SWR2 GLAUBEN Enthaltsamkeit ist keine Tugend DISKRETE LEIBFREUNDLICHKEIT IM JUDENTUM Von Ayala Goldmann SENDUNG 31.07.2011 /// 12.05 UHR Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Zitator: Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, meine Braut! Wieviel köstlicher ist deine Liebe als Wein und der Duft deiner Salben als alle Balsamöle! Honigseim träufeln deine Lippen, meine Braut. Honig und Milch ist unter deiner Zunge, und der Duft deiner Gewänder gleicht dem Duft des Libanon. Text Sprecher: Es ist erotische Lyrik vom Feinsten – das Hohelied Salomos aus dem Alten Testament, der hebräischen Bibel. „Schir Ha-Schirim“, das „Lied der Lieder“, erzählt von der wunderschönen Sulamith und ihrem ebenso schönen Liebhaber, die sich vor Sehnsucht nach einander verzehren. Die biblische Dichtung ist reich an Metaphern, aber an manchen Stellen auch sehr direkt. Zitatorin: Komm, mein Geliebter, laß uns aufs Feld hinausgehen! Wir wollen unter Hennasträuchern die Nacht verbringen. Wir wollen uns früh aufmachen zu den Weinbergen, wollen sehen, ob der Weinstock treibt, die Weinblüte aufgegangen ist, ob die Granatapfelbäume blühen. Dort will ich dir meine Liebe schenken. Text Sprecherin: Doch nicht erst im Hohelied, sondern von Anfang an spielt Sexualität in der Bibel eine entscheidende Rolle - bereits in der Schöpfungsgeschichte. Als Adam, der erste Mann, die erste Frau Eva sieht, die aus seiner Rippe gemacht ist, sagt er laut dem ersten Buch Mose: Zitator: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden sein EIN Fleisch. (kleine Pause) - Und sie waren beide nackt, der Mann und sein Weib, und schämten sich nicht. O-Ton Rabbiner Yitzchak Ehrenberg Trieb ist eigentlich was Gott gemacht hat, damit die Welt existiert. Das Judentum ist nicht eine Religion, die von uns Abstand oder Distanz zum Leben verlangt. Im Gegenteil, Gott hat uns geschaffen, und er sagte zu uns, Kinder, ich habe so eine schöne Welt geschaffen, damit ihr sie genießen sollt. Aber bewusst. Richtig. Text Sprecherin: Yitzchak Ehrenberg, orthodoxer Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Dass Sexualität im Judentum kein Tabuthema ist, zeigt auch die Ketubah – der traditionelle jüdische Hochzeitsvertrag. In ihm ist festgehalten: Der Ehemann darf es seiner Frau weder an Nahrung, Unterkunft noch an ihrem Vergnügen fehlen lassen. Im Original: O-Ton Yitzchak Ehrenberg (Hebräisch ohne Voiceover): Sheera, Ksuta we-onata lo igra. Text Sprecherin: Die jüdische Sexualtherapeutin Ruth Westheimer formuliert es in ihrem Buch „Himmlische Lust – Liebe und Sex in der jüdischen Kultur“ noch deutlicher: Zitatorin: In der jüdischen Hochzeitszeremonie ist die sexuelle Befriedigung Teil des Vertrags. Unter dem Hochzeitsbaldachin verspricht der Bräutigam der Braut, dass er ihr in angemessenem Umfang Nahrung, Unterkunft und sexuelle Befriedigung verschaffen wird. Selbst von den heiligsten Männern wird erwartet, dass sie heiraten. Enthaltsamkeit ist keine Tugend – der Orgasmus schon. Text Sprecherin: Doch ist das Judentum wirklich so sexfreundlich, wie „Dr. Ruth“ behauptet? Gesa Ederberg, liberale Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin: O-Ton Gesa Ederberg: Die Sexualität wird im Judentum als etwas sehr Normales und Teil des Lebens verstanden, wird aber gleichzeitig auch sehr deutlich reglementiert. Also: Findet statt, gehört ganz klar dazu, aber es gibt auch sehr deutliche und klare Grenzen und Regeln dafür. Text Sprecherin: Oder wie es die Enzyclopaedia Judaica beschreibt: Die jüdische Religion zeigt zum Sex eine gewisse Ambivalenz - beziehungsweise eine Balance zwischen Extremen. Einerseits besteht sie auf Disziplin, Mäßigung, moralischer Zurückhaltung und Selbstkontrolle, vermeidet aber exzessive Prüderie oder Askese. Das Judentum lehnt es ab, den Sexualtrieb als sündig oder schändlich zu betrachten. Als Kapitalverbrechen allerdings gelten im Alten Testament Verkehr mit Tieren oder Kindern, Inzest, Ehebruch, aber auch die Homosexualität. Zitator: Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Gräueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen. Text Sprecherin: heißt es im 3. Buch Mose. Dennoch gibt es auch in der Bibel homosexuelle Beziehungen, auch wenn sie nicht direkt so beschrieben werden – zum Beispiel die Männerfreundschaft zwischen David und Jonathan. Das Wort „Sexualität“ taucht in der Tora, den fünf Büchern Mose, übrigens nicht auf. Über den ersten Geschlechtsverkehr in der Geschichte der Menschheit heißt es: Und Adam erkannte sein Weib Eva. Rabbiner Yitzchak Ehrenberg: O-Ton Yitzckak Ehrenberg Als Adam und Eva zusammen waren, steht geschrieben (hebräisch): Wa jada Adam et Chava, Ischto. Steht nicht geschrieben, die haben zusammen geschlafen. Ladaatzu wissen. Das heißt, die Tora verwendet reine, feine Worte. Eines möchte ich Ihnen sagen: Überhaupt dieses Thema, das ist ein sehr feines Thema, der Talmud sagt: man soll darüber wenig sprechen. Das ist eine Sache, intime Intimität, das ist Leben zwischen Mann und Frau, und man soll das nicht in die Öffentlichkeit bringen. Text Sprecherin: Allerdings ist der Talmud, die der Bibel gleichwertige „mündliche Lehre“ des Judentums, voller ausführlicher Diskussionen darüber, in welcher Form Sexualität erlaubt oder sogar geboten ist. Zum Beispiel im Traktat Ketubot – Heiratsvorschriften. Dort ist je nach Berufen aufgeführt, wie oft ein Ehemann mit seiner Frau schlafen soll. O-Ton Yitchak Ehrenberg – liest Traktat auf Hebräisch Darüber Zitator auf Deutsch: Arbeitslose, die von ihrem Vermögen leben: täglich. Arbeiter: zweimal die Woche. Eseltreiber: Einmal die Woche. Kameltreiber: Einmal in 30 Tagen. Seeleute: einmal in sechs Monaten. Text Sprecherin: Die Weisen empfehlen insbesondere den Verkehr am Freitagabend, dem Beginn des heiligen Schabbat. Denn Sexualität gilt im Judentum als Ausdruck des göttlichen Willens. Eine andere Talmudstelle untersagt den Partnern den Geschlechtsverkehr, während sie bekleidet sind. Daraus leitet sich bis heute der Widerstand orthodoxer Rabbiner gegen Kondome ab. Wenn verhütet werden muss, sind Pille und Diaphragma die Mittel der Wahl. Ferner empfiehlt der Talmud, beim Geschlechtsverkehr das Licht zu löschen. Die Rabbinen meinten außerdem, es sei ein Zeichen des Anstands, wenn beim Geschlechtsverkehr der Mann oben und die Frau unten liegt, nicht umgekehrt – das Wort „Missionarsstellung“ kennt der Talmud aber nicht. Unter Berufung auf die Bibel und Onan, der getötet wurde, weil er seinen Samen vergeudete, ist Masturbation im traditionellen Judentum verboten. Der mittelalterliche jüdische Arzt und Philosoph Moses Maimonides dagegen legte das jüdische Religionsgesetz fast schon modern aus. Er stellte fest, dass keine Frau zum Sex gezwungen werden darf, auch nicht die eigene Ehefrau, und schrieb in seinem Hauptwerk „Mishne Tora“: Zitator: Die eigene Frau ist dem Mann gestattet, und mit ihr darf er es tun, wie es ihm gefällt. Er darf mit ihr den Beischlaf nach Belieben ausüben, jedes ihrer Körperteile küssen und auf natürliche und unnatürliche Weise mit ihr schlafen – vorausgesetzt, dass er seinen Samen nicht ohne Zweck vergeudet. Text Autorin: Sexualität wird in der jüdischen Religion von Anfang an nicht unterdrückt oder tabuisiert, sondern kanalisiert - in den Hafen der heterosexuellen Ehe. Rabbiner Yitzckak Ehrenberg: O-Ton Ehrenberg: Bei der katholischen Kirche ist es den Pfarrern, den Priestern, verboten zu heiraten. Bei uns ist es eine Pflicht. Text Sprecherin: Vor der Hochzeit ist Sex im orthodoxen Judentum –wie in anderen Weltreligionen tabu. Junge Juden aus traditionellem Elternhaus werden bis heute in sehr jungem Alter verheiratet. O-Ton Yitzchak Ehrenberg Die Mischna spricht in „Sprüche der Väter“: Ben 18 le-Chuppa, das heißt, die Mischna stellt fest: Mit 18 soll man schon heiraten. Text Sprecherin: Yitzchak Ehrenberg selbst stand im Alter von 20 Jahren unter dem Traubaldachin. O-Ton Yitzchak Ehrenberg Ich bin in eine Jungsschule gegangen, Mädchen separat, Jungen separat, wir haben überhaupt keinen Kontakt, wir reden nicht miteinander. (….) Als ich 20 Jahre alt war, jung, das erste Mal, dass ich mit einer Frau gesprochen habe, so ein paar Stunden, und wir haben gesprochen, was für ein Haus wir erwarten uns, welche Ideologie, was ist unser Ziel, wir haben uns viermal getroffen, jedes Mal vier Stunden oder so, und dann war genug, wir haben schon entschieden zu heiraten. Und Gott sei Dank, wir leben bis heute mit Liebe, wir haben 5 Kinder und 5 Enkelkinder, und kommt noch, mit Gottes Hilfe, und es klappt sehr gut. Text Sprecherin: Die meisten Juden weltweit leben aber nicht nach den Regeln der Orthodoxie- und suchen ihre Partner selbst aus. Sex vor der Ehe ist völlig normal, der Schadchan oder Hochzeitsvermittler ist nur in sehr traditionellen Kreisen aktiv. Der orthodoxe Rabbiner Shmuley Boteach aus den USA hält das für einen Fehler. Sein Buch „Koscherer Sex“ ist ein Bestseller, derzeit schreibt er an einem neuen Buch über den „koscheren Orgasmus“ – was auch immer er darunter versteht. Boteach, ein ehemaliger Berater von Popstar Michael Jackson, ist höchst erfolgreich damit, traditionelle Botschaften in moderner Sprache zu vermarkten. O-Ton Shmuley Boteach (Amerikanisch mit Voiceover) Das beste Argument gegen Sex vor der Ehe ist, dass er nicht die Intimität bringt, die Menschen wirklich wollen. Wir wollen nicht nur die fleischliche Vereinigung. Wir wollen eine emotionale Integration. Wir wollen eine tiefe, romantische Dimension für unsere sexuellen Erfahrungen. Und beim Sex vor der Ehe kann man sich nicht vollständig gehen lassen. Denn Sex macht dann am meisten Vergnügen, wenn wir den tierischen Instinkten in uns erlauben, das Zepter zu übernehmen. Das passiert nur in einer Situation, in der es vollständiges Vertrauen gibt und man keine Angst haben muss, wie es enden wird und ob man sich zu tief eingelassen hat. Text Sprecherin: Die liberale Rabbinerin Gesa Ederberg aus Berlin sieht das – wie die meisten Juden auf der Welt - aber anders: O-Ton Gesa Ederberg: Ich denke, das Entscheidende heute ist wirklich der verantwortungsvolle Umgang mit der eigenen Sexualität, und dass frühes Heiraten nicht unbedingt zu glücklichen Beziehungen und langlebigen Ehen führt, das ist, glaube ich, inzwischen auch deutlich. Das Entscheidende, was man den Kindern beibringen muss, ist die gegenseitige Verantwortung – und natürlich Verhütung und Schutz vor sexuellen Krankheiten. An der jüdischen Schule gibt es ganz normal Sexualkunde in der dritten Klasse das erste Mal und dann entsprechend später, und das halte ich auch für ganz, ganz wichtig, denn die Kinder leben hier in einer normalen Umgebung. Text Sprecherin: Seid fruchtbar und mehret euch, sagt die Bibel. Doch auch Rabbiner wie Shmuley Boteach, der selbst neun Kinder hat, hält dieses Gebot nicht für das einzig wichtige beim Sex. Spaß soll es auch machen. O-Ton Shmuley Boteach (Amerikanisch mit Voiceover): Wir haben nicht Sex, um Kinder zu haben, aber wir glauben daran, Kinder zu haben. Die reproduktive Funktion des Sex ist auch involviert. Es ist nicht der prinzipielle Grund, aber es ist sehr wichtig. Während wir Verhütung unter vielen Umständen akzeptieren, akzeptieren wir sie aber nicht unter allen Umständen, denn wir lieben es, Kinder zu haben. O-Ton Gesa Ederberg: Die rabbinische Auslegung ist tatsächlich, dass das Gebot „Seid fruchtbar und mehret euch“ damit erfüllt ist, dass man einen Sohn und eine Tochter hat. Das Kinderkriegen ist nicht unbedingt so zentral. Die Mizwa, Kinder zu kriegen, besteht natürlich, aber wenn man diese Mizwa erfüllt hat und zwei Kinder hat, dann darf man trotzdem weiterhin sich sexuell aktiv vergnügen miteinander. Text Sprecherin Allerdings nicht an allen Tagen des Monats – zumindest im traditionellen Judentum gibt es strenge Vorschriften, wann Sex erlaubt ist und wann nicht. Während der Periode gilt die Frau, so sagt die Bibel, als unrein. Der Talmud gibt nach Ende der Periode sieben weitere Tage vor, in denen Mann und Frau keinen Geschlechtsverkehr haben dürfen – insgesamt also 12 Tage. Orthodoxe Juden halten die Zeit der Abstinenz, in denen Mann und Frau sich nicht berühren dürfen und in getrennten Betten schlafen, für eine zwingend notwendige Regelung, die ihrer Meinung nach das Sexualleben fördert. Denn wenn Mann und Frau sich die Hälfte des Monats voneinander fern halten müssen, haben sie hinterher erst Recht wieder Lust aufeinander – meint Rabbiner Yitzchak Ehrenberg. O-Ton Yitzchak Ehrenberg Im Judentum, die Tora beschreibt uns, wann darf er mit seiner Frau sein und wann nicht. Es gibt so etwa 12 Tage im Monat, an denen wir uns distanzieren. Und diese Distanz stärkt die Liebe. Text Sprecherin: Zum Abschluss der so genannten unreinen Tage soll die Frau ein rituelles Tauchbad, eine Mikwe, besuchen, und ihren ganzen Körper unter Wasser tauchen. Danach darf sie wieder Geschlechtsverkehr haben. Gesa Ederberg kennt die Tauchzeremonie aus der Mikwe in der Synagoge Oranienburger Straße in Berlin: O-Ton Gesa Ederberg: Ich war auch schon des öfteren wirklich dabei. Man guckt schon, ob im entscheidenden Moment oder in einem Moment das Wasser die Person komplett umgibt. Sprich: Die Füße vom Boden hoch sind, keine Haare mehr rausstehen, man nicht sich versehentlich noch an der Wand abstützt. Das ist dann die Aufgabe von derjenigen, die dann zuguckt, war es ein koscheres Untertauchen. Also nicht die Person wird für koscher erklärt, sondern das Untertauchen. Text Sprecherin: In den USA hat die Mikwe, lange Zeit als angeblich unhygienisches Relikt aus alten Zeiten verschrien, ein Revival erfahren. Nina Redel, die am Jewish Theological Seminar in New York studiert und Rabbinerin werden will, kennt das Tauchbad aus eigener Erfahrung: O-Ton Nina Es ist in den letzten fünf bis zehn Jahren auf jeden Fall wieder populärer geworden, vor allem unter jungen Paaren, vor allem unter jungen modern-orthodoxen, konservativen jüdischen Familien ist das durchaus gang und gäbe, dass man dann durchaus in New York in den Bereichen, wo dann auch die Mikwaot stehen, beispielsweise für die Männer freitags vor Schabbat und die Frauen in der Frühe auch mal Schlange steht. Text Sprecherin: Die Mikwe, sagt die Rabbinerstudentin, habe in New York inzwischen sogar Wellness- Qualitäten. O-Ton Nina Generell, die Mikwaot sind wirklich sehr schön auch ausgestattet, und dass man sich da auch durch Zufall trifft und hinterher noch gemeinsam Kaffeetrinken geht, ist eigentlich relativ normal. Und dann die Atmosphäre selber, es ist eigentlich, wie wenn man mit dem amerikanischen Wort so sagen würde, to pamper oneself – sich so bisschen auch in der Frühe vormittags zu verwöhnen mit dem Angebot, in die Mikwe zu gehen, dieses warme Wasser und dieses Erlebnis dort, wirklich auch unterzutauchen, zu genießen, sich dafür Zeit zu lassen, eventuell noch gemeinsam zu beten, da bilden sich häufig dann auch ganz spontan kleine Minjanim von nur Frauen, die dann häufig auch gemischt – konservativ, orthodox – dann gemeinsam noch Morgengebet beten, und man dann gemeinsam sozusagen in den Tag reinstartet. Text Sprecherin: Die Berliner Rabbinerin Gesa Ederberg betont allerdings: Die wenigsten jüdischen Frauen halten sich heute noch an die Nidda-Gesetze, die 12 Tage sexueller Abstinenz im Monat vorschreibt. O-Ton Gesa Ederberg Das ist die extreme Minderheit. Das ist auch innerhalb des religiösen Judentums eine Minderheit. Es hat, wie gesagt, im letzten Jahrzehnt zugenommen, weil eben junge Frauen das entdecken und positiv für sich interpretieren, aber es ist immer noch eine extreme Minderheit, die sich überhaupt daran hält. Text Sprecherin: In der Bibel sind nur sieben ´Tage Trennung zwischen Mann und Frau, nicht 12 Tage wie im Talmud vorgeschrieben. Manche gläubigen jüdischen Frauen finden diese kürzere Zeitspanne der sexuellen Abstinenz naheliegender. O-Ton Gesa Ederberg Wenn man sich empirisch umschaut, dann sieht man, dass von den jüngeren Paaren die, die das zu einem Thema in ihrer Beziehung machen, viele sich tatsächlich wieder auf die biblischen sieben Tage zurückbesinnen und sich daran halten. Und dass es häufig von den Frauen ausgeht, die sagen, die Sache mit Mikwe ist eben auch eine Möglichkeit, den weiblichen Zyklus zu zelebrieren, in diesem Monatsrhythmus mitzugehen. Und dann kann man es eben auch entsprechend positiv und nicht frauenfeindlich interpretieren. Text Sprecherin: Diese kurze Variante der sieben Tage Abstinenz kann auch andere Vorteile haben. Für manche Frauen bringen die Nidda-Gesetze der Halacha, des jüdischen Religionsgesetzes, nämlich schwerwiegende Folgen mit sich. Diejenigen Frauen, deren Zyklus relativ kurz ist – nicht 28, sondern zum Beispiel 25 Tage - verpassen die fruchtbare Zeit für den Geschlechtsverkehr und bleiben kinderlos. O-Ton Gesa Ederberg Es ist tatsächlich so, dass es eine so genannte – den Begriff verwendet man – halachische Unfruchtbarkeit gibt. Wenn der Zyklus genau 28 Tage ist, dann trifft man natürlich nach den 14 Tagen Enthaltsamkeit genau den Höhepunkt der fruchtbaren Tage, aber wenn der Zyklus entsprechend kürzer ist, gibt es tatsächlich dieses Problem, für das man Lösungen finden muss. Ich denke, so eine Idee wie zu sagen, dann macht man stattdessen eine künstliche Befruchtung, ist natürlich wirklich die Sache schon etwas ins Absurde getrieben. Text Sprecherin: Im orthodoxen Judentum gibt es Rabbiner, die in solchen Fällen zu einer In-VitroFertilisation raten, damit Mann und Frau sich in den 12 ersten Tagen des Zyklus nicht berühren müssen. Rabbiner Ehrenberg weiß darüber Bescheid: O-Ton Rabbiner Yitzchak Ehrenberg Ich hatte eine interessante Geschichte, als ich in München war. Eine Frau, die 18 Jahre keine Kinder gehabt, und dann hat man versucht, außerkörperliche Befruchtung zu machen, aber es war noch nicht die Zeit, dass sie in die Mikwe ging. Und dann war die Frage, ist das erlaubt? Weil es gibt eigentlich keinen direkten Kontakt zwischen Mann und Frau. Und sie wurde schwanger, nach 18 Jahren hat sie ein Kind bekommen (….)das ist eine von den Lösungen, aber es gibt noch andere. (lacht) Es gibt, ja. Text Sprecherin: Als orthodoxer Jude darf Yitzchak Ehrenberg einer fremden Frau grundsätzlich nicht die Hand geben. Orthodoxe jüdische Männer rechtfertigen diese Sitte damit, dass sie nicht wissen können, ob die betreffende Frau gerade ihre Periode hat. Aber es gibt auch andere Begründungen: O-Ton Yitzchak Ehrenberg (stöhnt) Ich werde sagen so. Eine Frau, die nicht deine Frau ist, und du darfst deswegen mit dieser Frau nicht zusammen sein. Anfassen, ist in feine Art Zusammensein. Sie sind eine Frau, aber kennen Sie die Welt von den Männern? Bei den Männern, jede Sache hat Erotik. Deswegen, auch bei der Orthodoxie, sogar wenn eine Frau die Hand gibt, geben wir nicht zurück. Das ist auch der Grund, warum wir bei der Orthodoxie in der Synagoge getrennt sitzen. Weil der Mensch, an diesem heiligen Ort, wir sollen einen reinen Kopf, ein reines Herz haben mit Gott. Wenn jemand neben einer attraktiven Frau sitzt, schon kann er nicht mehr richtig beten, nicht wahr? Text Autorin: Die Trennung zwischen Männern und Frauen in orthodoxen Synagogen ist auch in Europa selbstverständlich. In der Ultra-Orthodoxie in Israel gibt es seit etwa 20 Jahren aber einen neuen Trend zur Trennung zwischen Männern und Frauen in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens. In den Orthodoxenvierteln in Jerusalem, aber auch in anderen israelischen Städten verkehren mittlerweile etwa 90 Buslinien, in denen Frauen nur hinten und Männer nur vorne einsteigen dürfen – damit sie sich im Gedränge gegenseitig nicht berühren. Die israelische Filmemacherin und Frauenrechtlerin Anat Zuria kritisiert diesen Trend scharf. Sie hat dafür den Begriff der „Anstandsrevolution “ geprägt. O-Ton Anat Zuria (Hebräisch mit Voiceover) Diese Ideologie stellt eine messianische Utopie in der Vordergrund. Um die Erlösung durch den Messias zu erreichen, muss eine bestimmte Art von Reinheit geschaffen werden. Und zu diesem Zweck müssen Männer und Frauen streng getrennt werden. Text Autorin: Doch es bleibt nicht bei den ultra-koscheren Bussen, in denen Frauen hinten sitzen müssen. Inzwischen gibt es in den Vierteln der Ultra-Orthodoxen sogar einige Supermärkte, in denen getrennte Einkaufsstunden für Männer und für Frauen eingerichtet wurden. Und auch in einigen Polikliniken der Krankenkassen in den Vierteln der Gottesfürchtigen herrscht Geschlechtertrennung. O-Ton Anat Zuria (Hebräisch mit Voiceover): Das bedeutet, dass Frauen nur von Frauen und Männer nur von Männern medizinisch behandelt werden. Mich erinnert das an die Taliban. Und den Begriff, den ich dafür gewählt habe, habe ich von muslimischen Feministinnen übernommen. Ich nenne es Geschlechterapartheid. Text Sprecherin: Rabbinerin Gesa Ederberg hält die so genannte Anstandsrevolution in Israel für zutiefst besorgniserregend: O-Ton Gesa Ederberg Das gab es noch nie im Judentum, dass Lebensbereiche in dieser Form radikal geändert worden sind. Ich denke, Leute können mit einigermaßen sinnvollen Argumenten für Trennung im Gottesdienst argumentieren, aber wenn das dann auf das Alltagsleben übergreift und auf Busse und so weiter, dann ist das Fundamentalismus pur. Text Sprecherin: Auch dem Berliner Rabbiner Yitzchak Ehrenberg geht die immer massivere Geschlechtertrennung in der israelischen Ultra-Orthodoxie zu weit. Getrennte Busse lehnt er ab. O-Ton Ehrenberg: Ich finde es schon zu extrem, und ich bin streng dagegen. Jede Sache hat ihre Grenze. Und die meisten von den frommen Leuten sind sehr streng dagegen, total dagegen. Das ist übertrieben. So ein Mensch soll mit dem Taxi fahren, nicht mit dem Autobus. Text Sprecherin: Im Verhältnis zur Homosexualität gibt es große Unterschiede zwischen den verschiedenen jüdischen Strömungen. Der orthodoxe Rabbiner Yitzchak Ehrenberg findet – und damit gibt er die Ansicht vieler orthodoxer Juden wider – dass homosexuelle Männer und lesbische Frauen nicht ihrem Trieb, sondern den Geboten der Tora folgen sollen. Sie sollen sich also umorientieren und heterosexuell leben, auch wenn das ihren Bedürfnissen widerspricht. O-Ton Yitzchak Ehrenberg: Ich kann nur eines sagen, ich bin ein religiöser Mensch, und ich glaube auch, dass jeder Mann, wenn er lebt nach der Tora, er kann auch leben so wie die Tora verlangt. Es kann sein, dass es für ihn ein bisschen schwierig ist, weil Sie wissen, heute gibt es so genannte Bi, beides, aber das ist eine Toleranz nicht am richtigen Ort Und wenn jemand trotzdem denkt und er sagt, Gott, was willst du von mir, du hast mich so geschaffen? Was willst du von mir? Ich bin so! Ich werde sagen: Wir glauben, 120 Jahre nach dem Ableben kommt jeder vor Gott. Und Gott wird ihm zeigen, dass er anders konnte. Text Sprecherin: Yitzchak Ehrenberg findet es richtig, dass strenggläubige Juden, Christen und Moslems in Jerusalem mehrmals gegen die sogenannte Gay Parade und andere Straßenumzüge von Schwulen und Lesben protestiert haben: O-Ton Yitzchak Ehrenberg Wir sollen unser Schlafzimmer nicht auf die Straße bringen. Jeder, wie er lebt, das ist seines. Wir sollen nicht gehen und kontrollieren jeder, wie er lebt? Aber warum soll man das auf die Straße bringen? Warum soll man das demonstrieren? Text Sprecherin: Es gibt allerdings auch orthodoxe Rabbiner wie Shmuley Boteach, die schwule und lesbische jüdische Paare dazu aufrufen, ein koscheres Haus zu führen und den Schabbat zu halten – um wenigstens die meisten Gebote der Tora zu halten. Im liberalen Judentum dagegen ist die Akzeptanz von Homosexualität viel weiter entwickelt. In manchen Gemeinden, vor allem in den USA, gibt es Rabbinerinnen und Rabbiner, die Ehen zwischen zwei Frauen oder zwei Männern unter dem Traubaldachin schließen. Rabbinerin Gesa Ederberg hat selbst keine solche Ehe gestiftet, sagt aber: O-Ton Gesa Ederberg: Angesichts dessen, was wir heute über Homosexualität wissen, halte ich es für ganz, ganz entscheidend, dass die jüdischen Gemeinden sich an der Stelle öffnen. Wir wissen, dass der Versuch, jemand, der lesbisch oder schwul orientiert ist, sich umzuorientieren und sich in eine heterosexuelle Beziehung zu zwingen, tragisch ist. Wir wissen, was ich den ganz entscheidenden Faktor finde, dass die Zahl von Selbstmorden unter homosexuellen Jugendlichen zehnmal so hoch ist wie unter heterosexuellen Jugendlichen. Das heißt, wenn eine religiöse Gemeinschaft oder die Gesellschaft überhaupt Homosexualität nicht als ein Faktum und als Lebenswirklichkeit akzeptiert, dann begeht sie tatsächlich ein Verbrechen an den jungen Menschen, die dann seelisch, psychisch völlig zerrissen sind und nicht wissen, wo sie mit sich und ihrer erwachenden Sexualität hin sollen. Von daher halte ich es für ganz, ganz wichtig, dass die Gemeinden da auch entsprechend offen sind und schwule und lesbische Paare sich auch in der Gemeinde wohlfühlen. Text Sprecherin: Sexualität im Judentum ist ein weites Feld. Im lebenslustigen Tel Aviv wird sie anders ausgelebt als in den Orthodoxenvierteln von Jerusalem, in traditionellen jüdischen Vierteln von New York anders definiert als im säkularen Berlin. Einerseits hat die jüdische Tradition in klar definierten Grenzen ein positives Verhältnis zur Sexualität. Vielleicht zeigt sich auch das daran, dass es in der Geschichte viele jüdische Sexualforscher gab – wie etwa Magnus Hirschfeld. Andererseits gibt es in der jüdischen Orthodoxie bis heute Moralvorstellungen, die liberale Juden als rückwärtsgewandt empfinden. In einem sind sich die meisten Juden jedoch einig: Es gibt wenige Liebesdichtungen, die so leibfreundlich und lebensfroh sind wie das Hohelied in der Bibel. In der jüdischen Tradition übrigens wird die Leidenschaft zwischen Sulamith und ihrem Geliebten als Allegorie gelesen - als Anspielung auf die Beziehung Gottes zu seinem Volk Israel gelesen. Doch das ist natürlich Ansichtssache. O-Ton Gesa Ederberg: Das berühmte Hohelied der Liebe, was ja tatsächlich in die Metapherkiste greift und da sehr sinnlich wird, wird ja dann sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Tradition ein Stück weit weginterpretiert, indem man es eben auf die Liebe zu Gott übersetzt. Andererseits wurde das Hohelied immer auch tatsächlich als Liebeslied und Liebestext gelesen. Zitator: Ich komme in meinen Garten, meine Schwester, meine Braut. Ich pflücke meine Myrrhe samt meinem Balsam, esse meine Wabe samt meinem Honig, trinke meinen Wein samt meiner Milch. Eßt, Freunde, trinkt und berauscht euch an der Liebe! Musik, Ende Manuskript