Von der Funktions- zur Prozessorientierung

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LOGISTIK
NEUE
VDI-RICHTLINIE
3600
Von der Funktions- zur
Prozessorientierung
Für Unternehmen, die die Prozessorientierung als wichtigen Baustein
zur Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit einsetzen wollen, ist
die Richtlinie VDI 3600 „Prozesse und Prozessorientierung in der
Produktionslogistik am Beispiel der Automobilindustrie“ ein wichtiges
Strukturierungshilfsmittel. Unter federführender Beteiligung des
Lehrstuhls für Förder- und Lagerwesen der Universität Dortmund ist
von der VDI-FML C1 Group ein Entwurf erarbeitet worden. Nachfolgend
werden Ziele und einige Einzelergebnisse näher vorgestellt.
■ Dr.-Ing. Dirk Jodin
Mit der VDI-Richtlinie 3600 „Prozesse
und Prozessorientierung in der Produktionslogistik am Beispiel der Automobilindustrie“ soll eine Förderung der Prozessorientierung in der Logistik erfolgen. In
Form eines Leitfadens dient sie als Grundlage und Hilfe für die Fortentwicklung der
Prozesse im Unternehmen vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Veränderungen von der Funktions- zur Prozessorientierung. Die einzelnen Funktionen der Logistik werden in Zusammenhang zum Gesamtprozess gebracht, um die gegenseitigen Abhängigkeiten zu zeigen. Neben Begriffserläuterungen wird dargestellt, welche Elemente des Gesamtprozesses in einem produzierenden Unternehmen Hauptaufgaben
sind und welche die logistischen Funktionen tangieren. Diese prozessorientierte Betrachtung gilt als Voraussetzung für eine
■ Dipl.-Ing. Michael Ott
Prozess
Die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens wird zunehmend durch seine logistische Leistungsfähigkeit und sein Produktionssystem sichergestellt. Der verstärkte
Zeitwettbewerb erfordert eine drastische
Reduzierung der Durchlaufzeiten, beginnend beim Auftrag und abgeschlossen bei
Auslieferung des Fahrzeugs an den Kunden.
Ziel muss es sein, die Kundenwünsche
schnell zu erkennen und umzusetzen. Dabei
erwartet der Kunde eine hohe Änderungsflexibilität und die Einhaltung des zugesagten Liefertermins. Diese Anforderungen bedingen eine hohe Flexibilität in der Planung, Orderabwicklung, Produktion und
Distribution.
Teilprozess
…
Teilprozess
Teilprozess
Teilprozess
Teilprozess
Teilprozess
…
…
Ziel der Richtlinie
➊
Gliederung eines Prozesses in Teilprozesse
Qualitätssicherung
Systemlieferanten
Entwicklung
Vorentwicklung
Konstruktion und Versuch
Design
Prototypenbau
Erzeugnisdokumentation
Fertigungsplanung
Planung
Betriebsmittelbau
Vorserienlogistik
Beschaffung
Logistikplanung
Marketing
Verkaufsprogramm
Kapazitätsplanung
Absatzplanung
Programmplanung
Auftragsabwicklungsprozess
Produktion
Fahrzeuge
Kunde
Handelsorganisation
Auftragsbearbeitung/
Disposition
Produktion
SKD-/CKDFahrzeuge
Kunde
Handels-/
Vertriebsorganisation
Auftragsbearbeitung/
Disposition
Mitbewerber
Systemlieferant
Industriekunde
Auftragsbearbeitung/
Disposition
Produktion
Komponenten
und Teile
Ersatzteileversorgung
Recycling
Fahrzeuge und
Komponenten
Ersatzteileorganisation
Fertigungssteuerung
Rohbau, Lackiererei, Fahrzeugmontage
Verpackung
und
Versand
Fertigungssteuerung
Fertigungssteuerung
Fertigungssteuerung
Fertigungssteuerung
Komponenetenund
undTeile
Teile
Komponeneten
und
Teile
Komponeneten
Komponenten
und
Teile
Auftragsbearbeitung/
Disposition
Fertigungssteuerung
Handelsorganisation
Kunde
Distribution
Handels-/
Vertriebsorganisation
Kunde
SKD/CKD-Fertigung
Kette externer und
interner Lieferanten
für Serie und Ersatzteile
Versand
Zentrallager
an Rohfstofflieferanten
oder
andere Verwendungen
Distribution
Rohstoffaufbereitung
Regionallager
Aggregateaufbereitung
Fahrzeugdemontage
Mitbewerber
Systemlieferant
Industriekunde
Handelsorganisation/
Werkstatt
Kunde
AltfahrzeugSammelstelle
Kunde
➋ Prozesse der Logistik am Beispiel der Automobilindustrie in Grobübersicht
284
Hebezeuge und Fördermittel, Berlin 41 (2001) 6
Standortbestimmung der Logistik, aus der
Impulse und Anregungen für Vereinfachungen hergeleitet werden sollen. Dazu werden
in der Richtlinie Kenngrößen gezeigt, die
eine Bewertung der Prozesse ermöglichen
sollen.
Logistikprozesse
in der Gesamtstruktur
Als Einführung in die Thematik werden zunächst allgemein die Begriffe Prozess und
Teilprozess definiert. Ein Prozess ist eine
strukturierte, systemübergreifende Verkettung einer begrenzten Menge von Aktivitäten, die eine Transformation von Leistungsobjekten von einem Anfangs- zu einem
Endzustand bewirken. Jede dieser Aktivitäten kann bis zu einem beliebigen Detaillierungsgrad wiederum in Teilprozesse eingeteilt werden (Bild ➊ ). Weiter wird beschrieben, wie bei der Untersuchung von
Prozessabläufen zunächst die Hauptfunktionen eines Unternehmens zu ermitteln
sind, um diesen wiederum die wichtigsten
Teilprozesse zuzuordnen. Dies kann beispielsweise über Entwicklung, Absatzplanung, Produktionsplanung, Produktion von
Fertigprodukten und Einzelteilen bis zur Ersatzteilversorgung und zum Recyclingvorgang erfolgen (Bild ➋ ). Anschließend kann
dieses Modell schrittweise weiter detailliert
werden.
In der Übersicht der Teilprozesse kann
nun untersucht werden, welche davon Aufgaben der Logistik sind und welche die Logistik tangieren. Die Zuordnung der Teilprozesse der Logistik zum Gesamtprozess
der Wertschöpfung des Unternehmens hat
den Vorteil, dass auf dieser Basis der Beitrag der Einzelprozesse zum Unternehmensauftrag klarer wird. Darüber hinaus
kann die Frage der richtigen Zuordnung der
Verantwortung für die Teilprozesse leichter
beantwortet werden. Die Richtlinie erläutert
detailliert die bei der Produktion von Fahrzeugen auftretenden Logistikprozesse und
Teilprozesse. Unterschieden werden in der
Richtlinie die Logistikprozesse für:
Endprodukte (Fahrzeuge)
Produktion von SKD (semi knocked
down)/CKD (completely knocked down)
im Verbund (Fahrzeuge)
Produktion von Komponenten und Teilen
Ersatzteilversorgung
Recycling von Endprodukten.
Festlegung von
Prozessindikatoren
Um Geschäftsprozesse effizient und kundenorientiert gestalten und optimieren zu
können, sind Prozessführungsgrößen zu definieren, die von den strategischen UnterHebezeuge und Fördermittel, Berlin 41 (2001) 6
nehmenszielen abzuleiten sind. Dies kann
beispielsweise die erhebliche Verkürzung
der Zeitspanne zwischen Auftragseingang
und Warenauslieferung an den Kunden
sein. Für die einzelnen Teilprozesse werden
Prozessindikatoren und Leistungskenngrößen definiert. Findet eine Veränderung einzelner Prozessindikatoren statt, so lässt sich
direkt die Auswirkung auf die Leistungskenngrößen aufzeigen. Die Auswahl der
Leistungskenngrößen erfolgt nach den
Grundsätzen der Messbarkeit und Bewertbarkeit. Wichtig ist hierbei, dass die Kenngrößen einen Mitarbeiterbezug haben, dass
sie jedem Mitarbeiter verständlich sind und
Hinweise auf mögliche Ursachen von Defiziten bei der Leistungserbringung geben.
Nachfolgend sind für die einzelnen Prozesse die Prozessindikatoren und die Leistungskenngrößen festzulegen. Für den Prozess der Ver- und Entsorgung der Produktion können beispielsweise Flächen und
räumliche Gegebenheiten oder das innerbetriebliche Transportsystem Prozessindikatoren sein. Die Anzahl der Transportvorgänge, Streckenleistung usw. stellen die
Leistungskenngrößen dar.
Bewertungsverfahren
Zur Beurteilung und Bewertung der Prozesse gibt die Richtlinie einen Überblick über
die klassischen Instrumente des LogistikControlling, die jedoch im Einzelnen nicht
näher erläutert werden. Aufgrund der hohen
Komplexität der Abläufe erweist sich eine
exakte Bewertung der Prozesse meist als
schwierig. Die bisherige Einteilung der Prozesse dient der Übersichtlichkeit, ist für
eine Bewertung jedoch zu grob. Kosten und
Aufwand verursachende Prozesse sind
nicht eindeutig auszumachen. Als geeignetes Instrumentarium für eine detaillierte
Untersuchung der Einzelprozesse stellt die
Richtlinie das Prozesskettenmodell nach
Kuhn [1] vor. Dieses Modell ermöglicht die
strukturierte Darstellung von Prozessen
innerhalb der logistischen Kette und bietet
die Möglichkeit, komplexe Prozesse abzubilden und transparent zu gestalten. Ziel der
Prozessketten ist es, die Abläufe innerhalb
eines Unternehmens darzustellen, zu analysieren, zu beeinflussen und effektiver zu gestalten. Die Bewertung der Prozesse erfolgt
hierbei anhand ihres Beitrags zur Wertschöpfung [2]. Wertschöpfende Prozesse
sind diejenigen, die zur Erfüllung der Kundenanforderungen benötigt werden und
somit einen Nutzen für den Kunden erbringen. Zur Beurteilung bietet sich daher die
Differenzierung der Prozesse nach folgenden Kriterien an (vgl. Bild ➌ ):
Nutzprozesse (geplante Prozesse; sind an
der Wertschöpfung für den Kunden direkt beteiligt)
285
Nutzprozess
Stützprozess
Blindprozess
Fehlprozess
geplant
geplant
ungeplant
ungeplant
KN
KN
RV
• bearbeiten
• montieren
• verpacken
• entwickeln
• reifen
• konstruieren
•…
KN
KN
RV
• transportieren
• lagern
• prüfen
• Auftrag
erteilen
• Auftrag
annehmen
• puffern
• umschlagen
•…
RV
• rückfragen
• Wartezeiten
• Teile suchen
• Übermengen
zwischenpuffern
• Fehlteile
erfassen
• Reklamationen
bearbeiten
•…
Prozessbeurteilung
(in Anlehnung an
[2]); KN – externer
Kundennutzen,
RV – Ressourcenverbrauch
RV
• Aussschuss
produzieren
• Ware überlagern
• fehlerhaft
kommissionieren
• Ware an
falschen
Empfänger
• Ware fehlerhaft auszeichnen
•…
Stützprozesse (geplante Prozesse; müssen erbracht werden, um die Durchführung der Nutzprozesse zu ermöglichen)
Blindprozesse (ungeplante Prozesse; verbrauchen Ressourcen und erzeugen Kosten, aber keinen Wertzuwachs; der
Kundennutzen bleibt konstant)
Fehlprozesse (ungeplante Prozesse; infolge aufgetretener Fehler erforderlich;
mindern den Kundennutzen, obwohl
Ressourcen verbraucht werden).
Durch die Analyse und Bewertung der einzelnen Prozesse der Prozesskette sollen die
zur Erfüllung des Auftrages erforderlichen
Prozesse erkannt werden. Alle anderen
müssen grundsätzlich in Frage gestellt und,
wenn möglich, eliminiert werden. Insgesamt soll die Prozesskomplexität verringert
werden.
Nutzungseffekte
Literatur
Die VDI-Richtlinie 3600 unterstützt die
Gestaltung folgender Prozesse im Unternehmen:
Identifikation logistischer Prozesse – vor
allem dann, wenn Teilprozesse in Abläufe
integriert sind, die erfahrungsgemäß in
keinem Zusammenhang zur Logistik gesehen werden, z. B. bei Entwicklungs- und
Planungsaufgaben, Produktdokumentation und Produktänderungsmanagement
Neuordnung von Geschäftsprozessen
(Re-Design) durch richtige Strukturierung, Definition und Zuordnung der Aufgaben logistischer Prozesse und die Festlegung von Kompetenz und Verantwortung
Verbesserung der Kundenorientierung
(intern und extern) und der Prozessorientierung – von der Einzelaufgabe
zum Prozess
Stärkung des Kostenbewusstseins und
der Wertschöpfungsorientierung
286
KN
➌ Kriterien der
Förderung des Bewusstseins für die logistische Leistungsfähigkeit – Transparenz des Leistungsstandes der Logistikfaktoren im Unternehmen und Leistungsvergleiche mit anderen (Benchmarking)
Prozessführung durch messbare Zielgrößen und Unterstützung von Zielfindungsprozessen
Optimierungen beim Festlegen von Kernund Nichtkernprozessen (Outsourcing
o. ä.) – Aufzeigen von Defiziten und erforderlichen Qualifizierungsmaßnahmen
Schulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen.
Die Richtlinie VDI 3600, deren Entwurf
seit August 2000 vorliegt, ist eine wertvolle
Hilfe für Fabrikplaner, Produktions- und
Logistikplaner sowie Betriebsleiter von
Produktionsunternehmen.
[1] Kuhn, A.: Prozessketten in der Logistik – Entwicklungstrends und Umsetzungsstrategien. Dortmund:
Verlag Praxiswissen 1995.
[2] Winz, G.: Methodik zur Verbesserung der logistischen Qualität: ein Betrag zum logistischen Qualitätsmanagement. Universität Dortmund, Dissertation 1996. Dortmund: Verlag Praxiswissen 1996.
HF 9290
Dr.-Ing. Dirk Jodin
ist Oberingenieur am
Lehrstuhl für Förder- und
Lagerwesen der Universität
Dortmund
Dipl.-Ing. Michael Ott
ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Lehrstuhl
für Förder- und Lagerwesen
der Universität Dortmund
Hebezeuge und Fördermittel, Berlin 41 (2001) 6
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