Die gesellschaftliche Dimension

Werbung
Nachhaltige Entwicklung – Die
gesellschaftliche Dimension
Prof. Dr. Theo Rauch, Prof Dr. Sabine Tröger
Diskussionspapier für die
Dritte KMK-BMZ-Fachtagung für entwicklungspolitische Bildung an
Schulen
Am 14.12.2004 und 15.12.2004 in Bonn
- nicht zu zitieren -
Im Auftrag von KMK und BMZ :
InWEnt – Internationale Weiterbildung und Entwicklung gGmbH
Tulpenfeld 5, 53113 Bonn
Die gesellschaftliche Dimension des Nachhaltigkeitsansatzes
Theo Rauch und Sabine Tröger
1.
Systematische Einordnung: Nachhaltige Entwicklung und ihre
gesellschaftliche Dimension
Seit dem BRUNDTLAND- Bericht (1987) hat sich für nachhaltige Entwicklung in Wissenschaft und Politik folgende Definition durchgesetzt:„ Sustainable development can be defined
as meeting the basic needs of all, and extending to all, the opportunity to satisfy their aspirations for a better life without compromising the ability of future generations to meet their own
needs (WCED,1987)“:
Das Leitbild ‚Nachhaltige Entwicklung’ (NE) beinhaltet also einen Kompromiss zwischen dem
Grundsatz der Nachhaltigkeit und dem Ziel ‚Entwicklung’ oder zwischen den Bedürfnissen
der gegenwärtig lebenden Generation und den Möglichkeiten zukünftiger Generationen, ihre
Bedürfnisse zu befriedigen. Der Begriff bringt somit ein Spannungsfeld zwischen tendenziell
einander widersprechenden Anliegen zum Ausdruck: Dem (insbesondere auf die Natur bezogenen) Anliegen der Bewahrung und dem (insbesondere auf Wirtschaft und Gesellschaft
bezogenen) Anliegen der Veränderung, des Fortschritts (EISERMANN 2003: 37). Der Begriff
‚Nachhaltige Entwicklung’ erfüllt also seine Leitbildfunktion nur in begrenztem Maße: Er weist
nicht zu einem klar bestimmten Ziel, sondern benennt die Herausforderung, eine Synthese
zwischen zwei gleichermaßen unabweisbaren Ansprüchen zu finden, beziehungsweise fallweise auszuhandeln. Damit ist auch bereits eine der großen Herausforderungen für eine an
NE orientierte Pädagogik angedeutet: Erlernen, mit Widersprüchen konstruktiv umzugehen,
Synthesen bzw. Kompromissmöglichkeiten zu finden.
Der Prozess in Rio de Janeiro 1992 (vgl. hierzu MOFFAT 1995: 26 ff.) hat dazu geführt, dass
die Anliegen der armen Länder des Südens explizit als ein zentraler Aspekt des Spannungsfeldes zwischen Nachhaltigkeit und Entwicklung benannt wurden: Der Umweltschutz dürfe
nicht zulasten der verbesserten Bedürfnisbefriedigung der Menschen in den armen Ländern
gehen. Das nachhaltigkeitsorientierte Prinzip der inter-generationellen Gerechtigkeit wurde
ergänzt durch das entwicklungsbezogene Prinzip der intra-generationellen Gerechtigkeit (vgl.
NUHN 1998). Die bis dahin primär ökologisch betrachtete Nachhaltigkeit wurde ergänzt
durch eine ökonomische und soziale Dimension. Bei aller Kritik an inhaltlichen Details der
Einigung von Rio gilt die Konferenz bis heute als Beispiel für globalen Interessenausgleich
auf Basis von gleichberechtigten Aushandlungsprozessen der Vertreter aller Staaten und
vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen (EISERMANN 2003: 53 ff.).
Aus systematischen Gründen wird hier die soziale Dimension um sozio- kulturelle Aspekte
erweitert und eine vierte Dimension, die politisch- institutionelle, hinzugefügt. Zwischen diesen vier Dimensionen
1
ökologisch
ökonomisch
gesellschaftlich
politisch- institutionell
gibt es normative und kausale Zusammenhänge.
Die normativen Zusammenhänge beschreiben Ziele menschlicher Existenz und die Komplementaritäten bzw. Konkurrenzbeziehungen zwischen diesen Zielen. Bei der ökologischen
Dimension geht es um Naturerhaltung, bei der ökonomischen um verbesserte Bedürfnisbefriedigung, bei der gesellschaftlichen Dimension stehen Problemlösungsfähigkeit, Integrationsgrad und Wertesysteme von Gesellschaften im Vordergrund und bei der politisch- institutionellen Dimension geht es letztlich um Frieden und Freiheit. Nicht alle diese Ziele vertragen
sich gleichermaßen mit dem Grundsatz der Nachhaltigkeit. Während Frieden beispielsweise
die Erhaltung der Natur tendenziell begünstigt, kann verbesserte Bedürfnisbefriedigung zulasten von Naturerhaltung gehen, kann Naturerhaltung eine Begrenzung von Freiheit erfordern (vgl. die Analyse der Kohärenzerfordernisse in Abschnitt 3). Auf der normativen Ebene
geht es also darum, das Ziel der NE und die konkreten Wege dorthin so zu bestimmen, dass
anderen berechtigten Grundsätzen und Zielen menschlicher Existenz angemessen Rechnung getragen wird.
Die kausalen Zusammenhänge benennen die ökologischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und die politisch- institutionellen Einflussfaktoren auf NE. Sie beschreiben die systematischen Zusammenhänge (vgl. die modellhaft vereinfachte Darstellung in Abb. 1). Der Fokus
der Darstellung liegt auf Nachhaltigkeit. Es werden also nicht alle entwicklungsrelevanten
Faktoren berücksichtigt, sondern nur jene, die besonders wichtig für die Nachhaltigkeit von
Entwicklungsprozessen sind.
NE wird demnach insbesondere von folgenden Faktoren beeinflusst:
(1) Ökologisch: Langfristige Erhaltung von natürlichen Lebensgrundlagen. Dies betrifft
globale, regionale und lokale Ökosystemzusammenhänge1.
(2) Ökonomisch: Stabiles Wirtschaftswachstum bei Vermeidung von Weltwirtschaftskrisen, d.h. eine gewisse Stabilisierung globaler Kapital-, Güter- und Arbeitsmärkte.
Darüber hinaus kommt es darauf an, dass im Rahmen staatlicher Wirtschaftsförderung nur wirtschaftlich (potenziell) tragfähige, also langfristig konkurrenzfähige Wirtschaftsaktivitäten gefördert werden. Ein dritter wichtiger Aspekt ist angesichts des
1
Die Frage nach Präzisierung dieser Vorgabe, insbesondere bzgl. nicht regenerierbarer natürlicher Ressourcen
ist Gegenstand wissenschaftlicher Debatten (vgl. MOFFAT 1995; BARTELMUS 1994)
2
grundsätzlich dynamischen Charakters wirtschaftlicher Prozesse die Innovativität und
Anpassungsfähigkeit der Akteure. Nachhaltigkeit ist hier gleichzusetzen mit Veränderungsfähigkeit.
(3) Gesellschaftlich: Die Zukunftsfähigkeit bzw. nachhaltige Entwicklung einer Gesellschaft wird maßgeblich von drei Faktoren beeinflusst:
•
Den gesellschaftlichen Lern- und Problemlösungsfähigkeiten (dem "Können"): Nachhaltige Entwicklung bedarf der Fähigkeit von Individuen und Institutionen, unter sich wandelnden globalen Rahmenbedingungen wettbewerbsfähig zu sein, um so die materiellen Bedürfnisse befriedigen zu können (Bezug zur ökonomischen Dimension). Sie bedarf der Fähigkeit, dabei mit den
begrenzten natürlichen Ressourcen schonend umzugehen (Bezug zur ökologischen Dimension). Und sie erfordert soziale Kompetenz, also die Fähigkeit
voneinander zu lernen, Probleme gemeinschaftlich zu lösen, Konflikte konstruktiv auszutragen.
•
Den gesellschaftlichen Werteorientierungen (dem "Wollen"): Es genügt
nicht, nachhaltige Entwicklung zu wollen. NE wird nur dann erreichbar sein,
wenn es zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft – bei gegebenem und
auch wünschbarem Wertepluralismus – einen Grundstock an gemeinsamen
Werteorientierungen als Basis für gemeinschaftliches Handeln gibt. Im Rahmen dieses normativen Rahmens einer Gesellschaft spielen zwei –einander
tendenziell widersprechender – Werte eine besondere Rolle für NE: Dies ist
einerseits der Wert der Eigenverantwortlichkeit, aus welcher die Lern- und
Problemlösungsbereitschaft, die Initiative der Mitglieder einer Gesellschaft
entspringt. Und dies ist andererseits der Wert der Solidarität, der Verantwortlichkeit gegenüber anderen, gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen, aus
welchem die Bereitschaft zu Selbstbegrenzung (gegenüber der Natur, den
Nachkommen, den Mitmenschen), zur Umverteilung, zum Kompromiss, zum
Frieden entspringt. NE hängt davon ab, dass diese beiden Werteorientierungen in einer Gesellschaft einander die Waage halten. Ohne Eigenverantwortlichkeit keine Entwicklung, ohne Solidarität keine Nachhaltigkeit.
•
Dem gesellschaftlichen Integrationsgrad: Dieser ist einerseits Ergebnis gesellschaftlicher Fähigkeiten und gesellschaftlicher Werteorientierungen. Die
Komponenten gesellschaftlicher Integration, der Grad der Teilhabe am gesellschaftlichen Produkt, der Grad der Teilnahme an gesellschaftlichen Entscheidungen und der Grad des Mitwirkens an gemeinschaftlichen Aktionen sind eine Frage des Könnens und des Wollens. Sie beeinflussen aber andererseits
sowohl die Problemlösungsfähigkeiten als auch die sozialen Werteorientie-
3
rungen der Individuen. Der gesellschaftliche Integrationsgrad kann als die
strukturelle Dimension verstanden werden, welche das "Können" und "Wollen"
der Mitglieder einer Gesellschaft und das darauf basierende gesellschaftliche
Handeln beeinflusst und ihrerseits ein Resultat der Summe dieses Handelns
ist.
(4) Politisch-institutionell: Politische Stabilität und Frieden sind Voraussetzungen für
Nachhaltigkeit und für Entwicklung. Hinzukommen müssen ein hoher Grad an
menschlicher Gedanken- und Handlungsfreiheit als Basis für Kreativität und Eigenverantwortlichkeit sowie institutionelle Anreizsysteme zugunsten von Ressourcenerhaltung und Entwicklung.
Der Fokus aller weiteren Betrachtungen liegt auf der gesellschaftlichen Dimension (die
anderen drei Dimensionen werden in separaten Beiträgen analysiert). Im Rahmen der Prinzipien der Agenda 21 wird zwischen einer ökologischen, einer ökonomischen und einer '
sozialen'Dimension von Nachhaltigkeit unterschieden. Letztere wird nicht im Sinne einer kohärenten systematisch abgeleiteten Position definiert2, sondern im Sinne einer Einbeziehung
spezifischer sozialer Gruppen. Dabei handelt es sich weitgehend um solche Gruppen, die
durch eine Lobby in Rio vertreten waren (vgl. MOFFAT 1995: 26f).
Demgegenüber werden hier als "gesellschaftliche" Dimension von NE all jene Strukturmerkmale von Gesellschaften verstanden, welche das Handeln, das Können und das Wollen gesellschaftlicher Gruppen und ihrer Mitglieder im Hinblick auf NE beeinflussen. Dies betrifft –
wie aus obigen Ausführungen deutlich wird – sowohl die "sozialen Sektoren" (wie das Bildungs- und Gesundheitssystem), als auch sozialstrukturelle Merkmale (wie intra- und intergenerationelle Einkommensverteilung und soziale Sicherungssysteme) und sozio-kulturelle
Aspekte (wie Normen, Wertesysteme, Verhaltensmuster).
Ausgegangen wird dabei von einem systemischen Betrachtungsansatz, der struktur- und
handlungstheoretische Ansätze miteinander verknüpft. Gesellschaftliches Handeln, welches
NE positiv oder negativ beeinflusst, wird dabei betrachtet vor dem Hintergrund seiner Bedingtheit durch gesellschaftliche bzw. sozio-kulturelle Strukturmerkmale, welche die Handlungsspielräume gesellschaftlicher Gruppen bzw. Individuen gestalten und begrenzen (vgl.
Abb. 2). Diese Strukturen und die daraus resultierenden Handlungsspielräume können – in
mehr oder minder starkem Maße – durch das Handeln der Menschen in einer Gesellschaft
2
Als „soziale Prinzipien“ werden in der Agenda 21 aufgelistet:
- Beteiligung von Frauen
- Mobilisierung der Kreativität, Ideale und Mut der Jugend
- Einbeziehung indigener Gruppen
4
verändert werden (vgl. RAUCH 2003: SEITE). Es gilt also das auf NE bezogene Können und
Wollen gesellschaftlicher Gruppen vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden Strukturen
zu analysieren. Dabei werden die bereits im Überblick genannten Aspekte bzw. TeilDimensionen der gesellschaftlichen Dimension nachhaltiger Entwicklung näher beleuchtet.
Teil-Dimensionen der gesellschaftlichen Dimension von NE
1. Gesellschaftliche Lern- und Problemlösungsfähigkeit ("KÖNNEN")
Kulturspezifische Wissenssysteme und Fähigkeiten spielen eine wichtige Rolle bei
der Identifizierung und Umsetzung nachhaltigkeitsgerechter Problemlösungen. In diesem Kontext kommt dem Bildungssystem eine ganz besondere Bedeutung zu. Dabei
geht es nicht nur um problembezogenes und innovationsförderndes Wissen, sondern
auch um die für zielgerichtetes gemeinschaftliches Handeln erforderliche analytische
und soziale Kompetenz sowie um eine von anhaltender, intrinsischer Lernbereitschaft
gekennzeichnete Lebenshaltung: Fakten prüfen und interpretieren können, nach Ursachen fragen, mit Widersprüchen (wie jenem zwischen Entwicklung und Nachhaltigkeit) konstruktiv umgehen können, Interessen vertreten und dabei Kompromisse eingehen können, nach Alternativen fragen und suchen lernen, gemeinschaftlich entscheiden und koordiniert handeln lernen, bei Bedarf Initiative ergreifen und Führung
übernehmen – all das sind Beispiele für die Art von Fähigkeiten, derer eine zukunftsfähige Gesellschaft bedarf. Bildungssysteme sollten daran orientiert sein. Solche Bildungs- und Sozialisationssysteme können in unterschiedlichem Maße formalisiert
sein. Familie und öffentliches Bildungssystem, frühkindliche Erziehung, das staatlich
regulierte Bildungswesen und Weiterbildung bzw. institutionalisiertes Lernen von Erwachsenen können dabei – in Abhängigkeit vom Typus der betreffenden Gesellschaft
– unterschiedliche Rollen spielen.
Das Gesundheitssystem beeinflusst die physischen und auch die psychischen Fähigkeiten der Mitglieder einer Gesellschaft zu aktivem, problemlösendem und zukunftsorientiertem Handeln. Die geistigen Fähigkeiten und die Schaffenskraft werden maßgeblich vom Gesundheits- und Ernährungszustand beeinflusst. Es kommt dabei nicht
allein auf das formale Gesundheitssysteme und auch nicht allein auf dessen kurative
Potenziale an, sondern auch auf die präventiven Potenziale von Gesundheits- und
Ernährungswissen.
Ausgewogene demographische Strukturen insbesondere zwischen erwerbsfähigen
und abhängigen Altersgruppen sind Grundlage für hohe gesamtgesellschaftliche
Produktivität einerseits und für die Tragfähigkeit und Nachhaltigkeit sozialer Siche-
5
rungssysteme andererseits. Sie sind somit ein wichtiger struktureller Einflussfaktor
auf die Problemlösungsfähigkeit von Gesellschaften.
2. Gesellschaftliche Wertesysteme („WOLLEN“)
Wichtig für die Bereitschaft gesellschaftlicher Gruppen zu einem an NE orientiertem
Handeln ist die Existenz eines weithin akzeptierten Normen- und Wertegerüsts als
gemeinsamer Rahmen für Entscheidungsprozesse und für gesellschaftliches Handeln. Solch ein weithin akzeptiertes Wertesystem setzt sozial- und naturschädlichem
Handeln Grenzen, schafft Verhaltenssicherheit, bietet Schutz vor Übergriffen und begünstigt damit wachstumsfördernde und naturerhaltende Investitionen. Die Abwesenheit einer verbindlichen Werteordnung ist für nachhaltigkeitsorientiertes Handeln in
jedem Falle problematisch, da es Einigungsprozesse erschwert und die Verbindlichkeit von Entscheidungen in Frage gestellt ist. Die Notwendigkeit eines gemeinsamen
Werterahmens ist insofern mit dem in der Realität vieler Gesellschaften vorherrschenden Wertepluralismus vereinbar, als es nur eines Minimalkonsensus über
grundlegende Menschenrechte und über demokratische Entscheidungsverfahren bedarf. Alle konkreteren Vereinbarungen darüber, wie die Menschenrechte zukünftiger
Generationen gesichert werden sollen, kann dann Gegenstand eines Diskurses zwischen gesellschaftlichen Gruppen mit ansonsten divergierenden Werteorientierungen
sein.
In Gesellschaften mit einem hohen Grad an Wertepluralismus und multi-kulturellen
Gesellschaften ist neben einem Minimalkonsens über Grundwerte der Wert der Toleranz eine wesentliche Bedingung für NE. Nur wo die Andersartigkeit von Werten,
Glaubensorientierungen und Verhaltensmustern (innerhalb der durch die Grundwerte
gesetzten Grenzen) verstanden und akzeptiert wird, entsteht Bereitschaft zu gemeinsamen bzw. aufeinander abgestimmten Problemlösungen oder zu friedlichen Konfliktlösungen.
Solidarität und soziale Kohäsion sind Ausprägungen sozio-kultureller Wertesysteme
und Verhaltensmuster, welche nicht nur den Grad an Verteilungsgerechtigkeit und
sozialer Sicherheit in einer Gesellschaft beeinflussen, sondern auch einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur und den Nachkommen. Solidarität wird i.d.R. verstanden als
"Zusammengehörigkeitsgefühl von Individuen oder Gruppen in einem sozialen
Ganzen, das sich in gegenseitiger Hilfe und Unterstützung äußert" (in Anlehnung
an die Definition im Lexikon der Soziologie 1978).
6
Solidarität im öffentlichen Raum, darauf verweist SEITZ (2003: 205), ist grundsätzlich
von einer partikularen Gefühlsbeziehung zu unterscheiden, hat nicht notwendigerweise etwas mit wechselseitiger Sympathie oder Zuneigung zu tun und ist häufig Ausdruck eines wohlverstandenen Eigeninteresses (vgl. auch Abschnitt 2).
Das Fehlen jeglichen Gemeinschaftssinnes gefährdet tendenziell die soziale Kohäsion einer Gesellschaft, d.h. das Gefühl von Geborgenheit, Eingebundenheit und Vertrauen bei den einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft und untergräbt damit die Energie zu zukunftsorientiertem Handeln.
Der Wert der Solidarität muss gepaart sein mit einer entsprechend ausgeprägten gesellschaftlichen Wertschätzung des Prinzips der Eigenverantwortlichkeit. Nur wo Eigenverantwortlichkeit (‚ownership’), sei es individuell oder gemeinschaftlich geschätzt und anerkannt wird, sind Menschen motiviert, Probleme – soweit möglich – aus eigener Kraft zu
lösen. Wo Empfängermentalität gegenüber Eigenverantwortlichkeit die Oberhand gewinnt, wird erlahmt die Bereitschaft zu problemlösendem, zukunftsorientiertem Handeln,
ist Nachhaltige Entwicklung bedroht. Ohne die Bereitschaft und Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln, ohne Eigeninitiative, bleiben kein Dorfwald und keine Dorfstraßen erhalten, funktioniert keine Abfallbeseitigung, wird keine Schule instand- und keine
Toilette sauber gehalten. Nur von dem Akteur, der in Freiheit und Eigenbestimmung sein
Leben gestalten kann, so SEN’s Argument (SEN 2002: 337), sei ein verantwortungsvolles Handeln – und damit ein Handeln gemäß den Bedingungen von NE – zu erwarten.
Eine entscheidende Voraussetzung für eigenverantwortliches Handeln ist die Wahlfreiheit
der Individuen einer Gesellschaft. Sie ist nicht nur ein Wert an sich. Ihre Erweiterung wird
als ein Hinweis auf Entwicklung bewertet (ebenda: 13).
Ohne Eigenverantwortlichkeit wird die materielle Grundlage für Solidarität in Frage gestellt. Ohne Solidarität aber gerät der gesellschaftliche Zusammenhalt und er soziale
Frieden und damit eine wichtige Basis für jegliche Entwicklungsbemühungen in Gefahr.
Es kommt also bezüglich NE darauf an, dass im normativen Spannungsfeld zwischen
den Werten Eigenverantwortlichkeit und Solidarität ein gesellschaftlicher Kompromiss gefunden wird.
3. Der gesellschaftliche Integrationsgrad
Neben dem – tendenziell des-integrierenden – Wettbewerb, welcher ein wichtiger Motor von
Innovation und wirtschaftlicher Entwicklung ist, ist ein gewisser Grad an Integration unverzichtbar für die Problemlösungsfähigkeit von Gesellschaften. Ohne Integration, ohne Zugehörigkeit von Individuen zu einer Gesellschaft, fehlt der Anreiz und der Wille gemeinschafts-
7
schädliches Verhalten zu vermeiden und sich auf gemeinsames problemlösendes Handeln
einzulassen. Ohne Integration fehlt aber auch oft die Fähigkeit von Individuen zu auf Selbstvertrauen basierendem eigenverantwortlichem Handeln, sowie die gesellschaftliche Fähigkeit zu gemeinschaftlichen oder koordinierten Aktionen.
Wesentliche Elemente gesellschaftlicher Integration sind die Teilhabe der Individuen und
gesellschaftlichen Gruppen an den Ergebnissen gesellschaftlicher Produktion (d.h. Verteilungsgerechtigkeit), insbesondere im Notfall (soziale Sicherheit), die Teilnahme an den sie
betreffenden Entscheidungen (Beteiligung) und der Beitrag zur gesellschaftlich notwendigen
Arbeit, zu gemeinschaftlicher problemlösender Aktion (Integration in das Erwerbsleben, Kooperationsstrukturen).
Verteilungsgerechtigkeit und sozialer Ausgleich sind Voraussetzungen für die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse (welche nicht nur Ergebnis und Ziel,
sondern auch Voraussetzung von NE sind) und für sozialen Frieden. Gerechtigkeit
wird hier entsprechend der Definition von RAWLS, dem Autor der wohl bedeutendsten ‚Theorie der Gerechtigkeit’ , bezogen auf
"die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und –
pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen"
(RAWLS 1979: 23), wobei der Grad der Gerechtigkeit einerseits am Gleichheitsprinzip und andererseits am Grad der Redistribution zugunsten der Benachteiligten gemessen wird (das heißt dem Grad des sozialen Ausgleichs).
Soziale Sicherheit für Menschen, die nicht (mehr) zur eigenständigen Reproduktion in
der Lage sind, d.h. ein soziales Netz der garantierten Sicherung der grundlegenden
Bedürfnisse, reduziert Angst vor Existenzrisiken und schafft die nötige Vertrauensbasis für zukunftsgerichtetes Handeln. Die Systeme zur sozialen Sicherung unterliegen
selbst dem Gebot der Nachhaltigkeit, das heißt sie müssen tragfähig sein.
Eine Kultur der Beteiligung an öffentlichen Entscheidungsprozessen und der Einflussnahme (und nicht nur das politische Recht zur Beteiligung) ist wichtig als Grundlage für Eigenverantwortlichkeit und Kooperation, aber auch um im Spannungsfeld
zwischen Nachhaltigkeit und Entwicklung sowie im interkulturellen Kontext im Diskurs
zu konsensfähigen und kreativen Lösungen zu gelangen.
Bereitschaft und Fähigkeit zu Kooperation, die Bildung von Netzwerken ist eine weitere Grundlage für NE. Oft sind gemeinschaftliche Initiativen und Aktionen nötig, um die
Natur zu schützen (z.B. Wassereinzugsgebiete, Stabilisierung von Berghängen, Saubererhaltung von Seen) oder um sich vor der Natur zu schützen (z.B. Hochwasserschutz, Feuerschutz).
Die Integration der Mitglieder einer Gesellschaft in das Erwerbsleben ist nicht nur eine wichtige Basis für langfristige Existenzsicherung. Sie beeinflusst auch das Selbst-
8
wertgefühl, das Zugehörigkeitsgefühl und die Möglichkeit der Kompetenzentwicklung
– Faktoren, die allesamt das "Wollen" und "Können" in einer Gesellschaft beeinflussen.
Die Relevanz der gesellschaftlichen Faktoren für NE ist also vielfältiger Natur. Sie berühren
gesellschafts- und entwicklungspolitische Entscheidungen, die derzeit in Deutschland / Europa wie auch in der entwicklungspolitischen Diskussion ganz oben auf der politischen Tagesordnung stehen. Von besonderer Bedeutung im Hinblick auf NE ist dabei in allen Gesellschaften das Spannungsverhältnis zwischen Solidarität und Eigenverantwortlichkeit. Solidarität ohne Eigenverantwortlichkeit führt zu nicht nachhaltigkeitskonformer Empfängermentalität
und unzureichendem Wirtschaftswachstum. Eigenverantwortlichkeit ohne Solidarität führt zu
sozialer Desintegration und Ausgrenzung. Das zwischen beiden Faktoren bestehende Spannungsfeld zu überbrücken, ist eine der zentralen Herausforderungen einer Politik der NE.
Die skizzierten Zusammenhänge zeigen auch, dass die Erweiterung der Debatte um NE auf
die gesellschaftliche Dimension keinesfalls eine „Verwässerung“ der Konzentration auf ökologische Nachhaltigkeit bedeutet, sondern dass darin die Voraussetzung für praktische Lösungswege für das Problem der Umweltzerstörung liegt. Ohne eine Kultur der Solidarität
gepaart mit Eigenverantwortlichkeit, ohne funktionierende Gesellschaft und ohne kreative,
gut ausgebildete und gesunde Menschen werden Maßnahmen zur Erhaltung der Natur nicht
umgesetzt.
2.
Perspektiven: Die aktuelle Relevanz der gesellschaftlichen Dimension der Nachhaltigkeit im Norden und im Süden sowie
zwischen Nord und Süd
Die genannten gesellschaftlichen Aspekte von NE haben angesichts der Debatte um die
Folgen der Globalisierung sowohl in den alten Industrieländern des '
Nordens'als auch in den
armen Ländern und Schwellenländern des '
Südens'große aktuelle Relevanz erlangt. Haben
soziale Anliegen noch eine Chance angesichts des Kostensenkungsdrucks, der von der Globalisierung der Märkte ausgeht? Können sich sozio-kulturelle Wertesysteme noch behaupten
angesichts der Ausbreitung von Marktbeziehungen in alle Gesellschaften dieser Erde? Diese
Fragen stellen sich in reichen und armen Ländern in unterschiedlicher Weise. Sie stellen sich
aber auch im Rahmen einer Welt-Sozialpolitik und einer Welt-Kulturdebatte im Verhältnis
zwischen Nord und Süd.
2.1
Aktuelle Entwicklungstendenzen im Norden
9
Gesellschaftliche Lern- und Problemlösungsfähigkeit: Die bildungspolitische Debatte
um Zukunftsfähigkeit und Chancengleichheit
Das Bildungssystem ist eine wichtige Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung. Es entscheidet über Innovations-, Problemlösungs- und damit auch Konkurrenz- und Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften. In den alten Industrienationen kann zwar von einem insgesamt
hohen Bildungsniveau ausgegangen werden. Doch belegen die von der PISA-Studie ausgelösten Diskussionen, dass in manchen Ländern die Bildungssysteme nicht nur besser mit
Ressourcen ausgestattet werden müssen, sondern auch an neue gesellschaftliche Herausforderungen angepasst werden müssen, um eine solide Basis für NE zu bilden. Zukunftsfähige, den Erfordernissen nachhaltiger Entwicklung gerecht werdende Bildungssysteme sollten vielfältigen Ansprüchen gerecht werden: Sie sollen eine im internationalen Rahmen konkurrenzfähige, innovative Elite schaffen. Sie sollen Chancengleichheit für alle gesellschaftlichen Schichten herstellen, also Aufstiegschancen bieten und die damit auch die Potenziale
der Menschen ausschöpfen. Sie sollen durch Werteerziehung eine gesellschaftliche Integrations- und Sozialisationsleistung erbringen. Und sie sollen die Menschen auf ein Berufsleben
vorbereiten, das hohe Anforderungen an Lernfähigkeit und Flexibilität stellt. Mit der Erfüllung
dieser Ansprüche hängen – wie gezeigt wurde - die Chancen einer Gesellschaft auf nachhaltige Entwicklung eng zusammen. Die aktuellen Debatten gehen um die richtige Kombination
zwischen Breiten- und Spitzenförderung, um die Rolle der Vorschulerziehung als Grundlage
für Chancengleichheit und effektiverer Förderung der Potenziale und um die angemessene
Verteilung der Rollen zwischen Familie und formalem Bildungssystem bei der Werteerziehung einerseits und bei der Wissensvermittlung (Hausaufgabenbetreuung etc.) andererseits.
Eine vergleichsweise geringe Rolle spielen demgegenüber in hochindustrialisierten und postindustriellen verstädterten Gesellschaften kulturspezifische Wissenssysteme, insbesondere
wenn es um Wissen über die Natur und über Ökosystemzusammenhänge geht. Entscheidend für unsere Einschätzung der Wirkung von Atomkrafterzeugung und CO2 Ausstoß ist das
sich schnell entwickelnde Spezialistenwissen. Die Identifizierung nachhaltigkeitskonformer
beziehungsweise nachhaltigkeitsfeindlicher Techniken ist eher Ergebnis eines Innovationswettbewerbs, welcher ökonomischen und/oder politisch gesetzten Anreizen folgt, als ein Resultat sozio-kultureller Milieus und von Erfahrungswissen, welches in den stärker ländlich
geprägten Gesellschaften des Südens tendenziell eine wichtigere Rolle spielt.
Ähnliches gilt für den Bereich des Gesundheitssystems: Spezialistenwissen und hochtechnisierte Gerätemedizin verlängern – zusammen mit verbesserten sanitären Systemen – unser
Leben. Die meisten Krankheiten – welche einerseits die kreativen Potenziale für NE beeinträchtigen und andererseits einen beträchtlichen Anteil der gesellschaftlichen Kapazitäten
10
absorbieren – gelten als wohlstandsbedingt und sind auf mangelnde Prävention bzw. gesundheitsschädliches Konsum- oder Produktionsverhalten zurückzuführen. Aufklärungskampagnen gegen das Rauchen, gegen übermäßigen Alkoholgenuss und gegen Fettleibigkeit
sind Beispiele für den Versuch, den Gesundheitszustand und damit die Chancen auf NE
durch verbessertes allgemeines Gesundheitswissen und gesundheitsbezogene Lernfähigkeit
der Mitglieder einer Gesellschaft zu verbessern.
Die Bedeutung der demografischen Struktur für die Leistungs- und Zukunftsfähigkeit von
Gesellschaften wurde bereits angesprochen. Die demographische Entwicklung in den meisten alten Industrieländern ist durch natürlichen Bevölkerungsrückgang (der mehr oder weniger durch Zuwanderung kompensiert wird) und durch eine Tendenz zur Überalterung gekennzeichnet. Die Geburtenraten sind rückläufig, während die Lebenserwartung aufgrund
medizinischen Fortschritts kontinuierlich ansteigt. Der durchschnittliche Europäer ist mit 37,8
Lebensjahren etwa doppelt so alt wie der durchschnittliche Afrikaner (18,4 Jahre). Hierin liegt
nicht nur eine Herausforderung für die Nachhaltigkeit von Altersvorsorge- und Gesundheitssystemen, sondern auch für die gesamtgesellschaftliche Produktivität und die Zukunftsfähigkeit der betreffenden Gesellschaften.
Gesellschaftliche Wertesysteme: Werteverfall oder Wertevielfalt?
Befürchtungen, dass mit zunehmender Individualisierung, mit Wertepluralismus und verstärkter Konsumorientierung eine normative Krise, ein Verlust eines Minimalkonsenses bezüglich
einer gemeinsamen Wertebasis verbunden sind, sind im europäischen '
Abendland'so alt wie
der Modernisierungsprozess selbst. Während Zivilisationskritiker auf den Werteverfall verweisen, tendieren optimistische Interpreten der aktuellen gesellschaftlichen Dynamik (z.B.
BARLEY 2000, WELSCH 1994) zur Diagnose einer Wertevielfalt, eines Nebeneinanders
verschiedener Wertemuster (vgl. Abschnitt 6 dieses Beitrags), wobei Individuen sich Normen
und Verhaltensmuster verschiedener Kulturen zu Eigen machen („Transkulturalität“). Die
Folge ist, dass sich die individuellen Akteure Zeit ihres Lebens auf der Suche nach Orientierung befinden und dass sich Gesellschaften der Notwendigkeit eines kontinuierlichen Diskurses stellen müssen - Diskurse nicht nur um den richtigen Weg, sondern um das (jeweils)
richtige Ziel. Exemplarisch hierfür sind die Tendenz zur Abkehr von religiösen Wertebindungen, die Infragestellung der Normen der Leistungsgesellschaft (Hedonismus) und das in Teilen der Bevölkerung verbreitete Unbehagen an einer materialistischen Konsumorientierung.
Immerhin sind aus solch normativen Diskursen auch Wertorientierungen wie ‚Erhaltung der
Natur’ und ‚Nachhaltigkeit’ entstanden und haben eine beträchtliche Verbreitung gefunden.
Die für NE erforderliche gemeinsame Basis an allgemein akzeptierten Grundwerten ist in den
post-industriellen Gesellschaften des Nordens nicht mehr selbstverständlich gegeben, sondern muss fortwährend im gesellschaftlichen Diskurs errungen und angepasst werden.
11
Eine zentrale Rolle im Wertediskurs unserer Gesellschaften spielt dabei das Verhältnis zwischen den Werten Solidarität und Eigenverantwortlichkeit. Da diese Werte in unmittelbarem
Zusammenhang mit der Debatte um die Reform des Sozialstaates stehen, werden sie im
folgenden Abschnitt zum Thema der gesellschaftlichen Integration angesprochen.
Gesellschaftliche Integration: Die Reform des Sozialstaats und das Ringen um die
richtige Balance zwischen Eigenverantwortlichkeit und Solidarität
In den Ländern des '
Nordens'beherrscht die Debatte um die Zukunftsfähigkeit bzw. Reformbedürftigkeit des Sozialstaats den öffentlichen Diskurs und die politische Auseinandersetzung. Diese Debatte wird selten in den weiteren Kontext der Diskussion um nachhaltige
Entwicklung gestellt. In Deutschland wird sie verengt auf die Kontroverse zwischen den Vertretern ökonomischer Zukunftsfähigkeit, das heißt Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit des
‚Standorts Deutschland’ und jenen, die ein hohes Maß an sozialer Sicherheit und sozialer
Eingebundenheit als Grundvoraussetzung für den Zusammenhalt und die Zukunftsfähigkeit
von Gesellschaft sehen. Das Anliegen der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen wird
dabei derzeit etwas in den Hintergrund gedrängt.
Bei der Sozialstaatsreformdebatte geht es im Kern um die Frage, warum Gesellschaften, die
den größten materiellen Überfluss aller Zeiten produzieren, glauben, sich nicht mehr so viel
sozialen Ausgleich leisten zu können, und welche Gefahren daraus entweder – im Fall von
zu viel Sozialstaat - für die internationale Konkurrenzfähigkeit oder – im Fall von zu wenig
Sozialstaat - für den sozialen Frieden erwachsen. Gesucht wird eine neue Synthese im
Spannungsfeld zwischen Wettbewerbsfähigkeit, sozialen Leistungen und Eigenverantwortlichkeit (Beispiele: Gesundheitsreform und Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Langzeitarbeitslose in Deutschland 2004). Die Tatsache, dass dabei Umwelterhaltungsziele unter Verweis auf internationale Konkurrenzfähigkeit und Arbeitslosigkeit hinten an gestellt werden, macht zwar das Konkurrenzverhältnis der verschiedenen Nachhaltigkeitsdimensionen deutlich, verweist aber gleichzeitig darauf, wie wichtig wirtschaftliche und
soziale Stabilität als Voraussetzung für die gesellschaftliche Bereitschaft zur Umwelterhaltung ist.
Bei der Diskussion um soziale Sicherheit geht es nicht allein um Globalisierung und internationale Standortkonkurrenz, sondern auch um die Nachhaltigkeit der sozialen Sicherungssysteme (insbesondere Alters-, Pflege- und Krankenversicherung) als solcher und um die Frage
der inter-generationellen Verteilung: Wie viele Abgaben darf eine zahlreicher werdende künftige ältere Generation einer zahlenmäßig schwächer werdenden nachwachsenden Generation heute und in Zukunft zumuten? (Beispiel: Rentenreform, Debatte um Besteuerung der
12
Renten und Erhöhung der Altersgrenze für den Einstieg in das Rentenalter in Deutschland
2004). Die Fragen, wie viel Erdöl, wie viel Atommüll, wie viele Schulden, wie viel an Abgabenlasten wir nachfolgenden Generationen hinterlassen sind hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit der Gesellschaften der alten Industrieländer von vergleichbarer Bedeutung.
Allen Tendenzen zur ‚Reformierung des Sozialstaats’ liegt neben dem Verweis auf globale
Konkurrenzbeziehungen zu Niedriglohnländern (mit entsprechend niedrigen Sozialstandards,
z.B. unbezahlte Arbeitszeitverlängerung bei Siemens in NRW zur Vermeidung der Verlagerung der Arbeitsplätze im Bereich der Mobiltelefonproduktion nach Ungarn) das Motiv der
Stärkung der Eigenverantwortlichkeit zugrunde. Die Balance zwischen sozialer Sicherung für
die Schwachen und Anreizen bzw. Zwängen zur eigenständigen Daseinsvorsorge soll wieder
zugunsten letzterer verschoben werden. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Zukunftsfähigkeit primär durch brachliegende und in Wert setzbare Leistungsfähigkeit gefährdet
wird, und dass das ´Störpotential` derer, die durch das weitmaschigere soziale Netz fallen,
vergleichsweise gering ist (These der ‚Zweidrittel-Gesellschaft’). Der Aspekt der Eigenverantwortlichkeit wird in den Gesellschaften des Nordens stark auf das Berufsleben und die
individuelle Daseinsvorsorge bezogen. Im Hinblick auf die Übernahme von Verantwortung im
öffentlichen Leben herrscht das Vertrauen auf bezahlte Spezialisten vor. Alternative Gegenbewegungen, welche der Zukunftsfähigkeit des bürokratischen und technokratischen Prinzips misstrauen und wesentliche Funktionen der Daseinsvorsorge besser bei gemeinschaftlichen Initiativen der Betroffenen aufgehoben sehen, blieben bislang in der Minderheit (Beispiel: Kinderladenbewegung).
Hinsichtlich sozialer Kohäsion und der Rolle von Solidarität im sozialen Zusammenleben
kam es in unseren Gesellschaften zunächst auf dem Weg zu Industrialisierung und Verstädterung und nun abermals auf dem Weg zur postindustriellen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft zu bedeutsamen Veränderungen. Führte der Industrialisierungsprozess
noch zu neuen, weniger lokal als sozial bedingten Formen des sozialen Zusammenhalts
(Beispiel: Arbeiterbewegung mit all ihren sozialen und kulturellen Ausprägungen), so ist mit
Einführung der neuen Medien und zunehmender Flexibilisierung des Arbeitsmarktes eine
zunehmende Vereinzelung (z.B. Zunahme des Anteils der Ein-Personen-Haushalte) verbunden (BECK 1997). Solidarität wurde während dieses historischen Prozesses zunächst institutionalisiert und anonymisiert (was die Bereitschaft zu individueller Verantwortung füreinander
reduzierte, aber dennoch zu einem verbreiteten Gefühl des Gesichertseins führte). Derzeit
wird im Rahmen der Tendenz zur Privatisierung sozialer Risiken (z.B. "Riester-Rente") die
Bedeutung des Solidaritätsprinzips zugunsten individueller Eigenverantwortlichkeit und
kommerzialisierter Vorsorge zurückgenommen. In Teilbereichen (z.B. Pflege) kommt es zu
Entwicklungen in Richtung einer Re-Familiarisierung.
13
Der gesellschaftliche Raum für Kooperation ist im Rahmen von Arbeitsteilung, Spezialistentum, hohen Mobilitätsanforderungen und städtischen Siedlungsformen relativ begrenzt. Im
Notfall beziehungsweise bei Bedarf kann aber Kooperationsbereitschaft relativ schnell mobilisiert werden (Beispiel: Elbehochwasser).
Ähnliches gilt für die Beteiligungskultur: Wir tendieren dazu, auf die Medien und die Macht
der Meinungsumfrage zu vertrauen und bei uns betreffenden Missständen zu protestieren
("reaktive Beteiligung" z.B. Anti-AKW-Bewegung, Bürgerinitiativen bei Verkehrsprojekten).
Die Vielfalt der die Bürger betreffenden Entscheidungen ist zu groß, der Grad der Komplexität zu hoch, als dass eine direkte konstruktive Einflussnahme möglich wäre (RAUCH 2002:
507). Die Funktion des Diskurses über konsensfähige Lösungen haben Parteien, Interessenverbände, die Medien und engagierte Fachleute übernommen.
Abschließend bleibt festzustellen, dass die Frage, ob das soziale und sozio- kulturelle System in den Ländern des Nordens zukunftsfähig und nachhaltigkeitskonform ist, Gegenstand
kontroverser Debatten ist. Die Zweifel diesbezüglich sind weniger einhellig als im Hinblick auf
die Wirkungen des ressourcenverschlingenden Wirtschaftssystems. Die Zivilisationskritiker
bezweifeln seit langem, ob unsere zu Individualisierung, Steigerung des materiellen Konsums und Entsolidarisierung tendierenden gesellschaftlichen Strukturen mit dem Leitbild
nachhaltiger Entwicklung vereinbar seien. Sozialstaatskritiker verweisen darauf, dass ein zu
hohes Maß an sozialem Ausgleich einer NE abträglich sei. Fortschrittsoptimisten hingegen
vertrauen darauf, dass Innovationswettbewerb und eigenverantwortliche Initiative im Berufsleben in Verbindung mit öffentlichen Diskurs, getragen von zivilgesellschaftlichen Gruppierungen und Medien immer wieder zu nachhaltigkeitskonformen Lösungen führen werden.
Nachhaltigkeit im Norden wäre demnach in aufklärerischer Tradition zu sehen als Resultat
einer kritischen Öffentlichkeit, die motivierten Spezialisten auf die Finger schaut, nicht aber
als Ergebnis einer gemeinschaftlichen, von Solidarität getragenen Suche nach nachhaltigen
Lösungen.
2.2
Aktuelle Entwicklungstendenzen in den Gesellschaften des Südens
Angesichts der Vielfalt der Gesellschaften Afrikas, Asiens und Lateinamerikas mag es gewagt erscheinen, eine Diagnose zur gesellschaftlichen Situation ‚im Süden’ zu geben. Doch
es zeichnen sich verallgemeinerbare Trends ab: In den meisten Ländern des Südens sind
die sozialen Ungleichheiten weitaus größer als in den alten Industrieländern und nehmen
weiter zu. Und in den meisten Ländern bewegt sich die Mehrzahl der Menschen zwischen
zwei Welten: Zwischen der ländlichen Welt der Subsistenzproduktion, in welcher die an ge-
14
meinschaftlicher Überlebenssicherung orientierten Normen kleinbäuerlicher Gemeinschaften
gelten, und der eher städtischen Welt der marktorientierten Produktion, der Lohnarbeit. Keine dieser beiden Welten bietet eine hinreichend sichere Existenzgrundlage. In der Mehrzahl
der von der Globalisierungsdynamik ausgegrenzten Standorte und Regionen (vgl. HEIN
1999: 403 ff. und SCHOLZ 2003: 7), welche den Menschen keine vollständige und stabile
Integration in Güter- oder Arbeitsmärkte bieten, handelt es sich hierbei nicht um ein Übergangsphänomen der '
sozialen Wandels'
, sondern um eine anhaltende Situation der Verflechtung zweier Produktionsweisen mit ihren unterschiedlichen Logiken. Es gilt also für die meisten Menschen ‚im Süden’, den widersprüchlichen Regeln, Erwartungen, Anforderungen beider Welten gerecht zu werden (vgl. ELWERT 1985). Diese Konstellation stellt auch an das
"Können", an die Problemlösungsfähigkeiten der Menschen ganz besondere Anforderungen:
Sie brauchen '
lokales'Wissen und standortbezogene Fähigkeiten, um im Rahmen der naturräumlichen und kulturellen Bedingungen überleben zu können. Und sie brauchen gleichzeitig
jenes '
moderne'Wissen und die Fähigkeit, Chancen auf den Arbeitsmärkten wahrzunehmen
und ihre Interessen im Rahmen demokratischer Institutionen wirksam zu vertreten. Hierin
bestehen die grundlegenden sozio - kulturellen Gemeinsamkeiten der meisten Gesellschaften des Südens. Einige damit verbundene Aspekte, welche zum Verständnis der Menschen
in anderen Kulturen wichtig sind, sollen hier etwas näher beleuchtet werden.
Gesellschaftliche Lern- und Problemlösungsfähigkeit: Konkurrenzfähigkeit im globalen Kontext oder Überlebensfähigkeit im lokalen Kontext – Auf welche Fähigkeiten
kommt es an?
Die Bildungssysteme in den meisten Ländern des Südens sind trotz erheblicher Bildungsinvestitionen und deutlich erhöhter Alphabetisierungsrate weiterhin stark defizitär. Nach sieben
Jahren Schulbesuch kann oft ein Großteil der Schüler (lt. APPELT ein Drittel bis zur Hälfte,
zit. nach ENGELHARD o.J.:52) nicht sicher lesen, schreiben und rechnen. Zentrale Problembereiche sind mangelnde Qualifikation der Lehrer in Verbindung mit unzureichenden Anreiz- und Kontrollsystemen. Aber auch die Orientierung des Bildungssystems an der Befähigung für akademische Karrieren und "white collar jobs" wird weder der heutigen Arbeitsmarktsituation noch den Erfordernissen nachhaltiger Entwicklung gerecht. Gleichzeitig hat
dieses Bildungssystem zu einer Entfremdung von den Inhalten traditioneller – zumeist an
Naturerhaltung, Überlebenssicherung und Stabilisierung der Gemeinschaft orientierter –
Wissenssysteme geführt. Die Diskussionen um ein verbessertes, am Leitbild der NE orientiertes Bildungssystem beziehen sich deshalb nicht mehr allein auf quantitative Ziele wie bereitgestellte Mittel und Einschulungsraten, sondern auf eine qualitative Bildungsreform, welche "stärker den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Realitäten" Rechnung
trägt (APPELT ebd.:53). Die zentrale Herausforderung besteht dabei darin, den vielfältigen
15
Realitäten mit ihren widersprüchlichen Anforderungsprofilen gerecht zu werden (Subsistenzlandwirtschaft unter prekären ökologischen Bedingungen einerseits, Konkurrenzfähigkeit auf
dem Weltmarkt und Fähigkeit zu demokratischer Kontrolle andererseits), ohne dabei ein dualistisches Bildungssystem zu schaffen, welches keine soziale Mobilität erlaubt. Bei der Verbesserung des Bildungssystems geht es aber auch um institutionelle Aspekte. Lokalen Gemeinschaften eine größere Verantwortung für den Schulbetrieb und die Instandhaltung der
schulischen Einrichtungen zu übertragen ist eine wichtige Voraussetzung für die Nachhaltigkeit schulischer Infrastruktur und die Motivation des Lehrpersonals.
Für das Gesundheitssystem in den Ländern des Südens lassen sich ähnliche Aussagen treffen wie für das Bildungssystem: Zwar wurden insbesondere im Bereich der Reduzierung der
Kindersterblichkeit bedeutende Erfolge erzielt. Dennoch ist der Gesundheitszustand der Bevölkerung weitaus schlechter als in den Ländern des Nordens, sind Epidemien wie Malaria,
HIV/AIDS und Tuberkulose weit verbreitet. Wie im Bildungsbereich tragen die Investitionsschwerpunkte mit ihrer starken kurativen Orientierung den realen Bedürfnissen flächendeckender Basisgesundheitsdienste nicht hinreichend Rechnung. Das Krankheitsbild ist weitgehend bedingt durch die von Armut, mangelnder Hygiene und mangelnden Kenntnissen
geprägten Lebenssituation der Menschen (vgl. ENGELHARD, o.J.:63). Während eine Verbesserung der Gesundheitssituation eine Voraussetzung für die verbesserte Problemlösungsfähigkeit von Menschen und für Zukunftsfähigkeit ist, ist – wie die Erfahrung Europas
gezeigt hat – eine breite Verbesserung der Gesundheitssituation wohl nur auf dem Weg über
eine Verbesserung der sozio-ökonomischen Lebensbedingungen (Wohnsituation, Wasserversorgung, Hygiene) erreichbar.
Gesellschaftliches Wertesysteme: Die Basis für Solidarität geht verloren, doch eine
neue Basis für Eigenverantwortung ist noch nicht gewachsen
Die Verteilungssituation in den „Niedriglohnländern“ des Südens ist geprägt durch zwei Faktoren: Massenarbeitslosigkeit beziehungsweise Unterbeschäftigung, also ein enormes Überangebot an Arbeitskräften, die bereit sind, zu (nahezu) allen Bedingungen zu arbeiten, und
die Abwesenheit formeller sozialer Sicherungssysteme. Das heißt, die nicht in den Arbeitsmarkt Integrierten müssen durch Subsistenzproduktion, durch (oft marginale) informelle Aktivitäten und durch die Familie versorgt werden. Im gesamtgesellschaftlichen Kontext gibt es
keine institutionellen Systeme, die für sozialen Ausgleich sorgen. Im lokalen, familiären Kontext wird teilweise noch eine minimale soziale Sicherung durch die Solidaritätsnormen der
Subsistenz-Gesellschaften geschaffen. Doch die Basis für Solidarität und damit auch die
Tragfähigkeit traditioneller sozialer Sicherungssysteme wird auf zweierlei Weise unterminiert:
16
Materiell werden diese Systeme durch die Zunahme von Krisen (Dürre, HIV/ AIDS,
extreme Preisschwankungen) überfordert. Vielerorts nimmt die Zahl der Unterstützungsbedürftigen in Relation zur Zahl der Unterstützungsfähigen zu.
Hinsichtlich ihrer sozialen Basis wird dem Solidarverhalten durch Anonymisierung der
sozialen Beziehungen und der wirtschaftlichen Aktivitäten immer mehr die Grundlage
entzogen. Weiß man doch bei dem in der Stadt arbeitenden Mann nicht mehr, ob die
Familie mit oder ohne eigenes Verschulden in Not geraten ist (vgl. TRÖGER 2004).
Erschwert wird Solidarität und die Aufrechterhaltung sozialer Sicherungssysteme aber auch
durch die demographische Entwicklung. Anders als in den Ländern des Nordens liegt hier
das Problem nicht in einer Überalterung, sondern im hohen Anteil noch nicht erwerbsfähiger
Kinder. Während sich der demographische Übergang in Form von sinkenden Geburtenraten
in vielen Ländern bereits andeutet, besteht für die Familien und Gemeinschaften derzeit weiterhin das Problem, dass eine relativ geringe Zahl Erwerbsfähiger bei begrenzten Erwerbsmöglichkeiten eine relativ große Zahl Minderjähriger versorgen und ausbilden muss. Dies
beeinträchtigt die Investitionsfähigkeit und führt oft zur Vernachlässigung der Kinder, wie am
Beispiel der hohen Fehlernährungsraten von Kleinkindern zu erkennen ist. Beides beeinträchtigt die Chancen für NE.
Auch dort, wo zu Recht die Auflösung der Verbindlichkeit von Solidaritätsnormen beklagt
wird, trifft man gleichzeitig auf Menschen, die die weiter bestehenden sozialen und ökonomischen Fesseln dieses Normensystems beklagen. Soziale Verpflichtungen und Neid (mancherorts verbunden mit der Bedrohung durch Hexerei) hindern Mitglieder solcher Solidargemeinschaften daran, Ersparnisse lokal zu investieren und ökonomischen Erfolg anzustreben.
Im Kontext staatlicher Politik und Verwaltung führt die Orientierung an Solidaritätsnormen oft
zu Günstlingswirtschaft, Patronage, Nehmermentalität und steht nicht nur einer Entwicklung
von Eigeninitiative, sondern auch einer Gemeinwohlorientierung eher im Wege. Staatliche
Leistungen, z.B. im Bereich der medizinischen Betreuung und Behandlung kommen Angehörigen der eigenen Großfamilie, Volksgruppe oder Religionsgemeinschaft zugute und werden
anderen Staatsbürgern und –bürgerinnen vorenthalten.
Was für die Norm der Solidarität gilt, trifft für das Normensystem insgesamt zu: Ein einst relativ rigides, klare Verhaltensregeln vorgebendes und primär am Überleben der Gemeinschaft,
aber auch an der Naturerhaltung orientiertes, religiös untermauertes Wertesystem wird zunehmend ausgehöhlt: Der oben bereits skizzierte notwendige Spagat zwischen den sozialen
Beziehungen in Dorf und Familie und der Logik der Welt des Geldes und der Märkte erfordert Wertepluralismus. Der Verlust an Verbindlichkeit der alten Werte mündet für viele Men-
17
schen – angesichts fehlender realistischer neuer Perspektiven - in ein normatives Vakuum
und eine damit oft verbundene Verunsicherung.
Anders als in den alten Industrieländern, wo Wertepluralismus oft die Möglichkeiten individueller Entfaltung erweiterte und dadurch Anreize für zunehmende Eigenverantwortlichkeit
schuf, bleiben in armen Ländern solche Entfaltungschancen mangels ökonomischer Möglichkeiten eng begrenzt. Es entsteht keine reale Freiheit im Sinne SEN’s (s.o.). Dies führt oft
zu gemeinschaftsschädlichem Handeln wie Kriminalität, Prostitution, exzessivem Drogenkonsum usw.
Gesellschaftliche Integration: Der schwierige Weg von der vertikalen, klientelistischen
Integration hin zu horizontal organisierten Interessenvertretungsgemeinschaften
Ein hervorstechendes Merkmal gesellschaftlicher Integration in den meisten Ländern des
Südens ist die Dominanz klientelistischer Patronage- und Abhängigkeitsbeziehungen, strukturiert nach Familienzugehörigkeit, Ethnie, Religionsgruppe oder Region. Diese für vorindustrielle Gesellschaften typische Form der Einbindung sichert tendenziell das Überleben ärmerer Mitglieder der Gemeinschaft im Notfall. Sie behindert aber den Zusammenschluss sozial
benachteiligter Gruppen zu Interessenvertretungsorganisationen und damit einhergehende
emanzipatorische Prozesse. Sie begünstigt im Kontext moderner staatlicher Institutionen
Günstlingswirtschaft, Missbrauch öffentlicher Mittel und sie verhindert das Entstehen demokratischer Kontrolle von Unten.
Charakteristisch für die auf familiären Beziehungen basierenden Integrationsmuster sind
regionsübergreifende Netzwerke mit multilokalen Haushaltsstrukturen, getragen vom Bestreben der Diversifizierung der Existenzgrundlagen. Solche Netzwerke umspannen oft städtische und ländliche Räume, erstrecken sich aber zunehmend auch über Landesgrenzen und
Kontinente hinweg. Der Tendenz zur Aufrechterhaltung familiärer Integration steht aber vielerorts eine mit räumlicher und sozialer Mobilität einhergehende Tendenz zur Desintegration
lokaler Gemeinschaften gegenüber. Wo lokale Führer an Autorität verlieren, wo es keine
klaren Regeln mehr gibt und wo Misstrauen dominiert, kommt gemeinschaftliche lokale Aktion oft nicht mehr zustande. Die verbreitete Tendenz zum Auseinanderbrechen lokaler Gemeinschaften erweist sich dort als besonders problematisch, wo weder der Markt noch der
Staat die zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse notwendigen Leistungen erbringen
können (dies gilt insbesondere für ländliche Regionen). Dort spielt die Kooperation lokaler
Gemeinschaften und die gemeinschaftliche Übernahme von Verantwortung (‚ownership’)
eine potenziell wichtige Rolle bei der Suche nach und der Umsetzung von nachhaltigen Lösungen. Funktionsfähige Trinkwasserversorgungssysteme, Schulen, Krankenstationen, Bewässerungsanlagen, die Erhaltung von Wegen und Gemeindewäldern und die Schlichtung
18
lokaler Konflikte sind kaum vorstellbar ohne anerkannte lokale Institutionen. Funktionierende
Gemeinschaften sind in diesem Kontext wichtiger als hierzulande.
In den klientelistischen, hierarchisch strukturierten Gesellschaften des '
Südens'sind die
Chancen der Beteiligung an gemeinschaftlichen bzw. politischen Entscheidungen tendenziell
ungleich verteilt. Insbesondere Frauen, junge Leute und Landlose haben geringe Mitwirkungsmöglichkeiten. Demokratisierungs- und Dezentralisierungstendenzen bieten zwar formell erweiterte Beteiligungsrechte an öffentlichen Entscheidungen. Diese aber werden vorrangig von lokalen Eliten genutzt.
Zusammenfassend ist die Situation in den meisten Ländern des „Südens“ dadurch gekennzeichnet, dass die bislang das Überleben der Gemeinschaft – auch hinsichtlich der Nutzung
natürlicher Ressourcen – auf bescheidenem materiellen Niveau sichernden sozio-kulturellen
Systeme nur noch begrenzt funktionieren, ohne dass andere Normen oder Institutionen an
ihre Stelle getreten wären. Das entsprechende gilt für traditionelle und moderne Wissensund Befähigungssysteme. Soziale Sicherheit hat sich dadurch, aber auch durch demographische Ungleichgewichte, auf zum Teil beträchtliche Weise verringert. Eine neue tragfähige
Basis für individuelle Eigenverantwortlichkeit hat sich aber aufgrund begrenzter Möglichkeiten der stabilen Integration in die marktwirtschaftliche Dynamik in den meisten Gesellschaften auch nicht – oder nur in wenigen städtischen, weltmarktintegrierten Segmenten – herausbilden können. Unangepasste Bildungs- und Gesundheitssysteme sind mit dafür verantwortlich, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zu Veränderungsprozessen durch Krankheiten
und mangelndes Wissen begrenzt bleiben. Die Gesellschaften ‚im Umbruch’ stecken oft in
einer lange währenden und eine nachhaltige Entwicklung bedrohenden gesellschaftlichen
Krise.
2.3
Die gesellschaftliche (und interkulturelle) Dimension des Nord-SüdVerhältnisses
Wie gezeigt wurde, sind die gesellschaftlichen Systeme in den Ländern des '
Nordens'und
des '
Südens'aufgrund ihrer spezifischen differierenden wirtschaftlichen Bedingungen sehr
unterschiedlich: In den alten Industrieländern geht es um den Erhalt der Zukunfts- und Problemlösungsfähigkeit durch Reformierung der Bildungssysteme im Sinne einer Suche nach
der angemessenen Kombination von Eliten- und Breitenförderung, von fachlicher und sozialer Kompetenz. In Entwicklungsländern geht es um die Bewältigung des Spagats zwischen
Anpassung an die Erfordernisse globaler Konkurrenzfähigkeit einerseits und ländlicher Überlebenssicherungssysteme andererseits. In Nord wie Süd sind die gesellschaftlichen Wertesysteme im Umbruch beziehungsweise in der Krise. In den durch zunehmenden Werteplura-
19
lismus gekennzeichneten post-modernen Gesellschaften des Nordens ist ein kontinuierlicher
Wertediskurs nötig, um – z.B. bezüglich NE – eine gemeinsame normative Basis zu erhalten
bzw. immer wieder neu herzustellen. Ein aktuelles Beispiel hierfür sind die Bemühungen, das
Verhältnis zwischen Solidarität und individueller Eigenverantwortlichkeit angesichts globaler
Konkurrenz durch Niedriglohnländer neu auszutarieren. Im Süden hat das Einbrechen von
Marktbeziehungen das Normengerüst der Gesellschaften und damit auch die Solidaritätsbasis erschüttert, ohne eine solide neue Basis für soziale Beziehungen und veränderte Wertemuster anbieten zu können. In den alten Industrieländern geht es um soziale Sicherungssysteme und Kooperationsformen, die auf anonymer Solidarität basieren. In den Ländern des
Südens geht es für die meisten nicht in gesicherten Beschäftigungsverhältnissen lebenden
Menschen um die Erhaltung klientelistischer Patronage- und Abhängigkeitsverhältnisse und
um soziale Sicherung auf der Basis familiärer Solidarität. Auf beiden Seiten ist die Nachhaltigkeit der Systeme bedroht.
Die vergleichende Analyse hat ebenso deutlich gemacht, dass die Probleme auf beiden Seiten miteinander verknüpft sind: Die Herausforderungen an die Lern- und Problemlösungsfähigkeit der Gesellschaften in Nord und Süd haben mit Erhaltung bzw. Herstellung globaler
Konkurrenzfähigkeit zu tun. Der Verfall traditioneller Normen im Süden hat mit zunehmender
Globalisierung und Markteinbindung zu tun. Die Infragestellung der Tragfähigkeit sozialstaatlicher Umverteilung im Norden hat mit globalisierungsbedingter Niedriglohnkonkurrenz aus
dem Süden zu tun. Erweitern wir den Betrachtungshorizont auf ökonomische, ökologische
und politische Zusammenhänge, ergibt sich ein noch weitaus vielfältigeres Spektrum von
Interdependenzen. Diese Einsicht hat zur Formulierung des Theorems einer "Weltgesellschaft" geführt, womit aber eher eine Notwendigkeit im Hinblick auf die Vision NE angesprochen wird als eine Zustandsbeschreibung.
Im Kontext der sozialen und sozio-kulturellen Dimension stehen hinsichtlich der Annäherung
an das Modell einer "Weltgemeinschaft" (BMZ 2004: 26) drei Fragen im Vordergrund:
1.
Die Frage nach Relevanz und Möglichkeit des globalen Lernens, der Vermittlung von
Problemlösungsfähigkeiten.
2. Die Frage nach der Relevanz und Möglichkeit gemeinsamer globaler Wertesysteme
im Hinblick auf eine NE angesichts der real existierenden kulturellen Unterschiede.
3. Die Frage nach der Relevanz und Möglichkeit von gesellschaftlicher Integration im
globalen Maßstab (globaler Solidarität, Kooperation und Beteiligung).
20
2.3.1 Globales Lernen
Internationaler Austausch von Wissen und Vermittlung von Problemlösungsfähigkeiten findet
über vielfältige Kanäle statt: Wirtschaftsbeziehungen, Medien, wissenschaftlicher Austausch,
internationale Bildungs- und Weiterbildungsprogramme, Studienreisen und die Entwicklungszusammenarbeit sind wesentliche Formen der Verbreitung von Information, Wissen
und Fähigkeiten.
Nicht immer erhöht das importierte Wissen die Problemlösungsfähigkeit hinsichtlich NE. Viele Informationen und Fähigkeiten dienen kurzfristigen kommerziellen Interessen. Oft auch
wird relevantes Wissen aus kommerziellen Interessen unter Verschluss gehalten. Viele Informationen und Fähigkeiten werden angebotsgesteuert ohne Berücksichtigung der Bedingungen im Empfängerland bereitgestellt und erweisen sich deshalb als ungeeignet im jeweiligen lokalen Kontext. Nicht selten aber gelingt es den Nutzern der Information, selektierend
und modifizierend sich zu Eigen zu machen, was ihnen in ihrem Kontext nützlich erscheint.
Effektiveres globales Lernen, das zu situationsgerechten Problemlösungen führt bedarf eines
Problemlösungsdiskurses vor Ort unter Berücksichtigung der lokalen Bedingungen und Erfahrungen zwischen Trägern des externen und des lokalen Wissens. Da viele Probleme bezüglich nachhaltiger Entwicklung aber nicht auf unzureichendes Wissen oder mangelnde
Fähigkeiten zurückzuführen sind, sondern auf Partikularinteressen mächtiger gesellschaftlicher Gruppen und auf problematische Anreizsysteme, genügt es nicht, auf Lernprozesse der
Entscheidungsträger zu vertrauen. Die Problemlösungsfähigkeit von Gesellschaften wird oft
nur dann erhöht, wenn die Fähigkeit der vom Problem betroffenen Gruppen, ihre Interessen
wirksam zu vertreten gestärkt wird und wenn verbesserte Anreizsysteme geschaffen werden.
Menschen verhalten sich oft nicht entwicklungs- und nachhaltigkeitskonform obwohl sie es
besser wissen, weil es sich nicht lohnt, das als richtig erkannte zu tun.
2.3.2 Möglichkeiten und Grenzen globaler Wertesysteme
Das Konzept "Nachhaltiger Entwicklung" basiert auf einer Einigung auf gemeinsame Werte
im globalen Maßstab. Die konkrete Umsetzung von NE setzt weitere Auseinandersetzungen
um die Ausgestaltung dieser Wertebasis voraus. Ohne gemeinsame Werte kein gemeinsames Handeln. Und ohne gemeinsame Werte ist auch internationale Solidarität schwer vorstellbar. Gemeinsame Werte sind eine unverzichtbare Grundlage für den auszuhandelnden
globalen Kompromiss zwischen reichen und armen Ländern bezüglich der Grenzen der Nutzung gemeinsamer Lebensgrundlagen und der Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs. Die
weltweite Anerkennung der Grundsätze der inter-generationellen und intra-generationellen
Gerechtigkeit in Rio bildete einen Meilenstein auf dem Weg zu einem globalen Wertekompromiss.
21
Auf Grenzen stoßen die Bemühungen um Schaffung einer gemeinsamen globalen Wertebasis einerseits aufgrund der Vielfalt der Kulturen mit ihren jeweils spezifischen historisch gewachsenen Wertesystemen, und andererseits angesichts der Unterschiedlichkeit der Bedingungen. Es kann dabei nicht um die Fiktion einer Universalität der "westlichen" bzw. "nördlichen" Werteorientierung gehen. Diese ist, zumindest kurz- bis mittelfristig, trotz globalisierter
Medien nicht möglich, da wesentliche sozio-ökonomische Voraussetzungen hierfür in vielen
Regionen des Südens und bei vielen Bevölkerungsgruppen nicht gegeben sind (vgl. APPELT, o.J.:60). Solch universelle demokratische und marktwirtschaftliche Werte sind auch
nicht notwendig, um zu sinnvollen Vereinbarungen über grundlegende Menschenrechte, internationalen Handel, friedliche Konfliktaustragung oder Schutz globaler Umweltressourcen
zu gelangen. Aber auch unterschiedliche Existenzbedingungen erschweren die Einigung auf
eine gemeinsame Wertebasis: Wo ein Durchschnittseinkommen von 200 US$ pro Kopf auf
eine Waldbedeckungsrate von 80 % stoßen, wird die Haltung gegenüber einer Reduzierung
des Waldbestandes anders sein, als dort, wo ein Pro-Kopf-Einkommen von 5000 $ auf eine
Waldbedeckungsrate von 20 % stößt. Wo 60 % der Bevölkerung auf der Suche nach einem
Arbeitsplatz sind, um ihre Familie vor dem Verhungern zu bewahren, wird die Haltung gegenüber Sozialstandards anders aussehen als dort, wo die Arbeitslosenquote bei 5 % liegt.
Es geht bei der Debatte um globale Wertesysteme also nicht nur um die Auseinandersetzung Menschenrechte versus Kulturrelativismus, sondern auch um eine kontextgerechte
Formulierung von Menschenrechten, einer Formulierung, die sich nicht an abstrakten universellen Standards orientiert, sondern daran, ob sie für die Betroffenen zu einer realen Verbesserung ihrer Situation beiträgt.
Der Kompromiss in diesem Spannungsfeld liegt in der Einigung auf
generell formulierte Grundwerte bzw. Orientierungsziele (z.B. NE)
ökologische, soziale und menschenrechtliche Mindeststandards, die keinesfalls unterschritten werden sollten,
Unterstützung der armen durch die reichen Länder bei Finanzierung der Kosten, die
mit der Einhaltung dieser Mindeststandards verbunden sind, verbunden mit Mechanismen internationaler Kontrolle.
2.3.1 Gesellschaftliche Integration im globalen Rahmen: Die Debatte um Solidarität,
Kooperation und Beteiligung im Nord – Süd – Verhältnis
Die globale ökonomische Integration schreitet voran. Auch die Ökosysteme sind über die
Erdathmosphäre und die Ozeane global integriert. Daraus resultiert die Notwendigkeit zu
gemeinsamem bzw. zu aufeinander abgestimmtem Handeln. In der plakativen Forderung
nach einer "Welt-Innenpolitik" wird dieser Notwendigkeit Ausdruck verliehen. Die Frage der
Teilhabe an den Ressourcen und Gütern dieser Erde, der Mitwirkung an der Lösung der
22
Probleme und der Teilnahme an Entscheidungsprozessen von weltweiter Relevanz stellt sich
auch im internationalen Kontext.
Was kann soziale Gerechtigkeit im internationalen Kontext bedeuten? Wie kann eine ‚gerechte Gestaltung der Globalisierung’, wie sie von der Bundesregierung angestrebt wird,
konkret aussehen?
Unterschiedliche Überlegungen sind bei Beantwortung dieser Fragen zu berücksichtigen:
Internationale Gerechtigkeit kann sich nicht auf (re-)distributive Gerechtigkeit im Sinne von RAWLS (1979: 336), das heißt auf kompensatorische Transferleistungen in
Form von Entwicklungshilfe bzw. Entwicklungszusammenarbeit alten Stils beschränken. Es geht auch darum, durch Regulierung internationaler Handelsbeziehungen
(z.B. Abbau des Protektionismus der Industrieländer, Toleranz temporärer protektionistischer Maßnahmen seitens der Entwicklungsländer) und durch faire Aufteilung
von Umwelterhaltungskosten nach dem Nutznießerprinzip die aus asymmetrischen
Weltwirtschaftsbeziehungen resultierenden Ungleichheiten zu reduzieren.
Internationale Gerechtigkeit kann sich nicht auf das Prinzip der Freiwilligkeit seitens
der '
Geberländer'verlassen. Es bedarf vielmehr Bestrebungen hin zu einer politischen Weltgemeinschaft, im Rahmen derer bindende Vereinbarungen entsprechend
dem Grundsatz der Gleichberechtigung ausgehandelt werden. Der Prozess von Rio
de Janeiro und Johannesburg, aber auch viele andere internationale Vereinbarungen
zeigen, dass dies eine schwierige, aber keineswegs aussichtslose Aufgabe ist.
Internationale Gerechtigkeit betrifft einerseits die Beziehungen zwischen Staaten. Die
eigentlichen Adressaten und Adressat/innen sind jedoch die Bevölkerungsgruppen,
die unter der Ungleichheit leiden, die Armen. Da diese oft innerhalb der Länder des
'
Südens'keine starken Fürsprecher haben, ist dafür Sorge zu tragen, dass die Bemühungen um globalen sozialen Ausgleich diesen Bevölkerungsgruppen auch tatsächlich zugute kommen. Aus diesem Widerspruch resultiert die Forderung nach konditioniertem zwischenstaatlichen Ausgleich. Beispiel hierfür ist die Bindung von internationaler Unterstützung an Armutsminderungsprogramme der Partnerregierungen.
Sozialer Ausgleich baut auf Solidarität. Was aber kann und muss Solidarität im internationalen Kontext bedeuten? Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, noch einmal darauf zu verweisen, dass Solidarität nicht notwendigerweise auf dem Gefühl oder der moralischen
Grundhaltung der Empathie beruht, sondern auch Ergebnis eines aufgeklärten Eigeninteresses sein kann. Internationale Solidarität erscheint dann nicht mehr primär als moralisches
Postulat, sondern als eine Voraussetzung der langfristigen Sicherung der gemeinsamen Lebensgrundlagen der Menschheit, also von NE (HÖFFE 1999: 74-79). Sie ist gefordert durch
den objektiv vorgegebenen ökonomischen, ökologischen, gesellschaftlichen und politischen
Weltzusammenhang und mündet in einem Fernziel, das KÖSSLER und MELBER (2002:
23
147) als "Entgrenzung ziviler Solidarität" kennzeichnen. Es lohnt sich, bei einer realistischen
Bestimmung der Grundlagen und Formen internationaler Solidarität nach WATERMAN
(2001: 236) zwischen fünf Motiven für solidarisches Handeln zu unterscheiden:
Identität auf der Basis gemeinsamer Interessen (z.B. Arbeiterbewegung);
Substitution als Einsatz für diejenigen, die sich nicht selbst wehren können (Mildtätigkeit, Entwicklungszusammenarbeit);
Komplementarität als Austausch von Erfahrungen und gegenseitige Hilfe unterschiedlicher Art (z.B. Wissenschaftskooperation);
Reziprozität als Austausch gleicher Güter und Hilfsleistungen (Notfallhilfe);
Affinität auf der Basis gemeinsamer Wertvorstellungen, Gefühle, Ideen und Identitäten (z.B. bei Religionsgemeinschaften);
Restitution auf der Grundlager der Anerkennung historischen Unrechts (z.B. Wiedergutmachung zwischen Deutschland und Israel).
Im Nord – Süd – Verhältnis stehen traditionell die Motive Substitution und Restitution im Vordergrund. Interessenidentität hingegen besteht nicht konkret (wie im Falle der Arbeiterbewegung), sondern nur hinsichtlich des langfristigen und grundsätzlichen gemeinsamen Interesses am friedlichen Überleben in der "Einen Welt". In dieser eher abstrakten Form von Solidarität besteht eine entscheidende pädagogische Herausforderung. Der Anspruch auf internationale Solidarität sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass ein verantwortungsvolles solidarisches Handeln im politischen zwischenstaatlichen Kontext an die Eigen-Interpretation
des wohlverstandenen gemeinsamen Interesses seitens der Akteure gebunden und diesen
überantwortet ist.
Diese Interpretation wird dadurch erschwert, dass auch für den Bereich internationaler Beziehungen das Spannungsverhältnis von Solidarität und Eigenverantwortlichkeit von hoher
Relevanz ist. ‚Hilfe’, welche die Bereitschaft zu eigenverantwortlichem Handeln unterminiert,
kann bekanntlich Abhängigkeit verstärken und Ungleichheit vertiefen. Der Slogan ‚Hilfe zur
Selbsthilfe’ weist die Richtung. Konkrete Synthesen zwischen externer Unterstützung und
lokaler Verantwortung müssen orientiert am Subsidiaritätsprinzip immer neu ausgehandelt
werden. Insofern ist internationale Solidarität eher als Ergebnis von Verhandlungsprozessen
zu sehen, denn als Resultat einseitiger moralischer Reflektionen über das angemessene
Maß an Unterstützung. In der Bereitschaft, sich gegenüber weniger Mächtigen auf gleicher
Augenhöhe in Anerkennung der Unterschiedlichkeit von Interessen und Wertemustern, aber
auf dem gemeinsamen Fundament der UN – Menschenrechtsdeklarationen an den Verhandlungstisch zu begeben, liegt wohl die eigentliche Herausforderung für die Gesellschaften der
reichen Länder (vgl. hierzu Kapitel 5 und 6).
Hier wird deutlich, dass internationale Einigung auf gemeinsame Werte und internationale
Solidarität unmittelbar miteinander verknüpft sind. Ohne ein Minimum an gemeinsamer Wer-
24
tebasis fehlt die Grundlage für internationale Solidarität. Und ohne solidarische Unterstützung sind für ärmere Gesellschaften solche Werte oft zu teuer. Die Art der Verknüpfung setzt
wiederum Diskurse, Verhandlungen auf gleichberechtigter Basis voraus.
Auch die Fähigkeit zur Kooperation auf internationaler Ebene setzt gemeinsame Ziele und
damit eine gemeinsame Wertebasis sowie ein gewisses Maß an Solidarität zwischen starken
und schwachen, reichen und armen Kooperationspartnern voraus. Die internationale Entwicklungszusammenarbeit bietet ein reiches Spektrum an Erfahrungen bezüglich der
Schwierigkeiten und der Möglichkeiten erfolgreicher Kooperation zwischen armen und reichen Partnern im interkulturellen Kontext. Entscheidendes Erfolgskriterium dabei ist, dass es
vermieden wird, dass durch die Dominanz des reichen Partners dem armen Partner das Gefühl der Zuständigkeit und Verantwortung über das gemeinsame Vorhaben aus der Hand
genommen wird.
Der Aspekt der internationalen Kooperation ist deshalb eng verbunden mit dem Aspekt der
gleichberechtigten Beteiligung wirtschaftlich schwächerer Partner an den sie betreffenden
Entscheidungen im Rahmen internationaler Organisationen. Dies betrifft vor allem die Entscheidungsprozesse in den Gremien von Weltbank, internationalem Währungsfonds und
WTO, welche derzeit noch stark von den finanzstarken Ländern dominiert werden.
Kulturelle Unterschiede, insbesondere Unterschiede hinsichtlich der Tradition im demokratischen Diskurs, erschweren internationale Kooperation und Solidarität zwischen Gesellschaften unterschiedlichen Entwicklungsstands. Globalisierungsprozesse in Verbindung mit dem
Ziel NE aber machen eine Verbesserung der Kooperation auf Basis einer am wohlverstandenen langfristigen Eigeninteresse und an den grundlegenden Menschenrechten orientierten
Solidarität unverzichtbar. Die damit verbundenen Schwierigkeiten können nur durch verbesserte interkulturelle Kompetenz überwunden werden, d. h. durch ein verbessertes Verständnis der Existenzbedingungen, der Wertesysteme und der diesen zugrundeliegenden Strukturen anderer Gesellschaften. Diese Verständnis wird gestärkt durch den in diesem Kapitel
gebotenen Vergleich mit entsprechenden Situationsmerkmalen in der eigenen Gesellschaft.
4. Kohärenzerfordernisse zu anderen Dimensionen der Nachhaltigkeit
In Abschnitt 1 wurde oben dargelegt, dass die verschiedenen Dimensionen der Nachhaltigkeit teilweise zueinander in einer Konkurrenzbeziehung stehen, teilweise aber auch einander
25
ergänzen. Herstellung von Kohärenz heißt demzufolge Komplementaritäten zu nützen und
Konflikte zu bewältigen, so dass insgesamt der positive Einfluss auf NE maximiert wird.
Übersicht 1 gibt einen Überblick über die verschiedenartigen in der Literatur diskutierten und
in der Empirie beobachtbaren positiven und negativen Beziehungen zwischen den vier Dimensionen.
MATRIX
In den weiteren Ausführungen richten wir unseren Blick auf jene Bezüge, die speziell mit der
gesellschaftlichen Dimension bestehen.
3.1 Die gesellschaftliche Dimension und die Umwelt
3.1.1 Möglichkeiten der Stärkung von Komplementaritäten
Kulturelle Normen zum Umgang mit Natur gibt es in den meisten Gesellschaften. Sie
bedürfen einer fortwährenden Reflektion im Hinblick auf neue Erkenntnisse aus den
Umweltwissenschaften und auf sich verändernde Formen der Nutzung natürlicher
Ressourcen. Gesellschaftliche Diskurse zum Zweck einer zeitnahen Anpassung der
Normen zum Umgang mit der Natur und zur Herstellung einer breiten sozialen Akzeptanz dieser Normen sind eine wichtige Voraussetzung für Kohärenz zwischen dem
sozialen System und dem Ökosystem. Dieser Diskurs muss über Umwelterziehung,
in den Medien und den politischen Auseinandersetzungsforen geführt werden.
Tradiertes Wissen über lokale Ökosysteme war eine wichtige Grundlage für umweltgerechte Nutzungsformen in Agrargesellschaften. Aufgrund der hohen Komplexität
von Ressourcennutzungssystemen in arbeitsteiligen Industriegesellschaften ging die
Kompetenz im Zusammenhang mit dem Umgang mit der natürlichen Umwelt zunehmend verloren. Ein verbessertes Wissen über die wichtigsten Ökosystemzusammenhänge (z.B. Emissionen und globale Klimazusammenhänge) bildet eine wichtige
Grundlage für umweltgerechtes Verhalten. Dabei kommt es – in Nord und Süd – aud
eine kontextgerechte, auf die reale Lebenssituation der Menschen bezogene Umwelterziehung an.
Nicht nur Umwelt bezogene Werte sind wichtig für die Harmonie zwischen Gesellschaft und Natur. Gesellschaften mit intakten, auf breiter Basis akzeptierten Normen,
die das soziale Miteinander regeln, werden im Falle von Ressourcennutzungskonflikten weniger zu destruktiven Lösungen zu Lasten der Natur tendieren. Dies gilt daher
in besonderem Maße für die Nutzung von Gemeinschaftsgütern.
26
Die Erhaltung natürlicher Ressourcen erfordert oft gemeinschaftliche Entscheidungen
und Aktionen. Insofern ist die Fähigkeit zu Kooperation eine wesentliche soziale Ressource (´Sozialkapital`), wo es um nachhaltige Entwicklung geht. Die Stärkung von
Organisationen für die gemeinschaftliche Nutzung bzw. Kontrolle von natürlichen
Ressourcen ist deshalb ein wichtiger Beitrag zur Kohärenz zwischen der sozialen und
ökologischen Dimension von NE.
3.1.2
Möglichkeiten der Überwindung von Konflikten:
Sozialer Ausgleich zwischen Reich und Arm erfolgt häufig zulasten der Natur. Um solche
umweltschädlichen Konfliktlösungsstrategien zu vermeiden, gibt es folgende Möglichkeiten:
Umverteilung der Zugangsrechte zu natürlichen Ressourcen (z.B. durch Landreform);
technische Lösungen, welche den Verteilungsspielraum erweitern und dadurch bessere Bedürfnisbefriedigung im Rahmen der ökologischen und sozialen Grenzen ermöglichen (z.B. Erträge steigernde Produktionsmethoden, Emissionen reduzierende
Verfahren);
partizipative, gemeinschaftliche Planung und Durchführung von Ressourcennutzung
(z.B. dörfliche Landnutzungsplanung);
Finanzierung der Umwelterhaltungsinvestitionen bzw. –kosten durch die letztendlichen Nutznießer über höhere Preise für Ökoprodukte, über Gebühren (z.B. Parkeintrittsgebühren) oder über finanzielle Transferleistungen (Steuern/ Subventionen);
verbesserte Anreizsysteme für Ressourcen erhaltende, nachhaltigkeitskonforme Nutzung durch Schaffung langfristiger individueller Nutzungssicherheit;
Schaffung alternativer Existenzmöglichkeiten, die nicht auf der Nutzung gefährdeter
Ressourcen beruhen (z.B. nicht landwirtschaftliche Einkommensmöglichkeiten).
In all diesen Fällen geht es um institutionelle Regelungen oder um Schaffung wirtschaftlicher
Möglichkeiten, welche Natur erhaltende Bewirtschaftung möglich, erschwinglich oder attraktiver machen können, um dadurch eine nachhaltigkeitskonforme Verbesserung der Existenzgrundlagen für arme Bevölkerungsgruppen zu schaffen.
Ein anders gelagerter Konfliktfall zwischen sozio-kulturellem und ökologischem System entsteht dort, wo Normen und Regeln zum Umgang mit Natur veraltet sind und deshalb den
aktuellen Nutzungssystemen und Knappheitsverhältnissen nicht mehr gerecht werden (z.B.
aufgrund von stark zunehmender Nutzungsdichte oder Verkehrsdichte). In solchen Fällen gilt
es, über Bereitstellung von Umweltinformationen über die jeweils relevanten Ökosystem -
27
Zusammenhänge und -Gefährdungen ein aktualisiertes Problembewusstsein zu schaffen
und über Initiierung von Diskursen zu angepassteren Lösungen zu gelangen.
3.2
Die gesellschaftliche Dimension und die Wirtschaft
Erfolgreiches, konkurrenzfähiges Wirtschaften ist auf Dauer nicht möglich ohne einen hohen
Anteil an gesunden, aktiven und kompetenten Menschen, ohne sozialen Frieden und ohne
ein gewisses Maß an gesellschaftlichem Zusammenhalt. Auch gewinnt – zumindest in postindustriellen Gesellschaften – ein intaktes und lebendiges sozio- kulturelles Milieu für die
Wirtschaft als Standortfaktor zunehmend an Bedeutung (Beispiel Südbayern). Andererseits
schafft hohe Produktivität Spielräume für sozialen Ausgleich und kulturelle Entfaltung. Solche
unbestreitbaren Komplementaritäten zwischen sozialer / sozio- kultureller und ökonomischer Sphäre gilt es, bei den Interessenvertretern und Advokaten beider Belange bewusst zu
machen. Im Rahmen sozialpartnerschaftlicher Diskurse gilt es, Modelle für sozialverträgliche,
familienfreundliche und soziale Unsicherheit und Instabilität begrenzende Modelle für die
Harmonisierung konkurrenzwirtschaftlicher und lebensweltlicher Belange weiterzuentwickeln.
Gemeinden und regionale Gebietskörperschaften können hierzu beitragen, indem sie die
Qualität sozialer und kultureller Milieus im Rahmen des Standort-Marketing gebührend würdigen. Dies gilt grundsätzlich auch für die Länder des Südens. Dort sind solche Komplementaritäten zwischen Kultur und Ökonomie vor allem für den Tourismussektor relevant. Sie
können aber auch bei Privatinvestitionen in industriellen Sektoren eine Rolle spielen.
Konflikte zwischen Kapitalverwertungsansprüchen und Konkurrenzfähigkeit einerseits und
sozialen Kosten, sozialer Einbindung, den Erfordernissen von Kinderbetreuung und einem
ganzheitlich orientiertem, nicht auf Berufsvorbereitung beschränktem Bildungssystem andererseits gilt es zu lösen. Zu diesem Zweck sind verbesserte Bildungs- und Sozialstaatsmodelle zu erarbeiten, welche
soziale Grundsicherung für alle mit verbesserten Anreizsystem verbinden;
Kapital orientierte Flexibilisierungsbedürfnisse mit Arbeitnehmer freundlichen Flexibilisierungen (z.B. Teilzeitbeschäftigungsoptionen) verbinden.
den zunehmenden Flexibilitätsanforderungen der Arbeitsmärkte gleichermaßen
Rechnung tragen wie sozialen, politischen und ökologischen Kompetenzen als mündigem Bürger in einem demokratischen Gemeinwesen.
Dies wird nur dann möglich sein, wenn es auch gelingt, die nachhaltigkeitsfeindliche Tendenz zur ausschließlichen Orientierung des Wirtschaftens am kurzfristigen ´Shareholder Value` im Rahmen eines breiten Diskurses um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft zu
problematisieren.
28
In den Gesellschaften der Entwicklungsländer bedarf es ähnlicher Diskurse über die Anpassung traditioneller Solidaritätsnormen und sozialer Sicherungssysteme an veränderte Bedingungen. Wo z. B. familiengebundene soziale Sicherungssysteme nicht mehr funktionieren,
aber auch die institutionellen und fiskalischen Grundlagen für formelle staatliche Systeme
noch nicht gegeben sind, können auf modernen Selbsthilfegruppen basierende, staatlich
bezuschusste soziale Sicherungssysteme zur Diskussion gestellt werden.
3.3
Die gesellschaftliche Dimension und die Politik
Geht es bei der gesellschaftlichen Dimension mehr um Kompetenzen, Normen, Verhaltensmuster und Formen der Einbindung von Individuen in die Gesellschaft, so geht es bei
der politisch-institutionellen Dimension eher um die regulierende, gesetzgebende, durch Gewaltmonopol letztlich durchsetzbare, auf das gesellschaftliche Ganze bezogene Macht des
Staates. Beide Sphären sind eng miteinander verknüpft. Politische Stabilität basiert auf
sozialem Frieden. Der Respekt vor dem Gesetz ist umso größer, je mehr dieses auf sozial
anerkannten Normen beruht, und die Qualität von Politik ist Resultat von staatsbürgerlichem
Engagement auf dem Fundament eigenverantwortlich handelnder politischer Individuen. Andererseits ist ein stabiler politisch-institutioneller Bezugsrahmen eine wichtige förderliche
Bedingung für zivilgesellschaftliches Engagement und die Entwicklung von Problemlösungskompetenz.
Konflikte zwischen beiden Sphären gewinnen dort an Bedeutung, wo sozio- kulturelle Normen stark an die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Teilgruppen gebunden sind, wo das
Trennende zu stark, das Gemeinsame zu schwach ist. Dies trifft vor allem auf viele Gesellschaften des Südens zu. Dort ist Moral stark an familiär, religiös oder ethnisch abgegrenzte
„Wir-Gruppen“ gebunden, gibt es keine stark ausgeprägte generelle, abstrakte öffentliche
Moral, die sich auf alle Mitglieder der Gesellschaft, d. h. auf aller Nutzer und Nutzerinnen
öffentlicher Dienstleistungssysteme bezieht (was z.B. im öffentlichen Gesundheitsdiensten
oft zur Vernachlässigung von Patienten führt).
Mögliche Ansätze zur Stärkung der Komplementaritäten und Überwindung der Konflikte bestehen darin,
Dem Subsidiaritätsprinzip im Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat Geltung zu
verschaffen, das heißt den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen Verantwortung in
den Bereichen zu übertragen, in denen sie sich zuständig fühlen und kompetent sind;
gleichzeitig starke gruppenübergreifende gesamtgesellschaftlich orientierte Zusammenschlüsse und Institutionen zu fördern;
29
Verknüpfung kulturspezifischer und an nationaler Integration orientierter Bildungsinhalte;
Verknüpfung traditioneller und moderner Gesundheitssysteme;
funktionsbezogene Organisationen (z.B. Nutzerkomitees) mit modernen Führungspersönlichkeiten zu fördern, um so traditionelle Loyalitäten zu Status gebundenen
Führern schrittweise zu ergänzen und zu ersetzen;
die Möglichkeit und Macht zur Vertretung eigener Interessen bei benachteiligten
Gruppen gezielt zu stärken, damit im gesellschaftlichen Kontext nicht nur gut organisierte Eliten dominieren;
in öffentlichen Institutionen im Diskurs Kontext spezifische Moral-Codes zu erarbeiten.
Es geht also vor allem darum, die sozialen und kulturellen Potenziale gesellschaftlicher
Gruppen so weit wie möglich zu nutzen, diese gleichzeitig in gesamtgesellschaftliche Institutionen einzubinden und jenen sozialen Gruppen, deren Bedürfnisse dabei nicht zur Geltung
kommen, neue institutionelle Räume und Artikulationsmöglichkeiten zu eröffnen.
5. Die gesellschaftliche Dimension der Nachhaltigkeit im Kontext
der deutschen Entwicklungspolitik
"Die Armut mindern, den Frieden sichern und die Globalisierung gerecht gestalten – diese
drei Hauptziele der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) sind eng miteinander verbunden. ...Wenn die Menschen (in den Partnerländern des Südens und Ostens) die Chance
haben, ihre Lebenssituation zu verbessern, trägt das auch zur Zukunftssicherung bei uns
bei. Um diese Ziele zu erreichen, folgt die Entwicklungspolitik einem ganzheitlichen Ansatz:
dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung. Denn alle Bereiche entwicklungspolitischen
Handelns hängen eng zusammen. In einem Bereich allein lassen sich keine erfolge erzielen,
wenn man die anderen Bereiche außer Acht lässt." (BMZ 2004: 6-7, Hervorhebung durch die
Verf.).
Ist demnach NE das Leitbild der deutschen Entwicklungspolitik, so sind die Ziele der Milleniumserklärung der Vereinten Nationen ("Millenium Development Goals" : MDG) vom September 2000 der internationale Bezugsrahmen. Die darin verabschiedete Zielsetzung einer
weltweiten Halbierung der extremen Armut bis zum Jahr 2015 spiegelt sich auch im "Aktionsprogramm 2015" der Bundesregierung, dem deutschen Beitrag zu den MDG wider.
30
Beim Bestreben um das Erreichen der Ziele des "Aktionsprogramms 2015" orientiert sich die
deutsche Entwicklungspolitik am Konzept einer "globalen Struktur- und Friedenspolitik", welche auf verschiedenen Ebenen agiert: In der BMZ-Broschüre "Wirtschaft – Soziales – Entwicklung: Armut bekämpfen und Gerechtigkeit schaffen" von 2004 werden drei Ebenen unterschieden: International, national (in den Partnerländern) und Deutschland. Bei der Darstellung der Interventionen im Rahmen der einzelnen Handlungsfelder des Aktionsprogramms
wird zum Teil innerhalb der Partnerländer weiter nach regionaler und lokaler Interventionsebene unterschieden (vgl. auch RAUCH 2003: 35–46).
a. Auf globaler Ebene geht es um das Aushandeln internationaler Vereinbarungen zur
Welthandelspolitik, sowie zur globalen Umwelt-, Menschenrechts- und Sozialpolitik.
Dadurch soll eine gemeinsame normative Basis in Form von Grundsätzen und Mindeststandards und ein gemeinsamer Bezugsrahmen für internationale Kooperation
geschaffen werden. Das Konzept der globalen Struktur- und Friedenspolitik ist damit
dem Prinzip des Multilateralismus verpflichtet und am Ziel der gerechten Gestaltung
von Globalisierungsprozessen orientiert.
Im Bereich der gesellschaftlichen Entwicklung geht es dabei primär um eine weltweite
Durchsetzung sozialer Menschenrechte (wie die Rechte auf Nahrung, Bildung, angemessenes Wohnen und Gesundheit sowie das Recht von Frauen und Mädchen auf
einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Gesundheitsvorsorge). Auch die
Kernarbeitsnormen der ILO, in denen die grundlegenden Arbeitnehmerrechte verankert sind, werden unterstützt (BMZ 2004: 27 f.). Deutschland verfolgt die Absicht, zur
Unterstützung dieser Ziele ein ständiges internationales Forum für soziale Fragen
einzurichten.
b. In Deutschland soll ein Struktur- und Bewusstseinswandel zugunsten einer weltweiten nachhaltigen Entwicklung erreicht werden. Dabei geht es um die Herstellung einer größeren Bereitschaft zu einer an einem aufgeklärten Eigeninteresse orientierten
internationalen Solidarität verstanden als ein Handeln im Bewusstsein gemeinsamer
globaler Verantwortung. Dabei wird unter anderem das Konsumverhalten ("Entwicklungspolitik mit dem Einkaufskorb"), Engagement in Lokalen Agenda 21 Initiativen
und gezieltes Spenden angesprochen. Ein weiteres wichtiges Aktionsfeld ist die Verbesserung der Kohärenz mit anderen Politikfeldern der Bundesregierung und der EU
(insbesondere im Bereich der Umwelt-, Agrar- und Wirtschaftspolitik).
c. In den Partnerländern geht es auf nationaler Ebene darum, die Regierungen dabei
zu unterstützen, Strukturen aufzubauen, die eine NE ermöglichen. Mittel der Unter-
31
stützung sind dabei Politikdialog, Konzeptentwicklung und Beratung mit den Zielsetzungen einer verbesserten demokratischen Regierungsführung, verstärkter marktwirtschaftlicher Orientierung und einer konsequenteren Armutsbekämpfung. Damit
sollen für die Bevölkerung in den Partnerländern verbesserte Rahmenbedingungen
für Eigeninitiative und die Entwicklung ihrer Potenziale geschaffen werden. Grundlage für die internationale Kooperation sollen nationale Strategien zur nachhaltigen Armutsbekämpfung sein.
Diese Interventions- bzw. Kooperationsstrategie zielt sowohl auf das Wollen als auch
auf das Können der Regierungen der Partnerländer. Die Ausrichtung der Politik der
Partnerländer soll im Sinne einer '
politischeren'EZ durch an Bedingungen gebundene
Unterstützung beeinflusst werden, wobei die Konditionalität sich an internationalen
Abkommen orientieren und daraus ihre Legitimität beziehen soll. Soweit erforderlich
soll die Konzipierung und Umsetzung der daraus resultierenden von den Partnerregierungen zu verantwortenden Reformprogrammen durch Finanzierungsbeiträge und
fachliche Beratung unterstützt werden.
Der Fokus der Kooperation liegt also eindeutig auf einer Veränderung der politischinstitutionellen Rahmenbedingungen. Diese umfassen aber auch explizit sozial- und
gesellschaftspolitische Aspekte.
d. Auf regionaler (sub-nationaler) Ebene in den Partnerländern geht es vor allem um
die Unterstützung des Aufbaus dezentraler Institutionen. Dies umfasst dezentrale
demokratische Regierungsführung im Rahmen kommunaler Selbstverwaltung, dezentrale Dienstleistungssysteme und dezentrale, Basis nahe Wissenssysteme als Grundlage für regionale innovative Problemlösungen. Aus der Perspektive der gesellschaftlichen Dimension von Nachhaltigkeit geht es hier vor allem um vier Aspekte:
um die Verknüpfung von politisch-institutioneller und sozio-kultureller Sphäre, von
bürgernahen staatlichen Instanzen und lokaler Gesellschaft durch geeignete institutionalisierte Beteiligungsverfahren;
um die Konzipierung und Umsetzung kontextgerechter Bildungs- und Gesundheitssysteme;
um die Nutzung sozialer Kompetenz lokaler Gemeinschaftsstrukturen und traditionellen Solidaritätsstrukturen im Rahmen der Entwicklung kontextgerechter, lokal auszuhandelnder und auf angemessene gemeinschaftliche Eigenverantwortung bauende
regionale Dienstleistungssysteme (soziale und ökonomische Dienstleistungen);
um standortgerechte Ressourcennutzungssysteme zur nachhaltigkeitskonformen Inwertsetzung lokaler bzw. regionaler Ökosysteme unter Berücksichtigung lokaler Nutzungsansprüche, Ökosystemzusammenhänge und lokalen Wissens.
32
e. Auf lokaler Ebene in den Partnerländern geht es im Rahmen des Konzepts der globalen Strukturpolitik nicht mehr um räumlich und zeitlich befristete Projekthilfe zur
Schaffung von '
Insellösungen'
, sondern primär um eine temporäre organisatorische
Unterstützung benachteiligter Gruppen, um diese besser in die Lage zu versetzen,
die neuen, durch demokratische und marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffenen Möglichkeiten besser zu nutzen und die damit verbundenen Probleme
und Risiken besser zu meistern.
Durch die Unterstützung regionaler Institutionen, Systeme und Konzepte soll es der
regionalen Bevölkerung, insbesondere den benachteiligten Gruppen ermöglicht werden, verbesserte politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen konstruktiv zur verbesserten
Befriedigung der Bedürfnisse zu nutzen. Erst auf regionaler Ebene können meist konkrete,
d.h. standort-, natur- und kulturraumspezifische Kompromisse zwischen Ökologie, Ökonomie, Gesellschaft und Politik gefunden werden. Darüber hinaus geht es darum, auf Basis
lokaler Erfahrungen realistische, Adressaten gerechte Konzepte auf nationaler Ebene zu
entwickeln und einschlägige Basis nahe Kompetenz für die Beratung auf nationaler und internationaler Ebene zu gewinnen.
Entscheidend für den Erfolg der globalen Struktur- und Friedenspolitik ist, dass die Interventionen auf den verschiedenen Ebenen aufeinander abgestimmt sind und zwischen den verschiedenen internationalen Gebern und den nationalen Entscheidungsträgern gut koordiniert
sind.
6. Wahrnehmungsprobleme
Wie wir hier in Deutschland auf die Menschen in Ländern des Südens reagieren – und damit
auch zu einem Handeln zu ihren Gunsten oder Ungunsten und damit zu Solidarität mit den
Armen bereit sind – hängt viel von solchen Bildern ab, die wir uns von den fremden Menschen machen und mit denen wir die Konturen der uns fremden Weltregionen auskleiden.
Unter Rückbezug auf die unter Punkt 1 vorgenommene Differenzierung zwischen „Können“
und „Wollen“ hängt eine Bereitschaft zu einem Handeln im Sinne einer globalen nachhaltigen
Entwicklung im Norden in besonderem Maße von dem Faktor „Wollen“ und damit von Wahrnehmungen und den aus ihnen resultierenden Wertungen ab.
Im Alltag der Menschen in Deutschland lassen sich spezifische Wahrnehmungsmuster identifizieren, die auf Seiten der Betrachter verallgemeinernd drei Reaktionen wachrufen, die jeweils ihre spezifischen Implikationen für die Frage einer Solidarität mit den Bedürftigen in
dem oben angesprochenen Sinne haben:
33
1) Resignation angesichts der „Hoffnungslosigkeit des Falls“;
2) Angst vor Überfremdung;
3) Angst um die eigene Sicherheit.
1) Der Slogan „Krisenkontinent, Kontinent ohne Hoffnung“ ist förmlich zur Standardüberschrift und zum Tenor der jüngsten Berichterstattung über jenen Kontinent geworden, der als „schlimmster Fall“ im Kontext der globalen Entwicklungstendenzen
gilt. Die in einem der Berichte so genannten „selbst zerstörerischen Energien“ Afrikas
(Die Zeit 2000) bewirken gemäß einer solchen Interpretation, dass sich die Menschen
gegenseitig umbringen, dass sie durch das bisher durch die Medizin nicht zu zähmende Virus AIDS in ihrer Widerstandskraft geschwächt und schließlich getötet werden und dass sich selbst der göttliche Segen - der sich in einem üblichen Verständnis
in der Geburt eines Kindes offenbart - zu einem Fluch wandelt (Der Spiegel 2000).
Die Freude über eine Geburt schlägt so in Angst um, in Angst vor der Bevölkerungs„Bombe“, die nicht nur in den Ländern des Südens, sondern in Gestalt von unermesslichen Migrantenfluten auch für die Welt des Nordens zur Bedrohung wird (Die Zeit
2003).
Aus der Perspektive eines solidarischen Handelns gegenüber den Bedürftigen im
Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung führt diese pessimistische Interpretation der
Entwicklungspotentiale allgemein in Ländern des Südens und speziell auf dem „dunkelsten“ der Kontinente, Afrika, dazu, dass Solidarleistungen als nicht der Mühe wert
betrachtet und verworfen werden. Da die augenscheinlichen Probleme der Bedürftigen mit dem Grundtenor selbst zerstörerischer Energien als Resultat eines Handelns
gemäß unaufgeklärter, irrationaler und vor-moderner Normen und Verhaltensmuster
bewertet werden, werden sie als selbst verschuldet interpretiert und nicht als Resultat
einer gesellschaftlichen Krisensituation, die durch ein Eingreifen der Weltgemeinschaft zu beheben wäre. Man resigniert und ist bestenfalls noch zu Spenden angesichts akuter Notsituationen bereit, wobei diese Notsituationen in Einklang mit der
Traditionalismus-Interpretation der Betrachter nicht in ihrer gesellschaftlichstrukturellen Bedingtheit, sondern als Konsequenz der Rückständigkeit der Betroffenen oder als unvermeidbar Natur bedingt interpretiert werden.
2) Mit dem Zusammensinken der Zwillingstürme des World Trade Centers am 11. September 2001 sahen sich all jene bestätigt, die aus der Andersartigkeit fremder Kulturen und der Verschiedenheit kulturell definierter Wertvorstellungen und Normierungen
34
des Handelns die Konsequenz der unüberbrückbaren Distanz und Unvereinbarkeit
ableiten. Seither hat die These vom „Kampf der Kulturen“, die HUNTINGTON zuvor
aufgestellt hatte und die in ihrer Anwendung bereits am 17. September 2001 zur Identifikation von „Schurkenstaaten“ als den islamischen Feinden der westlichen Welt
führte, auch in Deutschland Hochkonjunktur und findet ihren Ausdruck zum Beispiel
in dem „Kopftuchstreit“, der die Gerichte auf höchster Ebene über Monate beschäftigte. Obwohl mit einem 3,7% - Anteil (CIA 2003) faktisch nur eine verschwindend geringe Zahl der Bewohner Deutschlands Anhänger des islamischen Glaubens sind,
haben viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland Angst vor Überfremdung und befürworten die (vermeintliche) Sicherheit durch staatlich kontrollierten Ausschluss des
Fremden und Unverständlichen.
Eine Angst vor Überfremdung durch Migranten aus den Ländern des Südens wird,
das ist die abzuleitende Konsequenz der gesellschaftlichen Ereignisse, die diese
Angst in der letzten Zeit noch weiter geschürt haben, kaum einen Weg in Richtung
von Solidarität mit den Bedürftigen weisen. Die einzige Bedingung, unter der eine Zustimmung zu einer solidarischen Ressourcenangleichung denkbar ist, wäre die über
Vernunft gesteuerte Einsicht in die Vorteile einer Umverteilung, die sich den so geängstigten Bürgerinnen und Bürgern Deutschland als Hoffnung auf eine Konflikt freie
Aus- und Abgrenzung offenbart.
3) Die Angst vor dem „Fremden“, das haben wir bereits unter „2“ gesehen, ist ein beachtenswerter Bestandteil der Problemwahrnehmung in Deutschland – doch geht diese
Angst nicht notwendiger Weise mit der Ablehnung von Solidaritätsleistungen einher.
Im Kontext der gegenwärtig geführten entwicklungspolitischen Debatten gewinnt die
auch von dem BMZ vertretene Gleichung: „Sicherheitspolitik ist Entwicklungspolitik“
(EID und ASCHE 2003: 36-41) immer mehr an Bedeutung – eine Feststellung, die
BROCK (2002) mit dem Schlagwort der „Versicherheitlichung des Entwicklungsdiskurses“ kennzeichnet.
Am Beispiel von AIDS lässt sich deutlich ablesen, wie sehr sicherheitspolitische Szenarien einem Entwicklungsproblem, das lange Zeit verkannt worden ist, zu Aufmerksamkeit verholfen haben und politische Tatkraft zu mobilisieren vermochten. Warnungen des NIC (National Intelligence Council) und weitere Analysen (z.B. SINGER
2002) stellen das Sicherheitsrisiko AIDS ausdrücklich in den neuen Zusammenhang
der eskalierenden Terrorgefahr – und hatten eine erhebliche Mobilisierung von Hilfsversprechen zur Folge. Die Epidemie trage zur Destabilisierung vieler armer Länder
35
bei, die dann als willkommene Rückzugs- und Operationsräume für extremistische
Gruppen dienen – so die in den USA wie auch in Deutschland vertretene Argumentation, der sich zum Beispiel auch VENNEMANN und BENN (2002:26) anschließen,
wenn sie Infektionskrankheiten, und mit an vorderster Front HIV/AIDS, als Bedrohung
internationaler Sicherheit betrachten, „weil sie in Weltgegenden mit geostrategischer
Bedeutung instabile Verhältnisse bereiten können“.
Die Debatte, die in diesem Zusammenhang geführt wird, ist weitreichend und kontrovers. Sie greift die Frage, ob überhaupt die in der Gleichung enthaltene Schlussfolgerung, dass nämlich Entwicklungszusammenarbeit in ihren Erfolgen zwangsläufig das
„Böse“ in der Welt eindämme (WOLFF 2003: 49) ebenso auf wie eine grundsätzliche
an ethischen Werten orientierte Diskussion, die sich um die Klage einer ethisch intolerablen Verschiebung des Handlungsmotivs zentriert. Argumentiert wird, dass nun die
Sicherung der Interessen der Wohlhabenden und nicht mehr die Elendssituation der
Bedürftigen zum politischen Ausgangsproblem werde. Damit gerieten all jene Menschen, die für das eigene Nutzenkalkül vernachlässigbar sind, zwangsläufig aus dem
Blick der eigenen Verantwortung. Vor diesem Hintergrund sieht sich SEITZ (2003: 41)
zu der Frage veranlasst, inwiefern die Entwicklungspolitik wirklich gut beraten sei,
sich die aktuelle Konjunktur sicherheitspolitischer Kalküle zu Nutze zu machen.
Wenn wir uns nun wiederum der Konsequenz solcher sicherheitspolitischer Erwägungen für das NE-Ziel einer internationalen Solidarität zuwenden, bleibt festzustellen,
dass sich die Motive für ein Handeln im Sinne einer Umverteilung von Ressourcen
und Gütern geändert haben mögen. Ob nicht aber auch eine solcherart motivierte
Umverteilung dem Ziel NE zuarbeitet, muss die Zukunft zeigen – wobei allerdings das
Argument einer zu befürchtenden Vernachlässigung nicht „nützlicher“ Bedürftiger
nicht von der Hand zu weisen ist.
Die didaktische Relevanz der dargelegten Wahrnehmungsmuster der Nord-Süd-Problematik
ist offensichtlich. Die Schule hat die Aufgabe, den Heranwachsenden eine Hilfestellung bei
der Erschließung gesellschaftlicher Wirklichkeit zu geben. Dabei sind die jungen Menschen
in den Kontext der Wahrnehmungsmuster ihrer Umgebung eingebunden und spiegeln diesen
Einfluss in ihren eigenen Wahrnehmungen und Weltinterpretationen wieder.
Der sozio-kulturelle Rahmen der angesprochenen Wahrnehmungsmuster definiert die Ausgangsbedingungen für eine nachhaltige Entwicklung zunächst negativ. So ist die Gesellschaft unserer deutschen Gegenwart weit von einem in der Vision der „Einen Welt“ enthalte-
36
nen harmonischen Miteinander entfernt. Konflikte im großen und im kleinen, Interessengegensätze und auch zuweilen offene Gewalt prägen unseren Alltag. Immer wieder schrecken
Angriffe, die sich besonders auch gegen „fremde“ Menschen in unserer Nachbarschaft richten, die Öffentlichkeit auf, wobei in manchen Regionen Deutschlands die Heimlichkeit früherer Angriffe bereits einer, so berichten die Medien (z. B. Der Spiegel 1998), offen bekundeten
Aggressivität weichen musste. Diese Ablehnung und Ausgrenzung wird unter anderem durch
Informationen über die Krisen und Konflikte in Ländern des Südens verstärkt, die tendenziell
die Fremden als verantwortungslose Gräueltäter und auf der anderen Seite Bittsteller präsentieren.
Solch einseitige Krisenbilder bleiben nicht ohne Folgen. Sie verankern sich in den Köpfen
junger Menschen und beeinflussen deren Weltinterpretation. Als Indiz dafür mag das bei
Jugendlichen nach den Ergebnissen der SHELL-Jugendstudie stark verzerrte Bild der Einwanderungsraten nach Deutschland sein. Der Anteil von Ausländern an der Wohnbevölkerung wird von den jungen Menschen maßlos überschätzt (DEUTSCHE SHELL 2000: 244
und 259) und in der Konsequenz dieser unrealistischen Wahrnehmung halten mehr als 60%
aller befragten Jugendlichen allgemein den Ausländeranteil in Deutschland für „zu hoch“.
Dieser Tenor ändert sich auch im Vergleich zu der Folgestudie (DEUTSCHE SHELL 2002:
126) nicht, wenn 46% der Jugendlichen im Westen und 56% der Jugendlichen im Osten
meinen, dass Deutschland weniger Ausländer aufnehmen sollte. Aus der „Angst vor Überfremdung“ resultiert dann eine Interpretation, nach der etwa ein Drittel der männlichen und
ein Viertel der weiblichen Jugendlichen nur mit Einschränkung annehmen, von Ausländern
„etwas lernen“ zu können (DEUTSCHE SHELL 2000: 246). Sie gehen vielmehr von ihrer
eigenen grundsätzlichen Andersartigkeit im Vergleich zu Ausländern aus.
Mit den Ergebnissen empirischer Untersuchungen lässt sich jedoch belegen, dass diese Bilder und Wahrnehmungen durch bewusst inszenierte Diskurse beeinflusst werden können
(z.B. TRÖGER 1993). Festzustellen ist zunächst, dass sich die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen bei der Betrachtung ferner Regionen und deren Bewohner primär an Werten wie
Sauberkeit, Ordnung, Fleiß und Leistung orientiert. Dieses sind Werte ihrer eigenen Sozialisation. Sie werden von den Heranwachsenden noch nicht bewusst als Regeln des Zusammenlebens ihrer eigenen, spezifischen sozialen Gruppe verstanden, sondern zu „Selbstverständlichkeiten“ verabsolutiert. Gemessen an solchen Maßstäben schneiden die fremden
Menschen dann sprichwörtlich „Not gedrungen“ schlecht ab.
Eine besondere Neugier und Offenheit gegenüber den Fremden ist dagegen bei den jungen
Menschen immer dann festzustellen, wenn sie sich bei der Betrachtung des Fremden gleich-
37
zeitig mit ihren eigenen Lebensbedingungen auseinandersetzen. In diesem Augenblick reflektieren sie explizit die Bedingungen, unter denen die Regeln und Standards ihrer eigenen
Erfahrung und Sozialisation einen Gültigkeitsanspruch haben. Eine solche Reflexion und
damit verbundene Relativierung der eigenen Erfahrungen und Lebensbedingungen wird besonders dann angestoßen, wenn die fremden Menschen in Lebenszusammenhängen betrachtet werden, die für die Jugendlichen in Deutschland mit Emotionen, also mit Hoffnungen, Träumen aber auch Ängsten verbunden sind.
Als besonders bemerkenswert erscheint an den ermittelten Ergebnissen, dass diejenigen
jungen Menschen, die sich bewusst mit den Alltäglichkeiten und Gepflogenheiten ihrer eigenen Lebenswelt auseinandersetzen, dann ausnahmslos zu einer negativ-kritischen Haltung
gegenüber diesen Erfahrungen tendieren und das Leben entsprechend des bekannten Mechanismus des „Edlen Wilden“ idealisieren (TRÖGER 1993: ). Das heißt, eine Relativierung
der eigenen Lebenssituation kann in einer Suche nach Alternativen münden. Auf jeden Fall
hilft sie, mit den eigenen Ängsten und Enttäuschungen diskursiv-konstruktiv umzugehen und
sie nicht mehr in eine Projektion auf den Fremden zu verbannen. In diesem Sinn könnten die
deutschen Heranwachsenden von den „fremden“ Menschen durchaus „etwas lernen“ – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diese ihnen in einer Weise präsentiert werden, die
ein empathisches Entgegenkommen erleichtert. Unter diesen Bedingungen, wenn also die
„Fremden“ als Mitmenschen akzeptiert und interpretiert werden, erscheint eine Realisierung
des Ziels internationaler Solidarität zumindest auf der Seite der zivilgesellschaftlichen Akteure in größere Nähe gerückt, wobei hier nochmals darauf hinzuweisen ist, dass sich die geforderte Mitmenschlichkeit nicht als emotionale Nähe, sondern vielmehr als Anerkennung der
Berechtigung von Ansprüchen nach Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit artikulieren
wird.
7. Ausgangspunkte für die Schule
Pädagogische Bemühungen, die sich darauf richten, der Realisierung einer nachhaltigen
Lebensgestaltung durch (Schul-) Unterricht zuzuarbeiten, sind fehl beraten, wenn sie die
Frage nach geeigneten Wissensinhalten und Fakten zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen wählen. Die Konzeption von Unterricht, der darauf abzielt, einen Beitrag zu NE aus dem
Blickwinkel ihrer sozio-kulturellen, ethischen Dimension zu leisten, wird sich zunächst und
vorrangig der Frage stellen müssen, wie eine Herausbildung von Werten zu fördern ist, die in
den bisherigen Ausführungen als Anerkennung des Wertes „Internationale Gerechtigkeit“
und „Internationale Solidarität“ festgelegt wurden. Eine Wertorientierung, die dann später
handlungsleitend in dem gewünschten Sinne sein könnte, wird durch Mechanismen gesteu-
38
ert, deren Reflexion gerade in jüngerer Zeit den pädagogischen Diskurs unter dem Stichwort
einer „Erziehung zu Werten“ belebt.
Parallel und im Widerspruch zu gesellschaftlichen Anforderungen, die an eine zivilgesellschaftliche Verantwortlichkeit gerade im Kontext der Forderung nach einer nachhaltigen
Entwicklung unter dem Motto „global denken – lokal handeln“ appellieren, werden besonders
auch in den Medien Szenarien entworfen, nach denen die Menschen der deutschen Gesellschaft zunehmend egoistischer handeln und immer weniger an solchen Werten orientiert
sind, die erst eine Zivilgesellschaft ermöglichen und das Wohlergehen der Gemeinschaft der
Menschen berücksichtigen. Auch über die Jugend wurde in den letzten Jahren berichtet, sie
sei in der Folge fortschreitenden Wert-Verlustes „orientierungslos“. Die „Spaßgesellschaft“ ist
in diesem Zusammenhang ein Terminus, der eine Jugend beschreibt, die sich vorrangig für
kurzfristige Vergnügungs-„Kicks“ interessiert und weder die Mitmenschen noch die Belange
zukünftiger Generationen beachtet (z.B. Der Spiegel 9/1995). Betrachten wir die Jugend und
damit die Zielgruppe einer „Erziehung zu Nachhaltigkeit“ genauer, so stellt sich uns jedoch
ein anderes Bild dar:
7.1 Flexibilität als Lebensstil der Zukunft?
Nach den Ergebnissen von Jugendstudien lässt sich die These von dem Wertemangel unserer Jugendlichen nicht aufrechterhalten. „Generation Flex“ – so charakterisiert ein Artikel im
FOCUS (12/2000: 62) die Jugendlichen der Gegenwart. Flexibilität bedeutet dabei auf der
einen Seite eine relative Offenheit und geringe Zwangsläufigkeit der Kombinationen von
Werthaltungen und Orientierungen. Die Zustimmung zu einem bestimmten Lebenskonzept
geht nicht notwendig mit der Ablehnung anderer, vermeintlich gegensätzlicher Konzepte einher. Die Jugendlichen scheinen sich vielmehr offen zu halten und favorisieren mehrere Lebenskonzepte gleichermaßen, sofern diese Konzepte zueinander nicht wirklich diametral im
Widerspruch stehen (DEUTSCHE SHELL 2000: 137-138).
Flexibilität bedeutet aber auch, dass einmal definierte Orientierungen nicht notwendigerweise
beibehalten werden. Wertorientierungen werden vielmehr an dem Bemühen um Einzigartigkeit ausgerichtet. „Ich will halt anders sein wie die anderen“ – der Titel einer Jugendstudie
aus dem Jahr 2000 (ECKERT, R., C. REIS und T. A. WETZSTEIN 2000) fängt diese Grundstimmung vieler junger Menschen in der Gegenwart ein und macht sie zum Programm. Im
Vergleich zu den Erkenntnissen, die aus der Jugendstudie ’92 der Deutschen Shell AG zu
gewinnen sind, hat die Betonung eigener Individualität, also der erklärte Wunsch, sich von
anderen zu unterscheiden und besonders zu sein, mittlerweile gegenüber der Betonung von
Gemeinsamkeiten eine erhebliche Aufwertung erfahren.
39
7.2 Phänomene globaler Vergesellschaftung
Wenn wir nun nach dem gesellschaftlichen Hintergrund fragen, vor dem die Jugendlichen die
beschriebenen Orientierungsmuster entwickelt haben, so zeigt sich unmissverständlich, dass
die Jugendlichen „Kinder ihrer Zeit“ sind. In der gesellschaftstheoretischen Diskussion werden besonders die zwei Aspekte einer Dynamisierung der Prozesse von Identitätsbildung
und einer Entwicklung in Richtung von Transkulturalität als Merkmale des Bedeutungswandels hervorgehoben, den das gesellschaftliche Miteinander erfahren hat. Als Phänomene der
globalen Vergesellschaftung als „nicht hintergehbare Bedingung menschlichen Handelns“
(BECK 1997: 35) repräsentieren sie das Spezifische der heutigen Zeit und dominieren unsere praktische Erfahrung der Gegenwart (ALBROW 1998: 153).
Das Charakteristikum der Gegenwart ist gemäß einschlägiger Analysen insgesamt nicht ein
Weniger an Werten, sondern ein Nebeneinander verschiedener Werte und Orientierungen,
das eine Neu-Definition dessen erfordert, was wir unter „Identität“ verstehen. Einen ersten
Eindruck von diesem gewandelten Verständnis von Identität vermittelt der Ethnologe BARLEY (2000: 231), wenn er sagt: „Wir verändern nicht nur im Laufe unseres Lebens die Identität, wir haben sogar verschiedene zur gleichen Zeit“. Im Gegensatz zu einer Interpretation,
die mit dem Ende der Adoleszenz auch den Abschluss der Identitätsentwicklung erreicht
sieht, erscheint damit heutzutage ein dynamisches Konzept von Identität der gesellschaftlichen Realität angemessen. Identität wird nicht als Ziel, sondern als regulatives Prinzip der
Entwicklung verstanden (LUTHER 1992: 161). Der Einzelne tritt dabei nicht mehr als ein vom
Ganzen geprägter Teil, sondern als konstruktiver Akteur auf, der mit seiner gesellschaftlichkulturellen Umwelt interagiert und sich in ein selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe verstrickt, welches jedoch im Verlauf des Lebens und im Übergang zwischen Lebensphasen
geändert werden kann. Die personale Identität wird dabei in Reaktion auf die individuellen
Erfahrungen mit dem komplexen Gesellschaftsleben geschaffen und wendet sich gegen eine
Definition in den Grenzen exakter Kategorien (ALBROW 1998: 236).
Mit der Einsicht in die Prozesshaftigkeit und Dynamik der Identitätsentwicklung ist auch die –
immer schon problematische – Annahme sprachlicher und kultureller Homogenität für die
Gesellschaften der Gegenwart empirisch unhaltbar geworden. Eine „kulturelle Mehrsprachigkeit“ (BARLEY 2000: 231) ist dabei sowohl für Individuen als auch für gesellschaftliche
Gruppen Merkmal globaler Vergesellschaftung. WELSCH (1994: 84) charakterisiert diese
Situation mit dem Begriff der „Transkulturalität“, bei der die heutigen kulturellen Formationen
durch die klassischen Kulturgrenzen hindurchgehen und diese überschreiten. Während dem
klassischen Kulturbegriff eine ethnische Konnotation tief eingeschrieben ist – man betont die
40
innere Homogenität und die Abgrenzung nach außen – gibt es als Folge der globalen Vernetzung der Kommunikations-, Informations- und Verkehrstechniken heutzutage jedoch weder ein strikt Fremdes noch ein strikt Eigenes. Für jede Kultur sind Elemente aus anderen
Kulturen zu Binnengehalten oder Trabanten geworden. Damit relativiert sich der alte Kulturbegriff und wirkt, wo er weiterhin vertreten wird, als normatives Korsett (WELSCH 1994: 88).
Kultur wird zu einem Experiment mit dem Ziel herauszufinden, wie wir zusammenleben können als Gleiche und doch Verschiedene (BECK 2001: 6).
Transkulturalität ist jedoch nicht mit „Vereinheitlichung“ und „Standardisierung“ gleichzusetzen. Die Menschen lernen zwar, sich in der amerikanisch-europäischen Weltkultur zu bewegen, aber das löscht keineswegs ihre heimische Kultur aus. Gerade mit dem Mittel der modernen Kommunikationstechnologie kann man die eigene Kultur auch in weiter Ferne erfahren. Die Standardisierung bestimmter technischer Voraussetzungen, die die weltweite Teilnahme an kulturellen Ereignissen überhaupt erst ermöglicht, sorgt gleichzeitig für eine maximale Vielfalt der Anwendungen dieser Technologien (ALBROW 1998: 234) und hat zwei
einander widersprechende Entwicklungstendenzen zur Folge.
Zum einen symbolisiert die Programmgestaltung des weltweiten Musiksenders MTV eine
(Wieder-) Belebung des regionalen Geschmacks. Mittlerweile werden von dem Sender 28
regionale Programme ausgestrahlt, die den jeweils spezifischen Hörergeschmack berücksichtigen und von einer kulturellen Standardisierung („Mc’Donaldisierung“) abrücken (DER
SPIEGEL 2000: 238).
Auf der anderen Seite ist jedoch eine Ablösung von territorialen Strukturen zu beobachten,
die sich in Gemeinsamkeiten der kulturellen Sprache mit jenen Mitmenschen artikuliert, die
sich zum Teil an ganz anderen Orten befinden. Das soziale Leben, das sich als Nachbarschaftsbeziehung herausbildet, beschränkt sich dagegen häufig auf einen zwischenmenschlichen Umgang, der als „höfliche Nichtbeachtung“ zu kennzeichnen ist (ALBROW 1998: 243).
7.3 Wert-Orientierung durch (Schul-) Unterricht
Ein Unterricht, der es sich zum Ziel setzt, Prozesse der Wertfindung und Wertorientierung
bei den Lernenden zu unterstützen und durch Impulse anzuregen, nimmt seit jeher seinen
Ausgang bei jenen Lebensaspekten, die für die Jugendlichen von subjektiver Bedeutung
sind. Diese weit konsensfähige Prämisse pädagogischen Vorgehens konfrontiert den Unterrichtenden jedoch angesichts der geschilderten Bedingungen gesellschaftlicher Identitätsbildung und insbesondere jugendlicher Wertorientierung mit einem Dilemma. Jeder verantwortungsbewusste Pädagoge wird seine Unterrichtsgestaltung vor dem Hintergrund eines
41
grundsätzlichen und nicht zu hintergehbaren Wertekanons reflektieren. Zu diesem zählen
demokratische Grundwerte wie Toleranz und Gleichberechtigung, die Menschenrechte und
spätestens seit der Rio-Konferenz vor zehn Jahren auch Werte, die allgemein auf eine Wiederherstellung und Stabilisierung der sozial und ökologisch nachhaltigen Gewährleistung
menschlichen Lebens gerichtet sind.
Auf der anderen Seite haben wir jedoch gesehen, dass eine „Vermittlung“ auch dieser
Grundwerte nicht mittels einer „Setzung“ durch den Lehrer zu realisieren sein wird. Das
heißt, wenn wir „den Schüler dort abholen wollen, wo er steht“, dann wird eine erfolgreiche
Orientierung der Lernenden an den genannten Grundwerten nicht ohne Weiters durch Unterricht zu erreichen sein. Die gesellschaftliche Dynamik einer lebenslangen Identitätsbildung in
den Händen von Akteuren, das Nebeneinander verschiedener Werte und die kulturelle
Mehrsprachigkeit der globalisierten Gesellschaft, die mit dem festgestellten jugendlichen
Bemühen um Einzigartigkeit korrespondieren, widersprechen dem Anspruch einer solchen
grundsätzlichen Wert-Ausrichtung.
Bedeutet dies nun, dass sich Pädagogen einer Wertepluralität als Wertebeliebigkeit unterwerfen und zum Beispiel nationalsozialistische und ausländerfeindliche Überzeugungen ihrer
Schülerinnen und Schüler ebenso akzeptieren müssen wie gegensätzliche Werthaltungen?
Ein Lösungsweg aus diesem pädagogischen Dilemma kann sich abzeichnen, wenn wir weitere der genannten Bedingungen heutiger gesellschaftlicher Identitätsbildung in die Überlegungen einbeziehen: Identität und damit auch Wertorientierung bildet sich in der Interaktion
der Akteure mit ihrer Umwelt heraus. Diese Interaktion stellt sich wiederum als kulturell
mehrsprachig und als nicht an territoriale Grenzen gebunden dar. Das Anliegen von Unterricht wäre es vor diesem Hintergrund, diese Interaktion in einer Weise zu gestalten, die einer
Herausbildung der genannten unhintergehbaren Grundwerte menschlichen Miteinanders
förderlich ist.
Grundsätzlich wird sich im Schulunterricht eine solcherart unabdingbare Interaktion als gesellschaftlicher Diskurs unter Gleichen realisieren lassen – als Kommunikation mit den Mitschülern und dem Lehrer wie auch als Kommunikation mit der durch Medien vermittelten
„Außenwelt“. So hieße „Vermittlung“ dann "Vermittlung zwischen verschiedenen Welten“
(WINTERSTEINER 1999: 354). Dabei erscheint zum Beispiel die Erkenntnis der eigenen
Transkulturalität besonders geeignet, den Zielen einer Kompetenzausbildung wie Disponierung für NE zuzuarbeiten. Diese Erkenntnis wird das Resultat diskursiver Prozesse sein, im
Verlauf derer die Kulturelemente, die zunächst für das „Eigene“ gehalten werden, bis zu ih-
42
ren gesellschaftlichen Ursprüngen zurückverfolgt und in ihrer „Fremdheit“ entlarvt werden.
Ein solcher Reflexionsprozess kann durch die technischen Mittel weltweiter Kommunikation
gezielt unterstützt werden. Dabei wird es auch möglich sein, zum Beispiel die kulturelle Übereinstimmung mit Gleichaltrigen – einschließlich von Sorgen, Ängsten und Hoffnungen –
zu entdecken, die räumlich so weit entfernt und dadurch vermeintlich „fremd“ sind. „Sobald
wir unsere innere Transkulturalität nicht mehr verleugnen, werden wir auch eines anderen,
eines anerkennenden und gemeinschaftlichen Umgangs mit äußerer Transkulturalität fähig“
(WELSCH 1994: 107).
Dieser Prozess der „Entdeckung des Eigenen in der Maske des Fremden“ (TRÖGER 1994)
wird besonders auch durch Unterrichtsinhalte angestoßen, die sich explizit aus dem Kontext
einer nachhaltigen Entwicklung in der sozialen und sozio-kulturellen Dimension ableiten. Relevante Themen wären hier zum Beispiel:
Die Bedingungen und Artikulationsformen von Solidarität: Die Lernenden könnten die von ihnen erfahrenen und gelebten sozialen Netzwerke auf deren Motive für
den Zusammenhalt und die Übernahme von Verantwortung hin überprüfen und einer
Forderung nach globaler Gerechtigkeit gegenüberstellen. Eine Differenzierung vergleichbar der in Kapitel 2.3.1 vorgenommenen könnte das Ergebnis dieser Reflexion
sein, im Verlauf derer den Lernenden ihre eigene Position und Handlungsmotivation
bewusst wird. Der Umgang mit dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit im Zusammenhang mit der Einsicht in die Notwendigkeit des globalen Ausgleichs kann in diesem Kontext reflektiert werden. Beispiele: Arbeitslosen- /Sozialhilfesysteme im Spannungsfeld zwischen Eigenverantwortlichkeit und Solidarität; staatliche versus private
Gesundheitsfinanzierung (Krankenkassen).
Die gesellschaftlichen Ursachen und Konsequenzen der demographischen Entwicklungen im Nord-Süd-Vergleich: Die Lernenden reflektieren in diesem Zusammenhang ihre eigenen diesbezüglichen Erfahrungen in ihrem Lebensraum und stellen diese Berichten aus den Lebenskontexten in Ländern des Südens gegenüber.
Relevanz und Ausdrucksformen des Generationenvertrags im Nord-Süd-Vergleich:
Prozesse der Privatisierung von Sicherheit (z.B. Rentenreform hier und familiäre Altersvorsorge im Süden) in Regionen des Nordens können solchen Prozessen in Ländern des Südens vergleichend gegenübergestellt werden, im Verlauf derer zuvor relativ verlässliche Sicherungssysteme aufbrechen und zunehmend mehr Menschen
durch ihre Löcher gleiten lassen. Eine Diskussion über Notwendigkeiten und Möglichkeiten neuer und den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen angepasster Si-
43
cherungssysteme wäre die Konsequenz und könnte den Blick der Lernenden für die
Folgen gesellschaftlicher Umbruchsituationen schärfen.
Bildungssysteme im Vergleich: Die Relevanz von Bildung und Ausbildungsinhalten
für nachhaltige Entwicklung wie auch die Frage der Angepasstheit von Bildungsinhalten an die Lebenssituation und die beruflichen Perspektiven sollten in ihrer Funktion
als Voraussetzung Nachhaltiger Entwicklung erörtert werden.
Gesundheitssysteme im Vergleich: Gesundheitssysteme wären sowohl im internationalen als auch im historischen Vergleich zu charakterisieren und in ihrer relativen
Bedeutung mit Bezug zu kurativen und präventiven Maßnahmen in unterschiedlichem
gesellschaftlichem Umfeld gegenüber zu stellen. Die Unterschiedlichkeit der Ursachen gesundheitlicher Defizite verbietet hierbei jede pauschale Wertung (hier Überfluss als Krankheitsursache, dort Mangel).
Welche inhaltliche Fokussierung in Anlehnung an die oben dargelegten Bedingungszusammenhänge für NE in den schulischen Fächerkanon an welcher Stelle einzupassen ist, wird
von den jeweiligen Fachdidaktiken zu entscheiden sein. Allen auch nur denkbaren inhaltlichen Schwerpunktsetzungen ist jedoch eines gemeinsam: Sie basieren übereinstimmend auf
dem Prinzip einer Auseinandersetzung mit und über Werte und Muster der Wertorientierung
in Bezug auf NE. Eine Werte-Kommunikation mit den anderen am Lernprozess Beteiligten
wird also zum ständigen Begleiter eines Lernens für Nachhaltigkeit. Dabei kann es nicht darum gehen, eine solche Wertekommunikation in drei bis vier Stunden „zu absolvieren“
(WESTRHENEN 1992: 19). Der Wertediskurs wird vielmehr zum integralen Bestandteil auch
ganz „traditioneller“ Unterrichtsthemen. An den exemplarischen Wertediskussionen können
Reflexions- und Diskursverfahren eingeübt werden, mit Hilfe derer sich die Jugendlichen
dann selbstständig weitere Wertungszusammenhänge erschließen und im weiteren Verlauf
der lebensangepassten Identitätsbildung weitere Wert-Definitionen vornehmen können.
Ein Wertediskurs in der beschriebenen Weise ist nicht in einer autoritär gestuften Kommunikationssituation realisierbar. Die Lernenden müssen auf einen Weg geführt werden, auf dem
sie für sich selbst zu einer Identität finden können. Wenn schließlich das Ziel dieses Weges
die Zustimmung zu den Grundwerten demokratischer Gesellschaftsordnung ist, dann muss
auch dieser Weg so gestaltet sein, dass sich Werte wie Verantwortungsbereitschaft, Toleranz und Gleichberechtigung aus den Erfahrungen mit dem Kommunikationsprozess selbst
ergeben. Werte wie zum Beispiel „Gerechtigkeit“ und „Gleichheit“ wirken durchaus handlungsleitend. Sie sind jedoch nicht das Resultat einer schulischen Werte-„Vermittlung“, sondern das kommunikativer Prozesse, während derer sich der Bedeutungsgehalt dieser Werte
für den Einzelnen definiert. Das heißt, der Lernende wird sich dann in seinem Handeln durch
44
eine Moral gebunden fühlen, wenn er selbst diese Moral für sich vor dem Hintergrund seines
spezifischen Lebenskontextes in der Auseinandersetzung mit den Mitmenschen anerkannt
hat. Der Prozess der Moral bildenden Kommunikation kann durch Unterricht unterstützt werden.
6.4 Methodenkundliche Schlüsselqualifikationen für Nachhaltige Entwicklung
In der jüngeren didaktischen Diskussion werden zunehmend Stimmen laut, die eine stärkere
Hinwendung zu dem Kompetenzbereich „Methoden“ fordern und die für eine gleichberechtigtere Gewichtung der inhaltlichen und methodenkundlichen Lernbereiche plädieren. Begründet wird diese Fokusverschiebung mit den Entwicklungen im Zuge globaler Vergesellschaftung, die die Souveränität menschlicher Handlungsentscheidungen immer stärker an die
„Schüsselqualifikation" einer eigen bestimmten Informationsauswahl und Interessen gebundene Informationsnutzung und nicht mehr vorrangig an die Menge „gelernter“ Wissensinhalte
koppelt, welches einer immer rascheren Veralterung ausgesetzt ist.
Doch nicht allein das Argument der Schnelllebigkeit globalisierter Gesellschaftlichkeit spricht
für eine Betonung methodenkundlicher Lernbereiche im Unterricht. Auf der Basis von Methodenkompetenz kann vielmehr leichter Eigenverantwortung übernommen und Kommunikationsprozesse können egalitär angelegt und durchgeführt werden. Zu den relevanten methodischen Kompetenzen gehören beispielsweise die Fähigkeiten
•
zum konstruktiven Umgang mit Widersprüchen und Dilemmata, zur Formulierung von
Kompromissen und Synthesen,
•
zum vergleichenden systematischen Abwägen alternativer Optionen im Hinblick auf
konkurrierende Ziele,
•
zur Moderation von Diskursen und zur Vermittlung zwischen Positionen bzw. Interessen.
Die Erfahrungen, die auf diese Weise mit Kommunikation und gesellschaftlichem Diskurs
„am eigenen Leib“ gemacht werden, wo der Lehrer mehr gleichberechtigter Gesprächspartner und Prozess-Moderator und weniger schulische Autoritätsperson ist und wo die Mitschüler sich mit ihren Werten der Diskussion stellen und ernst genommen werden, erscheinen
selbst geeignet, nicht nur zu einer Wertestabilisierung im Sinne der genannten Grundwerte
wie Toleranz und Gleichberechtigung, sondern auch zu den geforderten methodischen Kompetenzen beizutragen. Der methodische Weg ist also in diesem Sinn ein Teil des angestrebten Ziels, auf dem Werte „erfahren“ und nicht „vermittelt“ werden.
45
6. 5 Implikationen für eine werte- und methodenorientierte Erziehung zur Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeitsbewusstes Handeln im eigenen Land und im globalen Kontext erfordert zweierlei:
1) Eine Wertebasis, die – bei anerkannter Vielfalt und Flexibilität individueller Wertemuster – die Relevanz der Sorge für die nachfolgenden Generationen und der Gleichberechtigung von Menschen anderer Kulturen als Verhandlungspartner als wesentliche
Aspekte des eigenen Wertemusters anerkennt.
2) Die Fähigkeit, das langfristige Eigeninteresse und die daraus sich ableitende globale
und zukunftsbezogene Verantwortung im jeweils konkreten Fall zu identifizieren und
im Diskurs mit anderen und unter Einbeziehung aktueller Informationen über Systemzusammenhänge zu Schlussfolgerungen für das eigene Handeln beziehungsweise
die eigene Einschätzung politischer Entscheidungen und gesellschaftlicher Prozesse
zu gelangen.
Ein nachhaltigkeitsorientierter Unterricht sollte deshalb im Diskurs Werthaltungen am Beispiel konkreter aktueller Probleme abwägend erörtern und daraus unter Berücksichtigung
geeigneter Methoden und Informationen mögliche Konsequenzen ableiten.
46
ALBROW, M.: Abschied vom Nationalstaat, Frankfurt 1998.
APPELT, D.: Bildung für alle. In: ENGELHARD, K.: Welt im Wandel. Ein Informations- und
Arbeitsheft für Sekundarstufe II, S. 52 –57. Grevenbroich / Stuttgart, 2004.
BARLEY, N.: Rendevous im Einkaufszentrum. In: Der Spiegel 44/2000: 230-233.
BECK, U.: Das Zeitalter des „eigenen Lebens“. Individualisierung als „paradoxe Sozialstruktur und andere offene Fragen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 29 (2001), S. 3-6.
BECK, U.: Was ist Globalisierung? Frankfurt am Main 1997.
BARTELMUS, P.: Environment, Growth and Development – The Concepts and Strategies of
Sustainability, London / New York 1994.
BRATER, M.: Schule und Ausbildung im Zeichen der Individualisierung. In: Beck, U. (Hrsg.):
Kinder der Freiheit, Frankfurt am Main 1997, S. 149-174.
BROCK
epd 2002
BUNDESMINISTERIUM für WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT: Wirtschaft - Soziales – Entwicklung. Armut bekämpfen und Gerechtigkeit schaffen, Bonn 2004
CIA 2003
DEUTSCHE SHELL (Hrsg.): Jugend 2000, Band 1, Opladen 2000.
DEUTSCHE SHELL (Hrsg.): Jugend 2002, Frankfurt am Main 2000.
ECKERT, R., C. REIS und T. A. WETZSTEIN: „Ich will halt anders sein wie die anderen“ –
Abgrenzung, Gewalt und Kreativität bei Gruppen Jugendlicher, Opladen 2000.
EID, U. und H. ASCHE: Deutsche Friedens- und Sicherheitspolitik. In: epd (2003) 22, S. 3641.
EISERMANN, D.: Die Politik der nachhaltigen Entwicklung – Der Rio – Johannesburg Prozess, InWent, Bonn 2003.
ELWERT G.: Überlebensökonomien und Verflechtungsanalyse. In: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 29/2, S. 73 –84, 1985.
HEIN W.: Versunkenes Land? – Globalisierung, Archipelisierung und die Perspektiven marginalisierter Räume. In: Nord – Süd aktuell, 3/1999, S. 403 – 417.
HÖFFE, O.: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999.
KÖNIG, J.: Ansturm der Kranken. In: Die Zeit 51/2003.
KÖSSLER R. und H. MELBER: Globale Solidarität? Eine Streitschrift. Frankfurt am Main
2002.
Lexikon zur Soziologie: 2. Aufl., 1978.
LUTHER, H.: Religion im Alltag, Radius-Verlag (1992).
47
MOFFAT I.: Sustainable Development. Principles, Analysis and Policies, London / New York,
1995.
NUHN H.: Konzepte für eine umwelt- und sozialverträgliche Entwicklung im Spannungsfeld
zwischen Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit. In: KOHLHEPP, G./ COY, M. (Hrsg.).
1998.
RAUCH, T.: Bessere Rahmenbedingungen allein beseitigen Armut nicht! Eine theoriegeleitete Vier Ebenen-Strategie für entwicklungspolitische Intervention. In: Geographica Helvetica
58 (2003) 1, S. 35-46.
RAUCH, T.: Partizipation in der Entwicklungszusammenarbeit auf dem Weg von der Spielwiese hin zum demokratischen Recht für alle. In. PERIPHERIE Nr. 88, S.496 – 522, 2002.
RAWLS, J.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975.
SCHOLZ, F.: Perspektiven des "Südens" im Zeitalter der Globalisierung. In: Geographische
Zeitschrift, 88/1, S. 1 –20, 2000.
SEITZ, K.: Die Sicherheitsfalle. Sicherheitspolitische Argumente können eine ethische Begründung der Entwicklungspolitik nicht ersetzen. In: epd Entwicklungspolitik 16/17/ 2003, S.
41-45.
SEITZ, K.: Bildung für ein globales Zeitalter? Mythen und Probleme weltbürgerlicher Erziehung. In: Scheuenpflug, A. und K. Hirsch (Hrsg.): Globalisierung als Herausforderung für die
Pädagogik, Frankfurt 2000, S. 85-114.
Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik
Deutschland: „Eine Welt/Dritte Welt“ in Unterricht und Schule – in der Fassung vom
20.3.1998.
SEN, A.: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München 2002.
SINGER, P. W.: AIDS and international Security. In: Survival 44 (2000) 1, S. 145-158.
STERN, M.: Development Aid: What the Public Thinks. New York 1998.
TRÖGER, S.: Handeln zur Ernährungssicherheit im Zeichen gesellschaftlichen
Umbruchs - Untersuchungen auf dem Ufipa-Plateau im Südwesten Tansanias. Saarbrücken,
Breitenbach Verlag, 2004. (= Geographische Entwicklungsforschung 27).
TRÖGER, S.: Leben in der "Einen Welt" - Leben in der "Un-Einen Welt". Praxis Geographie
24 (1994) 3, S. 8-12.
TRÖGER, S.: Das Afrikabild bei deutschen Schülerinnen und Schülern. Saarbrücken 1993 (=
Sozialwissenschaftliche Studien zu internationalen Problemen 186).
VENNEMANN M. und C. BENN: Die Gesundheit der Armen und die globale Sicherheit. In:
epd Entwicklungspolitik, 12/2003, S. 24-29.
WATERMAN, P.: Globalization, Social Movements and the New Internationalism. London
und New York 2001.
WELSCH, W. Transkulturalität – die veränderte Verfassung heutiger Kulturen. In: Sichtweisen. Die Vielheit in der Einheit, Velmer 1994, S. 83-122 (= Edition Velmer Klassik ).
48
WESTREHNEN, J. v.: Wertekommunikation – Eine Strategie für Internationale Erziehung im
Erdkundeunterricht. In: Kroß, E. und J. van Westrehnen (Hrsg.): Internationale Erziehung im
Geographieunterricht. Zweites deutsch-niederländisches Symposium – Bochum. Nürnberg
1992 c, S. 5-20.
WCED (World Commission on Environment and Development): Our Common Future. Oxford, 1987.
WELTBANK: Weltentwicklungsbericht 2003, Washington D.C., 2003.
WOLFF, J. H.: „Strukturelle Gewalt“ als Ursache des Terrorismus? In: epd (2003) 22, S. 4650.
49
Gesellschaftliche
Lern- u.
Problemlösungsfähigkeit
• Bildung/
Wissens-systeme
• Gesundheit
Demographie
„KÖNNEN“
Innovation/
Anpassungsfähigkeit,
wirtsch.
wirtsch. Aktivitäten
Tragfähigkeit
wirtschaftlicher
Aktivitäten
Erhaltung der natürlichen
Lebensgrundlagen
• globale
Ökosysteme
• regionale
Ökosysteme
NE
erhöhte ProblemlösungsProblemlösungsFähigkeit
erhöhter Freiheitsgrad
(auch für nachkommende
Generationen)
• lokale
Ökosysteme
Grad der gesellschaftlichen
Integration
• Verteilungsgerechtigkeit
• Soziale Sicherung
• Partizipation
• soziale Kohä
Kohäsion
„WOLLEN“
Gesellschaftliche Wertesysteme
• Eigenverantwortlichkeit
versus
• Solidaritä
ä
t
Solidarit
Freiheit
Geeignete Anreizsysteme/
Institutionen/ Regulierungen
- für Ressourcenerhaltung
- für Entwicklung
Politische Stabilität/
Frieden
e
ch
is n
o g io
ol ns
ök ime
D
Entwurf: Theo Rauch
po
li t
is
ch
Di –
m St
en ru
si o ktu
n rel
le
ök
o
D no
im m
en is
si ch
on e
Produktivität
/ lle
e
al r e
zi ltu n
so -ku sio
n
o
zi me
so Di
Grad der Stabilität
globaler KapitalKapital-, GüterGüterund Arbeitsmärkte
Übersicht: Die vier Nachhaltigkeitsdimensionen: Komplementaritäten und Konflikte
Dimensionen
Ökologisch
Sozial / Sozio-kulturell
Ökonomisch
K
Ökologisch
Logik: Ökosystem
♥
♥
♥
Sozial / Sozio-kulturell
♥
♥
♥
♥
♥
Politisch-Institutionell
♥
♥
♥
Innovative Kapazitäten des Marktprinzips bzgl. umweltschonender
Technik
Eigeninteresse von Ressourcennutzen an Erhaltung (bei langfristigen Nutzungsrechten)
Naturerhaltung als Basis für langfristige Bedürfnisbefriedigung
Logik:
a) Markt (Kapitalverwertung)
b) Überlebenssicherung
Nachhaltigkeitsorientierte kulturelle
Normen zum Umgang mit Natur
Tradiertes Naturwissen lokaler Gemeinschaften
Breite Akzeptanz von Werten reduziert Tendenz zu destruktiver Lösung
von
Ressourcennutzungskonfliken
Kooperation als Basis für Erhaltung
von Ressourcen
Naturerhaltung als Basis für konfliktfreies Zusammenleben
♥
♥
♥
♥
K
O
M
P
L
E
Sozialer Frieden als Basis für Kapitalverwertung / Bedürfnisbefriedigung / Konkurrenzfähigkeit
Akzeptanz von Normen als „Sozialkapital“
Eigenverantwortlichkeit als Basis
für wirtschaftliche Effizienz / Innovation
Hohe Produktivität / Wohlstand
schafft Spielräume für Solidarität,
sozialen Ausgleich
E
N
T
A
R
I
L
I
K
T
E
Kurzfristige Machterhaltung versus
Umweltpolitik
Individuelle Freiheit versus Naturschutzauflagen
Kapitalverwertung / Konkurrenzfähigkeit versus soziale Kosten
Mobilitäts- / Flexibilitätsanforderungen des Arbeitsmarktes versus soziale Einbindung / Kinderbetreuung
Produktive Investitionen versus soziale Investititonen / Solidarität
Herstellung günstiger Kapitalverwertungsbeziehungen versus politischer Legitimität
Politischer
Regulierungsbedarf
versus ökonomischer Deregulierungsbedarf
Logik:
a) Verteilungsgerechtigkeit
b) Normen, Werte, Verhaltensmuster,
soziale Beziehungen
Identität gesellschaftlicher Teilgruppen (verbunden mit Solidarität,
Normenakzeptanz etc.) versus nationale Einheit und GesamtsystemStabilität
Personifizierte Moral versus anonyme Moral
Ziele:
Gesellschaftliche Kohäsion basierend auf:
Gemeinsamen Werten
Solidarität/ sozialem Ausgleich
Eigenverantwortlichkeit
Wirtschaftliche
Produktivität/ ♥
Wachstum als Basis für politischen
Gestaltungsspielraum und Legiti- ♥
mation
Frieden / politische Stabilität /
Rechtssicherheit / staatliches Ge- ♥
waltmonopol als Basis für Kapitalverwertung / Bedürfnisbefriedigung
M
F
Sozialer Ausgleich (nachholende
Entwicklung) zulasten des Ökosystems
Mögliche Divergenz zwischen tradierten Normen / Nutzungsmustern
und
den
aktuellen
Ökosystemanforderungen
Ziele:
Bedürfnisbefriedigung
Gewinnmaximierung
Wirtschaftliche Stabilität
Tragfähigkeit wirtschaftlicher Aktivitäten
Frieden und politische Stabilität als ♥
Basis für Umwelterhaltung
Institutionelle Regelungen und Anreizsysteme als Basis für Umwelterhaltung
♥
Umwelterhaltung als Basis für
Vermeidung von Krieg
♥
N
Kurzfristige Bedürfnisbefriedigung /
Gewinnmaximierung zulasten des
Ökosystems
Strikte Nutzungsverbote / -begrenzungen zulasten der Bedürfnisbefriedigung / der Konkurrenzfähigkeit
Ziele:
Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen/ der Vielfalt der Natur
Ökonomisch
O
Politisch-Institutionell
T
Sozialer Frieden als Voraussetzung
für politische Stabilität
Breite Akzeptanz sozialer Normen
als Basis für Akzeptanz institutioneller Regelungen
Stabiler
politisch-institutioneller
Rahmen als Basis für zivilgesellschaftliche Entfaltung
Ä
T
E
N
♥
Logik: Macht, Gesetzte, Regulierung
Ziele:
Politische Stabilität / Frieden
Freiheit des Individuums
Positive Anreize durch angemessene institutionelle Regulierung
Herunterladen