafür, daß der Zufall gewisse Regelmäßigkeiten ausbildet, die man sich statistisch zu Nutze
machen kann, um konkrete Ergebnisse zu erhalten.
Wir sehen also den unterschiedlichen Gebrauch von „Wahrscheinlichkeit“: zwischen
persönlich-subjektiven Erwartungen und konkret-quantifizierbaren Ergebnissen, zwischen
Kontextgebundenheit
und
wiederholbarer
Allgemeinheit,
zwischen
Sicherheit
und
Unsicherem: einer gewissen Unsicherheit.
Nähert man sich begrifflich an „wahrscheinlich“, so wird ebenfalls die Ambivalenz des
Wahrscheinlichkeitsbegriffes deutlich. Der vom Griechischen abgeleitete Begriff
-4-
Stochastik kommt von „stóchos“, dem Ziel, die Mutmaßung, „stochastikós“ bedeutet
„scharfsinnig im vermuten“ und „stocházomai“ hat die Bedeutungen erraten, erkennen,
beurteilen [vgl. Georgii S.1]. Wir haben hier wiederum ein Zwischen: Inmitten von blindem
Erraten und begründetem Erkennen- ein begründetes Erraten. Rudolf Carnap betont den mit
Wahrscheinlichkeit
häufig
verbundenen
graduellen
Charakter
durch
verschiedene
Verwendungsweisen wie Glaubens-, Überzeugungs-, Bekräftigungs-, Bestätigungs- oder
Möglichkeitsgrad. Auch werden Grad der partiellen Wahrheit und Grad der Nähe zur
absoluten Sicherheit verwendet bzw. wird von relativer Häufigkeit gesprochen [Carnap S.20].
Wir sehen also, der Wahrscheinlichkeit kommt eine graduelle Zwischenposition zu, deren
einer Pol die Sicherheit und der andere der Zufall ist. Und so ist dann auch die moderne
Stochastik, als mathematische Wissenschaft, die „Lehre von den Gesetzmäßigkeiten des
Zufalls“ [Georgii S. 1].
Dieser scheinbaren Paradoxie des Zufalls als Nichtvorhandensein von Gesetzen und den
„Gesetzmäßigkeiten des Zufalls“ soll im nächsten Teil nachgegangen werden, indem ein
deterministisches Weltbild gezeichnet werden soll, verbunden mit dem Versuch, dem ein
chaotisches Weltbild gegenüberzustellen und dort hinein ein stochastisches Bild als
Verbindungsglied zu stellen, gleichsam Wahrscheinlichkeit als Zwischenglied der beiden Pole
zu sehen.
3. Dichotomische Weltbilder und wahrscheinlich ein Zwischenglied.
Versuchen wir einmal zwei sich ausschließende und vielleicht letztlich in ihrer Striktheit nicht
explizierbar Weltbilder als Ausgangspunkt zu nehmen und zu schauen, wieweit diese
Betrachtungen führen.
Der Mathematiker Pierre Laplace schreibt 1814 im „Essai philosophique sur des
Probabilités“: „Eine Intelligenz, welche für einen Augenblick alle in der Natur wirkenden
Kräfte, sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte…nichts
würde ihr ungewiß sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen.“
[zitiert nach Häggström] Nun steckt hierin nicht ein religiöses Gottesbild, der alles lenkt und
denkt, sondern es drückt sich ein totaler Glaube an die Kraft des Verstandes aus, die
Grundsätzlichen Fähigkeiten zu besitzen, richtige Zukunftsvorraussagen zu treffen, so die
Ausgangsdaten bekannt sind. Andererseits kommt ein Weltbild zu Ausdruck, daß von klarer
Determiniertheit und zusammenhängender Gesetzmäßigkeiten zeugt. Zwar glaubte Laplace
nicht, daß der Mensch zu einem solchen allumfassenden „Weltgeist“ 2 fähig ist, doch zeigte er
-5-
selbst mit seinen Arbeiten zur Wahrscheinlichkeitstheorie, daß mindestens eine Theorie der
Wahrscheinlichkeit möglich ist und eine Annäherung an diesen eist dem beschränkten
Menschen möglich ist. Wie schaut nun aber dieses „Laplace-dämonische Weltbild“ aus, in
dem alles determiniert ist?
Die determinierte Welt ist eine der Ordnung. Es gibt klare Regeln und Gesetze nach denen
Prozesse ablaufen. Nichts kann sich außerhalb einer solchen Ordnung befinden ohne sich
gleichsam gesetzmäßig außerhalb zu befinden und somit wieder Teil der gesamten Ordnung
zu sein. Wenn nun alles nach Gesetzen abläuft, dann ist es vorbestimmt und treibt kausal, von
Ursache-Wirkungs-Stößen getrieben einem Ziel entgegen. Das Bild ist das eines
Billardtisches, auf dem einmal durch den Initialstoß in Gang gesetzt, alle Zusammenstöße und
Wirkungen der Kugeln bestimmt sind. In einer deterministischen Welt herrscht Sicherheit und
in der Ordnung ist alles aufeinander bezogen, d.h. die Dinge stehen in Relationen zueinander.
In einem solchen Bild stehen auch Wissen und Antwort, die nur möglich sind, wenn es
erkennbare Zusammenhänge gibt. Wollte man das deterministische Weltbild mit einem
Modalwort beschreiben, es wäre das der „Notwendigkeit“.
Dem gegenüber haben wir Probleme, ein chaotisches Weltbild3 überhaupt zu explizieren, ja es
scheint a priori gar nicht möglich, denn jedes Sprechen und Denken läuft nach Regeln ab,
setzt die Dinge in Bezugs- und Sinnzusammenhänge. D.h. noch bevor überhaupt ein Wort
gesprochen worden ist, muß die Welt als ein Bezugsnexus gedacht werden, gleichsam vor
dem Hintergrund einer Ordnung gedacht werden. Das macht es schwierig, ein chaotisches
Weltbild auch nur anzudeuten, außer es durch Negativbestimmungen zu verdeutlichen. In
einer chaotischen Welt herrscht Ordnungslosigkeit, es gibt keine Regeln, nach denen die
Dinge ablaufen. In einer chaotischen Welt können die Dinge zwar aufeinandertreffen, sind
aber nicht aufeinander bezogen, sie sind als solche da. Es gibt nur Unsicherheit und
Unwissen, wobei keinerlei Vorhersagen möglich sind. Mit einem chaotischen Weltbild stehen
wir also auf der Seite des Schweigens und der unbeantworteten Fragezeichen.
Mir ist sehr wohl bewußt, daß diese beiden Kontrastierungen als solche Idealisierungen und
konkret vielleicht von niemandem so gedacht werden. Ich bin jedoch davon überzeugt, daß
sie die beiden Extrempole sind, zwischen denen sich das graduelle Pendel der
Wahrscheinlichkeitsaussagen bewegt: auf der deterministischen Seite die Gewißheit und
Sicherheit und auf der anderen, der chaotischen Seite, die Ungewißheit und Unsicherheit.
Was sind nun die Charakteristika eines stochastischen Weltbildes?
Es zeichnete sich dadurch aus, daß eine gewisse Ordnung gedacht wird, in der jedoch nicht
Gesetze, sondern nur Wahrscheinlichkeiten auftreten. Diese Wahrscheinlichkeiten sind auch
-6-
auf Gesetze zu stellen, stochastische Gesetze, Häufigkeiten und Grenzwerte. Die regelnde
Konstante ist der Zufall, und seine bizarren Ordnungen. Wollte man auch hier einen
Modalbegriff finden, so wäre dies „Möglich“ und natürlich „Wahrscheinlich“. Wir sehen also,
daß ein stochastisches Weltbild in vielerlei Hinsicht ein Zwischenglied beider Extreme ist,
zwischen postiv-deterministischer Begriffsdefinitionen und seinem negativ definierten
chaotischen
Pendant bildet: zwischen Gesetz und Zufall, zwischen Gewißheit und
Ungewißheit, zwischen Sicherheit und Unsicherheit.
Bevor ich auf Wittgensteins Idee des Zwischengliedes zu sprechen komme, möchte ich einige
Quellen nennen, warum wir genötigt sein könnten, zwar ein deterministisches Weltbild zu
haben, aber doch die Idee des Zufalls und des Wahrscheinlichen ins Spiel kommt. Der
Versuch, sich dem Zufall vom Chaos aus zu nähern scheitert, denke ich, an der sprachlich
nicht vertretbaren Position des chaotischen Bildes auf Grund der Sprachimmanenten
Regelhaftigkeit.
Da wir nicht der Laplacesche Weltgeist sind, dem die Anfangsdaten das Systems bekannt sein
können, wir aber an der Idee einer durch Gesetze bestimmten Welt festhalten wollten, kann
man drei Quellen des Zufalls bestimmen: a) persönliche, d.h. epistemologische Gründe (Wir),
b) systematische (Welt) und c) technische Quellen (Wir-Welt). Unter a) sind wir nicht in der
Lage, alle notwendigen Daten zu verarbeiten, sie in einen Zusammenhang zu stellen. Unsere
Erkenntnismöglichkeiten sind beschränkt. Es könnte auch unser Verstand nicht in der Lage
sein, die komplizierten Gesetze der Welt zu verstehen und sie zu verarbeiten. Die
systematischen Quellen sind komplizierter in ein deterministisch bestimmtes Weltbild zu
integrieren. Es könnte einfach Teile geben, die nicht nach Gesetzten ablaufen, die vielmehr
inhärent eine Zufallskomponente haben (sh. Quantentheorie) und deren Beschreibung eine in
statistisch-stochastischer Sprache sein muß. Die dritte Quelle
verbindet beide anderen.
Unsere Meß- und Beschreibungsapparaturen könnten nicht vollständig, nicht richtig oder
ineffizient sein. So können unsere Apparaturen nur bis zu einer gewissen Genauigkeit messen,
unsere Computer nur eine zwar sehr hohe, aber begrenzte Anzahl von Daten und diese auch
nur gerundet verarbeiten (sh. Chaostheorie). Die Mathematischen Modelle können, da sie
Idealisierungen und eben Modelle sind, nur Teile beschreiben (sh. Mehrkörperproblem). A)
und c) sind dem Menschen als „Mängelwesen“ geschuldet. Doch erkennt man den Zufall als
Zwischenglied an, wie es Laplace in einer gewissen Weise getan hat und versucht Gesetze des
Zufalls zu finden, so lassen sich vielleicht gewisse Mängel nutzen. B) stellt andere Probleme:
die Einsteinschen Zweifel an Gottes stochastischen Würfel.
-7-
4. Wittgensteins Idee des Zwischengliedes
Die vorhergehenden
Abschnitte dienten dem Versuch
darzulegen, welche Rolle
Wahrscheinlichkeitsaussagen in einem von Gesetzen und Regeln geprägtem Weltbild haben.
Ihnen kommt ein Zwischencharakter, eine Sicherheit, die aber von Ungewißheit geprägt ist.
Der frühe Wittgenstein schreibt in seinem Tractatus: „Nur in Ermangelung an Gewißheit
gebrauchen wir die Wahrscheinlichkeit. – Wenn wir zwar eine Tatsache nicht vollkommen
kennen, wohl aber etwas über ihre Form wissen. […] Der Wahrscheinlichkeitssatz ist
gleichsam ein Auszug aus anderen Sätzen.“[TLP 5.156] Hier spricht ebenfalls etwas von dem
schwebenden Charakter heraus. Eine Wahrscheinlichkeitsaussage legt sich nicht fest, die
Gewißheit und Gesetzeskraft fehlen, doch der Form nach spricht sie eine Regel aus, kommt
ihr ein Gesetzescharakter zu. Sie sind gleichsam Schlüsse aus anderen Sätzen, begründete
Folgerungen aus Bekanntem. Sie sind ebenso Urteile, trotz der fehlenden Gewißheit, und so
kann Wittgenstein sagen: „Ein Satz kann zwar ein unvollständiges Bild einer gewissen
Sachlage sein, aber er ist immer ein vollständiges Bild.“[ebd.] In den Grenzfällen sind
Wahrscheinlichkeitssätze gewisse Sätze: „Die Gewißheit des logischen Schlusses ist ein
Grenzfall der Wahrscheinlichkeit.“[TLP 5.152] Weiter heißt es in 5.153: „Ein Satz ist sich
weder wahrscheinlich noch unwahrscheinlich. Ein Ereignis trifft ein oder es trifft nicht ein,
ein Mittelding gibt es nicht.“ Wahrscheinlichkeitsaussagen sind also Sätze der persönlichen
Überzeugung und Sicherheit, ein Grad dafür, wie sehr bestimmte Umstände für das Eintreten
des Ereignisses sprechen. Diese persönliche Überzeugung muß nicht je individuell verstanden
werden. Die mathematischen Wahrscheinlichkeiten, z.B. beim Ziehen von Kugel aus einer
Urne, geben einen allgemeinen Grad an, auf ein Eintreten eines Ereignisses zu setzen (hier
das Ziehen einer blauen Kugel z.B.), als Schluß aus dem vorhandenen Wissen (Anzahl der
verschiedenen Kugeln in der Urne, gleiches Gewicht, bekannten Naturgesetze lassen keine
Bevorzugung zu…) Schließlich muß dann sagen: „Es gibt keinen besonderen Gegenstand, der
den Wahrscheinlichkeitssätzen eigen wäre.“[TLP 5.1511] Ich ziehe eben genau eine rote
Kugel oder genau eine blaue, nicht 2/3 blau und 1/3 rot. Wahrscheinlichkeitssätze geben das
Verhältnis der anderen Überzeugungen untereinander und deren „Wahrheitsgründe“
[Wittgenstein] an.
Wir sehen also, den Wahrscheinlichkeitssätzen kommt eine Art Doppelrolle zu. Sie drücken
Ungewißheit aus, sind jedoch ihrer Form nach sichere, d.h. begründete Schlüsse aus
vorhergehendem Wissen, Überzeugungen und Gesetzen. Hier ist die Möglichkeit, sie
systematisch als Zwischenglied der beiden dichotomischen Weltbilder anzusehen.
-8-
Der späte Wittgenstein schreibt in einem kürzeren Zwischenteil der Philosophischen
Untersuchungen über Philosophie und Philosophieren allgemein. Dabei kommt er auf
Übersichtlichkeit in unserem Denken zu sprechen. „Es ist eine Hauptquelle unseres
Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. […] Die
übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die
„Zusammenhänge sehen“. Daher die Wichtigkeit des Findens und Erfindens von
Zwischengliedern.“[PU 122] Mir scheint gerade die Wahrscheinlichkeit ein solches
Zwischenglied zu sein. Wenn uns in unserem Denken Ungewißheit steckt, die der Zufall
verursacht, wir aber doch Ordnung, Regeln und wiederkehrende Häufigkeiten erkennen, so
vermittelt die Idee der Wahrscheinlichkeit gerade zwischen Gesetz und Zufall. Sie bildet die
Möglichkeit, systematisch über Zufall zu sprechen. So können wir an Hand der
Wahrscheinlichkeit „sehen“, wie im Zufälligen noch Zusammenhänge sind und sie explizit in
ein Ordnungsgeflecht einbauen und sie verstehen.4
Ingolf Max versucht an Hand verschiedener Denker ein Verständnis der Idee der
Zwischenglieder aufzuzeigen und eine Mehrdimensionalität in bestimmten Begriffen zu
klären. So kann Kants Vorgehen der Unterscheidung der Urteile in analytisch/a priori und
synthetisch/a posteriori und dem Finden der dritten, neuen Art synthetisch/a priori als
Zwischenglied gedeutet werden [vgl. Max S. 244-247]. An anderer Stelle schreibt er zu
Schlick, daß „große Begründungsversuche einer Erkenntnistheorie ‚aus der Frage nach der
Sicherheit menschlichen Wissens’ entspringen, die wiederum ‚aus dem Wunsche nach
absoluter Gewißheit der Erkenntnis’ hervorgeht.“[ebd. S 248] Ich glaube, daß sich genau
hierbei die Zwischengliedstellung der Wahrscheinlichkeit besonders gut sehen läßt.
Trennt man Sicherheit der Erkenntnis und Gewißheit im Einzelnen, so ordnen wir dem
deterministischen Bild beides zu: Sicherheit und Gewißheit. Habe ich ein Naturgesetz, so
habe ich einen sicheren Ausgang eines Experimentes und die Gewißheit, daß sich bei
mehrfacher Wiederholung, dieselben Ergebnisse aufzeigen lassen. Die Lage im chaotischen
Weltbild ist genau die Gegenteilige: Unsicherheit und Ungewißheit, wie bereits oben
beschrieben. Alles ist chaotisch und verhält sich unregelmäßig. Sichere und begründete
Vorraussagen sind nicht möglich.
Nun läßt sich jedoch mit dem Festhalten an der Ungewißheit mit einer bestimmten Sicherheit
Wahrscheinlichkeitsaussagen
charakterisieren.
Der
Schluß
auf
eine
quantifizierte
Wahrscheinlichkeit ist sicher, auf Grund bisheriger Erkenntnisse, doch der Ausgang bleibt im
einzelnen Ungewiß. Man erkennt dies auch an der Art, wie Wahrscheinlichkeitssätze
-9-
präsentiert werden. Sie scheinen als Gesetze formuliert, sprechen doch aber von Ungewißheit.
Folgendes Bild faßt die Zwischengliedidee noch einmal zusammen:
deterministisch
stochastisch
chaotisch
Sicherheit
Sicherheit
Unsicherheit
Gewißheit
Ungewißheit
Ungewißheit
Man versteht das Graduelle einer Wahrscheinlichkeitsaussage sehr gut, wenn man auf diese
Tabelle schaut. In einer deterministischen Aussage scheinen Sicherheit und Gewißheit
amalgiert zusammen zu gehören, ebenso Unsicherheit und Ungewißheit auf der anderen Seite.
Bei der stochastischen Aussage scheinen beide sich abzustoßen. Der graduelle Charakter
kommt ins Spiel, wenn man nach der Nähe zur Sicherheit und der Ferne zur Ungewißheit
fragt.
Ich denke, daß zeigt eine Möglichkeit, die Mittelrolle von Wahrscheinlichkeit zu
verdeutlichen und sich „ein Bild“ zu machen. So kann man noch weitere finden, z.B.
zwischen Gesetz und Chaos: der Zufall als gesetzmäßiges Chaos, oder zwischen regelmäßig
und regellos: bizarre Ordnung.
Der folgende Abschnitt soll das „Zwischenglied Wahrscheinlichkeit“ weiter an Hand formaler
Gesetzesaussagen verdeutlichen.
5. Vergleich deterministischer und probabilistischer Gesetzesaussagen
Deterministische Gesetze haben zumeist die Form:
(a) für alle x: (Fx Gx).
Für jedes Objekt gilt, wenn es die Eigenschaft F besitzt, dann besitzt es auch die Eigenschaft
G. So z.B. Wenn ein Gegenstand ein Metall (F) ist, dann leitet es Elektrizität (G) oder
einfacher: Alle Metalle leiten Strom. Diese Aussage ist so zu verstehen, daß alle Objekte aus
einer potentiell unendlichen Lise von Gegenständen, auch wenn wir sie heute vielleicht noch
nicht kennten die Eigenschaft G haben, falls an ihnen die Eigenschaft F festgestellt wird.
Hierin drückt sich der Zusammenhang von Gewißheit und Sicherheit aus. Aus der Sicherheit
der Aussage (a) schließen wir die Gewißheit, daß sich das nächste Objekt mit der Eigenschaft
F so verhält.
Die probabilistische Gesetzesaussage hat nun die Form:
(b) P[{x | Fx
Gx}] = r .
Sie besagt, die Wahrscheinlichkeit (P), daß ein Objekt mit der Eigenschaft F auch die
Eigenschaft G hat, den Wert r annimmt. Als Beispiel können wir nehmen: die
Wahrscheinlichkeit bei einem fairen Würfel eine gerade Zahl zu erhalten ist 1/2. Auch hierbei
-10-
geht man von einer potentiell unendlichen Liste von Würfen aus. Dabei wird das Verhältnis
der geraden Zahlen zu der Gesamtwurfzahl gerade ein Halb sein. Beide Gesetzesaussagen
reden also nicht berichtend von bisherigen Ergebnissen, sondern machen Vorraussagen.
Stegmüller behauptet dabei, daß es nicht mal davon abhängt, ab es überhaupt schon relevante
Beobachtungen gegeben hat. Bei beiden handelt es sich um Hypothesen [Stegmüller S. 135].
Bei der probabilistischen Aussage sieht man deutlich den Doppelcharakter von oben. Der
Ausgang des nächsten Versuches ist ungewiß, jedoch ist die Annäherung an das
Wahrscheinlichkeitsverhältnis sicher. Ungewißheit und Sicherheit gehen hier also einher.
Beide Gesetze sind aber ob ihrer indirekt behaupteten unendlichen Liste von Versuchen nicht
verifizierbar. Die deterministische ist jedoch falsifizierbar. Ein Objekt mit F, das nicht G ist,
macht die Aussage falsch. Das Problem der probabilistischen Aussage ist, daß sie in einem
strengen Sinne nicht falsifizierbar ist. Ich glaube, daß dies auch dem Doppelcharakter
geschuldet ist. Die Nichtfalsifizierbarkeit steckt bereits in der Ungewißheit. Der einzelne
Ausgang ist ungewiß, die Sicherheit steckt in der Gesamtliste von Versuchen. Auch hier
sehen
wir
die
wissenschaftstheoretische
Sonderstellung
bzw.
Mittelstellung
von
Wahrscheinlichkeitsaussagen.
Natürlich wirft der obige Versuch der Deutung als Zwischenglied Probleme auf. Zum einen
ist nicht ganz klar, wogegen sich die Wahrscheinlichkeit auf der Chaosseite stellt. Könnte
man diese in eine klare Theorie fassen, verstände man also Chaos, so wäre die Deutung
weniger vage. Wie sich Kant die Frage vorlegte, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich
sein, und Frege dasselbe für die Logik fragte, so denke ich, läßt sich via Zwischenglied auch
die Frage angehen, wie Zufallstheorie, als Theorie und damit als Wissenschaft möglich ist.
Der genaue Ausgang ist ungewiß, doch mit einem Bein steht man auf sicherem Terrain, auf
dem (klassische) Mathematik, (klassische) Logik und damit (klassisch) Wissenschaft in einem
deterministischen Sinne möglich ist. Wittgenstein bemerkt dazu: „Es ist nicht Sache der
Philosophie, den Widerspruch durch eine mathematische, logisch-mathematische, Entdeckung
zu lösen. Sondern den Zustand der Mathematik, der uns beunruhigt, den Zustand vor der
Lösung des
Widerspruches,
übersehbar zu
machen.“[Wittgenstein
PU 125]
Das
Beunruhigende ist der Erfolg der Stochastik in den letzten Jahrzehnten. Eine Möglichkeit der
Übersicht ist der Zwischengliedcharakter der Wahrscheinlichkeit, zwischen der ruhigen,
klaren Sicherheit des Determinismus und der sorgenvollen Ungewißheit des Zufalls.
-11-
6. Schlußbemerkungen. Zurück zu Einstein.
Es ließe sich nun Fragen, was damit erreicht ist. Welche Art der Klarheit und Übersicht haben
wir durch obige Betrachtungen erhalten? Einiges müßte auch noch zum mathematischen
Modell von Kolmogoroff gesagt werden und dessen Interpretation versucht werden, um die
moderne Stochastik zu verstehen und auch ihren Erfolg „sichtbar“ zu machen. Die Stärke des
stochastischen Kalküls liegt in seiner Allgemeinheit und der daraus resultierenden vielfachen
Anwendungsmöglichkeiten, sei es in der Physik, der Biologie, der Finanz- und
Versicherungswelt oder der Meteorologie. Das Kalkül beantwortet jedoch nicht, welche
Interpretation adäquat ist, wie man zu den konkreten Zahlen für die Wahrscheinlichkeit
gelangt und welches Regeln und Verfahren zur korrekten Anwendung und Überprüfung sind.
So ist denn das stochastische Kalkül auch innerhalb der Mathematik in einer
Zwischenposition. Klassische Ergebnisse lassen sich mit Hilfe stochastischer Methoden
herleiten und in neuer Art verstehen. Man verwendet weiterhin die klassische Prädikatenlogik
innerhalb des Kalküls, um mit dessen Hilfe Aussagen zu treffen, denen nicht mehr klare
Wahrheitswerte zukommen.
Obige Zwischenglieddeutung kann in zweierlei Hinsicht verstanden werden. Zum einen als
eine philosophische Methode mit dem Ziel des Verstehens unserer Begriffe und unserer
Denkweisen, wie wir mit dem Zufall und dem Ungewissen umgehen können. Zum anderen ist
die Stochastik als Methode innerhalb klassischer, bzw. zusätzlich zu klassischen verwendbar
um den Zufall in den Griff zu bekommen oder gar klassisch-deterministischen Systemen unter
einer Zufallskomponente zu betrachten. Wir wissen zwar dadurch immer noch nicht, ob alles
Zufall ist, oder ob Gott würfelt. Aber anzunehmen, daß auch Gott gerne mal Würfel spielt
kann zu fruchtbaren Ergebnissen führen. Einsteins mathematische Unsicherheit kann mittels
Zwischenglied verstanden werden und die sichere Mathematik mit der ungewissen
Wirklichkeit
verbunden
werden:
‚Sobald
sich
unsere
mathematische
Wahrscheinlichkeitsaussagen auf die ungewisse Wirklichkeit beziehen, sind sie sicher.’
-12-
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