Foto: Wolfgang Günzel Innere Haltung – philosophische und ethische Standpunkte in der Bildungs- und Sozialarbeit Der Dokumentationsband steht Ihnen kostenfrei zum Download zur Verfügung: www.frankfurt-evangelisch.de/fachtag.html Mit Unterstützung von: ISBN 978-3-9816379-0-8 Dokumentation einer Fachtagung am 24. September 2013 Foto: Wolfgang Günzel Innere Haltung – philosophische und ethische Standpunkte in der Bildungs- und Sozialarbeit Der Dokumentationsband steht Ihnen kostenfrei zum Download zur Verfügung: www.frankfurt-evangelisch.de/fachtag.html Mit Unterstützung von: ISBN 978-3-9816379-0-8 Dokumentation einer Fachtagung am 24. September 2013 Innere Haltung – philosophische und ethische Standpunkte in der Bildungs- und Sozialarbeit Dokumentation einer Fachtagung am 24. September 2013 in sankt peter Impressum Herausgeber: Jürgen Mattis, Ute Sauer Veranstalter der Tagung: Evangelischer Regionalverband Frankfurt am Main und Stadtschulamt der Stadt Frankfurt am Main Vorbereitungsgruppe der Veranstalter und Konzeption der Fachtagung und der Dokumentation: Dr. Elard Apel, Maike Henningsen, Stephanie Höhle, Steffen Kurz, Jürgen Mattis, Monika Ripperger, Miriam Schmidt-Walter, PD Dr. Wolfgang Schrödter, Matthias Weber, Dr. Christiane Wessels, Petra Zender Redaktion: Stephanie Höhle Gestaltung: 2thepoint, Heusenstamm Druckerei: Druckerei Lokay e. K., Reinheim Fotos: Enrico Corsano Titelfoto: Wolfgang Günzel ISBN 978-3-9816379-0-8 Schutzgebühr: 5 Euro Inhalt Vorwort der Vorbereitungsgruppe 3 Einladung zur Tagung 4 Tagesprogramm 5 11 Denkräume 6 Grußwort 8 Vortrag I – Dr. Julian Culp 12 Die innere Haltung ausrichten auf Gerechtigkeit und Demokratie! Zur sozialen und politischen Relevanz der Bildungs- und Sozialarbeit unter Bedingungen des Pluralismus und der Transnationalisierung Vortrag II – Dr. Rebecca Gutwald 21 Moralische Normen in der sozialen Arbeit am Beispiel des Capability Approaches und verwandter Ansätze Denkraum 1 – Prof. Dr. Birgit Bender-Junker 34 Die Bedeutung der evangelischen ­Sozialethik für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Denkraum 2 – Dr. Reinhild Hugenroth 37 Die Bedeutung des Partizipations- und Demokratiediskurses der Bürger­gesellschaft für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Denkraum 3 – Axel Klimek 41 Die Bedeutung eines Ansatzes der Nachhaltigkeit für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Denkraum 4 – Günther Emlein 45 Die Bedeutung des systemischen Ansatzes für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Denkraum 5 – Prof. Dr. Sandro Bliemetsrieder 48 Die Bedeutung der Menschenrechte für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Denkraum 6 – Prof. Dr. Margitta Kunert-Zier 52 Die Bedeutung des Diversity-Ansatzes für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Denkraum 7 – Dr. Klaus-Dieter Dohne 55 Die Bedeutung der Kompetenzorientierung für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Denkraum 8 – Dr. Gottfried Schüz 57 Die Bedeutung einer radikalen Individualethik – am Beispiel der K ­ ulturphilosophie Albert Schweitzers – für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Denkraum 9 – Dr. Thomas Ebers 61 Die Bedeutung von Inklusion für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Denkraum 10 – Prof. Dr. Ute Gahlings 64 Die Bedeutung der Thesen von Martha Nussbaum zu Demokratie und B ­ ildung für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Denkraum 11 – Dr. Rebecca Gutwald 68 Capabilities, Resilienz und Nachhaltigkeit und ihre Relevanz für die innere Haltung in der Bildungsund Sozialarbeit 2 Podiumsdiskussion 72 Informationen zu den Referentinnen und Referenten 78 Vorwort der Vorbereitungsgruppe Vorwort der Vorbereitungsgruppe Liebe Leserin, lieber Leser, Pfarrer Jürgen Mattis, Leiter des Fachbereich I: Beratung, Bildung, Jugend im Evangelischen Regionalverband Frankfurt am Main schon bei der Vorbereitung des Fachtages „Innere Haltung – ­philosophische und ethische Standpunkte in der Bildungs- und ­Sozialarbeit“ entstand in der gemeinsamen Arbeitsgruppe zwischen Evangelischem Regionalverband Frankfurt am Main und Stadtschulamt Frankfurt am Main der Eindruck, dass eine schriftliche Dokumentation der Vorträge und Diskussionen Interesse finden könnte. Zum einen gibt es eine Suche nach gemeinsamen Orientierungen und Verständigungen, zum anderen erschweren oft unterschied­ liche Perspektiven und Ansätze in den heutigen Fachdiskussionen und konzeptionellen Ausrichtungen des Arbeitsfeldes die Reflexion auf die Grundlagen des Arbeitsauftrages. Unter der ordnenden Fragestellung des Fachtages kann aus den Vorträgen und Diskussionen der 11 Denkräumen eine komprimierte Sammlung unterschiedlicher Denkansätze dokumentiert werden, die viele Impulse zum eigenen Weiterdenken bietet. Es bestand ebenso der Wunsch, die beiden Eröffnungsvorträge zu veröffentlichen und nachlesbar zu machen. Dr. Julian Culp zeigte in seinem Vortrag, dass die Bildungs- und Sozialarbeit für die Herstellung bzw. den Erhalt demokratischer Verhältnisse von großer Bedeutung ist. In sozialen Einrichtungen und Bildungseinrichtungen werden die aus seiner Sicht wesentlichen Kompetenzen vermittelt, durch die erst eine demokratische politische Kultur entstehen kann. Dr. Rebecca Gutwald rückte in ihrem Vortrag, ausgehend vom „Capability Approach“ von Martha Nussbaum, die Verwirklichungschancen eines jeden Menschen für ein gutes Leben in den Mittelpunkt. Bildung und Erziehung nehmen aus ihrer Ansicht eine Schlüsselstellung ein bei der Erhöhung der Verwirklichungschancen. Wir danken allen Vortragenden und Protokollierenden herzlich für die erbrachte Textarbeit und die schnelle und kooperative Zusammenarbeit. Wir hoffen, dass Sie als Leserin und Leser durch die Texte animiert und herausgefordert werden, Ihre eigene „Innere Haltung“ zu reflektieren und weiter zu denken. Ganz besonders danken wir Frau Stephanie Höhle für die Redaktionsarbeit, ohne deren beharrlichen Einsatz dieser Band sicher nicht zustande gekommen wäre. Jürgen Mattis für die Vorbereitungsgruppe 3 Einladung zur Tagung Einladung zur Tagung Innere Haltung – Philosophische und ethische Standpunkte in der Bildungs- und Sozialarbeit Diskussionen und Debatten der letzten Jahre um Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe, um Integrationskonzepte und Diversitätserfordernisse, um Inklusion und eine erweiterte Charta der Menschenrechte, um Kinderarmut und Ganztagsschule, um Kompetenzorientierung und Resilienz etc. haben in der Bildungs- und Sozialarbeit Spuren hinterlassen, gleichzeitig zu einer gewissen Unübersichtlichkeit und zu Orientierungsschwierigkeiten geführt. In Zeiten des Auf- und Abstiegs nationaler Mächte und politischer Neuordnungen, in Zeiten der Finanz- und Europakrise, in Zeiten von Energiewende und globaler Wissens­entgrenzung erlebt die Philosophie wieder öffentliche Nachfrage. Die Komplexität führt anscheinend zum Wunsch nach Ordnung der Begriffe und einer vernünftigen Durchdringung von Geltungsansprüchen und Entwicklungen. Auch dieser Fachtag soll dem Denken und der Reflexion Raum geben. Wir haben daher die Workshops diesmal „Denkräume“ genannt, da das gemein same Nachdenken über die wichtigsten Fundamente und Orientierungen in unserer Arbeit – unsere „Inneren Haltung“ – im Zentrum der Diskussion stehen soll. Keine Best-Practice-Beispiele sollen diesmal die Debatte um neue Konzepte des Lernens und der Ermöglichung von Bildung und Teilhabe herausfordern, sondern unser innerer Kompass und unsere Standpunkte für die Arbeit in Frankfurt am Main bilden den Fokus. Wir freuen uns, Sie einzuladen zu zwei Einleitungsvorträgen der politischen und praktischen Philosophie durch Herrn Dr. Julian Culp aus Frankfurt und Frau Dr. Rebecca Gutwald aus München und 11 interessanten „Denkräumen“, in denen jeweils nach einem circa 20-minütigen Vortrag die Diskussion eröffnet wird. Eine Abschlussrunde wendet sich dann noch der Frage des Verhältnisses von Praxis und Theorie zu. Von Theodor W. Adorno haben wir gelernt, dass Vernunft und Denken für eine kritische Theorie der Gesellschaft unerlässlich sind und erst in der Reflexion bestehender Verhältnisse sich Hoffnung auf Befreiung gründet. Wir laden Sie für die beiden Veranstalter des Fachtages ganz herzlich zur Teilnahme und zum Mitdenken ein! Jürgen Mattis Evangelischer Regionalverband Frankfurt am Main 4 Ute Sauer Stadtschulamt Frankfurt am Main Tagesprogramm Tagesprogramm Uhr ab 9:30 10:00 10:30 11:30 12:30 Anmeldung und Stehcafé egrüßung B Pfarrerin Esther Gebhardt Vorsitzende des Vorstandes des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt am Main Ute Sauer Leiterin des Stadtschulamtes Frankfurt am Main ortrag I V Die Innere Haltung ausrichten auf Gerechtigkeit und Demokratie! Zur sozialen und politischen Relevanz der Bildungs- und Sozialarbeit unter Bedingungen des Pluralismus und der Transnationalisierung Dr. Julian Culp Leibnitz-Forschungsgruppe „Transnationale Gerechtigkeit“, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main anschließende Diskussion Vortrag II Moralische Normen in der sozialen Arbeit am Beispiel des Capability Approaches und verwandter Ansätze Dr. Rebecca Gutwald Lehrstuhl Philosophie IV der Ludwig-Maximilians-Universität München anschließende Diskussion Mittagspause 13:30 bis 15:30 11 Denkräume zu „Innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit“ Kaffeepause 15:45 16:00 Abschlussdiskussion Zum Verhältnis von Bildungspraxis und ethischer Theoriebildung bzw. Moralphilosophie Moderation: Pfarrer Jürgen Mattis Evangelischer Regionalverband Frankfurt am Main Ende der Veranstaltung 17:00 5 denkräume 11 Denkräume 1.Die Bedeutung evangelischer Sozialethik für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Prof. Dr. Birgit Bender-Junker, Evangelische Hochschule Darmstadt Evangelische Sozialethik verfügt über keinen für alle verbindlichen Kanon von Themen und Leitorientierungen. Vielmehr erwachsen dieser Sozialethik aus der konkreten Situation von verantwortlich Handelnden immer neue Herausforderungen. Birgit Bender-Junker wird Grundlinien skizzieren, die einen gewissen Konsens unter evangelischen Sozialethiker/-innen darstellen. Was diese Grundlinien für die Haltung in der Arbeit bedeuteten, ist dann Thema der Diskussion. Moderation: Dr. Gisela Matthiae, Pfarrerin für Frauenarbeit und Leiterin des EVAngelischen Frauenbegegnungszentrums in Frankfurt am Main 2.Die Bedeutung des Partizipations- und Demokratiediskurses der Bürgergesellschaft für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Dr. Reinhild Hugenroth, Bildungsberaterin und Sprecherin der AG „Bildung/Qualifizierung“ im ­Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, Berlin Die Interdependenzen von Bildung auf der einen und von demokratischen Staatsordnungen auf der anderen Seite stehen im Mittelpunkt dieses Denkraums. Dieser Denkfigur liegt die Annahme zugrunde, dass eine vitale bürgerschaftliche Demokratie durch Bildungsprozesse ihre eigenen kulturellen und moralischen Bestandsvoraussetzungen stets wieder neu erzeugen muss. Die Verbindungen zwischen Erziehung und politischer Freiheit, Bildung und Demokratie werden in den Blick genommen und reflektiert. Moderation: Dr. Elard Apel, Pädagogische Grundsatzplanung im Stadtschulamt Frankfurt am Main 3.Die Bedeutung eines Ansatzes der Nachhaltigkeit für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Axel Klimek, Geschäftsführer der ISIS-Academy GmbH, Hofheim Wie entwickelt der Mensch eine verantwortliche Lebensführung für nachfolgende Generationen? Kann eine solche Lebensführung zum Ziel und zur Handlungsleitlinie in der Bildungs- und Sozialarbeit werden? Die Initiierung von langfristigen Strategien in Entwicklungs- und Veränderungsprozessen ist ein zentrales Thema der Nachhaltigkeit. Hierzu wird die ISIS-Methode zum Bereich Nachhaltige Entwicklung vorgestellt: I – Indikatoren, S – Systemische Verknüpfung, I – Innovation, S – Strategie. Moderation: Esther Kaiser, pädagogische Koordinatorin im Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit in Frankfurt am Main e.V. 4.Die Bedeutung des systemischen Ansatzes für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Günther Emlein, Pfarrer an der Universitätsmedizin Mainz, Lehrender Supervisor der Systemischen Gesellschaft „Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird“ (Heinz von Foerster). Die anklingende Philosophie heißt: Es ist gut, stets in einer Weise zu handeln, welche die Freiheit des anderen und die der Gemeinschaft vergrößert. Je größer die Freiheit, desto größer die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Nur wer frei ist, also immer auch anders agieren könnte, kann verantwortlich handeln. Moderation: PD Dr. Wolfgang Schrödter, Leiter des Evangelischen Zentrums für Beratung in Höchst des ­Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt am Main 5.Die Bedeutung der Menschenrechte für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Prof. Dr. Sandro Bliemetsrieder, Fachbereich Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik an der Hochschule Esslingen In der Sozialen Arbeit geht es immer auch um moralische Orientierungspunkte. Die Menschenrechte sind hierfür eine Notwendigkeit, nicht zuletzt aufgrund der Missachtungserfahrungen menschlicher Würde. Sie stellen, auf Grundlage des universalen Begriffs der Menschenwürde, eine Liste sozialer, psychischer und physischer Verfasstheiten dar. Die Menschenrechtsorientierung wird mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen konfrontiert, und zwar im Horizont von Bedürfnisgerechtigkeit, Autonomie, Solidarität und Verantwortung. Moderation: Maike Henningsen, Leiterin Arbeitsbereich Jugendhilfe und Täter-Opfer-Ausgleich im ­Evangelischen Regionalverband Frankfurt am Main 6.Die Bedeutung des Diversity-Ansatzes für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Prof. Dr. Margitta Kunert-Zier, Fachhochschule Frankfurt am Main Die Idee von Diversity wurde nicht aus dem wirtschaftlichen Kontext generiert. In Wissenschaft, Philosophie und Politik sind Forderungen der Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit weit vorher bekannt. Sie zielen darauf ab, dass alle Menschen in ihrer Gleichheit und ihren Differenzen bzw. Diversitäten an allen gesellschaftlichen Ressour- 6 denkräume cen partizipieren können müssen und mit dieser Teilhabe auch anerkannter Teil der Gesellschaft werden. Welche Bedeutung hat diese Idee für die Soziale Arbeit? Moderation: Steffen Kurz, Sozialpädagogische Förderung und Jugendhilfeangebote in Schulen im ­Stadtschulamt Frankfurt am Main 7.Die Bedeutung der Kompetenzorientierung für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Dr. Klaus-Dieter Dohne, Screen Team und Culture Work, Göttingen Die Ausbildung von Metakompetenzen und die Beobachtung von Kompetenzentwicklung sind zentraler Bestandteil der Entwicklung von Menschen. Die neueren Untersuchungen und Erkenntnisse im Bereich der Hirnforschung geben Hinweise dazu, welche Kompetenzen beispielsweise die Beziehungsfähigkeit von Menschen verbessert und welche diese einschränken oder unterbinden. Es wird die Methode und Bedeutung eines auf den Erkenntnissen der Hirnforschung basierenden Verfahrens zur Kompetenzfeststellung vorgestellt. Moderation: Miriam Schmidt-Walter, Geschäftsführerin im Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit in Frankfurt am Main e.V. 8.Die Bedeutung einer radikalen Individualethik – am Beispiel der Kulturphilosophie Albert Schweitzers – für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Dr. Gottfried Schüz, Vorsitzender der Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum, Frankfurt am Main Vor 100 Jahren gab der Philosoph, Theologe und Musiker Albert Schweitzer eine aussichtsreiche Doppelkarriere als Wissenschaftler und Organist auf, um in Lambarene (Gabun) eine Urwaldklinik aufzubauen. Daneben schrieb er eine „Kulturphilosophie“, die in der Leitidee der Ehrfurcht vor dem Leben gipfelt. Darin begründet er eine radikale Individualethik, die persönliche Gesinnung und Weltverantwortung miteinander verbindet. Die Aktualität von Schweitzers Ethik in Angesicht der gegenwärtigen Herausforderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik wird diskutiert. Moderation: Bernd Ackermann, Geschäftsführer im Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit in Frankfurt am Main e.V. 9.Die Bedeutung von Inklusion für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Dr. Thomas Ebers, 423 Institut für Angewandte Philosophie und Sozialforschung, Bonn Die philosophisch-ethische Herausforderung, um die es in der Inklusion geht, wird verfehlt, wenn Inklusion bloß als Fortsetzung von Integration gefasst wird. Beiden Konzepten liegen vielmehr grundlegend unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit zugrunde. Diese Vorstellungen finden sich im aktuellen philosophischen Gerechtigkeitsdiskurs wieder. Mit der gesellschaftlichen Debatte um Inklusion wird die Frage gestellt, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Moderation: Petra Zender, Pädagogische Grundsatzplanung im Stadtschulamt Frankfurt am Main 10.Die Bedeutung der Thesen von Martha Nussbaum zu Demokratie und Bildung für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Prof. Dr. Ute Gahlings, Institut für Praxis der Philosophie und Fachbereich Philosophie, Technische Universität Darmstadt „Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht“, so lautet der Titel der aktuellen Streitschrift der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum gegen die Ökonomisierung der Bildung. Darin betont sie sowohl Eigenwert und Sinnhaftigkeit von Bildung als auch deren Beitrag zur Entwicklung einer pluralistischen Gesellschaft. Ute Gahlings stellt die zentralen Thesen dieses Manifests vor dem Hintergrund der philosophischen Traditionen Nussbaums vor, und lädt die Teilnehmenden zum philosophischen Austausch ein. Moderation: Dr. Christiane Wessels, Referentin im Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung des Zentrums Bildung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau 11.Capabilities, Resilienz und Nachhaltigkeit und ihre Relevanz für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Dr. Rebecca Gutwald, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München Nach dem „Capability Approach“ sollen Menschen bestimmte Fähigkeiten und Möglichkeiten haben, um ein gutes Leben führen zu können. „Resilienz“ und „Nachhaltigkeit“ sind wesentlicher Teil der Zieldefinitionen im Bildungsund Jugendhilfekontext. Die daraus resultierenden Handlungsempfehlungen dieser vieldeutigen Begriffe hängen wesentlich davon ab, wie diese verstanden werden. Unterstützend wirkt die (deskriptive und normative) Begriffsausdeutung dann, wenn sie es schafft, aus ethischen Theorien konkrete Konzepte und Empfehlungen für die Praxis abzuleiten. Dies soll im Denkraum geschehen. Moderation: Monika Ripperger, Fachbereichsleiterin Kindertagesbetreuung im Stadtschulamt Frankfurt am Main 7 Grusswort Grußwort Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, sehr geehrte Frau Dr. Gutwald und Herr Dr. Culp, sehr geehrte Referentinnen und Referenten der Denkräume, sehr geehrte Kooperationspartner des Evangelischen Regional­ verbandes, wertes Vorbereitungsteam, liebe Frau Gebhardt! Die heutige Fachtagung widmet sich dem Thema „Innere Haltung – philosophische und ethische Standpunkte in der Bildungs- und ­Sozialarbeit“. Sie nimmt in ihrer Intention Fragestellungen aus der Veranstaltungsreihe des „Kooperationsverbundes Schulentwicklung und Jugendhilfe Ute Sauer, Leiterin des Stadtschulamtes der Stadt Frankfurt am Main in Frankfurt“ auf. In positivem Sinne irritierend wirkte und wirkt ein Kamingespräch mit Prof. Dr. Ziegler, Universität Bielefeld, nach, der im Sinne des Capability-Ansatzes von Martha Nussbaum, die Frage aufrief, was denn ein „gutes Leben“ sei und die gängige Bildungs- und Jugendhilfepraxis kritisch betrachtete. Er zeigte für die Bereiche Bildung, Erziehung und Sozialisation mit dem Werk von Martha Nussbaum eine Vielfalt an herausfordernden und weiterführenden Anknüpfungspunkten auf. Wir möchten mit der heutigen Veranstaltung diesem aus unserer Sicht dringend nötigen Professions­diskurs Raum geben. An dieser Stelle bedanke ich mich sehr herzlich für die gute Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Regionalverband bei der Vorbereitung dieses Tages. Herzlichen Dank auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Amtes und allen, die auch heute mitwirken. Und - würde ich mir selbst die Frage stellen, woran ich heute um 17:00 Uhr merke, dass diese Fach­ tagung gelungen ist, dann wäre meine Antwort wohl folgende: Der Tag war reich an Inspirationen. Er hat Lust auf mehr gemacht, weil die Referentinnen und Referenten die richtige Sprache gefunden haben. Er hat Sie in den Dialog zu unseren Inneren Haltungen geführt und mit Dialog meine ich: gemeinsames Ergründen, gemeinsames Denken und Nachdenken. Das Stadtschulamt organisiert Bildungs- und Betreuungsangebote für alle Kinder und Jugendlichen in Frankfurt im Altersspektrum der 0-21 Jährigen. Die von uns als Amt mitverantwortete Praxis reicht von der Kindertagesbetreuung über die Betreuungs- und Jugendhilfeangebote in Schulen bis zu Programmen der Beruflichen Orientierung. Wir treten mit Überzeugung für ein ressortübergreifendes Denken und Handeln zu zentralen Themen der Schulentwicklung und Jugendhilfe ein. Dazu bedarf es aus unserer Sicht der Verständigung zur Inneren Haltung, zu unseren ethischen Grundsätzen und zu grundlegenden Fragen der Gerechtigkeit, Bildung und Demokratie. Ich freue mich deshalb sehr, dass heute hier Fachkräfte aus verschiedensten Feldern der Jugendhilfe, der Beratung, der Erwachsenenbildung, der Schule, der Ämter und aus unterschiedlichen Ebenen zusammengekommen sind und sich zu diesem spannenden Thema als „Gleiche“ in den Dialog begeben wollen. Die philosophische Ausrichtung der heutigen Theorie-Impulse konfrontiert Sie vielleicht mit ungewohnten Akzentuierungen. In Vorbereitung dieses Fachtages hatten wir manchmal das Gefühl, über unseren Professionen-Horizont „hinauszusegeln“. Ich darf Ihnen versichern, dass unsere kleinen philosophi- 8 Grusswort schen Abstecher sehr bereichernd waren und mir gut in Erinnerung geblieben sind. Es gilt dabei, ­Begründungszusammenhänge zu erörtern und Prinzipien abzuwägen, in der Hoffnung, dass wir uns so in unseren Überzeugungen der Realität annähern und vor allem unsere Praxis realitätstauglicher oder auch alltagstauglicher machen. Als Leiterin des Stadtschulamtes lege ich mein besonderes Augenmerk auf das Gelingen von Bildungsund Inklusionsprozessen. Die Vorstellung eines „richtigen Lebens“, die Selbstbestimmtheit, das Selbstverständnis als Mensch, bestimmt den Bildungsprozess und die Gestaltung des Kontextes innerhalb dessen Kinder und Jugendliche ihre Fähigkeiten zur Entfaltung bringen, gesund aufwachsen und ein jeweils erfülltes Leben führen können. Wir stehen aktuell unter einem hohen Rechtfertigungsdruck. Wirtschaftliche Interessen, der Fach­ kräftemangel und die kommunale Finanzsituation nehmen Einfluss auf Betreuungsangebote, Bildungsprogramme und Curricula der Beruflichen Orientierung. Wir erlauben uns daher Fragen zu stellen. Entspricht es unserem Menschenbild und Bildungsideal, das ökonomisch rentable Rädchen im Getriebe auszubilden? Steht eine solche Ausrichtung nicht der Intention einer Veränderung der Alltagskultur auf dem Weg zur Inklusion entgegen? Muss es uns nicht darum gehen die Fähigkeit zu vermitteln, den Dingen reflektiert gegenüberzustehen und so in größeren, manchmal anderen Dimensionen zu denken und zu handeln? Und ist es vielleicht genau diese Fähigkeit, die es dem Menschen ermöglicht, sowohl im individuellen, als auch im ethischen Sinne ein gutes Leben zu führen? Wo sind unsere eigenen Konzepte und Ansätze der Ressourcenorientierung, der Subjektorientierung, der Sozialraumorientierung, der Partizipation und des Empowerments einzuordnen? Welche tragfähigen und inhaltlich fruchtbaren Bezüge lassen sich zu ethisch-philosophischen Theorien herstellen und dienen sie tatsächlich der grundsätzlichen Orientierung im Handlungskontext Schule und Jugendhilfe? Ich bin sehr sicher, Demokratien brauchen mündige Bürgerinnen und Bürger, die eigenständig denken, Traditionen infrage stellen und sich in die Lage ihrer Mitmenschen hinein versetzen können. Wahrheit verbirgt sich auch in den Tiefen einer Erkenntnis. Auch wenn man & frau die Dinge tief durchdenkt, dann werden sie oft ganz einfach und können für den Alltag leicht handlungsleitend sein. In diesem Sinne wünsche Ich Ihnen und uns einen gelingenden Fachtag, spannende Dialoge und glückliche Momente! Vielen Dank. Ute Sauer Stadtschulamt Frankfurt am Main 9 10 Vorträge 11 vortrag I Vortrag I Die innere Haltung ausrichten auf Gerechtigkeit und Demokratie! Zur sozialen und politischen Relevanz der Bildungs- und Sozialarbeit unter Bedingungen des Pluralismus und der Transnationalisierung Dr. Julian Culp, Leibniz-Forschungsgruppe „Transnationale Gerechtigkeit“, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main Dr. Julian Culp 1. Einleitung Zunächst möchte ich Herrn Pfarrer Jürgen Mattis vom Evangelischen Regionalverband Frankfurt und Frau Ute Sauer vom Stadtschulamt der Stadt Frankfurt am Main herzlich für die Einladung danken, auf diesem Fachtag einige politisch-philosophische Überlegungen zur Sozial- und Bildungsarbeit vortragen zu dürfen. Es ist mir eine Ehre, zu dem Kreis der Referentinnen und Referenten zu gehören, die heute auf vielfältige Weise philosophische und ethische Standpunkte in der Sozial- und Bildungsarbeit vertreten und beleuchten werden. Die lange und breit gefächerte Liste der elf Denkräume bzw. Fachdiskussionen, die heute Nachmittag stattfinden werden, macht deutlich, dass es sehr viele Berührungspunkte zwischen Philosophie und Ethik auf der einen und Sozial- und Bildungsarbeit auf der anderen Seite gibt. Philosophische und ethische Themen wie Nachhaltigkeit, Menschenrechte, „Diversity“, Inklusion, Demokratie und „Capabilities“ sind, wie das Faltblatt dieses Fachtags verrät, in der Tat auf spannende Weise mit der Bildungs- und Sozialarbeit verknüpft. Dennoch scheint es mir der Fall zu sein, dass bestimmte Bereiche der praktischen Philosophie – und hierbei denke ich insbesondere an die politische Philosophie – Fragen der Erziehungslehre, also der Pädagogik, bis vor kurzem eher vernachlässigt haben.1 Allerdings ist erfreulicherweise bereits eine Trendwende zu erkennen, da sich viele namhafte politische Philosophinnen und Philosophen unlängst wieder verschiedenen Fragen einer Philosophie der Bildung gewidmet haben – dazu zählen u.a. Axel Honneth, Julian Nida-Rümelin und Martha Nussbaum.2 Leider kann ich an dieser Stelle nicht auf die Differenzen dieser drei unterschiedlichen Denker eingehen. Ich möchte ihnen 1)Axel Honneth ist der Auffassung, dass „jede Vorstellung davon, dass eine vitale Demokratie durch allgemeine Bildungsprozes stets wieder erst erzeugen muss, […] der politischen se ihre eigenen kulturellen und moralischen Bestandsvoraussetzungen Philosophie mittlerweile abhanden gekommen [ist].” Honneth, „Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. Ein vernachlässigtes Kapitel der politischen Philosophie”, Zeitschrift für Erziehungswissenschaften (2012) 15: 429-442, 430. Viele Überlegungen dieses Vortrages, insbesondere in dessen vierten Abschnitt, stützen sich auf diesen Aufsatz Honneths. 2)Honneth a. a. O.; Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung (Stuttgart: Körber-Stiftung, 2012); Martha Nussbaum, Nicht für den Profit! Warum Bildung Demokratie braucht (TebiaPress, 2012). Eine politische Philosophin, die Fragen der Pädagogik bereits früher genauer untersucht hat, ist Amy Gutmann; siehe ihr Education for Democracy (Princeton: Princeton University Press, 1999). 12 vortrag I aber in ihrem Vorhaben folgen, die kaum zu überschätzende Wichtigkeit herauszuarbeiten, welche die Bildungs- und Sozialarbeit für die Lebendigkeit und Widerstandsfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft besitzen. Bevor ich kurz etwas genauer auf den Inhalt und die Struktur meines Vortrages eingehe, möchte ich vorausschicken, dass ich mich diesem Thema auf explorative Weise nähern muss, da meine eigenen Schwerpunkte in Forschung und Lehre stärker auf gerechtigkeits-, entwicklungs- und demokratietheoretischen Fragen liegen, und ich theoretische und praktische Fragen der Bildungs- und Sozialarbeit dabei großteils ausklammere. Deswegen möchte ich um Verständnis bitten, sollte ich womöglich Themen, die für in der Bildungs- und Sozialarbeit professionell tätige Personen vertraut sind, allzu oberflächlich bzw. mit fehlender Sensibilität für die besonderen praktischen Erfordernisse und kontextspezifischen Problemlagen behandeln. Ich beabsichtige in diesem Vortrag zweierlei zu zeigen: erstens, dass das primäre Erfordernis sozialer Gerechtigkeit darin besteht, deliberative – also von einem lebendigem Austausch von Argumenten getragene – demokratische Strukturen einzurichten bzw. zu vertiefen. Und zweitens, dass solche demokratischen Strukturen Bildungs- und Sozialarbeit benötigen, welche eine demokratische politische Kultur befördern. Bildungs- und Sozialarbeit müssen dazu beitragen, demokratische Kompetenzen von Bürgerinnen und Bürgern herauszubilden, um dadurch den Fortbestand einer demokratischen politischen Kultur zu sichern. Zu diesen demokratischen Kompetenzen zählen insbesondere die Bereitschaft zur Kooperation, die Fähigkeit sich selbst und andere zu respektieren sowie das Vermögen der begründeten Stellungnahme. Gelingt es den Einrichtungen der Bildungs- und Sozialarbeit, Bürgerinnen und Bürger dabei zu unterstützen, demokratische Kompetenzen zu erwerben, so sind sie der Nährboden einer gerechten und demokratischen Gesellschaft. Gegen Ende dieses Vortrages gehe ich auf zwei Phänomene ein, die heutige Gesellschaften besonders kennzeichnen, nämlich den weltanschaulichen Pluralismus und die Transnationalisierung. Dabei versuche ich, die spezifischen Herausforderungen zu skizzieren, welche sich einer der Demokratie und sozialen Gerechtigkeit verpflichteten Bildungs- und Sozialarbeit angesichts dieser Phänomene gegenwärtig stellen. 2. E ine politische Diskurstheorie der Gerechtigkeit Ich beginne nun mit der Darstellung einiger Elemente von Rainer Forsts Gerechtigkeitstheorie, um zu verdeutlichen, weshalb die Einrichtung bzw. Vertiefung demokratischer Strukturen als Erfordernis der Gerechtigkeit zu verstehen ist.3 Forst – heute Professor für politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt – ist ein Schüler der beiden äußerst wirkmächtigen Philosophen Jürgen Habermas und John Rawls. Er hat eine eigene Gerechtigkeitstheorie entwickelt, die sowohl an die diskurstheoretischen Arbeiten von Habermas als auch die gerechtigkeitstheoretischen Arbeiten von Rawls anschließt.4 Forst vertritt ein dezidiert politisches Gerechtigkeitsverständnis, demzufolge der primäre Gerechtigkeitsanspruch darin besteht, als Rechtfertigungswesen innerhalb einer politischen Gemeinschaft respektiert zu werden. Dies ist allen Bürgerinnen und Bürgern Forst zufolge deswegen geschuldet, weil sie ein fundamentales, moralisches Recht auf Rechtfertigung besitzen. Diesem 3)Forsts wichtigste Arbeiten zur Gerechtigkeit sind Kontexte der Gerechtigkeit (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994), Das Recht auf Rechtfertigung (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2007) und Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse (Berlin: Suhrkamp, 2011). 4)Siehe insbesondere Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992), Erläuterungen zur Diskursethik (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993) Philosophische Texte Band 4 – Politische Theorie (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009) sowie John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979) und Politischer Liberalismus (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998). 13 vortrag I Dr. Rebecca Gutwald, Vortragende, Ludwig-Maximilians-Universität, Esther Gebhardt, Vorsitzende des Vorstandes des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt am Main, Ute Sauer, Leiterin des Stadtschulamtes Frankfurt am Main moralischen Grund-Recht entsprechend haben sie den Anspruch, nur unter solchen Institutionen zu leben, die ihnen gegenüber mit reziproken und allgemeinen Gründen gerechtfertigt werden können. In politischer Hinsicht verlangt dies, dass alle Bürgerinnen und Bürger innerhalb einer sozialen und politischen Ordnung über hinreichend Rechtfertigungsmacht verfügen. Dies soll heißen, dass Bürgerinnen und Bürger die gegebenen Verhältnisse effektiv in Frage stellen können müssen. Sie sollen eine möglichst inklusive, von einem Austausch von kritischen Argumenten getragene, öffentliche Prüfung der gegebenen Verhältnisse einleiten können. Eine derartige Gerechtigkeitsauffassung bildet in Forsts Arbeiten den normativen Kern einer kritischen Theorie der Gesellschaft und ist als eine Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse zu verstehen. Schließlich untersucht sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse daraufhin, inwieweit diese es Bürgerinnen und Bürgern erlauben, die gegebenen sozialen und politischen Ordnungen zu hinterfragen und Rechtfertigungen für den Status quo einzufordern. Dieses politische Verständnis besteht somit in einer dezidiert prozeduralen Sichtweise des Gerechtigkeitsbegriffs. Dieser Sichtweise entsprechend fragt eine Theorie sozialer Gerechtigkeit nach den grundlegenden sozialen und politischen Prozessen, welche politische Entscheidungen strukturieren und auf diese Weise bestimmte soziale, ökonomische, kulturelle und ökologische Ergebnisse hervorbringen. Demgegenüber vertreten viele Theoretikerinnen eine ergebnisorientierte Sichtweise, welche besagt, dass soziale Gerechtigkeit anhand einer Liste konkreter Ergebnisse verschiedener Art zu beurteilen ist, etwa mit Blick auf unterschiedliche menschliche Verwirklichungschancen. Martha Nussbaums politische Philosophie fundamentaler Gerechtigkeit ist ein prominentes Beispiel für eine ergebnisorientierte Sichtweise.5 Dagegen sieht die prozedurale Auffassung der Gerechtigkeit von Forst die Herstellung und Vertiefung demokratischer Verhältnisse als wichtigste gesellschaftliche Aufgabe an. Nur dadurch wird das moralische Recht auf Rechtfertigung aller Bürgerinnen und Bürger respektiert. Schließlich gewährleisten demokratische Verhältnisse, dass Bürger über ein hinreichendes Maß an Rechtfertigungsmacht verfügen, um die gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage stellen zu können. Hierbei wird die Praxis der Demokratie als ein diskursiver Austausch von Gründen zwischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern verstanden, die sich darüber verständigen, wie sie gemeinsam leben wollen und was sie einander wechselseitig schulden. Obgleich die konkreten, substantiellen Forderungen der Gerechtigkeit erst innerhalb und mittels einer solchen demokratischen Praxis des „Gebens-und-Nehmensvon-Gründen“ bestimmt und gerechtfertigt werden können, so ist die Ermöglichung einer solchen Praxis doch bereits eine der jeweiligen demokratischen Praxis vorausgehende Forderung der Gerechtigkeit. Die spezifische Gestalt der demokratischen Praxis muss allerdings je nach historischem, politischem und kulturellem Kontext auf eigentümliche Art und Weise bestimmt werden. Es wurde gerade also – in einem ersten Schritt – aufgezeigt, dass entsprechend Forsts politischer bzw. diskurstheoretischer Auffassung von Gerechtigkeit die Etablierung und die Vertiefung demo- 5)Martha Nussbaum, Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit (Berlin: Suhrkamp, 2010), insbesondere S. 103-132. 14 vortrag I kratischer Strukturen als wichtigste gesellschaftliche Aufgaben gelten. Hieran anschließend soll nun – in einem zweiten Schritt – geklärt werden, inwiefern die Bildungs- und Sozialarbeit in der Stadt Frankfurt am Main und darüber hinaus zur deliberativ-demokratischen Gestaltung politischer Verhältnisse einen Beitrag leisten und auf diese Weise ungerechte Verhältnisse überwinden können. Im Rahmen dieses zweiten Schrittes soll eine Reflexion hinsichtlich aktueller politischer Entwicklungen stattfinden, um die spezifischen Herausforderungen an die Bildungs- und Sozialarbeit in der Gegenwart besser verstehen zu können. Deswegen nehme ich einerseits Bezug auf die anhaltende Transnationalisierung nahezu aller Bereiche sozialen Lebens, und gehe andererseits auch kurz auf den fortwährenden und nicht mehr wegzudenkenden weltanschaulichen Pluralismus ein, der so genannte postsäkulare Gesellschaften charakterisiert. 3. Der Beitrag der Bildungs- und Sozialarbeit zur Demokratie Ich möchte in diesem zweiten Schritt zunächst darauf zu sprechen kommen, weshalb und inwiefern Bildungs- und Sozialarbeit für die Herstellung bzw. den Erhalt demokratischer Verhältnisse erforderlich sind. Wirft man einen Blick zurück auf die Geschichte des politischen Denkens, so ist klar erkennbar, dass viele der prominentesten neuzeitlichen Theoretiker der Demokratie sich ausgiebig mit Fragen der Erziehungslehre und teils auch mit damit einhergehenden Fragen der angemessenen Ausgestaltung erzieherischer Einrichtungen beschäftigt haben. Hierzu zählen u.a. Immanuel Kant, Jean-Jacques Rousseau, Emile Durkheim und John Dewey. Der Grund hierfür scheint auf der Hand zu liegen: ohne erzieherische Einrichtungen, welche Menschen darin unterrichten, ihre Unmündigkeit abzulegen und sich ihrer Freiheit und der damit verbundenen Verantwortung gewahr zu werden, ist eine demokratische im Sinne einer sich selbst bestimmenden politischen Gemeinschaft kaum vorstellbar. Denn sofern wir unter einer demokratischen Gesellschaft eine solche verstehen, in welcher es deren Mitgliedern selbst überlassen ist, kollektiv über sich selbst zu herrschen, so ist es zuallererst erforderlich, dass sich die Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft auch selbst als freie, selbstbestimmte Wesen ansehen. Der Sozialphilosoph Axel Honneth formuliert diesen Gedanken so: „Der kleine, naturgetriebene Mensch muss erst einen Prozess der auf Freiheit zielenden Erziehung durchlaufen haben, bevor er Mitglied eines sich selbst regierenden Staatsvolks werden kann.“6 Es genügt also nicht, sich allein demokratietheoretisch auf die Frage der Institutionen zu konzentrieren, innerhalb welcher sich Personen als freie und gleiche Autorinnen und Adressatinnen von Gesetzen anerkennen können. Man muss sich ebenfalls darüber Gedanken machen, wie es gelingen kann, dass Menschen sich überhaupt als Freie und Gleiche begreifen. Für Letzteres sind zweifelsohne öffentliche Bildungsinstitutionen und solche Institutionen flankierende soziale Einrichtungen, also Einrichtungen, welche bestimmte Defizite kompensieren und Fehlentwicklungen korrigieren, von besonderer Wichtigkeit. Es ist so gesehen geradezu offensichtlich, dass eine demokratische Gesellschaft eine Art von Bildungs- und Sozialarbeit benötigt, welche Menschen zu Bürgerinnen und Bürgern formt, die über grundlegende demokratische Kompetenzen bzw. Fähigkeiten verfügen. Die soziale und politische Relevanz der Bildungs- und Sozialarbeit besteht also darin, dass diese dazu beitragen können, die politisch-kulturellen Voraussetzungen für ein vernünftig funktionierendes demokratisches politisches Gemeinwesen zu schaffen. Um diesen Gedanken zu konkretisieren, möchte ich kurz drei solcher demokratischer Kompetenzen nennen, zu deren Herausbildung die Bildungsund Sozialarbeit sehr viel beisteuern können: 6) Honneth, a.a.O., S. 429. 15 vortrag I (1) erstens, die Bereitschaft zur sozialen und politischen Kooperation; (2) zweitens, die Fähigkeit, sich selbst und andere zu respektieren; (3) drittens, das Vermögen, begründet Stellung zu nehmen. Erst durch das Erlernen bzw. Wiedererlernen dieser demokratischen Kompetenzen in Einrichtungen der Bildungs- und Sozialarbeit kann eine demokratische politische Kultur entstehen. (1) Die demokratische Kompetenz der Kooperationsbereitschaft ist eine wesentliche Charaktereigenschaft demokratischer Bürgerinnen und Bürger, da diese, in den Worten von John Dewey, eine „Gemeinschaft der Forschenden“ bilden, welche als politisch Handelnde notwendig aufeinander angewiesen sind. Denn sie müssen zusammenarbeiten, um mittels des Austauschs von Argumenten festzustellen, welche Grundsätze und Institutionen für ihre politische Gesellschaft die am besten gerechtfertigten sind. Schließlich soll letztlich der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (Habermas) für die Herrschaftsausübung maßgeblich sein, und nicht die Wünsche einiger weniger, die über die meiste Gewalt verfügen. Eine auf der Forstschen Gerechtigkeitstheorie basierende deliberative Demokratietheorie folgt nämlich nicht der Idee Platons, dass es lediglich darauf ankäme, dass eine kleine herrschende Elite – in Platons Vorstellung die Gruppe der Philosophenkönige – gut genug gebildet ist, um weise Entscheidungen zu treffen. Ebensowenig 16 folgt eine solche deliberative Demokratietheorie den Vorstellungen ökonomischer Theorien der Demokratie, denen zufolge subjektive Präferenzen mittels eines angemessenen Verfahrens aggregiert werden müssen, um zu einer rationalen politischen Entscheidung zu kommen. Vielmehr geht eine solche deliberative Vorstellung von Demokratie davon aus, dass alle Bürgerinnen und Bürger sich auf relevante Weise an einem kollektiven und auf Argumenten basierendem Meinungs- und Willensbildungsprozess beteiligen können müssen. Alle Bürgerinnen und Bürger sollen also über ein bestimmtes Maß an normativer Autorität verfügen und diese u.a. dazu nutzen können, um bestimmte Präferenzen von Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu kritisieren und diese Präferenzen dadurch ggf. auch zu transformieren. Darüber hinaus soll der kollektive Meinungs- und Willensbildungsprozess sich nicht allzu sehr an den dominanten bzw. vorherrschenden Praktiken und Auffassungen orientieren, sondern auf inklusive Weise alle Perspektiven berücksichtigen. Deswegen müssen alle Bürgerinnen zudem dazu im Stande sein, die Positionen und Meinungen anderer wahrzunehmen, nachzuvollziehen und in die politische Entscheidungsfindung einfließen zu lassen. Zur demokratischen Kompetenz der Kooperationsbereitschaft muss deswegen auch Empathievermögen zählen bzw. eben die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und deren Perspektive zumindest einigermaßen verstehen zu können. vortrag I (2) Eine weitere demokratische Kompetenz besteht in der Fähigkeit zur Einnahme einer respektvollen Haltung – und zwar sowohl gegenüber anderen als auch gegenüber sich selbst. Die Art von Respekt um die es hier geht, ist die, sich selbst und andere als Wesen zu respektieren, die eine Rechtfertigung dafür verdienen, warum man sich auf eine bestimmte Art und Weise ihnen gegenüber verhält. Demnach müssen demokratische Bürgerinnen und Bürger sich selbst und andere als Wesen ansehen, auf die nicht beliebig – also nicht willkürlich – Einfluss genommen werden darf. Vielmehr müssen sie sich als Wesen ansehen, die ein Recht auf Rechtfertigung besitzen. Wie bereits erwähnt besagt dieses moralische Grund-Recht, dass Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch darauf haben, dass die Gesetze und politischen Maßnahmen, die in ihrer Gesellschaft beschlossen werden, ihnen gegenüber auf vernünftige Weise gerechtfertigt werden können. Sich selbst als ein Wesen mit einem solchen GrundRecht zu respektieren ist eine Voraussetzung dafür, dass es Bürgerinnen und Bürger überhaupt wagen – und nicht ihre Scham oder ihr Minderwertigkeitsgefühl sie daran hindert –, in der Öffentlichkeit aufzutreten und für ihre Meinungen, Überzeugungen und Ansprüche einzutreten. Zudem ist dieser Respekt allen Bürgerinnen und Bürgern geschuldet, denn der Gegenstand des Respekts besteht in der Fähigkeit eines jeden und einer jeden, die gegebenen Verhältnisse und sich selbst in Frage stellen zu können, also mittels des eigenen Vernunftgebrauchs Kritik üben zu können. Daher muss eine solche Form des Respekts notwendigerweise allen vernunftbegabten, kritikfähigen Personen zukommen – und nicht exklusiv nur einer bestimmten Personengruppe. Dadurch ist dieser Respekt nicht von kulturellen, religiösen oder andersartigen Differenzen einiger weniger Personen abhängig, sondern ist allen Personen aufgrund ihres grundlegenden moralischen Rechts auf Rechtfertigung geschuldet. (3) Schließlich besteht eine weitere demokratische Kompetenz in dem Vermögen der begründeten Stellungnahme, welches nötig ist, um aktiv politische Entscheidungen mitgestalten zu können, und um dazu in der Lage zu sein, gegebenenfalls seine politischen Auffassungen und sein politisches Verhalten gegenüber anderen rechtfertigen zu können. Zur Erlangung dieses Vermögens der begründeten Stellungnahme bedarf es basaler kommunikativer Fähigkeiten sowohl sprachlicher als auch schriftlicher Natur. Des Weiteren ist aber auch ein gesellschaftliches Orientierungswissen nötig, womit ich insbesondere spezifische historische und kulturelle Kenntnisse meine, die es einem im jeweiligen sozialen und politischen Kontext erlauben, effektiv Einfluss zu nehmen. Ohne Kenntnisse der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist es beispielsweise kaum möglich, Deutschlands außenpolitisches Verhalten angemessen zu interpretieren und hierauf argumentativ einzuwirken. Im Wesentlichen geht es bei dem Vermögen der begründeten Stellungnahme also darum, seine eigenen Überzeugungen mit guten Gründen, also mit kontextsensiblen, schlüssigen Argumenten, darlegen zu können. Es wäre in der Tat sehr wertvoll, Überlegungen dazu anzustellen, auf welche Art und Weise, also mit welcher Methode, diese demokratischen Kompetenzen in der Praxis der Bildungs- und Sozialarbeit wohl am besten vermittelt werden könnten. Ich kann an dieser Stelle allerdings nicht mehr sagen, als dass eine gewohnheitsmäßige Einübung einer demokratischen Praxis, also ein alltägliches Training kooperativer, respektvoller und kommunikativ-verantwortlicher Verhaltensweisen hierfür wohl unverzichtbar ist. Eine bloß theoretische Wissensvermittlung von demokratischen Grundsätzen ist mit großer Wahrscheinlichkeit unzureichend. Kooperative Formen des Lernens, spielerisches Praktizieren wechselseitiger Perspektivübernahme und eine alltägliche, selbstverständliche Einbindung in kollektive Entscheidungsprozesse scheinen mir daher essentiell, um in Personen demokratieförderliche charakterliche Eigenschaften hervorzubringen. Das Erlernen der drei demokratischen Kompetenzen – also der Bereitschaft zum kooperativen Austausch von Argumenten, der Fähigkeit zum respektvollen Umgang miteinander und der Kapazität, begründet Stellung zu nehmen – sind 17 vortrag I so gesehen auf fundamentale Weise auf eine diese Kompetenzen trainierende Praxis angewiesen. Die Einrichtungen der Bildungs- und Sozialarbeit– um kurz bei diesem Bild zu bleiben – sind die hierfür maßgeblichen Trainingsstätten. Ich möchte abschließend nun noch die gegenwärtigen Herausforderungen des weltanschaulichen Pluralismus und der Transnationalisierung skizzieren, um die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen nicht zu sehr aus den Augen zu verlieren. 4. Die Herausforderung des weltanschaulichen Pluralismus Die Herausforderung des weltanschaulichen Pluralismus besteht darin, dass ein solcher Pluralismus es verunmöglicht, dass eine einzige – etwa eine religiöse – Weltanschauung als Grundlage der Verbindlichkeit demokratischer Normen dienen könnte. Die Verbindlichkeit der demokratischen Idee, dass sich die Adressaten von Gesetzen selbst auch als Autoren dieser verstehen können müssen, darf nicht nur auf einer bestimmten Weltanschauung beruhen. Andernfalls ist eine stabile politische Ordnung angesichts des weltanschaulichen Pluralismus nicht sicherzustellen. Daher ist es unter der Bedingung eines weltanschaulichen Pluralismus notwendig, eine eigenständige moralische Grundlage der Verbindlichkeit demokratischer Normen zu identifizieren, welche für alle Bürgerinnen und Bürger trotz ihrer vielfältigen religiösen und nicht-religiösen Weltanschauungen gültig ist. Um sich die Komplexität dieser Herausforderung zu verdeutlichen, ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, welche Strategien des Umgangs mit dieser Herausforderung zum Scheitern verurteilt sind. Zum einen gibt es Versuche von konservativer Seite, den weltanschaulichen Pluralismus als eine Fehlentwicklung darzustellen, die korrigiert und durch die allgemeine Akzeptanz einer religiösen Weltanschauung ersetzt werden müsse. Dies sei nicht nur deswegen nötig, um den wah- ren Glauben bzw. das menschliche Seelenheil zu sichern, sondern auch deswegen, weil andernfalls die politisch-kulturellen Voraussetzungen der Demokratie nicht erhalten werden könnten. Diese konservative Strategie, nämlich im Namen der Rettung einer demokratischen politischen Kultur gleichsam die Dominanz einer bestimmten, gewöhnlich religiösen, Weltanschauung verteidigen zu wollen, verstrickt sich allerdings in einem unausweichlichem Widerspruch. Schließlich sollen sich Bürgerinnen und Bürger in Demokratien als Freie und Gleiche erachten, welche über die Gewissens-, Meinungs- und Versammlungsfreiheiten verfügen, ihren je persönlichen bzw. gruppenspezifischen Vorstellungen des guten Lebens zu folgen. Verschiedene Personen und Gruppen dürfen also ihre je unterschiedlichen Lebenserfahrungen unterschiedlich interpretieren und beurteilen. Daher ist es unvermeidlich, dass Mitglieder echter Demokratien eine Pluralität an Weltanschauungen vertreten. Eine Demokratie ist mit der alleinigen Dominanz einer bestimmten religiösen – oder auch nicht-religiösen – Weltanschauung inkompatibel.7 So betrachtet ist es geradezu verwunderlich, dass die Soziologie erst vor nicht allzu langer Zeit die Säkularisierungsthese aufgegeben hat, der zufolge die Religionszugehörigkeit der Bevölkerung moderner Gesellschaften stetig abnehmen würde. Die These scheint auf einer gravierenden Fehleinschätzung bezüglich der religiösitätsmindernden Effekte eines weltanschaulich neutralen Staates zu beruhen.8 Ebenso wenig wie für den Effekt eines weltanschaulich neutralen Staates das Aussterben der Religiosität gehalten werden darf, darf man meinen, dass ein weltanschaulich neutraler Staat keiner moralischen Grundlage bedarf. Genau hierin besteht allerdings eine zweite fehlgeleitete Strategie mit dem weltanschaulichen Pluralismus umzugehen. Verteidiger dieser Strategie behaupten, dass eine demokratische politische Kultur von jeglichen moralischen Überzeugungen entkernt sei, und deswegen auch keiner geteilten moralischen 7) Dies ist eine der leitenden Einsichten von John Rawls’ wichtigem Spätwerk Politischer Liberalismus (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998). 8)Vgl. zur Relevanz von Religionen in modernen Gesellschaften José Casanova, Public Religions in the Modern World (Chicago: University of Chicago Press, 1994). 18 vortrag I Grundlage der Verbindlichkeit demokratischer Normen bedürfe. Diese Strategie überzeugt deswegen, weil eine Demokratie sehr wohl auf Grundsätzen beruht, die einen unbedingten moralischen Geltungsanspruch besitzen. Die zentrale demokratische Idee, dass alle Adressantinnen und Adressaten von Gesetzen sich als deren Autorinnen und Autoren verstehen können müssen, ist schließlich moralischer Natur. Sie besagt, dass niemand über ein naturrechtlich oder religiös begründetes Privileg verfügt, andere zu beherrschen. Vielmehr sind alle befugt zu herrschen und alle Bürgerinnen müssen sich als Autorinnen von Gesetzen verstehen können. Ebenso hat die Erläuterung der drei demokratischen Kompetenzen gezeigt, dass eine Demokratie auf moralischen Einstellungen wie Kooperationsbereitschaft, wechselseitigen Respekt und Verantwortlichkeit beruhen muss. Die Demokratie gründet somit sehr wohl auf moralischen Überzeugungen. Gerade deswegen darf eine demokratische Gesellschaft nicht darauf verzichten, in öffentlichen Institutionen wie eben jenen Einrichtungen der Bildungs- und Sozialarbeit bestimmte moralische Einstellungen zu fördern. Andernfalls verschwindet eine auf fortwährende Selbsterneuerung angewiesene demokratische politische Kultur, auf welcher eine demokratische Herrschaftsform basiert. 5. Die Herausforderung der Transnationalisierung Kommen wir nun aber zu einer weiteren Herausforderung einer demokratiefördernden Bildungs- und Sozialarbeit, nämlich der Transnationalisierung. Die Transnationalisierung besteht in Prozessen des sozialen, ökonomischen und kulturellen Austausches über Landesgrenzen hinweg. Diese Prozesse, insbesondere die ökonomischen Prozesse dieser Art, bringen Demokratien in Bedrängnis. Folgen wir einer weit verbreiteten politikökonomischen Analyse9, so liegt der Grund hierfür in der Standortkonkurrenz, welche dem Staatensystem innewohnt. Staaten treten in einer ökonomisch transnationalisierten Welt in einen Wettbewerb um Unternehmen und Investitionen. Dadurch entsteht eine Abwärtsspirale staatlicher Deregulierung. Folge hiervon ist ein verkleinerter, weniger handlungsfähiger Staat und eine weniger abgesicherte, tendenziell stärker verunsicherte Bürgerschaft. Bürgerinnen und Bürger verlieren somit die Fähigkeit die sie betreffenden Geschehnisse demokratisch zu kontrollieren. Eine überzeugende Antwort auf diese Problemlage besagt, dass Staaten sich noch stärker international zusammenschließen müssen. Denn dadurch können sie international geltende Standards und Normen beschließen, die Unternehmen und Investoren dann überall zu beachten haben. Somit ist ein internationales Mindestmaß an Regulierung festlegbar, welches der wettbewerbsbedingten Abwärtsspirale der Deregulierung einen Riegel vorschiebt. Dies wirft allerdings die Frage auf, wie die dadurch entstehenden inter- und supranationalen Institutionen auf eine mehr oder weniger demokratische Weise kontrolliert werden können. Mit anderen Worten, wie können Bürgerinnen und Bürger auch jenseits des Staates auf demokratische Art und Weise auf die Ausübung öffentlicher Gewalt Einfluss nehmen? Ohne auch nur im Ansatz hierauf an dieser Stelle antworten zu können, möchte ich lediglich auf einen relativ offensichtlichen Punkt hinweisen: in dem Maße, in dem demokratische Regierungsformen jenseits des Staates nötig werden, in dem Maße bedarf es ebenso einer transnationalen, demokratischen politischen Kultur. Die Herausforderung der Transnationalisierung besteht für die Bildungs- und Sozialarbeit deswegen darin, zu überlegen, auf welche Weise Menschen zu Bürgerinnen und Bürgern einer transnationalen Demokratie geformt werden können. Welche Methoden sind anzuwenden, und welche Praktiken einzuüben, damit demokratische Kompeten- 9)Vgl. Habermas, Die Postnationale Konstellation (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998) und Miriam Ronzoni, “The Global Order: A Case of Global Background Injustice?”, Philosophy and Public Affairs 37 (2009), 229-256. 19 vortrag I zen nicht nur innerhalb des Staates, sondern auch jenseits davon, zum Tragen kommen? Oder anders gefragt, wie können transnationale politische Identitäten entwickelt werden? 6. Schluss Zu guter letzt möchte ich die soziale und politische Relevanz der Bildungs- und Sozialarbeit nun aber doch noch stärker qualifizieren, da andernfalls womöglich der Eindruck entsteht, dass die Bildungs- und Sozialarbeit mit zu vielen Erwartungen überfrachtet sind. In der Tat habe ich bislang argumentiert, dass eine demokratische Gesellschaft essenziell auf die Bildungs- und Sozialarbeit angewiesen ist, da es anders nicht auszumachen ist, wie die fortwährende Erneuerung bzw. die Stabilität einer demokratischen politischen Kultur gesichert werden könnte. Allerdings ist es offensichtlich, dass die Bildungs- und Sozialarbeit nur dann dieser fundamentalen gesellschaftlichen Aufgabe gerecht werden können, wenn andere gesellschaftliche Kräfte, insbesondere jene ökonomischer und politischer Natur, nicht allzu sehr sozial desintegrierend und dadurch demokratiehemmend wirken.10 Um dies zu illustrieren, sei der in allen wirtschaftlich fortschrittlichen Ländern gegenwärtig existierende Trend genannt, dass sich Einkommens- und Vermögensungleichheiten verstärken. Folglich sind die ökonomischen Ressourcen der heranwachsenden Bevölkerung ausgesprochen ungleich verteilt. Dies wiederum erschwert selbstverständlich die Aufgabe der Einrichtungen der Bildungs- und Sozialarbeit, Personen das demokratische Bewusstsein zu vermitteln, dass sie zumindest in politischer Hinsicht Gleiche sind und zudem in einer demokratischen Gesellschaft politisch aufeinander angewiesen sind. Ebenso erschwert eine oftmals von einem eindimensionalen ökonomischen Denken beherrschte Bildungspolitik die Förderung demokratischer 10) Vgl. Nida-Rümelin, a. a. O., Kap. 8. 20 Kompetenzen. Denn diese achtet sehr stark auf Berufsqualifizierung, Leistungsorientierung und so genannter Employability, und verliert dabei den demokratischen Sinn öffentlicher Erziehungseinrichtungen manchmal völlig aus den Augen. Diese Tendenzen in Politik und Wirtschaft haben zur Folge, dass die Bildungs- und Sozialarbeit unter relativ ungünstigen Umständen ihrer wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe nachzukommen haben. Es ist sehr bedeutsam, diese erschwerenden Rahmenbedingungen im Blick zu behalten, weil die Gefahr besteht, dass öffentliche erzieherische Einrichtungen andernfalls die Funktion der Pseudo-Legitimierung politischer Ungleichheit übernehmen. Dies kann dann passieren, wenn diesen Einrichtungen fälschlicher Weise zugeschrieben wird, gleiche Startbedingungen geschaffen zu haben, sodass existierende politische Ungleichheiten allein unterschiedlicher individueller oder gruppenspezifischer Leistung geschuldet sind. Aus diesem Grund ist stets kritisch zu prüfen, ob unter Berücksichtigung der existierenden politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, die Einrichtungen der Bildungs- und Sozialarbeit überhaupt in der Lage sind, politische Gleichheit herzustellen. Hinsichtlich der Erfolgsfaktoren der Bildungs- und Sozialarbeit sei zuallerletzt noch bemerkt, dass es natürlich wenig förderlich ist, dass die öffentliche Entlohnung vieler erzieherischer und fast aller sozialer Berufe nicht einmal entfernt dem entspricht, was die soziale und politische Relevanz dieser Arbeit ausmacht. Gerade deswegen bedarf es in diesen Berufen eines hohen Grades intrinsischer moralischer Motivation und somit auch einer sehr anspruchsvollen inneren Haltung. Diese Motivation und diese Haltung sollten aber bloß nicht dabei im Wege stehen, berechtigte Ansprüche gegenüber der Gesellschaft geltend zu machen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. vortrag II Vortrag II Moralische Normen in der sozialen Arbeit am Beispiel des Capability Approaches und verwandter Ansätze Dr. Rebecca Gutwald, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, Ludwig-Maximilians-Univsersität München Ethik und Philosophie stoßen derzeit auch außerhalb der Universitätsmauern auf reges Interesse, vielleicht sogar auf ein Bedürfnis. Das mag an den großen Umbrüchen liegen, die uns bevorstehen, etwa im Klima, der Finanzwelt oder in Wirtschaft und Politik. Für uns Ethiker bedeutet dies eine große Chance, denn anders als die Kirche bzw. die Theologie verfügen wir kaum über Institutionen, welche in der Lebenswelt verankert sind. Es fehlt daher sowohl Erfahrung als auch der institutionelle Rückhalt, die theoretisch gewonnen Ergebnisse nach außen zu tragen. Um dies zu tun, muss die Ethik den Blick nach Außen wenden und stärker kommunizieren. Nur so kann praktische Philosophie auch wieder praktisch werden. Um die Verbindung zwischen Ethik und Praxis geht es mir hier. Mein Schwerpunkt liegt auf der Frage, was es bedeutet, wenn das Wohlergehen eines Menschen aus Sicht der Ethik des sogenannten Capability Ansatzes definiert wird, und was daraus für die innere Haltung von Professionellen in der sozialen Arbeit folgt: wie können die theoretischen Elemente des Capability Ansatzes und insbesondere sein Begriff des menschlichen Wohlergehens als Grundlage dienen, um eine respektvolle Haltung gegenüber anderen (und auch der eigenen Profession) einzunehmen? Wie kann man als Pädagoge das Wohlergehen von Klienten befördern? Wie kann man die zentralen capabilities (d. h. Fähigkeiten und Möglichkeiten) des Klientels der sozialen Arbeit und auch der Sozialarbeiter selbst fördern? Ich hoffe, mit meinem Vortrag zur Beantwortung dieser Fragen beizutragen. Ich gehe wie folgt vor: Nach einer kurzen Einführung in die Aufgaben der Dr. Rebecca Gutwald Ethik aus meiner Sicht, gehe ich auf mein Hauptthema ein: Wie kann die Ethik des Capability Ansatzes (im Folgenden mit CA abgekürzt) moralische Normen generieren, welche die soziale Arbeit und die innere Haltung anleiten? Dazu werde ich zunächst auf die Entstehungsgeschichte des Ansatzes verweisen, um auf dieser Basis seine Ausgangsideen zu erläutern. Nach Betrachtung der normativen Angelpunkte des Capability Ansatzes – Freiheit und Gerechtigkeit – komme ich zu den Fragen der Anwendung. Um aufzuzeigen, inwiefern der eine CA eine Alternative in Theorie und Praxis in der Bildungsarbeit sein kann, werde ich ihn mit ähnlichen Ansätzen vergleichen. Im Fokus stehen dabei Listen von wertvollen Gütern und die damit verbundenen Versuche, wertvolle Dimensionen des menschlichen Lebens auszuzeichnen. Ich schließe mit dem konkreten Thema der Bildung, welche im CA einen zentralen und besonderen Stellenwert 21 vortrag II hat, um den potentiellen Mehrwert des CA in der Sozialen Arbeit aufzuzeigen. Dies beziehe ich auf die innere Haltung, in der Hoffnung, eine Diskussionsgrundlage zu schaffen, auf der sich Ethik und Praxis weiter austauschen können. Einführung Wann geht es Menschen gut? Braucht man Bildung, Grundeinkommen oder Gesundheit? Was kann der Staat, was können Institutionen tun, um Wohlergehen zu fördern? Fragen wie diese sind in der Ethik nicht neu, stellen sich aber je nach Kontext und Zielsetzung immer wieder anders. Wir werden sie als Ethiker nie abschließend beantworten können. Vielmehr sind wir Ethiker, so sehe ich das, „Geburtshelfer“, um Reflexion und Orientierungshilfe zu geben. Die gemeinsame Reflexion zeigt uns auf, was normativ wichtig und wertvoll ist. Das kann nicht im luftleeren Raum geschehen: die Ethik ist auf den Input und das Sachwissen der Disziplin angewiesen, in der die ethische Frage auftritt. Der Capability Ansatz ist aus meiner Sicht gut geeignet, um Theorie und Praxis miteinander zu verbinden. Wie ich im Folgenden zeigen will, ist er ein aussichtsreicher Kandidat, um Normen für die Praxis zu generieren. Der Capability Ansatz Der Capabilty Ansatz wurde ursprünglich als Analyse und normative Beurteilungsgrundlage für Wohlstand in der globalen Entwicklungshilfe konzipiert, als Alternative zu Theorien in der Standardökonomie.1 Geistiger Vater des Ansatzes ist der indische Ökonom und Philosoph Amartya Sen aus Indien. Als vielfach ausgezeichneter Wissenschaftler hat er nicht nur an den renommiertesten Universitäten der Welt gearbeitet, sondern ist für seine Arbeit in der Entwicklungshilfepolitik ausgezeichnet und bekannt.2 Die Philosophin Martha Nussbaum hat den CA in philosophisch-ethischer Hinsicht weiter etabliert. Insbesondere hat sie den Ansatz als Grundlage für eine partielle, universale Theorie der sozialen Gerechtigkeit herangezogen.3 Worin besteht die Grundidee des CA? In wenigen Sätzen zusammengefasst: die Beurteilung des Wohlergehens eines Menschen soll nicht allein darauf abstellen, was dieser Mensch besitzt und welche Eigenschaften er aktuell aufweist. Es ist vielmehr gewichtig, was der Mensch gerade ist und tut – die sogenannten Funktionsweisen. Noch wichtiger ist, was ein Mensch tatsächlich zu tun und zu sein in der Lage ist – also wie viele Funktionsweisen möglich sind, eben jene capabilities. Erst das Denken in dieser Weise gibt uns ein umfängliches, d. h. hinreichend multidimensionales Bild vom menschlichen Wohlergehen. Damit wenden sich capability-Theoretiker gegen eine zu einseitige, also monodimensionale Bewertung des Wohlergehens, wie sie das Standardmodell der Ökonomie vorschlägt und wie sie auch in einigen ethischen Theorien zu finden ist. Sen hat an etablierten Modellen zur Wohlstandsmessung überzeugend kritisiert, dass sie zu wenig über das gesamte Wohlergehen des Menschen aussagen. Beispielsweise wurde, bevor Sen seinen Entwurf in die Entwicklungsökonomie einbrachte, das Wohlergehen und die Entwicklung von den jeweiligen Institutionen weitgehend an einer Größe gemessen: Am Bruttosozialprodukt pro Kopf. Sagt diese Größe aus zwei Gründen nahezu nichts über das Wohlergehen des Einzelnen bzw. die Gesamtgesellschaft aus: Zum einen wird die tatsächliche Güterverteilung in dem jeweiligen Land gar nicht berücksichtigt, sondern nur am Durchschnittseinkommen bzw. Median gemessen. Was der Einzelne tatsächlich hat und ist, ist nicht ersehbar. Andere Ansätze orientieren sich an der Zufriedenheit der 1) Vgl. Sen (1999). 2) Vgl. www.nobelprize.org (2013). 3)Vgl. u.a. ihre Hauptwerke zu dem Thema: Women and Human Development und Frontiers of Justice. Eine sehr gute Einführung in Nussbaums Interpretation des CA bietet ihr neues Buch Creating Capabilities (vgl. Literaturverzeichnis.) 22 vortrag II Menschen mit ihrer Situation, was laut Sen und Nussbaum ebenfalls zu kurz gegriffen ist. Diese Aspekte sagen nämlich nahezu nichts darüber aus, wie gut es einem Menschen wirklich geht. Der CA stellt sich damit klassischen wohlfahrts­ ökonomischen Theorien (z. B. bestimmten utilitaristischen Ansätzen) entgegen, welche nur auf die aktuelle Situation des Individuums blicken.4 Was aus Sicht des CA tatsächlich für die Bewertung menschlicher Lebensqualität betrachtet werden sollte, möchte ich anhand von drei Beispielen aus der Literatur des CA beschreiben. 1. Die Ressource Fahrrad Nehmen wir an, ich besäße ein Fahrrad. Man mag mich in dieser Hinsicht für wohlhabend halten. Was aber, wenn ich nicht Fahrrad fahren kann? Oder wenn ich beispielsweise in einer gebirgigen Gegend ohne Straßen lebe? In diesem Fall kann ich diese vermeintlich wertvolle Ressource nicht für mich nutzen5. Ich kann also aus meinem „Reichtum nichts machen“. Dies heißt im Übrigen nicht, dass der Besitz von monetären und anderen Ressourcen von CA-Theoretikern als unwichtig für das Wohlergehen betrachtet wird – aber er reicht nicht aus. 2. Der Fastende und der Hungernde Ein Mensch, der hungert, und ein Mensch, der fastet, befinden sich häufig in dem gleichen Zustand: unterernährt und ohne Nahrung. Der entscheidende Unterschied ist jedoch: Wenn ein Mensch fastet, hat er sich dazu freiwillig entschieden. Er hat die Möglichkeit, zu essen oder eben nicht. Während ein Mensch der hungert, keine Alternative hat, d. h. er hat – wie Sen es formuliert – keinen Zugang zu einer alternativen Funktionsweise (functionings)6. Daher geht es ihm schlecht. Beim Fastenden können wir aber umgekehrt sagen, ihm gehe es gut, obwohl er körperlich und psychisch unter dem Nahrungsentzug leiden mag. 4) Vgl. Sen (1999) und (2010), Nussbaum (2006). 5) Vgl. Sen (2010). 6) Vgl. Sen (1985a). 23 vortrag II des Einzelnen liegt. So wenden sie sich damit nicht nur gegen etablierte ökonomische Messtheorien anhand von Präferenzen, sondern auch gegen den philosophischen Ansatz des Utilitarismus, welcher Wohlstand und gutes Handeln daran festmacht, wie es das – subjektiv definierte – Glück der Individuen in einer Gesellschaft mehrt.8 Für uns ist hier Folgendes wichtig: laut CA geht es darum, was ein Mensch gegeben seiner Güter und seiner Situation tatsächlich tun und sein kann. Dies drückt sich theoretisch in der Sprache des CA anhand folgender drei Unterscheidungen aus. 3. Anpassung an widrigste Umstände Es ist für den CA nicht einmal allein ein ausreichender Indikator für Wohlergehen, ob jemand zufrieden mit seiner Situation ist, denn dies könnte aus Anpassung an widrige Umstände geschehen sein. Sen stützt sich in seiner Argumentation hier auf das Problem der adaptiven Präferenzbildung, die er an einem Beispiel aus seiner indischen Heimat illustriert: dort wurde eine Studie zum Gesundheitszustand von indischen Witwern und Witwen erstellt. Die befragten Witwen, die generell in der indischen Gesellschaft eine der unteren Klassen bilden, schätzten ihren Gesundheitszustand als gut oder zufriedenstellend ein, während die gleichaltrigen Witwer häufig damit recht unzufrieden waren. Die medizinische Untersuchung zeichnete ein umgekehrtes Bild: der Zustand der Witwen war wesentlich schlechter. Man nimmt an, dass die positive Beurteilung des Gesundheitszustands darauf zurückzuführen ist, dass sie die Vorstellung der indischen Gesellschaft über ihre soziale Rolle stark internalisiert hatten und sich ebenso damit abgefunden hatten, dass an ihrer Situation nicht viel zu ändern sei.7 Sen und Nussbaum weisen darauf hin, dass Wohlergehen also auch nicht rein an der Zufriedenheit 7) 8) 9) 10) 24 Vgl. Sen (1999). Vgl. Sen (1999). Vgl. Sen (1985a). Vgl. Sen (1987). a) Funktionen (functionings) Formal sind die sogenannten „functionings“ bzw. Funktionen die kleinste Einheit, die man betrachtet: es sind wertvolle Arten und Weisen, auf welchen ein Mensch etwas sein oder tun kann (Sen spricht von „valuable doings und beings“9). Dies können – zunächst einmal ohne weitere Qualifizierung – alle denkbaren Arten und Weisen sein, z. B. mobil sein, arbeiten, krank sein, wohlgenährt oder gesund sein. Eine Funktion kann bereits erreicht sein – dann spricht man von erreichten Funktionsweisen (achieved functionings), z. B. eine erworbene Fähigkeit. Ebenso kann aber so eine Funktion erst möglich sein, also etwas, was man zu erreichen vermag. Dies führt uns zu den capabilities. b) Verwirklichungschancen (capabilities) Eine der genannten Funktionen kann also möglich sein, man kann in der Lage sein, sie zu erreichen. In diesem Sinn stellt sie einen Teil ­einer Menge von Verwirklichungschancen dar. Die ­capabilities oder das capability set, von dem Sen spricht, sind dann ganze Bündel von Arten, zu sein oder etwas zu tun. Mit anderen Worten: sie sind alternative Lebensweisen, aus denen ich auswählen kann, z. B. mit meinem Fahrrad zur ­Arbeit zu fahren oder zu laufen, den Bus zu nehmen etc10. vortrag II Abb. 1: Schaubild in Anlehnung an Robeyns (2005) Güter und Ressourcen spielen hier nicht die wichtigste, aber eine zentrale Rolle. Ob ich eine Lebensweise verwirklichen kann, hängt im Wesentlichen davon ab, wie ich meine Güter umwandeln kann, also von den Konversionsfaktoren. c) Konversionsfaktoren (conversion factors) Sie stellen alle die Umstände, Faktoren und Voraussetzungen dar, welche ein Mensch benötigt, um aus Gütern und Ressourcen etwas zu machen – damit bestimmen sie im Wesentlichen, wozu ein Mensch in der Lage ist. Zu den Faktoren gehören Umwelt, Soziales, individuelle Talente, körperliche Voraussetzungen. Bei capabilities stehen also ganze Lebensweisen im Blickpunkt, aus denen ein Individuum auswählen kann. Der Lebensstandard hängt gewissermaßen davon ab, ob die Person Wahlmöglichkeiten hat. Sen bezeichnet die Verwirklichungschancen somit als ein Bündel („vector“11) an Chancen und Möglichkeiten, die widerspiegeln, dass eine Person die Möglichkeit hat, das eine oder das andere Leben zu führen. Die belgische Philosophin Ingrid Robeyns hat diese komplexe Beurteilungsgrundlage für Wohlergehen in folgendem Schema veranschaulicht (siehe Abb.1)12. Aus diesem Bild und den Bemerkungen von Sen sollte ersichtlich werden: Verwirklichungschancen sind eng mit dem Begriff der freien Wahl und Selbstbestimmung eines Individuums verknüpft. Man kann sogar sagen: So umfassen capabilities alle möglichen functionings bzw. die Lebensweisen der Person. In Robeyns Bild wird beschrieben wie eine solche Wahl vor sich gehen sollte, in der komplexen Situation, in der sich ein Individuum befindet: der Mensch besitzt eine bestimmte Ressource. Verschiedene Konversionsfaktoren von Umwelt, körperlichen Voraussetzungen, über Soziales und Politisches bestimmen, wie er diese umwandeln kann. Daraus ergeben sich die Verwirklichungschancen, die ihm zur Verfügung stehen. Aus diesen wählt er schließlich eine oder ein Bündel aus. Das ist seine Lebensweise, d. h. das Bündel der erreichten Funktionen – das, was er aktuell ist und tut. 11) Vgl. Sen (1992). 12) Vgl. Robeyns (2005). 25 vortrag II Der Fokus liegt also auf der freien Wahl des Individuums. Man kann auch formulieren: capabilities sind substantielle Freiheiten eines Individuums. Damit wird Freiheit und Selbstbestimmung zum Dreh- und Angelpunkt des CA. Der Mensch wird vom CA als Akteur („agent“13) angesehen, der in die Lage gebracht werden soll, sein Leben selbst zu bestimmen. Im weiteren gilt es, herauszufinden, welche Voraussetzungen und Kompetenzen im Individuum vorliegen müssen, damit er – mit dem CA gesprochen – in der Lage ist, seine Verwirklichungschancen wahrzunehmen. Dies bedeutet, dass der Mensch gewisse interne Fähigkeiten zur Einsicht und Reflexion haben muss, die es ihm ermöglichen, eine Wahl für sich zu treffen. Korrespondierend dazu müssen entsprechend äußere Faktoren vorhanden sein, etwa günstige Umweltfaktoren, soziale Anerkennung etc. Soziale Gerechtigkeit Die Auffassung des CA, dass ein Mensch in die Lage gebracht werden muss, zumindest zu einem gewissen Grad, ausreichende, wertvolle Verwirklichungschancen zu haben, zieht die Frage nach sich, inwieweit der Staat und Institutionen in der Pflicht stehen, dies zu unterstützen. Mit anderen Worten: die Frage der sozialen Gerechtigkeit. Nussbaum und (mit Einschränkungen) auch Sen legen den capability-Begriff ihrer Auffassung von sozialer Gerechtigkeit zugrunde – zumindest teilweise. Beachtet werden muss, dass der CA auch in seiner weitesten Interpretation nur einen Teil einer Theorie der Gerechtigkeit darstellen kann, indem er fragt, wie man Lebensqualität misst.14 Er sagt nicht abschließend, wie Güter in einer Gesellschaft verteilt werden sollen, z. B. gleich, bis zu einem gewissen Grad, nach Bedürfnis etc. Vieles ist mit dem CA in dieser Hinsicht kompatibel. Wie von Julian Culp in diesem Band dargestellt, hat John Rawls einen umfassenden liberalen Gerech13) 14) 15) 16) 26 Vgl. Sen (1985b). Vgl. Gutwald et al. (2011) und (2013). Vgl. Culp (2013) in diesem Band. Vgl. Gutwald et al. (2011) und (2013). tigkeitsbegriff entwickelt, der nicht nur angibt, wie gerechtigkeitstheoretische Prinzipien gefunden werden (in einer Art Diskurs), sondern auch, wie diese aussehen (z. B. eine mögliche ungleiche Verteilung zugunsten der Schwächsten).15 In die philosophischen Details zu gehen würde an dieser Stelle zu weit führen. Anmerken möchte ich jedoch, dass der CA – zumindest aus meiner Sicht – keine so umfassende Gerechtigkeitstheorie darstellt wie die Theorie von John Rawls, da ihm z. B. ausgefeiltere Prinzipien fehlen bzw. er mit einer ganzen Reihe von verschiedenen Prinzipien kombinierbar ist. Der CA macht aber in seinem Bereich grundsätzliche normative Aussagen, die für eine weiter zu erarbeitende Gerechtigkeitstheorie von enormer Wichtigkeit sind: Er fordert ganz klar, dass die Metrik, also die Bemessungsgrundlage unserer Gerechtigkeitstheorie, in capabilities bestehen muss. Sie gilt es gerecht zu verteilen bzw. herzustellen. Zentral für den auf dem CA aufbauenden Gerechtigkeitsbegriff sind folgende fünf Elemente16: ■ Multidimensionalität: es gibt zahlreiche Definitionen für menschliches Wohlergehen bzw. für Mangel, die der CA respektieren kann und will. ■ Partizipation: der Lebensentwurf und die Situation des Individuums sind entscheidend dafür, welche capabilities und welche Funktionsweisen es verwirklichen will. Von überaus wichtiger Bedeutung ist damit, dass dem Menschen lediglich Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, er aber nicht in bestimmte Funktionsweisen gedrängt wird. ■ Daraus ergibt sich ein Respekt für Pluralismus und eine gleichzeitige Berücksichtigung ungleicher Voraussetzungen – gerade dies sehen Capability-Theoretiker in traditionellen Theorien wie der von Rawls, Habermas etc. nicht hinlänglich berücksichtigt, da diese, kurz gefasst, nur Menschen umfassen, welche auch am Diskurs zur Aushandlung von gerechtigkeitstheoretischen Prinzipien teilnehmen können. vortrag II ■ Wichtig ist zuletzt, dass der CA nicht bei der Forderung nach Rechten stehen bleibt. Er möchte einen positiven Anspruch generieren, dass Menschen in die Lage versetzt werden, bestimmte Chancen zu verwirklichen. Beispielsweise nützt in bestimmten Gesellschaften ein Recht darauf, sich scheiden zu lassen, wenig, wenn Frauen nach der Scheidung nur Ächtung bleibt oder sie nicht wissen, wie sie dieses Recht durchsetzen können. Das gerechtigkeitstheoretische Ziel des CA ist demnach, Menschen durch staatliche und institutionelle Unterstützung in die Lage zu versetzen, ihr Leben selbst nach ihren Fähigkeiten und Voraussetzungen zu leben – durch die Bereitstellung von realen, wertvollen und diversen Verwirklichungschancen. Je nach Situation des Individuums kann dies sehr unterschiedlich aufwendige Maßnahmen nötig machen. Um wieder das o. g. Beispiel des Fahrrads zu bemühen: wenn ein geh- behinderter Mensch Fahrrad fahren möchte, müssen speziellere Voraussetzungen erfüllt sein als bei gehenden Menschen. Was aber sind die capabilities, die man bereitstellen muss, damit jeder Bürger seine eigenen Lebensziele erreichen kann? Darüber, wie man diese feststellt, herrscht Uneinigkeit in der Capability-Community, und sogar zwischen den beiden Hauptvertretern Sen und Nussbaum. Sen ist der eben genannte Partizipationsgedanke wichtig, sodass die Ausgestaltung von capabilities in die Hände der Betroffenen, z. B. der Bürger eines Staates legen will, die diese – ähnlich wie bei dem von Herrn Culp vorgestellten Ansatz – im Diskurs festlegen sollen.17 Dennoch finden sich bei Sen einige Anhaltspunkte dafür, dass er einige Dimensionen für enorm wichtig hält. Nussbaum wird konkreter und hat eine Liste von zehn Dimensionen entworfen, welche sie für offen und ausgestaltbar genug hält, dass sie global und universal gelten können. Sie ist mehr als kontro- 17) Vgl. Sen (2010). 27 vortrag II Beispiele: Was sind wertvolle Capabilities? Nussbaum Central Human Capabilities Sen - Politische Freiheit 1. Leben - Ökonomische Mittel 2. Körperliche Gesundheit - Soziale Möglichkeiten 3. Körperliche Integrität - Transparenz 4. Sinne, Emotionen, Denken - Sicherheit 5. Vorstellungskraft 6. Praktische Vernunft 7. Soziale Zugehörigkeit 8. Beziehungen zu anderen Spezies 9. Spiel 10. Kontrolle über die Umwelt Abb. 2: Listen in Anlehnung an Alkire (2002) und Nussbaum (2005) Maslow Bedürfnispyramide vers, jedoch – so finde ich – u. a. aus dem Grund wichtig, dass sie in der praktischen Anwendung Orientierung liefern kann. In Abbildung 2 sehen Sie die von beiden identifizierten verschiedenen Dimensionen. Nicht überraschend ist, dass Sens und Nussbaums Angaben sich in vielen Punkten überschneiden. Auf Nussbaums Liste finden sich vor allem Elemente, welche, denke ich, die meisten von uns als unabdingbar für ein selbstbestimmtes Leben halten würden, etwa das Leben an sich, Gesundheit, die Möglichkeit, Beziehungen einzugehen oder für sich selbst zu entscheiden. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die kontroversen Punkte auf dieser Liste eingehen, derer es viele gibt. Mir geht es vielmehr darum, aufzuzeigen, wie der CA konkret Ansprüche formuliert. Dies werde ich im Vergleich mit anderen Ansätzen aufnehmen. Davor noch ein paar Worte zur praktischen Anwendung des CA vor dem Hintergrund der Entwicklungshilfeökonomie bzw. -ethik, aus der er ursprünglich kommt. Entwicklungshilfeethik Abb. 3: Maslowsche Bedürfnispyramide, Maslow (1981) 18) Vgl. Sen 1999. 28 Der CA hat großen Einfluss auf die praktische Ökonomie und internationale Politik genommen, speziell in der Armutsforschung. Wurde Armut früher nur als Mangel an monetären Ressourcen aufgefasst und am Bruttosozialprodukt pro Kopf gemessen, hat Sen durch seine Arbeit auf diesem Gebiet einen Paradigmenwechsel erwirkt. Armut wird vielmehr als Armut an Chancen und Möglichkeiten begriffen. Erinnern wir uns an das Beispiel vom Hungernden und Fastenden – ersterem fehlen die capabilities.18 Auf Basis dieses Gedankens hat Sen mit Kollegen den Human Development Index der UN neu formuliert, sodass ein multidimensionales Messverfahren entstanden ist, das drei Größen misst: Lebenserwartung, Ausbildung und Einkommen. vortrag II Ähnliches ist am Human Poverty Index und anderen Messverfahren in diesem Bereich zu beobachten.19 Die genannten Elemente sind ohne Zweifel wichtig für ein selbstbestimmtes, ja sogar für ein nur einigermaßen zumutbares Leben. Lässt sich dieser Zusammenhang nicht aber in einer einfacheren Sprache – etwa in der von Grundbedürfnissen oder –rechten – fassen? Wozu brauchen wir die Sprache von capabilities? Worin liegt der Mehrwert? Was den CA auszeichnet möchte ich zunächst im Vergleich mit anderen Ansätzen zeigen, welche ähnliche Forderungen stellen, aber einige Elemente vermissen lassen. Max Neef: Fundamental Human Needs Kontrast zu konkurrierenden und ähnlichen Ansätzen Ein häufig ins Feld geführter Ansatz im Bereich der sozialen Gerechtigkeit, vor allem im internationalen Bereich, ist die Theorie der grundlegenden Bedürfnisse (fundamental human needs oder basic needs genannt), z. B. verkörpert in der Maslowschen Bedürfnispyramide (Abb. 3), welche eine Reihe der Dimensionen von Nussbaums Ansatz ebenso beinhaltet und sogar eine Hierarchisierung einführt: Grundbedürfnisse stehen über der Selbstverwirklichung. Nussbaum verzichtet zwar bewusst auf diese Hierarchisierung zugunsten der Offenheit und Freiheit – man kann sich schließlich auch gegen die Verwirklichung von Grundbedürfnissen entscheiden wie etwa das obige Beispiel des fastenden Menschen zeigt. Jedoch ist die Frage, ob es nicht höher und niedriger stehende Bedürfnisse geben kann und sollte. Ähnlicher zu Nussbaum, da ohne Hierarchisierung, ist da z. B. der Ansatz von Manfred Max-Neef, der auf die Hierarchisierung verzichtet, ebenso wie die Formulierung in den Millenium Human Development Goals (siehe Abb. 4 und 520). Abb. 4: Max Neef: Fundamental Human Needs, Max Neef (1991) Millennium Development Goals Abb. 5: Millenium Development Goals der UN 19) Vgl. u.a. United Nations Development Programme, online abrufbar unter: http://hdr.undp.org/en/humandev/. 20) Vgl. http://www.un.org/millenniumgoals/. 29 vortrag II Rawls1993 Political Liberalism soll konkreter darauf bezogen werden, welchen Herausforderungen die Bildungs- und Sozialarbeit damit begegnet, wenn sie die Förderung von capabilities in den Mittelpunkt stellt. The basic liberties, freedom of movement, freedom of association, freedom of occupational choice against a background of diverse opportunities, powers and prerogatives of office positions of responsibility in political and economic institutions, income and wealth, the social bases of self respect Abb. 6: Liste von Rawls‘ Primärgütern Sogar John Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit enthält eine Liste von sogenannten Primärgütern („primary goods“), welche sich im Wesentlichen auf Grundrechte beziehen (siehe Abb. 621). Wenn wir uns also vor Augen führen, dass es die Möglichkeit gäbe, entweder Grundbedürfnisse oder Grundrechte einzuführen, vielleicht sogar wie bei Rawls mit weiteren Gütern, warum sollten wir einen anderen Terminus wie capabilities einführen? Diese kritische Frage ist, wie ich gerne zugebe, durchaus berechtigt. Dennoch meine ich, dass der CA die Perspektive auf soziale Probleme in wichtigen Punkten schärft und besser fassen kann als die eben gezeigten Theorien. Dies zeige ich abschließend an dem Anwendungsbeispiel der Bildung und von Kernfragen der Sozialen Arbeit, vor allem der Frage nach der inneren Haltung. Dies 21) Vgl. Rawls (1971). 22) Vgl. Wolff, De-Shalit (2007). 23) Vgl. Deneulin, Shahani (2009). 30 Bildung und Soziale Arbeit Für die Bildungsarbeit und den sozialen Bereich stellt der CA vor allem eine plausible Richtschnur dar, welche mit dem Grundsatz der Erhöhung der Verwirklichungschancen Orientierung für die Förderung des Einzelnen gibt. Basis dafür ist aus Sicht des CA – wie in der allgemeinen Messung von Wohlergehen – zunächst einmal die Distanzierung von simplen Bemessungsgrundlagen wie etwa Zufriedenheit oder Zahl der Einrichtungen oder Abschlüsse. Vielmehr soll für den Einzelnen durch eine auf seine Situation zugeschnittene Bildungsmaßnahme der Raum an Möglichkeiten und Fähigkeiten erweitert werden, damit er zwischen verschiedenen Lebensweisen kompetent wählen kann. Bildung und Erziehung nimmt in einer solchen Wahl zweifellos eine Schlüsselstellung ein, sie ist eine „fertile capability“22, welche zahlreiche, wertvolle Freiheitsräume eröffnet. Demgemäß hat Bildung im CA drei Rollen: Sie ist instrumentell wichtig für die weitere Entwicklung eines Menschen, seiner Handlungen und Lebensweise. Sie wird den Einzelnen im Sinne des Empowerment mit Selbstschätzung und anderen Fähigkeiten ausstatten. Sie wirkt, drittens, umverteilend in der Gesellschaft, da die Menschen andere, bessere Positionen erreichen können.23 Aus Sicht der Befähigung und der Erweiterung des Möglichkeitsspielraums schlägt der CA damit massive Investitionen im Bildungsbereich und ein Engagement dahingehend vor, dass der Einzelne, entsprechend seiner Talente und Voraussetzungen, die für ihn passende Bildung erhält, um passende Funktionen zu genießen. Das bedeutet eine gewaltige Anstrengung, Forschung, Umwälzung und vortrag II vermutlich auch massive Investition im Bereich Bildung - um es milde auszudrücken. Abgesehen von diesen sehr großflächigen und einschneidenden Forderungen, welche Schlüsse kann man für die Praxis der Sozialen Arbeit – soweit ich das sagen kann – aus dem CA ziehen? Fünf Thesen vertrete ich dazu: 1.Grundlegend ist die Freiheitsorientierung des CA, d. h. die Fokussierung auf die Selbstbestimmung des Individuums, das unbedingt ernst zu nehmen ist. 2.Dieses Ernstnehmen wird in einem wichtigen ersten Schritt durch die Partizipation des Individuums erreicht, indem er gleichwertig bereits in die Problemdefintion eingebunden wird. 3.Eine Offenheit für Pluralismus und eine gleichzeitige Zurückhaltung, den Klienten „auf den richtigen Weg“ zu bringen, ist selbstverständlich. 4.Nicht nur der Sozialarbeiter, sondern der Staat wird in die Pflicht genommen: Menschen sollen in die Lage zur Selbstbestimmung versetzt werden. Der Sozialarbeiter und der Klient sollen dies einfordern können. 5.Wie ich aus meiner Berührung mit Konzepten aus der Sozialen Arbeit weiß, besteht zu einigen Konzepten in der Sozialen Arbeit auch eine theoretische Nähe, z. B. zum Empowerment, zur Aktivierung etc.24 Ich glaube also, dass der CA sowohl in der sozialen Arbeit „andocken“ kann, aber auch einen Mehrwert dadurch liefert, dass er eine bestimmte Perspektive auf das Individuum liefert. Innere Haltung Um meinen Vortrag abzuschließen, komme ich nun zu der Hauptfrage des Fachtages, was die Auseinandersetzung mit dem CA für die innere Haltung der Professionellen in diesem Bereich impliziert. Erinnern Sie sich an das, was ich eingangs gesagt habe: ich sehe mich als Ethikerin eher als Geburtshelferin für Ihre ethische Reflexion. Ich werde Ihnen also nicht konkret sagen, welche Haltung Sie einnehmen müssen, sondern werde – ganz im Sinne der Freiheitsbetonung des CA – nur Orientierung und Impulse liefern. Der CA kann, so meine abschließende These, einen Perspektivwechsel für die Arbeit im sozialen Bereich bewirken und deren Selbstverständnis ansprechen. Der CA impliziert, das Klientel in der sozialen Arbeit weniger als Bedürfnisempfänger oder gar hilfsbedürftiges Objekt, dem eine Leistung zugeordnet bzw. angeheftet wird, anzusehen. In diesem Punkt unterscheidet sich der CA in seiner grundlegenden Ausrichtung von den o.g. Bedürfnistheorien, welche die Hilfsbedürftigkeit und Unzulänglichkeit von Menschen als Rechtfertigungsgrundlage für Sozialleistungen heranziehen. Der CA nimmt den Menschen als Individuum ernst; er plädiert dafür, den Menschen dort „abzuholen, wo er steht“, nämlich in seiner individuellen Situation, welche von Nachteilen, aber auch von individuellen Fähigkeiten und externen Faktoren gekennzeichnet ist. Menschen sollen demnach im CA nicht zu einer bestimmten, konkret vorgegebenen Lebensweise gebracht werden (oder von einer solchen abgebracht werden). Vielmehr soll eine ausreichende Selbstverwirklichung im Sinne der Entfaltung von 24) Vgl. Lessmann et al. (2013). 31 vortrag II eigenen Möglichkeitsspielräumen angestrebt werden. Das ist aus meiner Sicht die Kernbotschaft des CA, die ich Ihnen gerne mitgeben möchte. Nussbaum, Martha (2000): Women and Human Develop- Literatur Nussbaum, Martha (2006): Frontiers of Justice: Disabili- Alkire, Sabina (2002): Dimensions of Human Develop- ty, Nationality, Species Membership, Harvard University ment. in: World Development Vol. 30, No. 2: 181–205 Press, Cambridge MA. ment. The Capabilities Approach, Cambridge University Press, Cambridge. Deneulin Severine. Shahani Lila (2009) An Introduction to the Human Development and Capability Approach, Nussbaum, Martha (2011): Creating Capabilities: The Earthscan, London Human Development Approach, Harvard University Press, Cambridge MA. Gutwald, Rebecca; Leßmann, Ortrud; Rauschmayer, Felix; Masson, Torsten (2011): The Capability Approach to Rawls, John (1971): A Theory of Justice, Oxford Univer- Intergenerational Justice – a survey. In: Maitreyee, the sity Press. e-bulletin of the Human Development and Capability Association, Sept. 2011: The Capability Approach as a Robeyns, Ingrid (2005): The capability approach: a Theory of Justice. theoretical survey, in: Journal of Human Development, 6, 1, S. 93–114. Gutwald, Rebecca; Leßmann, Ortrud; Rauschmeyer, Felix; Masson, Torsten (2013): A Capability Approach to inter- Sen, Amartya (1985a): Commodities and Capabilities, generational justice? Examining the potential of Amartya North-Holland, Amsterdam Sen’s ethics with regard to intergenerational issues, angenommen beim Journal of Human Development and Sen, Amartya (1985b): Well-being, agency and freedom: Capabilities, erscheint Ende 2013. the Dewey lectures 1984. The Journal of Philosophy, 1985 82 (4). S. 169-221. Leßmann, Ortrud; Gutwald, Rebecca; Babic, Bernhard (2013): Der Capability Approach – ein weiterer ökono- Sen, Amartya (1987): The Standard of Living, Cambridge mischer Ansatz auf dem Vormarsch?, Beitrag zu den University Press, Cambridge. Konferenz-Proceedings des Bundeskongresses für soziale Arbeit, Hamburg, erscheint Ende 2013. Sen, Amartya (1992): Inequality Re-examined, Oxford University Press, Oxford. Maslow, Abraham (1981): Motivation und Persönlichkeit (Erstausgabe 1954, übersetzt von Paul Kruntorad), 12. Sen, Amartya (1999): Development as Freedom, Oxford Auflage, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg. University Press, Oxford. Max Neef, Manfred (1991): Human scale development: Sen, Amartya (2010): The Idea of Justice, Harvard Uni- conception, application and further reflections. The Apex versity Press, Cambridge MA. Press, London, New York. Wolff, Jonathan; De-Shalit, Avner (2007): Disadvantage, http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/economic-sciences/laureates/1998/sen-bio.html (biografische Informationen über Amartya Sen) 32 Oxford University Press, Oxford. Denkräume 33 denkraum 1 Denkraum 1 Die Bedeutung der evangelischen ­Sozialethik für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Prof. Dr. Birgit Bender-Junker, Evangelische Hochschule Darmstadt Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt sich die evangelische Sozialethik zu einem eigenständigen Fach innerhalb der Theologie, das sehr unterschiedliche Themen bearbeitet z. B. wirtschaftsethische Fragen, friedensethische Fragen, umweltethische Fragen, bioethische Fragen u. a. Sozialethische Themen werden auch zu Themen der Kirchen in den „Worten“ und „Denkschriften“ der EKD, in denen auch die sozialethischen Diskurse der Universitätstheologie rezipiert werden. Evangelisch–sozialethische Reflexionen in diesen Kontexten orientieren sich an zwei Paradigmen, die sich als Verantwortungs- und Gerechtigkeitsethik identifizieren lassen. Verantwortungsethik als evangelische Sozialethik dominiert die Diskussion bis in die 1990er Jahre und wird dann vom Gerechtigkeitsparadigma abgelöst. Die evangelische Sozialethik entsteht im Kontext der sozial- und reformpolitischen Diskussionen des liberalen und konservativen sozialen Protestantismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. In der Weimarer Republik wird 1927 an der Berliner Universität das „Institut für Sozialethik und Wissenschaft von der Inneren Mission“ gegründet, das in der Tradition des konservativen Protestantismus steht. 1931 folgt dann der Lehrstuhl für Sozialethik an der Marburger theologischen Fakultät, der in der Tradition des liberalen Protestantismus errichtet wird. Beide Gründungen lassen sich auch als Reaktionen auf die veränderte gesellschaftliche Situation seit 1918 sehen. Die Kirchen und die Theologie haben ihre gesellschaftlichen Monopolstellungen verloren und sind durch die zunehmende gesellschaftliche und staatliche „Säkularisierung“ unter Druck geraten. 34 Für die Sozialethik als Verantwortungsethik sind Wolfgang Hubers Überlegungen aus den 1980er Jahren grundlegend, in denen er vier Perspektiven der Verantwortung aufzeigt, die sich ergänzen und voneinander abhängig sind. Eine grundlegende theologische Perspektive, für die er Bonhoeffers Ideen der Verantwortung vor Gott und Verantwortung für den Anderen und seine Würde diskutiert; eine gesellschaftliche Perspektive, die versucht, gesellschaftliche Verantwortung in ihrer personalen, sozialen und technischen Perspektive zu erfassen, eine handlungspraktische Perspektive, die die motivationalen Komponenten von Verantwortung mit den Handlungsfolgen verknüpft und eine dialogische Perspektive, die am Dialog zwischen unterschiedlichen Situationswahrnehmungen interessiert ist, um eine gemeinsame Situationswahrnehmung zu ermöglichen. denkraum 1 Das zweite Paradigma, das sich seit den 1990er Jahren herausbildet und das stärkere inhaltliche Kriterien zur Verfügung stellt als das Verantwortungsparadigma, ist das Gerechtigkeitsparadigma. Zu wichtigen Ideengebern für theologische Theorien der Gerechtigkeit, wie sie in den 1990er Jahren von Heinrich Bedford-Strohm und Wolfgang Huber formuliert werden, werden die Überlegungen der lateinamerikanischen Bischöfe von 1968 und 1979, die die „vorrangige Option für die Armen“ als Grundlage theologischer Sozialethik formulieren und einfordern. Sowohl Bedford-Strohm als auch Huber machen die „vorrangige Option für die Armen“ zum Kern ihrer Gerechtigkeitstheorien und arbeiten ihre biblischen Bezüge über die sedaqua (hebräisch) als konnektive Gerechtigkeit oder Gemeinschaftstreue Gottes deutlich heraus. In ihrer Auseinandersetzung mit John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ sehen sie das von ihm aufgestellte Differenzprinzip, das sie um die Idee der Teilhabe erweitern, als einen theoretischen Ort für die Integration des Gerechtigkeitsprinzips der „vorrangigen Option für die Armen“. Sie formulieren sozialethische Überlegungen zur Gerechtigkeit, die sich auch in verschiedenen EKD-Denkschriften wieder finden. Mit Peter Dabrocks Kritik und Fortführung der Diskussion zur theologischen Gerechtigkeit und seiner Rezeption von Martha Nussbaums capability approach verstärkt sich die sozialethische Reflexion darüber, wie der Beitrag evangelischer Sozialethik an der vernunftbegründeten gesellschaftlich-ethischen Diskussion aussehen könnte. Während die verantwortungsethische Perspektive eine sich notwendig ergänzende Perspektive von säkularen und theologischen Argumentationen zugrunde legte, entwirft Dabrock eine transpartikulare Perspektive, die die Partikularität der theologischen Thematiken und Semantiken nicht leugnet, sondern ihre Übersetzungsmöglichkeiten und Entsprechungsverhältnisse herausarbeitet. Evangelische Sozialethik muss dann theologische wie nicht-theologische Sprachspiele sprechen, wechselseitig übersetzen können und aufmerksam bleiben für die Grenzen der Übersetzung. In Martha Nussbaums capabilitiy approach sieht er die Möglichkeit, die biblischen Impulse der Gemeinschaftstreue Gottes und der „vorrangigen Option für die Armen und Benachteiligten“ zu transpartikularisieren. Das Entsprechungsverhältnis liegt darin, dass beide Figuren, sowohl die biblische „Option für die Armen und Benachteiligten“ wie ein Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, das an den Befähigungen der Einzelnen ausgerichtet ist, auf die gesellschaftliche Inklusion der Einzelnen zielen und ihre Menschenwürde inhaltlich ausgestalten. Evangelische Sozialethik entwirft und diskutiert allgemeine Reflexionsmodelle für eine ethische und theologische Orientierung, die auch in innere Haltungen übersetzt werden können. Moderatorin Dr. Gisela Matthiae 35 denkraum 1 Protokoll Die historische Entwicklung der evangelischen Sozialethik in ihren konkreten Kontexten wurde durch Frau Prof. Dr. Bender-Junker sehr lebendig und anschaulich vorgestellt. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer sahen darin eine interessante Fortsetzung von Debatten aus ihrem Studium, für die es im jetzigen Arbeitsalltag kaum mehr Gelegenheit gibt. Über die Vorträge am Vormittag hinaus wurde mit dem Ansatz von Peter Dabrock die Verknüpfung des Gerechtigkeitsprinzips mit Martha Nussbaums capabilites approach vorgestellt: ■ Die Einnahme einer gesellschaftspolitischen Perspektive, die gerade nicht gegen die Ausrichtung an den Bedürfnissen der Einzelnen ausgespielt wird; ■ ein Ansatz, der sowohl biblisch-theologisch als auch jenseits von theologischen und religiösen Begrifflichkeiten formuliert wird; ■ eine die jeweiligen Partikularitäten übersteigende Debatte. Diese neuen Denkzusammenhänge fanden großen Anklang in der Gruppe. Gleichwohl wurde die evangelische Sozialethik im Folgenden nicht intensiv diskutiert, da die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum großen Teil die Diskrepanz zwischen den täglichen Anforderungen am Arbeits- platz und den Möglichkeiten zu Reflexion und Austausch ihrer jeweiligen Theoriepositionen und ihrer inneren Haltungen beklagten. Sie vermissen Denkräume an ihren Arbeitsplätzen und begrüßen dafür umso mehr diesen Fachtag. Sie erleben, dass im Arbeitsalltag wenig nach den je individuellen Haltungen gefragt wird und ihnen der Austausch fehlt. Es wird der Wunsch formuliert, sich im Arbeitsalltag mehr mit der inneren Haltung, der Motivation, den Zielen und ethischen Richtlinien konstruktiv auseinandersetzen zu können. Eine interessante Fortführung war, dass der capability Ansatz auch auf die Mitarbeitenden selbst angewendet werden solle. Das könnte direkte Folgen für die Personalführung haben. Daher wurden folgende Thesen als Forderungen formuliert: ■ Die Ergebnisse aus den Denkräumen sollen (per Internet) veröffentlicht werden. ■ Denkräume sollen weiter gepflegt und deren Inhalte zur Verfügung gestellt werden. ■ Fragen zur ethischen Reflexion der eigenen Haltung sollen im Fortbildungsangebot des ERV verankert und angeboten werden. ■ Die Liste der capabilities muss auf die Mitarbeitenden selbst bezogen werden und in den Strukturen der Personalführung berücksichtigt werden. ■ Die Ideen, Visionen und Anregungen der Mitarbeitenden sollen in die konzeptionellen Entwicklungen einbezogen werden. ■ Die Arbeit in den Denkräumen soll methodisch so vielfältig wie nur möglich weitergeführt werden. Der Fachtag wurde sehr begrüßt, die Themenwahl ebenso wie die konkrete Gestaltung. Für den Austausch in dieser und evtl. anderen Kleingruppen hätte gerne noch mehr Zeit zur Verfügung stehen können. Moderation Dr. Gisela Matthiae, Pfarrerin für Frauenarbeit und ­Leiterin des EVAngelischen Frauenbegegnungszentrums in Frankfurt am Main 36 denkraum 2 Denkraum 2 Die Bedeutung des Partizipations- und Demokratiediskurses der Bürger­ gesellschaft für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Dr. Reinhild Hugenroth, Bildungsberaterin und Sprecherin der AG „Bildung/Qualifizierung“ im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, Berlin Demokratie lebt von der aktiven Zivilgesellschaft. Vor diesem Hintergrund wird der Begriff des Bürgerschaftlichen Engagements im Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ näher beschrieben. Demnach ist das Bürgerschaftliche Engagement vielfältig, freiwillig, öffentlich, am Gemeinwohl orientiert und durch fehlende Ausrichtung auf materiellen Gewinn gekennzeichnet. Das Prinzip „für sich und andere“ ist tragend, weil Altruismus und Eigeninteresse im Rahmen des Bürgerschaftlichen Engagements möglich sind. Zudem gehört auch „Dagegensein“ – also zivile Protestformen – zum Bürgerschaftlichen Engagement. Diese Definitionen werden im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) bis heute zur Grundlage genommen, obgleich es auch neue Definitionen im Rahmen eines Regierungsdiskurses gibt, die stärker auf „Bürgerpflichten“ abheben. Förderung des Engagements bei Kindern und Jugendlichen sollte im Vordergrund stehen. Dies ist angesichts der schulischen Rahmenbedingungen wie G8 oder Ganztagsschulen nur zu verwirklichen, wenn formale, non-formale und informelle Bildung gemeinsam gedacht werden. Bürgerschaftliches Engagement, wie beispielsweise in Umweltverbänden oder Sportvereinen praktiziert, sind ein Bildungsort, weil dort gelernt wird, und ein Bildungsfaktor, weil durch Bürgerschaftliches Engagement informelles Lernen stattfindet. Ein so definiertes erweitertes Bildungsverständnis ermöglicht es, der doppelten Ungleichheit im Bildungssystem und im Bürgerschaftlichen Engage- Referentin Dr. Reinhild Hugenroth ment entgegenzuwirken.Denn: Die Demokratie ist sozial gespalten. Junge Menschen aus benachteiligten sozialen Verhältnissen und mit niedrigem Bildungsniveau haben nicht nur deutlich schlechtere Chancen auf den Ausbildungs- und Arbeitsmärkten, sondern sind auch tendenziell von der Teilhabe an der politischen Macht und an den sich durch politische und soziale Organisationen eröffnenden Mitgestaltungsmöglichkeiten und Kompetenzbildungsprozessen ausgeschlossen. Angesichts dieser Ausgangslage gehört neuen Formen des Engagements Beachtung. Soziale Medien könn(t)en eine Chance zur Beteiligung bieten – aber sie können auch die Beteiligungsungleichheit reproduzieren. Beides ist möglich, für beide Richtungen ist Potenzial vorhanden. Bisher nutzen beispielsweise insbesondere „ressourcenreiche Jugendliche“ die Möglichkeit, Artikel in Wikipedia ins Netz zu stellen, Gruppen zu organisieren oder 37 denkraum 2 begegnet man den praktischen Ausformungen des Service Learning beispielsweise dann, wenn Schülerinnen und Schüler für eine gewisse Zeit im Rahmen des Informatikunterrichts in einem Seniorenheim tätig sind und die Senioren im Umgang mit dem Computer unterstützen; anschließend wird diese Erfahrung im Unterricht reflektiert. Diskussionen zu führen. Gerade jedoch Jungen aus der sogenannten Unterschicht, die den reinen „Medienkonsumenten“ zuzurechnen sind, sollte man in Engagement-Projekten mit sozialen Medien einbinden und an neue Formen des Lernens und Beteiligens heranführen. Die Öffnung der Schule nach Innen (Beteiligung von Schülerinnen und Schülern, Eltern) und die Öffnung der Schule nach Außen (Zivilgesellschaft/außerschulische Kooperationspartner) ist das Gebot der Stunde. Dabei gehört die neue, aus den USA stammende Lehr-Lernmethode Service Learning zu den innovativen Konzepten. John Dewey und sein Konzept „Lernen durch und für Erfahrung“ sind dafür grundlegend. Durch das Modellprojekt „Demokratie lernen und leben“ wurde dieser Ansatz in Deutschland erstmalig auf breiterer Basis angewendet. Die durchgeführten Projekte sollen von Schülerinnen und Schülern im Umfeld der Schule recherchiert werden. Ein realer Bedarf der Gemeinde muss entdeckt und bearbeitet werden. Dabei sollen die Schülerinnen und Schüler selbständige Entscheidungen treffen. Generationsübergreifend soll mit gegenseitigem Respekt gleichberechtigt gearbeitet werden. Die Tätigkeit (Service) wird im Unterricht reflektiert (Learning). Im schulischen Alltag 38 Axel Honneth beschreibt, dass große Denker wie Immanuel Kant oder John Dewey das Thema der demokratischen Erziehung als intrinsischen Bestandteil ihrer eigenen politisch-philosophischen Unternehmung betrachtet hätten; heute spiele es jedoch innerhalb der normativ orientierten Demokratietheorie nur noch eine randständige Rolle. Dieses sei nicht nur der Ausdifferenzierung der Wissenschaftsdisziplinen geschuldet. Die politische Philosophie habe sich selbst der Aufgabe entbunden, die Erziehungsprozesse zu bestimmen, die zur Herausbildung von demokratischer Mündigkeit erforderlich seien. Honneth sieht es als ein großes Problem an, wenn man die Frage der demokratischen Erziehung aus der politischen Philosophie ausgliedere. Er verweist auf die lange Tradition der politischen Philosophie (so z. B. Platons „Politeia“). Der schulischen Erziehung werde kaum noch ein politischer Stellenwert eingeräumt, weil man den Spielraum für die selbstgenerativen Aktivitäten des Rechtsstaates für äußerst gering halte. Die sogenannte Böckenförde-These des gleichnamigen ehemaligen Bundesverfassungsrichters habe zu der Auffassung beigetragen, dass die Demokratie in ihrer Reproduktion von der Zulieferung einiger ihr selbst vorausliegenden Traditionsbestände abhängig sei. Böckenförde sei vielfach zu eng ausgelegt worden – und das lehnt Honneth ab, weil daraus folge, dass man den vorschulischen und schulischen Bildungsprozessen keinen Wert für die Vermittlung demokratiefördernder Verhaltensweisen zutrauen würde. Im Unterricht könne man demnach nicht die wichtigen moralischen Einstellungen lernen, wie z. B. Toleranzfähigkeit, das Sich-in-den-anderen-Hineinversetzen-können oder die oben schon benannte „Gemeinwohlorientierung“. Honneth macht nicht Böckenförde für das falsche Ver- denkraum 2 ständnis verantwortlich, sondern die allgemeine verkürzte Rezeption. Es sei dieser allgemeinen Rezeption nach das Erfordernis demokratischer Gesellschaften, auf das Überleben traditionaler Gesinnungsgemeinschaften zu vertrauen. Honneth problematisiert, dass demokratische Gesinnungen dann nicht in staatlich vermittelten Erziehungsprozessen erzeugt würden, sondern dies den vorpolitischen Milieus traditioneller Gemeinschaften überlassen bleibe. Auf der anderen Seite macht Honneth für die Tendenzen der Entkopplung von politischer Philosophie und Erziehungslehre ein nach seiner Ansicht überzogenes Neutralitätsgebot des Staates verantwortlich. Honneth erwähnt nicht dezidiert den „Beutelsbacher Konsens“, der Grundlage dieses Neutralitätsverständnisses innerhalb der politischen Bildung ist, aber er bezieht sich dennoch auf die demokratische Verfasstheit des Gemeinwesens. Dabei betont er – in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft, die viele politische und religiöse Ansichten vereinen muss – die Notwendigkeit und grundlegende Rolle der staatlichen Erziehung. Dazu gehöre auch, dass das Recht der Eltern, ihrem Nachwuchs eigene partikulare Wertüberzeugungen zu vermitteln, an der Schulpforte gebrochen werden müsse. Das ist ein spannender Punkt: Der Staat steht nach Honneth in der Verantwortung, um die partikularen Wertvorstellungen zu „brechen“, weil die Demokratie ihre eigenen Wertvorstellungen hat. Zudem beklagt Honneth, dass einige Erziehungsberechtigte lieber eine stärkere Orientierung an der Leistungsgesellschaft mit ihren ökonomischen Rahmenbedingungen befürworten an Stelle einer Demokratieorientierung. Demokratie muss in der politischen Philosophie auch einen Bezug zur Erziehung nehmen. Aktuell mangelt es an Bezügen der Demokratietheorie zur Erziehungswissenschaft – dabei sind sie „Zwillingsschwestern“. Die Einführung der Schulpflicht ist demokratisch legitimiert und soll zur Teilhabe an diesem Staat befähigen. Der schulische Unterricht soll zur Regenerierung der Demokratie beitragen, indem Perspektivenübernahme kommunikativ eingeübt wird. Protokoll Anknüpfend an die Ausführungen zu „demokratischen Kompetenzen“ im Vortrag von Herrn Dr. Julian Culp und entlang des vorliegenden Thesenpapieres von Frau Dr. Reinhild Hugenroth diskutierten die Teilnehmenden die Interdependenzen von Bildung auf der einen und von repräsentativ-demokratischen Staatsordnungen auf der anderen Seite. In den Diskussions- und Denkbeiträgen wurden folgende Punkte und Fragestellungen aufgeworfen und vertieft: Generell sei zu konstatieren, dass (schulische und außerschulische) Lernräume für die Subjekte mit mehr Sinn und Werten zu füllen sind und in ihnen mehr basale demokratische Transferkompetenzen zum Tragen kommen sollten. Zudem sollten formale, non-formale und informelle Formen des Lernens grundsätzlich aufeinander bezogen werden bzw. mehr – im Sinne des Erwerbs demokratischer Kompetenzen – zusammenfließen. Einen Beitrag an dieser Stelle zur Öffnung der Schule nach Innen und Außen könne zum Beispiel die Lehr-Lern-Methode des „Service Learning“ leisten. 39 denkraum 2 Würdigung der These des Staatsrechtlers Böckenförde zu ermüdenden selbstgenerativen Kräften demokratischer Gemeinwesen. Die Böckenförde-These liefere eine Antwort auf die Frage, warum die Demokratietheorie beinahe unmerklich den Glauben an den Wert der staatlich organisierten Erziehung für die Demokratie verloren habe. Es sei plausibel und im aktuellen Bildungsdiskurs zu beobachten, dass dem demokratischen Rechtsstaat ein nur sehr geringer Spielraum bei der Regenerierung seiner eigenen moralisch-kulturellen Bedingungen bleibt und dass die Demokratie in ihrer Reproduktion von der Zufuhr einiger ihr selbst vorausliegender Traditionsbestände abhängig ist. Es müsse daher kritisch angemerkt werden, dass das staatliche Neutralitätsgebot im schulischen Kontext in Frage zu stellen sei, wenn selbst die Prinzipien der demokratischen Willensbildung keinerlei Niederschlag im öffentlichen Schulunterricht mehr finden. Sowohl in schulischen als auch in außerschulischen Settings sei es daher wichtig, den Spannungsbogen zwischen moralischen Werten und Neutralität aktiv zu gestalten und sich auf einen demokratischen Wertekonsens beziehen zu können, der von Respekt, Empathie, Stellungnehmen und Kooperation geprägt ist. An dieser Stelle sei auch zu bedenken, dass es einen subjektiven Spannungsbogen gäbe, nämlich dann, wenn die innere Haltung mit der institutionellen Haltung nicht konform gehe. de Rahmenbedingungen, um sich zu entfalten und weiter zu entwickeln. Das Organisieren des Miteinanders könne nicht ohne strukturelle Absicherung „einfach so“ generiert werden. Zudem komme es darauf an, vielfältige Orte der Begegnung und des Austausches - auch im Sinne einer Anerkennungskultur - zu schaffen bzw. zur Verfügung zu stellen. Abschließend wurde angemerkt, dass der kommunalen Ebene eine wichtige Steuerungsfunktion im Demokratiediskurs zufalle. Indem sie ihre Gestaltungsmöglichkeiten reflektiere und priorisiere, könnten entscheidende Wegmarken gesetzt werden. Moderation Dr. Elard Apel, Pädagogische Grundsatzplanung im Stadtschulamt Frankfurt am Main Literatur Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestages (Hrsg.): Bericht. Bürgerschaftliches Engagement: Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft, Bd. 4, Opladen 2002. Honneth, Axel: Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. Ein vernachlässigtes Kapitel der politischen Philosophie, Festvortrag anlässlich der Eröffnung des 23. DGfE-Kongresses „Erziehungswissenschaftliche Grenzgänge“ am 12. März 2012 in Osnabrück. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Frankfurt 2012. Weiter wurde darauf hingewiesen, dass Demokratiebildung und -erziehung ein lebenslanger Prozess sei und auch außerhalb der Schul- und Studienwelt auf der Agenda stehe. Insofern seien auch die Akteure in der Erwachsenenbildung und „Altenarbeit“ gefordert, den Partizipations- und Demokratiediskurs zu führen. Positiv wäre es, diesen Diskurs generationsübergreifend zu führen. Damit könne ein Beitrag geleistet werden zur Überwindung der Separation gesellschaftlicher Erfahrungsbereiche. Insgesamt müsse auch immer wieder die „strukturelle Ebene“ in den Blick genommen werden. Eine demokratische Kultur benötige auch entsprechen- 40 Hartnuß, Birger; Hugenroth, Reinhild; Kegel, Thomas (Hrsg.): Schule der Bürgergesellschaft. Bürgerschaftliche Perspektiven für moderne Bildung und gute Schulen, Schwalbach/Ts. 2013. Hugenroth, Reinhild: Schule und bürgerschaftliches Engagement. Lernallianzen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz als Beitrag zu einer aktiven Bürgergesellschaft?, Münster 2011. denkraum 3 Denkraum 3 Die Bedeutung eines Ansatzes der Nachhaltigkeit für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Axel Klimek, Geschäftsführer der ISIS-Academy GmbH, Hofheim Tiefer schauen, vernetzt denken, innovativ entscheiden und verantwortlich handeln Die wohl am häufigsten benutzte Definition von Nachhaltigkeit stammt aus dem Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung aus dem Jahre 1987. Danach beschreibt Nachhaltigkeit eine Entwicklung, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“ Bei den Vereinten Nationen gibt es zur Zeit Bestrebungen, ab 2015 die Millenium Goals durch Nachhaltigkeitsziele (SDGs – Sustainable Development Goals) zu ergänzen bzw. zu ersetzen. Aus Sicht der UN scheint es nötig zu sein, die Nachhaltigkeit verstärkt in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit zu nehmen. Aber was macht Nachhaltigkeit eigentlich aus? Von Albert Einstein stammt die Formulierung: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Ich möchte im folgenden an einigen Thesen aufzeigen, dass Nachhaltigkeit zu einer neuen Denkweise bzw. inneren Haltung führen kann Erste These: Nachhaltigkeit beinhaltet den Umgang mit Komplexität „Manager fürchten Komplexität” lautete eine Überschrift aus der „Zeit“ vom Dezember 2012. Einer Studie entsprechend fanden 83% Prozent der befragten Manager, dass das erreichte Niveau der Komplexität in ihren Unternehmen zu hoch sei. Sicherlich sollte man immer wieder darauf achten, Komplexität nicht unnötig zu vergrößern. Referent Axel Klimek Aber wenn wir uns die großen Herausforderungen der Welt, wie die Finanzkrise, den Klimawandel, die Einkommensschere, das Nord-Süd-Gefälle anschauen, dann merken wir schnell, dass einfache Antworten nicht tief genug wirken. Wir brauchen nicht weniger Komplexität, sondern mehr Wissen und Methodiken, um mit der Komplexität angemessen umzugehen. Ein Beispiel für eine solche Methode ist der Nachhaltigkeitskompass. Es ist ein Werkzeug, um sich in den vier Nachhaltigkeitsdimensionen N - Natur/Ökologie, O - Ökonomie, S - Soziales/Gesellschaft und W – Wohlbefinden sicher bewegen zu können. Die Welt ist komplex und Nachhaltigkeit ist ein Ansatz, diese Komplexität zu erfassen und mit ihr umzugehen. 41 denkraum 3 Zweite These: Nachhaltigkeit achtet auf systemische Wechselwirkungen Eindimensionale Lösungsansätze lösen Probleme oftmals nicht wirklich. So haben Versuche, S chädlinge durch Pestizide zu bekämpfen, nicht vollständig zu ihrer gewollten Vernichtung geführt (kausale Logik), sondern die Evolution hat auch Schädlinge hervorgebracht, die gegen diese Pestizide resistent sind. ■ die krebserregende Wirkung von Zigaretten durch Reduzierung von Nikotin und Teer in Zigaretten zu verringern, auch dazu geführt, dass Raucher mehr rauchen und tiefer inhalieren. Sie wollen ihre „benötigte“ Nikotinmenge dadurch aufnehmen. Letztendlich ist die Krebsgefährdung teilweise sogar gestiegen. ■ Autostaus durch verbreiterte Straßen zu minimieren, oftmals auch dazu geführt, dass noch mehr Menschen ihr Auto nutzten. Nach einer kurzfristigen Entlastung entstanden die Staus aufs Neue. ■ 42 Die Welt ist nicht nur komplex, sondern gleichzeitig auch noch systemisch miteinander verwoben. Systemisches Denken bezieht die Tatsache mit ein, dass unser jetziges und lokales Tun Wirkungen erzeugen kann, die sowohl zeitlich als auch räumlich entfernt von den ursprünglichen Handlungen liegen. Um diese zu erfassen, müssen wir als Voraussetzung diese Art systemisches Denken und Wahrnehmen lernen und anwenden. Dritte These: Nachhaltigkeit ist Innovation Unser Gehirn verbraucht etwa 20% unserer Gesamt­ energie bei nur 2% der Körpermasse. Obwohl oder weil das Gehirn der größte Energieverbraucher des Körpers ist, ist es bestrebt, Energie so effizient wie möglich zu nutzen. Dies tut es unter anderem dadurch, dass es bestimmte wichtige Prozesse mittels fester neuronaler Verknüpfungen verankert. Das heißt vieles läuft in „verdrahteten“ Routinen und Gewohnheiten ab. Nicht nur Tätigkeiten wie Autofahren werden im Laufe der Zeit durch feste neuronale Strukturen im denkraum 3 Gehirn verankert sondern auch Denkweisen, Einschätzungen und Haltungen. Der Psychologe Abraham Maslow beschrieb dieses Phänomen als er sagte: „Wenn das einzige Werkzeug, was ich habe, ein Hammer ist, dann sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.“ Hirnphysiologisch ist es nachvollziehbar, wenn Menschen auf Probleme mit den gleichen Lösungsvorschlägen reagieren. Aber wie hilfreich ist es, wenn bei Steigerung von Jugendkriminalität als Lösung eine Verschärfung der Gesetzgebung gefordert wird oder EU-Forderungen nach stärkerer CO²-Reduktion durch Ausnahmeregelung für die heimische Autoindustrie abgepuffert werden sollen? Innovation sieht anders aus. Innovation braucht Unvoreingenommenheit, Ergebnisoffenheit und Kreativität. Obwohl innovative Ideen manchmal wie von selbst unter der Dusche kommen, ist es sicherer, sie durch einen Prozess wie ISIS – Indikatoren, Systeme, Innovation, Strategie – zu unterstützen. Vierte These: Nachhaltigkeit bedeutet Erweiterung von Verantwortung Um die Bedürfnisse aller heutigen Generationen und der zukünftigen Generation ernst nehmen zu können, müssen wir die Bereitschaft haben, unser aktuelles Handeln kritisch zu hinterfragen. Es ist selbstverständlich, sich sowohl um eigene Bedürfnisse zu kümmern als auch um die von den Menschen, mit denen wir uns gemeinschaftlich verbunden fühlen. Das können Menschen unserer Familie, unserer Abteilung, unserer Organisation/ Firma, unseres Staates usw. sein. Diese Fokussierung bedeutet gleichzeitig aber auch eine Grenze zum Du, zu anderen Familien, Abteilungen, Organisationen/Firmen und Staaten. Wir nehmen deren Bedürfnisse nicht in der gleichen Art und Weise ernst wie die eigenen. Einige Evolutionsbiologen sagen, dass diese Ich-Zentriertheit ein wesentlicher Faktor für die erfolgreiche Entwicklung unserer Spezies war. Das mag richtig sein, solange Entwicklung in einem scheinbar offenen System funktioniert, in dem die Auswirkungen des eigenen Handelns lokal und zeitlich begrenzt sind. Wir sind als Menschen in unserer Entwicklung aber an einem Punkt angelangt, an dem unser Tun spürbare, direkte Einflüsse auf die Lebensbedingungen des Gesamtsystems Erde hat. Wir sehen dies bei Themen wie Klimawandel, Entsorgung von Atommüll (der über Zehntausend Jahre gefährlich strahlt), Aussterben von Tierarten, Finanzkrise usw. Wenn wir Menschen es nicht schaffen, innerhalb unserer Haltung ein Verantwortungsempfinden für das Ganze zu entwickeln, dann werden wir dem Anspruch der Nachhaltigkeitsdefinition der Brundtland-Kommission nicht gerecht werden können. Wie oben schon gesagt beschreibt Nachhaltigkeit eine Entwicklung, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“ Eine wichtige Hebelwirkung fällt dabei dem Sozial- und Bildungsbereich zu, da dieser als Multiplikator die Voraussetzung von Denkweisen und Haltungen von unzähligen Menschen direkt und indirekt beeinflusst. Protokoll Einstieg Wir reichen eine Schale mit zwei Arten von Süßigkeiten herum. Süßigkeit A: teurer aussehende und aufwendig verpackte, große Bonbons und Süßigkeit B: einfache Bonbons. Es sind in etwa so viele Süßigkeiten in der Schale wie Teilnehmer/innen im Raum sind. Wir bitten jede/n Teilnehmer/in, sich eine der Süßigkeiten zu nehmen. Später während des Vortrags fragen wir, wie viele Raffaellos bzw. Ferrero Rochers im ersten Drittel der Gruppe genommen wurden und wie viele im letzten Drittel übrig geblieben sind. Die Vermutung ist, dass mehr Raffaellos und Ferrero Rochers von den Teilnehmenden des ersten Drittels genommen wurden. Wir Menschen sind oftmals von einer inneren Haltung getrieben, die sich eher um uns selbst kümmert und nicht um das Ganze. 43 denkraum 3 Die Teilnehmer/innen dieses Denkraumes haben sich die Süßigkeiten so herausgenommen, dass der/die letzte Teilnehmer/in eine echte Wahlmöglichkeit hatte. Zu diesen Fragen wurde gedacht und diskutiert Wie können wir dazu beitragen, dass sowohl wir, als auch unsere Organisation, als auch unser Klientel unseren/ihren Verantwortungsfokus erweitern? ■ Nachhaltiger Konsum oft schwierig zu vermitteln, da häufig teurer und für Klienten daher nicht machbar ■ Potentiale der Schüler/innen werden oft nicht genutzt (z. B. haben manche Schüler/innen viel Erfahrungen mit dem Anbau von Lebensmitteln und der Verarbeitung, diese werden in der Schule nicht nachgefragt und aufgegriffen) Wie drücken sich die vier Kompassrichtungen in Ihren Bereichen der Bildungs- und Sozialarbeit aus? Welche Beispiele aus Ihrer praktischen Arbeit können Sie den vier Kompassrichtungen zuordnen? Ökologische Nachhaltigkeit (Nature); Ökonomische Nachhaltigkeit (Ökonomie); Soziale Nachhaltigkeit (Soziales); Wohlbefinden (Wohlbefinden) ■ Gepa Kaffee verwenden ■ Projekte zum Thema Ernährung ■ Raum zur Verfügung stellen ■ Fachkräfte ausbilden ■ Jugendliche hin zu einem Schulabschluss begleiten ■ Gartenpflege wurde in Denkraum 3 gedacht und miteinander diskutiert 44 Weitere Gedanken ■ „Upcycling“(Wiederverwertung) ist auch im Rahmen der Theorien um eine Post-Wachstumsgesellschaft ein nötiges Thema ■ Oftmals wird die Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit als Verzichtsdebatte geführt. Wenn das Thema „Hip und trendy“ ist, ist es leicher anzunehmen. ■ „Do it Yourself“ Projekte werden durch das Internet verbreitet und regen zum Nachahmen an Ziele/Aktivitäten/Schlussgedanken ■ Mut zu kleinen Schritten ■ Bewusstsein herstellen über das, was alles schon getan wird und passiert (z. B. urban gardening) ■ Bestehende Projekte mit dem Instrument des Kompasses betrachten ■ Gerechtigkeit zwischen den Generationen und nicht nur untereinander ■ Nachhaltigkeit in die Jahresberichte aufnehmen ■ Die Organisationen sollten auch mit dem Instrument des „Kompasses“ betrachtet werden ■ Es braucht Leitlinien zu Nachhaltigkeit auf städtischer Ebene ■ Demokratie und Nachhaltigkeit gehören zusammen Moderation Esther Kaiser, pädagogische Koordinatorin im Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit in Frankfurt am Main e.V. denkraum 4 Denkraum 4 Die Bedeutung des systemischen Ansatzes für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Günther Emlein, Pfarrer an der Universitätsmedizin Mainz, Lehrender Supervisor der Systemischen Gesellschaft Denken und Kommunikation Der systemische Ansatz setzt die Unterscheidung von Denken (Bewusstsein) und Kommunikation voraus. Denken verlässt nicht den Denkraum. Systemisch gesehen, würde man vielmehr von einem Kommunikationsraum sprechen. Man kann nicht erfahren, was andere denken, man kann nur hören, was sie sagen. Das Gesagte ist nicht das Gedachte; Gedachtes geht in Gesagtes nicht über, sondern es ist etwas eigenes, vom Gedachten unabhängig. Andere, die an Kommunikation teilnehmen, beziehen sich auf Verlautbarungen, Geäußertes und Gesagtes, nicht auf Gedachtes. Der Beitrag des Systemischen für das Forumsthema ist der Blick auf Kommunikation statt auf Denken. Kommunikation – die große Unbekannte Kommunikation besteht aus Verlautbarungen, die auf andere Verlautbarungen – nie auf Denken – Bezug nehmen. Kommunikation hat daher eine eigene Dynamik. Niklas Luhmann interpretiert Kommunikation als die Zusammenschau dreier Selektionen: Information, Mitteilung und den Anschluss. Mit dieser Beschreibung ist etwas impliziert: Information liegt nicht in der Welt herum, sondern sie ist aus anderem ausgewählt, von anderem unterschieden. Dies und nicht jenes. Sie ist eine Wahl. Ist die Information gewählt, muss man die Form der Mitteilung selektieren. Wem und auf welche Weise wird die Information mitgeteilt? Zu dem Was der Kommunikation tritt das Wie der Kommunikation. Es kommt ein dritter, entscheidender Aspekt hinzu: Jemand muss ein Was und ein Wie einer Kommunikation aufgreifen. Dieses Aufgreifen kann Referent Günther Emlein man daran beobachten, dass etwas angeschlossen wird. Ohne Anschluss verfällt das Vorausgegangene, als wäre es nie gesagt worden. Erst dieser dritte Schritt macht Kommunikation zu Kommunikation. Was das Ereignis gewesen ist, klärt sich erst im Nachhinein – durch den Empfänger! Was die andere Seite tut, hat man nicht in der Hand. Kommunikation ist nicht berechenbar, sie steckt voller Überraschungen. Folgt man dieser Theorie, so kann man an Kommunikation auch kein Ziel ausmachen. Weder Konsens noch „mehr Demokratie“ sind Ziel von Kommunikation (Niklas Luhmann anders als Jürgen Habermas). 45 denkraum 4 Und wozu Systeme? Das Wort System kommt aus dem Griechischen und meint Einheiten, die zusammengesetzt sind. Aber nur solche Einheiten bezeichnet man günstiger Weise als System, in dem ein Prozess mit und zwischen den Elementen abläuft – eine Operation. Ohne Operation kein System. Bedeutungssysteme zeugen sich selbst weiter durch unentwegtes Rekrutieren von neuem Sinn, der angekettet wird und das System erhält. Das Weiterzeugen durch Anknüpfen ist deren Operation. Systemisch zu beobachten ermöglicht, aus der endlosen und unübersichtlichen Vielfalt der Welt sinnvolle Kombinationen und Relationen zu errechnen und hervorzuheben: Sinngehalte in Bezug zu anderen Sinngehalten, oft unter Beteiligung mehrerer Personen. Mit Dir rede ich nicht – oder doch? Ein vierter Aspekt von Kommunikation kommt hinzu. Kommunikation kann akzeptiert oder abgelehnt werden. Die Ablehnung bezieht sich nicht auf das Thema der Kommunikation (das wäre nur eine Meinungsverschiedenheit), sondern auf die Kommunikation überhaupt. Man weigert sich, seinerseits Beiträge zu leisten, damit Kommunikation weitergeht. Kommunikation kann als Ganze abgelehnt werden. Freiheit meint, anders sein zu dürfen, als die adressierende Seite es sich vorstellt. Die systemische Leitlinie für den Bereich der Bildung, der sozialen Arbeit und der Beratung heißt also: Sprich so, dass das Gespräch weitergeht bzw. ein weiterer Kontakt möglich bleibt. Sprich so, dass man Deine Auswahl an Themen und Mitteilungsformen akzeptabel findet. Es ist darum nicht zweckmäßig, Recht haben zu wollen. (In Organisationen ist dies natürlich anders: Dort gibt es Recht Habende, die sich nicht zur Disposition stellen müssen). Hat man die Vernunft oder die Moral (oder in Religion: „den“ Glauben) auf seiner Seite, fällt es schwerer, sich zur Disposition zu stellen. 46 Die Aufgabe systemischer Praxis: Beobachtung zweiter Ordnung Beratung, Bildung und soziale Arbeit regen Strukturveränderungen an. Dies ist sinnvoll, besonders wenn die Struktur eines Systems, der Kombinationsspielraum möglicher (innovativer) Anknüpfungen zu eng ist oder gar nichts zulässt: Eine Lösung für alle Probleme. Systemische Praxis beobachtet, wie die Klienten beobachten. Sie fragt nicht nach dem Warum eines Vorfalls, sondern nach dem Wozu. Systemische Praxis beobachtet, wie die Klienten beobachten. Sie beobachtet, dass die Welt, die die Klienten darstellen, eine Sichtweise ist, indem sie mitbeobachtet, welche anderen Möglichkeiten ausgeschlossen worden sind. Diese Praxis bringt die ausgeschlossenen Möglichkeiten ins Spiel. Systemische Praxis nimmt bestehende Verkettungen auf und fädelt Alternativen dazu, sodass die Klientel auswählen kann (und muss). Sie beobachtet Beobachtungsstrategien der Klienten als Lösungen und sucht nach Alternativen. Diese Arbeitsweise nennt die Systemtheorie Beobachtung zweiter Ordnung. Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet nicht Gegenstände, sie beobachtet stattdessen Beobachtungen, also Sichtweisen und regt an, bekömmlichere Sichtweisen zu entwickeln. Diese Art der Arbeit setzt voraus, dass wir nicht die Wahrheit haben. Hätten wir die denkraum 4 Wahrheit, so wären Bildung und Beratung überflüssig – es gäbe nichts mehr zu lehren oder zu beraten. Verstünden wir Bildung und Beratung als Hinführung zur Wahrheit (die wir schon haben), so handelten wir uns Fundamentalismus ein. Auch Diskurstheorien handeln mit Wahrheit, mit der Wahrheit der Vernunft: Jemand muss festlegen, wann ein Konsens „vernünftig“ und zu akzeptieren sei. Systemische Praxis führt genaue Einzelfallanalysen durch. Und sie sucht anschließend individuelle Lösungen, die nur auf diesen Einzelfall passen und auf keinen zweiten. Es gibt keine zwei Sinnsysteme, die sich gleichen. Die großen Mythen der Veränderung der Gesellschaft überlässt sie anderen. Zwei Leitlinien Diese Überlegungen lassen sich zusammenfassen in zwei Leitlinien. ■ Handele so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird (Heinz von Foerster). ■ Überlasse der anderen Seite die Wahl. Protokoll Die Diskussionsrunde eröffnet Herr Dr. Schrödter mit der Frage nach dem Provokationspotential des systemischen Ansatzes früher und heute und worin dieses begründet liegt. In Bezugnahme auf die Frage nach dem guten Leben erklärt Herr Emlein, dass es dieses unter Betrachtung einer konstruktivistischen Sichtweise per se nicht gäbe. Die Suche nach einer absoluten Wahrheit, auch im kirchlichen Sinne, sei unmöglich, da niemand beurteilen könne, wann diese Wahrheit wirklich vorliege oder eben, wann ein Leben gut sei. Dies sei immer nur auf subjektiver Ebene und in rückschauender Betrachtung an das Gewesene möglich. In Hinblick auf den Kontext von Sozialarbeit und Beratung wird die Frage diskutiert, wie direktiv und edukativ ein Eingriff in das untersuchte System erfolgen dürfe. Herr Emlein hebt hervor, dass hierbei weniger die Information als vielmehr die Art der Mitteilung von Bedeutung sei und vor allem das, was Klienten daraus für sich machten. Eine deutlich emotionalere Diskussion entfacht sich im Anschluss an die Frage, welche Rolle die eigene innere Haltung im Beratungsprozess spiele. Einigen Diskutanten erscheint die Vorstellung schwierig, dass die Haltung des Beratenden nicht indirekt auch Einfluss auf den Beratungsprozess ausübe. Herr Emlein stellt seinerseits die Klarheit und Präzision von Begriffen wie Moral, Haltung, Ethik in Frage. Bei deren Betrachtung sei es Aufgabe von Theorien, eine genaue Begriffsklärung dieser Konstrukte zu betreiben, da sie – unscharf verwendet – leer und beliebig auswechselbar seien. Dabei hinterfragt er wiederholt die Bedeutung der von den Diskussionsteilnehmern verwendeten Begriffe wie Haltung, ebenso wie die dann angeführten Begriffserklärungen der Diskutanten. Dies scheint bei einigen Teilnehmern zu leichtem Unmut und Verwunderung über dieses radikale Hinterfragen von Bedeutung zu führen. Herr Emlein entgegnet darauf, dass nicht zuletzt darin das Provokationspotential der systemischen Sichtweise begründet liege, da sie konventionelle Werte von Begriffen in Frage stelle. Bewertungen im Sinne einer inneren Haltung könnten sogar sehr destruktive Auswirkungen im Rahmen der Kommunikation haben, da sie schnell einsetzten und sowohl das Selbst als auch das Gegenüber einschränkten. Eine moralische Festlegung wirke wie ein Korsett, da es pauschal darüber entscheide, was gut sei und was schlecht. Nach dem Marquis de Sade könne eine schlechte Moral jedoch auch gute Folgen haben und umgekehrt. Abschließend beschreibt Herr Emlein den Therapie- und Beratungsprozess als ergebnisoffenen Prozess, der im evolutionären Sinne unplanbar sei. Nach diesem Kommunikationsmodell komme es letzten Endes auf den Anschluss an, also auf das, was dem Kommunizierten in finaler Konsequenz folge. Moderation PD Dr. Wolfgang Schrödter, Leiter des Evangelischen Zentrums für Beratung in Höchst des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt am Main 47 denkraum 5 Denkraum 5 Die Bedeutung der Menschenrechte für die innere Haltung in der ­Bildungs- und Sozialarbeit Prof. Dr. Sandro Bliemetsrieder, Fachbereich Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik an der Hochschule Esslingen Die Soziale Arbeit steht in der Gefahr, gesellschaftliche Verhältnisse zu dethematisieren und allein das Individuum dekontextualisiert in den Blick zu nehmen. So befinden wir uns derzeit in der Sozialen Arbeit wieder in einer Phase der Psychologisierung und Pädagogisierung sozialer Probleme, einhergehend mit einer Individualisierung und positivistisch anmutender Standardisierung von Professionalität (vgl. Seithe 2012: 66f). Seithe stellt fest, dass aufgrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen die Soziale Arbeit gezwungen ist, gleichermaßen die Menschenrechte mit der Idee der Menschenwürde und ein flexibles Menschsein mit ökonomischen Rationalitäten in den Blick zu nehmen (vgl. ebd.: 74). Die Organi- Referent Prof. Dr. Sandro Bliemetsrieder (links) 48 sationen stehen dabei vor der Herausforderung, fiskalische (Spar-) Ziele und Gewinnerzielungskriterien zu formulieren, während die Professionist_ innen immer häufiger die Rechte der Adressat_innen Sozialer Arbeit auch gegenüber dem eigenen Arbeitgeber vertreten müss(t)en (vgl. ebd.: 283). Diese Entwicklung verlangt nach einer professionellen Habitualisierung. Der professionelle Habitus ist das Potential, welches der Krisenhaftigkeit und Ungewissheit von Leben und seinen Praxen gegenüber gestellt werden und Sicherheit verleihen kann, um in eine offene Zukunft hinein etwas Förderliches und Eröffnendes zu tun (vgl. Müller, Becker-Lenz 2008: 26). Aus der Krisenhaftigkeit der Lebenspraxen entsteht vorrangig der Auftrag, um den in einer (auch öffentlichen) Antwortsuche gerungen wird. Für die im Kontext von Professionen anvertrauten bzw. sich anvertrauenden Menschen gilt es, Selbstbestimmung und Autonomie zu fördern, und zwar Verstehen suchend, achtend einerseits und orientiert an Werten und Normen konstruktive „Kritik an Staat und Gesellschaft“ (Mührel 2009: 35) äußernd andererseits. Im Fokus professionellen Handelns steht die Herstellung, Aufrechterhaltung und Gewährleistung der Integrität einer Lebenspraxis einer Person hinsichtlich Fragen der Gerechtigkeit, Körperlichkeit, Bildung und relativer Autonomie (vgl. Oevermann 2008: 59f). Eine sozialarbeiterische Ethik muss dafür vor allem induktiv und gleichzeitig deduktiv sein. Der universale Begriff der Menschenwürde, der von vielen Verfassungstexten zentral gesetzt wird, tritt für die Subjektivität von Wohlergehen ein und nimmt gleichzeitig auch überin- denkraum 5 dividuelle Verhältnisse der Gesellschaft mit in den Blick, in denen sich Wohlergehen einlösen lässt (vgl. Lob-Hüdepohl 2007: 122). Die Würde eines Anderen, in der Erfahrung des Anderen, leitet Lévinas ausgehend vom Antlitz des Anderen ab. Das Antlitz ist dabei metaphorisch die Transzendenz des mir begegnenden Subjektes, das mich ungeschützt und entwaffnet in die Verantwortung und Gerechtigkeitssuche hineinzieht, mit der impliziten Aufforderung, ihm nicht zu schaden. Die Verantwortung für den Anderen stellt damit die absolute Freiheit des Menschen in Frage. Aber gerade zur Verantwortungsübernahme kann sich der Mensch frei entscheiden (vgl. Gamm 2009: 265ff). Diese unendliche Verantwortung dem Anderen gegenüber wird nur in einer absoluten Unantastbarkeit des Anderen gerecht (vgl. Kapust 2013: 97). Die Menschenwürde beruht somit nicht auf Reziprozität, sondern der Andere ist für mich immer höher gestellt. Die Achtung der Menschenwürde ist das Grundmotiv Sozialer Arbeit, von der aus Individualität, Autonomie und Freiheit des Menschen entfaltet werden können. Das Ideal einer demokratischen Gesellschaft versucht gleichzeitig, sowohl die individuellen Freiheiten als auch die sozialen Pflichten für ein Ganzes in den Blick zu nehmen. Im Zentrum dieses aufgespannten Segels sieht Schumacher die Gerechtigkeit, die sowohl die menschliche Freiheit in den Blick nimmt, als auch für gerechtes Zusammenleben wirbt (vgl. Schumacher 2013: 147). Gerechtigkeit als Prinzip ist nur ausgehend vom Menschsein mit seinen (Grund-)Bedürfnissen und legitimen Wünschen ableitbar. Dieser Idee von (Bedürfnis-) Gerechtigkeit ist die Soziale Arbeit ganz und gar verpflichtet. Lob-Hüdepohl stellt fest: „Gerecht ist, was gleiche Rechte und Pflichten begründet, einen angemessenen Ausgleich von Leistung und Gegenleistung gewährleistet, für alle eine Mindestausstattung an Grundgütern sichert sowie strukturelle Ursachen von ungleich verteilten Beteiligungschancen an der gesellschaftlichen Entwicklung abbaut“ (Lob-Hüdepohl 2007: 129). Für ein solches Verständnis von Gerechtigkeit können die Menschenrechte orientierungsgebend und türöffnend sein (vgl. Schumacher 2013: 148). Sie sind historisch betrachtet „eine grundsätzliche Auslegung zum Selbstverständnis des Menschen“ (ebd.: 149) und stellen eine Liste sozialer, psychischer und physischer Konstitutionen dar und drücken sich in nachvollziehbaren Erfahrungen in einer spezifischen Gestalt aus. Die Menschenwürde und Menschenrechte stehen in einem Verhältnis von transzendental und immanent. Nur in diesem paradoxen Spannungsverhältnis abstrahiert und konkretisiert sich das Menschliche (Menschenwürde) und sein langer und schmerzhafter Ordnungsweg im Geschichtlichen (Menschenrechte) (vgl. Kettner 2006: 116f). Die Soziale Arbeit war in ihrer Geschichte auch erheblich an Missachtung und Verachtung von menschlicher Würde beteiligt. Diese eigene Miss­achtungsgeschichte (Euthanasie, Deportation, Kolonialismus, Rassismus) muss Soziale Arbeit permanent reflektieren (vgl. Lob-Hüdepohl 2007: 119f). „Die Forderung nach Respekt und Durchsetzung von unverletzbaren Menschenrechten eines Jeden ist zwingende Reaktion auf die millionenhafte Erfahrung beschädigten Lebens und angetasteter Menschenwürde, die auch im Namen sozialer Berufe geschehen konnte“ (ebd.: 121). Die Menschenrechte verzichten „auf prall gefüllte Ideale eines allseits gelingenden ‚guten‘ Lebens“ (ebd.: 122). Sie beschreiben vor allem die Bedingungen 49 denkraum 5 umhin, mit der Frage, ob sie sowohl für den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft Gerechtigkeit herstellen können (vgl. Lob-Hüdepohl 2007: 125f). Es stellt sich dabei auch die praktische, empirische und theoretische Frage, wie die normativ-ethische Orientierung an den Menschenrechten in konkreten unter ökonomischem Druck stehenden Verhältnissen fachlich-ethisch und auf die Bedarfe der Adressat­Innen und auf ihre Rechte bezogen argumentieren und durchsetzen lassen. Protokoll und Verhältnisse, in denen Menschen jenseits von Demütigung ihr Leben planen und verwirklichen können (vgl. ebd.). Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit sind keine normativen Automatismen für Handlungsvollzüge in der Sozialen Arbeit, sondern müssen immer wieder neu diskutiert werden: Leitfragen hierfür wären nach Lob-Hüdepohl „Wessen Menschenrechte werden durch die Arbeit berührt? Was bedeutet hier Orientierung an sozialer Gerechtigkeit?“ (ebd.: 115f). Soziale Arbeit stellt sich auf der Ebene der Profession Fragen, die über die Subjekte hinausreichen: Welche Institutionalisierung ist notwendig und hilfreich und welche eigenen Entscheidungen können und dürfen Professionist_innen treffen? (vgl. ebd.: 117). Dabei gilt es, paternalistische Anteile zu reflektieren und für Emanzipation und Partizipation einzutreten. Wenn wir als Ziele idealen professionellen Handelns Solidarität und Unversehrtheit einer Lebenspraxis in Fragen der Gleichheit und Teilhabe, Körperlichkeit, Bildung und Autonomie verstehen und die Professionen dafür eine induktive, reflexive (Berufs-)Ethik entwickeln, könnten die Menschenrechte auf ihren orientierungsgebenden Gehalt hin untersucht werden (vgl. ebd.), ohne dabei ihre Universalität und Unteilbarkeit aufs Spiel zu setzen (vgl. Oelschlägel 2013: 78). Die Geltung der Menschenrechte gilt es dabei nicht zu hinterfragen, doch wir kommen auch nicht um eine Beurteilung unterschiedlicher Konzepte gelungenen Lebens 50 Ergänzungen zum Impulsreferat ■ Statt „innerer“ Haltung besser: „professionelle“ Haltung ■ Standardisierung vs. Individualisierung ■ Partizipative Forschung statt forschen über KlientInnen (AdressatInnenblick) ■ Nur weil Menschenrechte für uns heutzutage selbstverständlich sind, dürfen sie nicht trivialisiert werden ■ Begriff „Menschenwürde“: Unantastbarkeit des Menschen, die nicht hinterfragt werden kann (eigene Verletzbarkeit bedeutet automatisch Verletzbarkeit des Gegenübers) Diskussion eispiel: Häusliche Gewalt – wie gehe ich damit B um? Unvereinbarkeit mit Menschenrechten. Gefahr der Kulturalisierung oder Religiösisierung! Stattdessen: verstehen/analysieren wie es dazu kommt, dass häusliche Gewalt stattfindet. Dann Auseinandersetzung, klare Positionierung, dabei bedenken: jeder Mensch möchte unversehrt bleiben! ■ Beispiel: Was ist, wenn ich meinen Klienten als Opfer sehe (z. B. in Flüchtlingsberatung)? Bin ich dann noch professionell? Manchmal ist es auch wichtig, das Opfer in den Fokus zu nehmen (viel zu oft Täter-Perspektive)! Immer Selbstbestimmung und Autonomie im Blick behalten! ■ denkraum 5 chtung des Privaten: was hat mein Gegenüber A für Vorstellungen? Bedürfnis nach Religiosität/ Spiritualität (Privatsache). Nicht mit meinen eigenen Maßstäben messen, sondern verstehen. ■ Unbehagen und Sorge ruhig mitteilen. ■ Eigene Ohnmacht zur Kenntnis nehmen (wir können nicht die Welt retten), dennoch können wir etwas tun, z. B. Traumatisierung ernst nehmen und darauf eingehen. ■ Fazit Kettner, Matthias (2006): Transhumanismus und Körperfeindlichkeit. In: Ach, Johann S.; Pollmann, Arnd (Hg.): S oziale Arbeit braucht normative Orientierungspunkte! Menschenrechte sind ein geeignetes Instrument dafür. Daneben ist es wichtig, sich an Individuen zu orientieren. ➔ Wechselwirkung Subjektbezogenheit/normative Ordnungen ■ Es ist ein ständiger Auseinandersetzungsprozess notwendig. Soziale Arbeit ist nicht per se „gut“ (Missachtungsgeschichte der Sozialen Arbeit kennen). Was sind meine Vorstellungen? Was will mein Gegenüber? ■ Immer die Menschenwürde im Blick behalten (aber auch wir selbst sind verletzbar)! ■ Kulturalisierung und Religiösisierung (Zuschreibungen) durch ständige Reflektion vorbeugen. ■ Klarer Standpunkt und Bewusstsein über theoretischen/normativen Hintergrund als Ausgangspunkt für Argumentationen und Handlungen. Was steckt hinter den Dingen? ■ Permanenter Diskurs notwendig! no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Moderation: Oevermann, Ulrich (2008): Profession contra Organisati- Maike Henningsen, Leiterin Arbeitsbereich Jugendhilfe on? Strukturtheoretische Perspektiven zum Verhältnis von und Täter-Opfer-Ausgleich im Evangelischen Regional­ Organisation und Profession in der Schule. In: Helsper, verband Frankfurt am Main Werner (u.a.) (Hrsg.): Pädagogische Professionalität in ■ Körper – Bioethische und ästhetische Aufrisse. Bielefeld, S. 111-130. Lob-Hüdepohl, Andreas (2007): Berufliche Soziale Arbeit und ethische Reflexion ihrer Beziehungs- und Organisationsformen. In: Lob-Hüdepohl, Andreas/Lesch, Walter (Hrsg.): Ethik Sozialer Arbeit. Ein Handbuch. Paderborn. Mührel, Eric (2009): Finanzkrise – Wirtschaftskrise – Soziale Krise. Akademischer und professioneller Habitus in Krisenzeiten. Sozialmagazin 7-8/2009, S. 29-35. Müller, Silke/Becker-Lenz, Roland (2008): Der professionelle Habitus und seine Bildung in der Sozialen Arbeit, Neue Praxis 1/08, S. 25-41. Oelschlägel, Christian (2013): Diakonie und Menschenrechte. Menschenrechtsorientierung als Herausforderung für diakonisches Handeln. Heidelberg. Organisationen. Neue Verhältnisbestimmungen am BeiLiteratur spiel der Schule. Wiesbaden, S. 55-77. Gamm, Gerhard (2009): Philosophie im Zeitalter der Extreme. Darmstadt. Schumacher, Thomas (2013): Lehrbuch der Ethik in der Sozialen Arbeit. Weinheim und Basel. Kapust, Antje (2013): Phänomenologie der Alterität: Emmanuel Lévinas. In: Gröschner, Rolf/ Kapust, Antje/ Lembcke, Seithe, Mechthild (2012): Schwarzbuch Soziale Arbeit. Oliver W. (Hrsg.): Wörterbuch der Würde. München, S. 96-98. Wiesbaden. 51 denkraum 6 Denkraum 6 Die Bedeutung des Diversity-Ansatzes für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Prof. Dr. Margitta Kunert-Zier, Fachhochschule Frankfurt am Main Referentin Prof. Dr. Margitta Kunert-Zier Ausgangspunkt für den Diversity-Ansatz, der die Gleichberechtigung von Verschiedenen meint, sind Kämpfe und Bewegungen gegen soziale Ungleichheit. Allen Bewegungen gemeinsam sind machtkritische Positionen. Sie fordern das Recht auf Individualität und freie Entscheidung über das je eigene Leben. Alle diese Bewegungen entstanden in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche. Sie sind gekoppelt an demokratische und emanzipatorische Utopien. Eine demokratische Gesellschaft sollte einen Zustand schaffen, in dem jeder „ohne Angst verschieden“ sein könne (Adorno 1969:130131). In der „Pädagogik der Vielfalt“ wird betont, dass es keine Gleichberechtigung ohne die Anerkennung von Verschiedenheit gäbe. Zentral ist das Betonen des gleichen Rechts von Verschiedenen auf Lebensglück (vgl. Prengel 1995: 186). Seit Jahren ist von etwa 20-25 % der Heranwachsenden die Rede, die einem Armutsrisiko unterliegen und gefährdet sind, dauerhaft gesellschaftlich ausgegrenzt zu bleiben (vgl. BMFSFJ 52 2013:220). Diese Heranwachsenden verfügen über einen geringen Bildungsstand und haben häufig einen Migrationshintergrund. Der Blick auf soziale Ungleichheit, die mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zusammenhängt, birgt die Gefahr der Stigmatisierung. Wir sehen einen Jungen mit Migrationshintergrund und gehen davon aus, dass er möglicherweise keinen Schulabschluss hat oder Hauptschüler ist, möglicherweise kriminell, auf jeden Fall benachteiligt ist. Der Blick auf das Individuum erfordert eine Haltung der absoluten Offenheit: „Ich bin nicht du und ich weiß dich nicht“ charakterisiert diese Haltung (Moeller 1986:11). Die Pädagogik der Vielfalt kennt deshalb keine Leitbilder z. B. über „richtige“ Mädchen oder Jungen“ (vgl. Prengel 1995:191). Sie fordert auch das Eingeständnis, nichts über die anderen zu wissen und fragend auf sie zuzugehen. Die Soziale Arbeit braucht Diversity-Kompetenz. Diese besteht aus Fachwissen, Handlungskompetenz und Selbstkompetenz und enthält immer private, professionelle und politische Dimensionen. Das „Private“ bedeutet, die eigene Haltung zu den Diversitätsdimensionen zu entwickeln und diese immer wieder selbstkritisch zu reflektieren. Das „Politische“ bedeutet, die Kenntnisse über die Zielgruppen, gesellschaftliche Strukturen, Ausschlussmechanismen etc. mit den subjektiven Aussagen der KlientInnen und der spezifischen Lebensweltorientierung abzugleichen. Das „Professionelle“ bedeutet, Fachwissen, Selbstkompetenzen und Handlungskompetenzen in ein gekonntes Zusammenspiel zu bringen und unterscheiden zu können, was eigene Reaktion auf den „Fall“ sind. denkraum 6 Diversitykompetenz kann sich nur entfalten, wenn diese drei Dimensionen bewusst sind und mit der eigenen Haltung zur Klientin oder zum Klienten in Einklang gebracht werden. Wenn es zu einer Selbstverständlichkeit wird, dass wir nicht wissen, wer der andere genau ist, was er oder sie denkt, fühlt, träumt oder anstrebt, entwickeln wir Offenheit gegenüber dem Anderen, freuen uns über Unerwartetes und Überraschendes. Wir gehen mit einer prinzipiellen Haltung der Neugierde auf Andere zu, und wir zollen jedem gegenüber Respekt. Wir versuchen, die Perspektive des Anderen einzunehmen und werden sensibel gegenüber unserer eigenen Perspektive. Wir brauchen aber auch Klarheit über unsere eigenen Werte, Ziele, Visionen. „Aus der Einsicht in die Kontingenz der eigenen kulturellen Identität entsteht Toleranz – kein förmliches Dulden des Fremden, sondern echter und selbstverständlicher Respekt vor anderen Arten, zu leben. Nicht, dass das immer leicht wäre. Besonders schwierig ist es dann, wenn das Fremde die eigenen moralischen Erwartungen verletzt. Was machen wir mit Grausamkeit, die uns in Rage versetzt, anderswo aber akzeptierter Bestandteil des Lebens ist? Bildung ist die schwer zu erlernende Kunst, die Balance zu halten zwischen dem Anerkennen des Fremden und dem Bestehen auf der eigenen moralischen Vision. Es gilt, diese Spannung auszuhalten: Bildung verlangt hier Furchtlosigkeit.“2 „Ich bin nicht Du und ich weiß Dich nicht.“3 Die Herausforderung ist, „die Balance zu halten zwischen dem Anerkennen des Fremden und dem Bestehen auf der eigenen moralischen Vision.“ Das funktioniert nur mit „Furchtlosigkeit“(Bieri 2005). Es geht also auch darum, Sicherheit darin zu gewinnen, welche Werte es zu schützen und zu verteidigen gilt. Das kann in der Sozialen Arbeit nur diskursiv geschehen. „Die Dimension der Gleichheit und die Dimension der Verschiedenheit […] sind unverzichtbar, denn Verschiedenheit ohne Gleichheit zu betonen hat Hie­rarchie zur Folge und Gleichheit ohne Verschiedenheit zu betonen hat Gleichschaltung zur Folge.“4 Im Anschluss an den Vortrag bekamen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer fünf Zitate vorgelegt: „Das Bildungsziel der Selbstachtung gilt für jede, für jeden, gilt darum immer für mich und für die Anderen. Selbstachtung und Anerkennung der Anderen gehen hervor aus der einen Haltung des Respekts, die das gleiche Recht auf Lebensglück für die Verschiedenen gelten lässt.“5 „Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre (…) die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte stattdessen (…) den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.“1 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden aufgefordert, sich in Kleingruppen jeweils zwei Zitate auszuwählen und unter folgenden Fragestellungen zu besprechen: 1. Was lösen die Zitate in mir aus? 2. Was bedeuten die Aussagen für meine Haltung zur Diversität? 3. Welche Fragen bleiben offen? Protokoll 1) 2) 3) 4) 5) Adorno (1969) Bieri (2005). Moeller (1986), S. 11. Prengel (2003). Prengel (2006), S. 185f. 53 denkraum 6 In der gemeinsam geführten Abschlussdiskussion wurden vor allem Beispiele besprochen. Dabei kristallisierten sich als besonders bedeutsam zwei Dinge heraus: ■ die Überzeugung, dass „ich dich nicht weiß“, man also dem Anderen möglichst offen und unvoreingenommen entgegentreten soll, ■ das Bewusstsein über die eigenen Werte und das Bestehen auf diesen. Der daraus resultierende Gegensatz erfordert die von Bieri konstatierte Furchtlosigkeit. Moderation Steffen Kurz, Sozialpädagogische Förderung und ­Jugendhilfeangebote in Schulen im Stadtschulamt ­Frankfurt am Main Literatur Adorno, Theodor Wiesengrund (2. Aufl. 1969): Minima Moralis. Reflexionen aus dem beschädigten ­Leben. Frankfurt a. M. Bieri, Peter (2005): Wie wäre es, gebildet zu sein? Festrede an der PH Bern am 4. Nov. 2005: www.hwr-berlin.de/ fileadmin/downloads_internet/publikationen/Birie_ Gebildet_sein.pdf. BMFSFJ. Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend: 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin. online abrufbar unter: www.dji.de/bibs/ 14-Kinder-und-Jugendbericht.pdf. Moeller, Michael Lukas (1986): Die Liebe ist ein Kind der Freiheit. Reinbek. Prengel, Annedore (2. Aufl. 1995): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen. Prengel, Annedore (2003): Gleichberechtigung der Verschiedenen – Plädoyer für eine Pädagogik der Vielfalt, In: Frühe Kindheit 6/03: Gleichberechtigung der Verschiedenen. Plädoyer für eine Pädagogik der Vielfalt, online 54 abrufbar unter: http://www.liga-kind.de/fruehe/603_ prengel.php. Prengel, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt, ­Opladen, S. 185 f. denkraum 7 Denkraum 7 Die Bedeutung der Kompetenzorientierung für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Dr. Klaus-Dieter Dohne, Screen Team und Culture Work, Göttingen Wer berät, begleitet, therapiert oder unterrichtet – egal nach welcher Schule, welcher Theorie oder welchem Modell er arbeitet – dem muss es gelingen, beim Gegenüber eine neue Aufmerksamkeitsfokussierung entstehen zu lassen. Und das funktioniert nur, wenn der Frontallappen des Gehirns aktiviert wird. Denn diese am stärksten entwickelte Region im gesamten Nervensystem eines Menschen ist das Kontrollzentrum schlechthin. Der Frontallappen filtert Interferenzen, fokussiert die Aufmerksamkeit und beruhigt den menschlichen Organismus immer dann, wenn dessen Sinneswahrnehmung überladen ist. Damit hält er den Organismus mit der äußeren und inneren Welt in Verbindung. Referent Dr. Klaus-Dieter Dohne Hypno-systemische Modelle sind bestens geeignet, um im Gespräch mit dem Klienten genau solche Bedingungen herzustellen bzw. zu fördern, die den Frontallappen unterstützen, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Ziele und Intentionen zu fokussieren – bewusst wie unbewusst, willkürlich wie unwillkürlich. Gelingt dies, spricht man von einem sogenannten Trancezustand, der sich durch fokussierte Aufmerksamkeit, erhöhte Impulskontrolle und größere Achtsamkeit im Handeln auszeichnet. In diesem Zustand kann der Frontallappen die „Lautstärke“ von parallelen Impulsen verringern (lowering the signal-to-noise-ratio), so können sich sowohl der motorische als auch der sensorische Cortex beruhigen. Der Organismus wird still und ist weniger agitiert. In einem solchen Zustand kann der Frontallappen helfen, aufkommende assoziative Gedankenmuster, die nicht zu der beabsichtigten Intention gehören, zu unterbrechen. Eine wesentliche Eigenschaft unseres Frontallappens ist, das zu bestimmen und zu bewerten, was aktuell mittels der Sinnesmodalitäten wahrgenommen wird (VAKOG). Deshalb kann der Frontallappen durch hypnotherapeutische Interventionen gezielt angesprochen werden, um eine Beruhigung und ein Gefühl von kontrollierter Sicherheit zu erzeugen. Die Kommunikationsangebote bzw. -einladungen durch einen Berater, Sozialarbeiter oder Therapeuten wie auch die Beziehungsgestaltungen können jetzt bewertungsfrei, ohne die Gefahr von Gesichtsverlust und ohne den Anschein von „schlauen“ Erklärungen für die Entwicklung von Lösungen genutzt werden. Hypno-systemische Interventionen konzentrieren sich genau auf diesen Aspekt. Wird dies nicht genügend berücksichtigt, werden keine eigenen, aus dem Inneren stammende Lösungen gefunden. Vielmehr werden Abwehrreaktionen und Widerstände beim Klienten aktiviert, denn dies ist ein Schutzmechanismus 55 denkraum 7 Moderatorin Miriam Schmidt-Walter gegenüber drohendem Autonomieverlust oder Abwertung. Autonomieverlust oder Abwertung verursachen heftige emotionale Reaktionen und starke innere Bewertungsprozesse, die parallel und unwillkürlich verlaufen. Die Folge sind starke sensorische Signale und Körperreaktionen bis hin zu biochemischen Veränderungen auf Neurotransmitterebene. Höchste Priorität des Organismus ist es dann, den eigenen Körper „in Sicherheit zu bringen“, deshalb reagiert er dann mit unwillkürlich ablaufenden Notfallprogrammen und Impulssteuerungen. Das Besondere an den sogenannten „Ericksonschen Modellen“ ist, dass sie besonders auf die bewusste Verwendung von Sprache und Sprachmustern achten, um nicht unbeabsichtigt innere Bewertungen zu induzieren. Denn die dadurch ausgelösten oben beschriebenen Schutzmechanismen haben zur Folge, dass Wahlfreiheit (choice), Absicht (intend) und Unabhängigkeit von äußeren Umständen nicht mehr möglich sind. In diesem Falle bleibt der Frontalappen inaktiv, die Steuerung übernehmen dann eingefahrene Emotionen, z. B. alte Glaubenssätze, Gewohnheiten und Muster. Eine systemisch-neutrale offene Haltung ohne Bewertung von Verhaltensweisen des Klienten ist also notwendig. Berater bzw. Therapeuten können diese umso leichter einnehmen, je weniger sie selbst in dieser Situation durch eigene stark wirksame unbewusste oder emotionale Bedürfnis- 56 se absorbiert sind. Als Beispiel sei hier genannt, dass professionelle Helfer oft – unbewusst und bewusst – ihre eigenen Bewertungen zu den Problemen oder Themen ihrer Klienten in die Kommunikation mit einbringen. Wenn also eine bestimmte Fragestellung als „schlecht“ und als „zu beseitigen“ bewertet wird, dann wird dieser Berater bzw. Therapeut versuchen, dieses entsprechend seinen Vorstellungen zu „lösen“. In einem solchen Fall bieten sich lineare Modelle und Vorgehensweisen als Mittel der Wahl an. Die Folge ist, dass die Lösungen unter Einsatz großer Energie und Überzeugungsarbeit (Kampf) dem Klienten von Außen nahegebracht wird. Die Bedeutung hypno-systemischer Modelle liegt also nicht nur in ihren vielfältigen Methoden und Techniken, sie legen in erster Linie die Basis für eine angemessene innere Haltung bzw. Einstellung für wirksame Interventionen. Protokoll efriedigung von Grundbedürfnissen B ■ Ausbalancieren der Ambivalenzen ■ Wahrnehmung der eigenen Metakompetenz ■ Umgebungsfaktoren ■ Selbstverantwortung ■ Selbstwirksamkeit ■ Eigene Gedanken mitteilen ■ Wie kann ich jemanden individuell erreichen z. B. durch Musik? ■ Einladung zum Querdenken ■ Metakompetenz (Geschichten erzählen) ■ Konsequentes Wegsehen von der Defizitorien­ tierung ■ Durchbrechen vorgegebener Muster ■ Hinterfragen von bestehenden Gedanken ■ Hinterfragen (Reflexion) von Gegebenen ■ Radikale Haltung: Kompetenzzuweisung ■ Nachhaltig sind nur selbstgefundene Lösungen ■ Ich bin gespannt, wie Du dich entscheidest ■ Moderation Miriam Schmidt-Walter, Geschäftsführerin im Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit in Frankfurt am Main e.V. denkraum 8 Denkraum 8 Die Bedeutung einer radikalen Individualethik – am Beispiel der ­Kulturphilosophie Albert Schweitzers – für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Dr. Gottfried Schüz, Vorsitzender der Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum, Frankfurt am Main Wenn von einer radikalen Individualethik in Verbindung mit Albert Schweitzer die Rede ist, wird man zunächst an dessen radikalen Schritt denken, den er vor 100 Jahren vollzog: Nachdem er ein komplettes Medizinstudium auf sich genommen hatte, gab er eine aussichtsreiche Doppelkarriere als Theologiedozent und Konzertorganist auf, um zusammen mit seiner Frau Helene im äquatorialafrikanischen Gabun auf dem Gelände der Missionsstation Lambarene ein Urwald-Spital aufzubauen. Ein humanitäres Aufbauwerk ohne Beispiel, einzig dadurch motiviert, nicht länger von der Religion der Liebe Jesu nur zu reden, sondern diese im Tun zu verwirklichen. Gleichwohl ist Schweitzers radikale Individualethik nicht auf dem Boden seines christlichen Glaubens, sondern einer fundamentalen Kulturkritik erwachsen. Im Zuge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts sah er einen ethisch-geistigen Verfall der Kultur und zunehmende Unmenschlichkeit um sich greifen. Der Erste Weltkrieg war für ihn die notwendige Folge dieses ethisch-geistigen Niedergangs der Moderne. Auch in den Aufbaujahren seines Spitals ließ Schweitzer nicht mehr die Frage los, wie eine von Grund auf tragfähige ethisch-geistige Erneuerung der Menschheit erfolgen könnte. Der Weg zu einer Kulturerneuerung und einer Ethik, die sich über alle nationalen und weltanschaulich-religiösen Grenzen hinweg als tragfähig erweist, lag für Schweitzer nicht in einer Erneuerung gesellschaftlicher Zustände. Eine Erneuerung Referent Dr. Gottfried Schüz der Kultur im ethischen Geist ist für Schweitzer stattdessen nur über neue Gesinnung zu erreichen, die vom Humanitätsideal durchdrungen ist. Diese ist in mehrfacher Hinsicht radikal-individual: 1. Sie geht an die Wurzeln des Menschseins. Sie kann nicht einfach normativ verordnet werden, sondern sie erschließt sich nur demjenigen, der nüchtern und wahrhaftig über sein grundlegendes Verhältnis zu anderem, ihn umgebenden Leben nachdenkt. Dabei muss er sich mit einer Grundtatsache des Bewusstseins auseinandersetzen, die niemand leugnen kann: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“. 57 denkraum 8 Der über diese Tatsache nachdenkende Mensch kann nicht anders, als nicht nur den eigenen Willen zum Leben bzw. die eigene Lebensbejahung, sondern auch die Lebensbejahung, die sich in dem vielgestaltigen Leben um ihn herum zeigt, mitzuerleben und in gleicher Weise anzuerkennen wie die eigene. Wir erleben aus dieser Tatsache geradezu die „Nötigung“, allem Leben die gleiche „Ehrfurcht“ entgegenzubringen. 2. Zugleich ist diese Ethik „radikal“ im Blick auf den Anspruch ihrer universellen Gültigkeit: Allem Leben ist mit gleicher Ehrfurcht zu begegnen. Sie lässt keinerlei Wertunterschiede zwischen den Lebewesen, gleich welcher Art oder Organisationsstufe, gelten. „Wer von uns weiß, welche Bedeutung das andere Lebewesen an sich und im Weltganzen hat? Die Konsequenz dieser Unterscheidung ist dann die Ansicht, daß es wertloses Leben gäbe, dessen Vernichtung erlaubt sei. Je nach den Umständen werden dann unter wertlosem Leben Insekten oder primitive Völker verstanden.“ So einfach der vorstehend zitierte ethische Grundsatz auch klingt, so schwer ist er im Ein- 58 zelfall umzusetzen; ja er führt uns buchstäblich auf Schritt und Tritt in unentrinnbare Konflikte hinein. Wir kommen nämlich fortgesetzt in die Lage, eigenes Leben nur auf Kosten anderen Lebens erhalten zu können und dadurch an anderem Leben „schuldig“ zu werden. Dies beginnt schon beim Waldspaziergang, bei dem unter unserer Sohle Ameisen, Insekten und andere Kleinlebewesen vernichtet werden. Oder denken wir nur an die gigantische Zerstörung von Lebensraum für Menschen, Pflanzen und Tiere im engeren und weiteren Umkreis, den moderne Industriegesellschaften zur Erhaltung und Steigerung ihres Lebensstandards billigend in Kauf nehmen; eine Vernichtung von Leben, deren Ausmaß selbst Schweitzer nicht kannte. 3. Eine solche Ethik, die Konflikten nicht ausweicht, ist „radikal“ auch im Blick auf seine absolute Geltung. Die Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben wirft uns geradezu in eine „erschreckend unbegrenzte Verantwortung“. Sie kann nicht anders als alles menschliche und nichtmenschliche Leben, wo immer es uns möglich ist, zu erhalten und zu fördern. denkraum 8 Diese Ethik verabschiedet sich von glatten Lösungen, die nicht wenige Zeitgenossen in klaren Regeln, in einer objektiv abgestuften Wertehierarchie und daraus ableitbaren Handlungsanweisungen suchen. Ich muss in jeder Situation neu abwägen, inwieweit ein Schädigen oder Töten anderen Lebens unabweisbar notwendig ist, um Leben zu erhalten. Schweitzer hat die Ethik von jeglicher normativer Bevormundung befreit. Als einzigen Maßstab lässt er die Ehrfurcht vor dem Leben gelten. Sie ist der einzig verlässliche, absolut und universell gültige „Kompass“, der unserem frei verantwortlichen Entscheiden und Handeln Orientierung geben kann. 4. In dieser Perspektive ist auch das Verhältnis der persönlichen Verantwortung des Einzelnen zu seiner überindividuellen, gesellschaftlichen Verantwortung zu sehen. Wir unterliegen der Versuchung, unser ethisches Empfinden unter dem Druck der kollektiven Verantwortung zu relativieren. Damit aber laufen wir Gefahr, so Schweitzer, unmerklich in eine „Pseudoethik“ abzugleiten. „Geistige Macht haben wir nur, wenn die Menschen uns anmerken, daß wir nicht kalt nach ein für allemal festgelegten Prinzipien entscheiden, sondern in jedem einzelnen Falle um unsere Humanität kämpfen“. Nur dann, wenn wir im Dienste der Gesellschaft stehend nicht als „Vollstrecker allgemeiner Inte­ ressen“, sondern aus der Gesinnung der Humanität handeln, lässt sich eine ethische Kultur begründen. Auch hier muss jeder von Fall zu Fall ermessen und selbst verantworten, wie weit er den Zwang der Notwendigkeit gegeben sieht, gesellschaftlichen Forderungen zu folgen oder was er an seiner Menschlichkeit bewahren kann. Nur eines sollten wir nicht erwarten: Dass die Gesellschaft kraft institutioneller Machtvollkommenheit von sich aus Humanität verwirklicht. Staat und Gesellschaft können für eine „freie Kultur“ nur förderliche Rahmenbedingungen schaffen; aber gemacht werden kann sie nicht. Eine Humanisierung der Lebensverhältnisse ist nicht von oben, durch institutionelle oder gesetzliche Regularia, zu erreichen, sondern kann nur von unten, nur über die vielen Einzelnen, die von der ethischen Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben erfüllt sind, erwirkt werden. 59 denkraum 8 Protokoll Gemeinsam stellen wir fest, dass die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben unbedingt und unerbittlich ist. Sie stellt den Menschen in seinem Verhältnis zu anderen Menschen, aber auch zu Tieren und zu Pflanzen in eine theoretisch unbegrenzte individuelle Verantwortung. Diese grenzenlose Verantwortung gegen alles, was lebt, zeigt eine begehbare Richtung auf, um eigene Entscheidungen zu ermöglichen und zu rechtfertigen. Es bleibt aber immer die Frage, ob nicht die andauernde Notwendigkeit, individuell zu entscheiden, wann ich zum Beispiel töte und wann nicht (z. B. bei der Nahrungsgewinnung oder bei Blumen) oder wann ich fördere und wann nicht, zu einer kompletten Überforderung des Einzelnen führen könnte. Jeder einzelne muss in jedem einzelnen Fall erneut abwägen, ob er schädigt oder nicht schädigt, ob er unterstützt oder nicht unterstützt usw. Wie kann ich zudem mit einem permanenten und nicht auszuweichenden „Schuldigwerden“ umgehen? Reicht es hier, dass ich zwischen einer nicht egoistischen und einer egoistischen Schuld unterscheide? Und wenn die Ursache für das moralische Handeln alleine im Menschen begründet ist, kann ich denn davon ausgehen, dass hier der von Schweitzer postulierte Wille zum Leben ausreicht, damit ethisches Handeln entsteht? Wenn die Gesellschaft nicht der ethische Erzieher sein kann, stimme ich dann Albert Schweitzer zu, dass Kultur nicht durch die Neuorganisation der Gesellschaft, sondern nur über den Einzelnen organisiert werden kann? Das Ethische kommt durch die vielen einzelnen zustande, sagt Schweitzer. Wenn aber alle Handlungen über Märkte und Normen geregelt werden, wo bleibt dann überhaupt der Raum für individuell motiviertes moralisches Handeln? Wie kann ich einer Fremdbestimmung entgehen und wie kann ich die Freiheit der eigenen Entscheidung immer gewähren? Setzt dies nicht auch voraus, dass man davon überzeugt ist, dass der Mensch von Grund auf gut ist? Ist in allem Leben ein Wille zum Leben vorhanden, der mit dem eigenen Willen zum Leben identisch ist? Kann ich in 60 ethischen Fragen vom Sein (von den Fakten) auf das Sollen (Moral und Ethik) schließen? All dies führte uns immer wieder zu der Feststellung, dass in Albert Schweitzers Ethik immer dem freien Willen des Einzelnen die Ehrfurcht vor dem Leben vorsteht und dass der Schuldbegriff eine voreilige Gewissensberuhigung verhindert. Überlegungen zur Umsetzung dieser Ethik in unserem Beruf und unserem Privatleben bedeuten immer eine Form der absoluten Rücksichtnahme auf die Existenz und das Glück von Mensch und Tier und eine Rücksichtnahme im Umgang mit pflanzlichem Leben. Die Gruppe konnte in Schweitzers Ethik eine lebensbejahende Ethik finden, die die Möglichkeit einer Basis für unser professionelles Handeln in sich tragen kann. Aus der Schlussrunde seien einige Rückmeldungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zitiert: „Die eigene Haltung im Sinne von Gleichwertigkeit aller Wesen und Achtsamkeit dem Leben gegenüber kann viel (Gutes) bewirken. Es lohnt sich immer.“ „Aus Ehrfurcht vor dem Leben erwächst Verantwortung gegenüber allem, das lebt. Diese Verantwortung macht nicht Halt vor nationalstaatlichen Grenzen. Das Leid der Menschen dieser Welt ist auch mein Leid.“ „Aus Ehrfurcht vor dem Leben, das nicht ich produziere, sondern das mir von Gott geschenkt wird, sollte ich meine innere Haltung stets hinterfragen und stets vor Resignation zu schützen versuchen.“ „Eine innere Haltung ist dann überzeugend, wenn sie auch äußerlich zu spüren ist“ Moderation Bernd Ackermann, Geschäftsführer im Evangelischen ­Verein für Jugendsozialarbeit in Frankfurt am Main e.V. denkraum 9 Denkraum 9 Die Bedeutung von Inklusion für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Dr. Thomas Ebers, 423 Institut für Angewandte Philosophie und Sozialforschung, Bonn Die philosophisch-ethische Herausforderung, um die es in der Inklusion geht, wird verfehlt, wenn Inklusion bloß als Fortsetzung von Integration gefasst wird. Beiden Konzepten liegen vielmehr grundlegend unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit zugrunde. Diese Vorstellungen finden sich im aktuellen philosophischen Gerechtigkeitsdiskurs wieder. Mit der gesellschaftlichen Debatte um Inklusion wird die Frage gestellt, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Thesen zum Wechsel von der Integration zur Inklusion Was ist die „innere Haltung“? ■ Haltung ist nicht Gewohnheit (wiederholtes Tun). ■ Haltung ist nicht Habitus (gemeinschaftlich wiederholtes Tun). ■ Hatung ist nicht Contenance bewahren in schwierigen Stuationen oder eine Art „geistiges Strammstehen“. Innere Haltung meint das bewusste, reflexive Einnehmen einer Art und Weise, die umgebende Welt und die Menschen wahrzunehmen und antwortend Stellung zu beziehen. „Haltung“ enthält „Halt“, verspricht Stabilität. Verfestigung der Haltung birgt aber die Gefahr, Möglichkeiten auszuschließen. Aus diesem Grund der Begrenzung hat der Philosoph Karl Jaspers das Scheitern als notwendige Bedingung echter Existenz gefasst. Im Sinne Jaspers kann ganz generell festgestellt werden: Erst die Haltung einer revi- Referent Dr. Thomas Ebers sionsoffenen Haltung ist der Punkt, von dem aus der Welt offen entgegengetreten werden kann. These 1: Inklusion bedeutet (oder auch: erfordert) gegenüber dem Konzept der Integration eine Revision der inneren Haltung. Gegenposition: ■ Der begriffliche Wechsel von Integration zur ­Inklusion ■ ist bloßes Ergebnis der Übersetzung aus dem Englischen; ■ ist ein bloß aufmerksamkeitsheischender Etikettenwechsel; ■ ist die Anpassung an modisch politisch-korrekte Semantik. 61 denkraum 9 Wenn es sich um einen bloßen Streit um Begriffe handelt, warum wird aber dann Inklusion öffentlich kontrovers diskutiert? These 2: Inklusion wird erst in der breiteren Öffentlichkeit diskutiert, seitdem es um den Umbau des Schulsysems geht. Es geht nun um die Aufmerksamkeits­ ökonomie: Verteilung der Aufmerksamkeit der Lehrpersonen (knappes Gut) und somit auch um die Fragen nach Besitzständen und der gerechten Verteilung der Aufmerksamkeit von Lehrpersonen. Mit der Frage nach Gerechtigkeit ist eine Spur hin zum grundlegenden Unterschied zwischen Integraton und Inklusion gelegt. These 3: Inklusion fehlt häufig eine theoretische Grundlage: Der Unterschied zwischen Integration und Inklusion ist in der aktuellen philosophischen Gerechtigkeitsdebatte zu fundieren. These 4: Integration knüpft an die Vertragstheorie an, wie es John Rawls in seiner Konzeption von Gerechtigkeit wieder aufgenommen hat: Gleiche unter Gleichen - dies ist gewissermaßen die Urexklusion. These 5: Inklusion gründet theoretisch eher in der Kritik an der Vertragstheorie wie sie von Martha Nussbaum vorgetragen wird. Sie zielt nicht auf eine parternalistische Berücksichtigung, sondern auf eine gleichberechtigte Beteiligung aller. Ungleiche unter lauter Ungleichen, die nur in ihrer Ungleichheit gleich sind – dies ist gewissermaßen die Urinklusion. Die Urinklusion beinhaltet zweierlei: These 6: Inklusion wendet sich gegen eine paternalistische Fürsorgeethik. Nächstenliebe etc. sind selbstverständlich keine Gegensätze zur Inklusion, können aber den Anspruch nicht ersetzen. 62 These 7: Die Umstellung vom gesellschaftlichen Leitwort Integration auf Inklusion erweist sich vor dem Hintergrund der philosophischen Gerechtigkeitsdebatte als Wandel vom Lob der Gleichheit hin zu einem Lob der Ungleichheit. Hierin besteht der angedeutete Wandel in der inneren Haltung. These 8: Mit dieser Umstellung ist zugleich die Frage gestellt, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Inklusion stellt die Frage nach dem Selbstverständnis einer Gesellschaft. (Fraglich etwa ist der Leistungsbegriff.) These 9: Die Inklusion wird gesellschaftspolitisch als zu anspruchsvoll befunden und deswegen als bloße Illusion auf dem Altar der gesellschaftspolitischen Realpolitik geopfert. Hier werden Beharrungstendenzen deutlich. These 10: Inklusion bedeutet ein Fortschritt hin zu mehr Menschenrechten und ist keine utopisch-illusionäre Zukunftsvision. Zwar enthält Inklusion als Konzept utopische Momente. Es kommt darauf an, diese als regulative Ideen zu nutzen. Protokoll Was war Ihnen in diesem Denkraum zur Bedeutung der Inklusion für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit am Wichtigsten?1 iderspruch: individueller Rechtsanspruch – W ­Inklusion? ■ Herausforderung ■ Die Zukunft ist der grundsätzliche Wandel ■ Attitude is everything ■ Yes, we can! ■ Wir brauchen eine Gleichheit aller, die die ­Ungleichheit des Einzelnen berücksichtigt ■ Lob der Vielfalt ■ Demut ■ denkraum 9 I nklusive Arbeit braucht neue Normen Wer nicht inkludiert, der exkludiert in jedem Fall ■ Vielfalt ist die Norm! ■ „In welcher Gesellschaft willst du/wollen wir leben?!“ ■ Lob der Ungleichheit ■ Inklusion statt Integration ■ Das Spannungsverhältnis Integration/Inklusion ist gering! ■ Wir sind alle gleich durch unser Anderssein ■ Unterschied zwischen Integration und Inklusion liegt in der inneren Haltung ■ Blick erweitern ■ Inklusive Gesellschaft als pointilistisches Bild ■ Teilhabe ermöglichen ■ ■ dass Inklusion nur umsetzbar ist, wenn … entsprechende innere Haltungen entwickelt werden ■ Lob der Ungleichheit ■ Ungleichheit als Bereicherung ■ Inklusion in den Köpfen verankern. Der Mensch begegnet dann Menschen frei von „Vor“-Urteil. ■ Die innere Haltung ist eine grundlegende Ressource, die als solche gesellschaftliche Ressourcen freisetzen wird! ■ Inklusion ist die Fortführung der Menschen­ rechte, KEINE UTOPIE ■ Moderation Petra Zender, Pädagogische Grundsatzplanung im Stadtschulamt Frankfurt am Main 1)Die folgenden Aussagen wurden von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Ende des Denkraumes auf Karten notiert und nicht weiter diskutiert 63 denkraum 10 Denkraum 10 Die Bedeutung der Thesen von Martha Nussbaum zu Demokratie und ­Bildung für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Prof. Dr. Ute Gahlings, Institut für Praxis der Philosophie und Fachbereich Philosophie, Technische Universität Darmstadt Moderatorin Dr. Christiane Wessels und Referentin Prof. Dr. Ute Gahlings In Paragraph 26.2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 wird von der Bildung gefordert, dass sie „auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein“ muss. Die dazu erforderliche innere Haltung kann man mit Edith Stein als Ethos bzw. Berufsethos bestimmen, das an Werten orientiert ist. Daraus ergibt sich der Habitus, nach Pierre Bourdieu ein System von Dispositionen und inkorporierter Erfahrung. Für Martha Nussbaum erhält die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit eine moralische Qualität, wenn sie sich auf den Menschen als ein Wesen richtet, das fä- 64 hig ist, ein gutes Leben zu führen, zumindest den Wert eines guten Lebens anzuerkennen. Das Vorhandensein der menschlichen Fähigkeiten begründet den moralischen Anspruch auf ihre Entfaltung. Dieser Anspruch richtet sich an andere Menschen und insbesondere, wie Aristoteles es sah, an die Regierung. Was aber, wenn andere Menschen und Regierungen den Menschen nicht als ein Wesen begreifen, das die so reichhaltig besetzte Fähigkeit zu einem guten Leben hat, so z. B. die Fähigkeit zu lachen, zu spielen, sich an erholsamen Tätigkeiten zu erfreuen? Was, wenn sie den Menschen als ein Wesen denkraum 10 betrachten, das der Wirtschaft dienlich sein und Profit abwerfen soll, damit es im Produktionsprozess ein Garant für Wirtschaftswachstum bleibt? Dann wird man mehr und mehr darauf verzichten, Bildungsformen anzubieten, die den Reichtum menschlicher Fähigkeiten entwickeln. Man wird für die Wirtschaft ausbilden, statt den Menschen zu bilden und die „volle Entfaltung“ seiner Persönlichkeit zu fördern. In der Folge davon werden bestimmte Denkweisen wie Zweckrationalität und Profitorientierung in den Vordergrund treten und bestimmte Fähigkeiten, wie z. B. diejenige zu einem respektvollen Zusammenleben, verkümmern. Bezeichnenderweise ist diese Entwicklung aktuell sogar in den Gesellschaften der so genannten ersten Welt in vollem Gange: Geistes- und kulturwissenschaftliche, musische und künstlerische Fächer werden auf allen Stufen des Bildungswesens zusammengestrichen; Naturwissenschaften, Technologie- und Wirtschaftswissenschaften treten an ihre Stelle. Im Bereich der öffentlichen Mittel werden die Ausgaben für Kultureinrichtungen wie Theater, Musik, Literatur, gemeinnützige Vereine etc. radikal gekürzt. Die weltweite Wirtschaftskrise wird begleitet von einer lautlosen Krise, der Bildungskrise, die nach Nussbaum gravierender und dramatischer ist als die Krise der Ökonomie. Ihre Streitschrift „Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht“ ist ein leidenschaftliches Pamphlet gegen die zunehmende Ökonomisierung der Bildung und ruft zum Widerstand gegen ein Bildungssystem auf, das in Zukunft nur noch „Generationen nützlicher Maschinen“ hervorbringt. Für Nussbaum braucht Demokratie weniger gut funktionierende, als vielmehr mündige, offene, neugierige, nachdenkliche und phantasievolle Menschen. Kunst, Musik, Literatur, Philosophie sowie geistes- und kulturwissenschaftliche Bildung sind von großer Bedeutung für ein demokratisches Bewusstsein und damit im Weiteren für die moralische Integrität von Individuen, weil in ihnen sowohl Empathie als auch Kritikfähigkeit mobilisiert werden. Es geht um die Kultivierung von Gefühlen und Kognitionen, um innere Haltungen zur Welt, zu sich selbst, zu Anderen. Wirtschaftswachstum funktioniert auch in Ländern, die Menschenrechte missachten und undemokratisch geführt werden. Den Markt interessiert die politische, religiöse oder moralische Orientierung einzelner Menschen und Staaten nicht, es zählen nur Kaufkraft und Kapitalmacht. Nussbaum schreibt: „Pädagogen, die nur Wirtschaftswachstum im Blick haben, ignorieren die Kunst nicht nur, sondern fürchten sie. Denn gut entwickelte Empathie ist ein besonders gefährlicher Feind der Stumpfheit, und moralische Stumpfheit ist notwendig, um ökonomische Entwicklungsprozesse zu organisieren, die sich um Ungleichheiten nicht scheren. Es ist leichter, Menschen als manipulierbare Objekte zu behandeln, wenn man nie gelernt hat, sie anders zu sehen.“ (Nussbaum 2012, S. 38) Um sie anders zu sehen, muss man gelernt haben, was es bedeutet, Mensch zu sein und ein gutes Leben zu führen. Um sie anders zu sehen, muss man gelernt haben, Perspektiven zu wechseln, sich in andere einzufühlen, Kritik zu üben und auszuhalten etc. Diese Fähigkeiten werden nicht durch die Rationalitätsformen der Natur-, Technik- und Wirtschaftswissenschaften gefördert, sondern durch Kunst, Literatur, Musik und Philosophie etc. Wenn wir moralisch am Subjekt ansetzen, dann gehört zur Bildungsarbeit nicht nur das Expertenwissen für den Beruf, sondern ein Berufsethos, das von humanistischen Werten geprägt ist. Eine nachhaltige Humanisierung der geographisch und moralisch entgrenzten Wirtschaftsbeziehungen kann nur erreicht werden, wenn wir die Menschen in ihrer Fähigkeit stärken, moralische Wesen zu werden und zu bleiben. Nussbaum bezieht sich in ihrer Streitschrift auf große reformatorische Persönlichkeiten wie Sokrates im Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr., der das Selbstdenken und den sokratischen Diskurs einforderte, oder Rabindranath Tagore zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der in seiner „Lebensschule“ großen Wert auf Tanz, Spiel, Musik, Kreativität, Literatur und Theater legte. Für das wirtschaftliche Fortkommen des Einzelnen und des Landes scheinen solche Bildungsinhalte wenig lukrativ zu sein, für das demokratische Leben indes sind sie unabdingbar, weil sie die Menschen 65 denkraum 10 als fühlende und selbstständig denkende Subjekte fördern. Es sind nicht die Kompetenzen der Wirtschaftsakteure, die eine lebendige Demokratie und ein respektvolles Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft ermöglichen. Letztlich aber – und das ist Nussbaums besondere Pointe – wird eine moralisch integere Gesellschaft auch für eine vernünftige Wirtschaftsordnung und ein gesundes Wirtschaftswachstum sorgen. Die Wirtschaft wird also langfristig sogar von der humanistischen Bildung einer Gesellschaft profitieren. Das wiederum hätte positive Effekte auch auf die weltwirtschaftliche Rahmenordnung, die derzeit vom Finanzmarkt-Kapitalismus dominiert wird. Innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit bedeutet mithin auch, dass die Bildungsakteure sich nicht selbst darauf reduzieren, Wirtschaftsakteure zu sein, und dass sie den Menschen mit einer Haltung und einem Bildungsprogramm begegnen, das Empathie und Kritikfähigkeit fördert. Die innere Haltung ist auf die Fähigkeiten und auf die Beziehungsfähigkeit von menschlichen Subjekten zu richten, und nicht auf die instrumentelle Zweckdienlichkeit von Menschen als Objekte unter Objekten. 66 Protokoll Ausgangsfragen 1.Welche eigenen Bildungserfahrungen bringen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit? 2.Welche Bedeutung haben diese Erfahrungen für ihre professionelle Haltung? 3.Was heißt „gutes Leben“ und welche Rolle spielt Bildung dabei? Im Anschluss an den Input von Prof. Dr. Ute Gahlings wurden insbesondere die folgenden Aspekte diskutiert: Nussbaums Kritik an der zunehmenden Ökonomisierung der Gesellschaft, die sie für die USA und Indien äußert, wird auch für die Situation in Deutschland weitgehend geteilt. Das gilt ebenso für ihre Forderung, den Geisteswissenschaften wieder mehr Aufmerksamkeit zu widmen und die Rolle der Bildung in Bezug auf Kritikfähigkeit und Empathie von Individuen zu betonen. Hier wird insbesondere auf die Bildungstraditionen in Deutschland verwiesen, an die sich sehr gut anknüpfen lässt, z. B. die humanistische Bildung und die Reformpädagogik. Kritisch wird insbesondere der so genannte Bolognaprozess gese- denkraum 10 hen, der zu einem verengten Bildungsverständnis geführt habe. Beobachtet wird, dass das Prinzip der Nutzenmaximierung inzwischen auch das Denken im Bildungsund Sozialbereich bestimmt. Bemängelt wird eine fehlende Wertschätzung der menschlichen Fähigkeiten in ihrer Breite – wie sie Nussbaum in ihrem Capabilitiy Ansatz beschreibt. Es reicht z. B. nicht aus, immer mehr Wissen anzuhäufen, Wissen muss auch berühren! Die Einrichtung eines neuen Schulfachs mit dem Inhalt „Emotionale Entwicklung und soziale Intelligenz“ könnte sinnvoll sein. Zudem drohen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zu „Sozialklempnern“ zu werden, wenn sie nur noch Vorgaben zu erfüllen haben. Ferner erscheint eine Generalkritik am Schulsystem, wie sie in der öffentlichen Debatte häufig geäußert wird, wenig hilfreich, da Schule als Teil eines Systems kritisch in den Blick genommen werden muss. Kritisch gesehen wird auch die Dienstbarmachung der Philosophie für die Ökonomie. Wie lässt sich trotz aller Widersprüche eine innere Haltung in der professionellen Arbeit gewinnen? Gahlings weist hier auf die Rolle der praktischen Philosophie hin, die zur „Selbstkultivierung“ von Menschen beitragen will. Das bedeutet, „einen Stand zu gewinnen“, sich selbst ernst zu nehmen, Grenzen wahrzunehmen, aber auch neugierig zu bleiben und mitunter etwas zu riskieren. Beispielhaft wird die Frage nach der „Selbstkultivierung“ in der Migration besprochen, deren Gelingen von der Bedeutung der Sicherung der Grundbedürfnisse, so auch Nussbaum, elementar abhängig ist. Beispiel des Singens im Chor widerspricht diesem Einwand, weil es gerade deutlich machen soll, wie mit relativ niedrigschwelligen Angeboten zur Partizipation, Menschen aus unterschiedlichen Milieus erreicht werden und zu besonderen Leistungen gebracht werden. Nussbaum formuliert im Capability Ansatz Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit alle Menschen die Möglichkeit haben, ein gutes Leben zu führen. Ein Fazit des Workshops Begrüßt wurde von den Teilnehmenden die Möglichkeit zum ergebnisoffenen, quasi zweckfreien Austausch über bildungsbiographische und berufliche Erfahrungen. Es wurden viele Fragen angerissen, die man gerne noch einmal vertiefen würde, so z. B. die Frage nach der inneren Haltung des Arbeitsgebers, oder allgemein formuliert der inneren Haltung von Institutionen. Fragen von Individual- und Institutionenethik wären hier besonders interessant. Moderation Dr. Christiane Wessels, Referentin im Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung des Zentrums Bildung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau Literatur Martha Nussbaum (2012): Nicht für den Profit! ­ Warum D ­ emokratie Bildung braucht, TibiaPress Verlag, ­Überlingen. Kritik wird an Nussbaums allzu starker Betonung der Geisteswissenschaften, insbesondere der Philosophie geübt. Ist damit nicht auch eine Abwertung z. B. von handwerklichen Tätigkeiten verbunden? Sollten jetzt alle Menschen studieren und sich mit philosophischen Fragen auseinandersetzen? Sind ihre Forderungen zur Förderung von Kunst, Literatur und Musik zur Stärkung von Kreativität, Kritikfähigkeit und Empathie nur das Privileg einer Elite? Das von Nussbaum gewählte 67 denkraum 11 Denkraum 11 Capabilities, Resilienz und Nachhaltigkeit und ihre Relevanz für die ­innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit Dr. Rebecca Gutwald, Lehrstuhl für Philosophie IV, Ludwig-Maximilians-Universität München Der Begriff der Capabilities kann als Messinstrument für das Wohlergehen eines Menschen dienen. Capabilities bezeichnen 1.was ein Mensch tatsächlich tut und ist (die sogenannten functionings) 2.was er zu tun in der Lage ist (die sogenannten capabilities, d. h. die Menge von functionings, welche der Mensch potenziell erreichen kann) (siehe Abb. 1 auf Seite 23). Entscheidend für die persönliche Entwicklung und ein gelingendes Leben ist die Art und Weise, wie Menschen den Widrigkeiten (Probleme, Schicksalsschläge, Katastrophen) des Lebens begegnen. Diese aufmerksam wahr- und anzunehmen und mit Hilfe persönlicher Ressourcen zu überwinden, lässt Menschen gestärkt aus schwierigen Situationen hervorgehen. Es sind im Wesentlichen sieben Faktoren, die Resilienz ausmachen und die sich wechselseitig beeinflussen: Akzeptanz, Optimismus, Überzeugung der Selbstwirksamkeit, günstiger Attributionsstil, aktive Lösungsorientierung, Netzwerkorientierung, Zukunftsorientierung. Brian Walker (2013) wendet den Begriff Resilienz wie folgt auf Gruppen und soziale Systeme an: Wir müssen die allgemeine Resilienz verstehen und stärken – also die Fähigkeit eines Systems, eine Vielfalt an Schocks in allen Aspekten seiner Funktionsweise zu bewältigen. Die Forschung an zahlreichen Systemen ergab, dass sich folgende Attribute als geeignet erwiesen, einem System allgemeine Resilienz zu verleihen: ■ 68 E in hoher Grad an Vielfalt, vor allem Vielfalt der Reaktion (das Gleiche auf verschiedene Arten auszuführen, was oftmals fälschlicherweise für „Redundanz“ gehalten wird). ■ Eine relativ modulare Struktur, innerhalb derer die Bestandteile nicht übermäßig miteinander verbunden sind. ■ Eine gut ausgeprägte Fähigkeit, rasch auf Veränderungen zu reagieren. ■ Ein signifikantes Maß an „Offenheit“, im Rahmen derer Einwanderung und Auswanderung aller Bestandteile möglich sind (geschlossene Systeme bleiben statisch). ■ Aufrechterhaltung ausreichender Reserven – beispielsweise Saatgutvorräte in Ökosystemen oder Speicherkapazitäten in sozialen Systemen (was gegen die Just-in-time-Versorgung spricht). ■ Förderung von Innovation und Kreativität. ■ Hohes soziales Kapital, insbesondere Vertrauen, Führungskraft und soziale Netzwerke. ■ Anpassungsfähige Führung (flexibel, distributiv und auf Erfahrung basierend). Bei diesen Attributen handelt es sich um die entscheidenden Elemente eines resilienten Systems. Doch Resilienz an sich ist weder „gut“ noch „schlecht“. Unerwünschte Systeme wie Diktaturen oder Salzlandschaften können überaus resilient sein. In diesen Fällen sollte die Resilienz des Systems verringert werden. Arbeitsdefinition: Selbstwirksamkeit: Resiliente Menschen sind Menschen, die selbst wirksam handeln und auch darauf vertrauen. Der CA fordert entsprechend, dass der Mensch in die Lage versetzt werden soll, selbst sein Leben zu gestalten. In Sens Konzept der Verwirklichungschancen unterscheidet man zwischen zwei Bestimmungsfaktoren: denkraum 11 a.individuelle Verwirklichungschancen (Kompetenzen, Fähigkeiten): können bzw. müssen grundsätzlich bei jedem vorhanden sein, etwa Alter, Geschlecht, Gesundheit, Intelligenz, Einkommen, Güterausstattung. b.gesellschaftlich bedingte Chancen: diese hängen von der Ausgestaltung der Gesellschaft wesentlich ab, z. B. Zugang zu Bildung, Gesundheitsvorsorge. Dies hilft bei der letzten Frage nach „nature or nurture“: d. h., ob die Fähigkeit zu Resilienz (natürlich) im Individuum angelegt ist oder ob sie ein Produkt eines guten Sozialisationsprozesses ist oder beides. Der CA behauptet Letzteres und kann damit zumindest bei einem Teil der angesprochenen Fragen helfen, obwohl auch hier in Bezug auf den komplexen Begriff der Resilienz noch starker Forschungsbedarf besteht. Protokoll Die Diskussion drehte sich im Wesentlichen um die Frage nach der Definition von Resilienz. Zwei damit verbundene Fragen waren, ob Resilienz generell als etwas Positives betrachtet werden sollte und, ob Resilienz eine Angelegenheit des Individuums ist oder eines Systems – oder beides. Die Diskussion zeigte, dass Resilienz auf sehr unterschiedliche Weise begriffen werden kann. Wir kamen zu dem Schluss, dass Definitionen von Resilienz, welche alle Fragen explizit zu beantworten versuchen, zu komplex und dennoch meist unvollständig sind. Aus dem Denkraum kam der Impuls, sich dem Resilienzbegriff über die Bildsprache zu nähern. So wurde z. B. das Bild eines Balls gezeichnet. Er schnellt immer wieder nach oben, wenn er unter Wasser gedrückt wird. Dieses Bild bringt eine wesentliche Dimension von Resilienz zum Ausdruck: die Fähigkeit, zuverlässig nach einer Krise (dem Herunterdrücken) wieder zur Oberfläche, also zu einer besseren Verfassung, zurückzufinden. In der Sozialen Arbeit wird, so ein weiteres Diskussionsergebnis, Resilienz in der Regel als etwas Positives angesehen, ebenso wie Nachhaltigkeit: Erstens sollte idealerweise ein Klient durch die Hilfe aus der Sozialen Arbeit resilienter gemacht werden. Ist er in diesem Zustand, ist er selbst in der Lage, sein Leben und die damit verbundenen Krisen zu meistern – ohne auf Hilfsangebote und Steuerung von Außen zurückgreifen zu müssen. Nachhaltigkeit spielt, zweitens, in diesem Zusam- 69 denkraum 11 menhang eine erheblich Rolle: Die Maßnahmen im sozialen Kontext und in der Bildungsarbeit sollten eine anhaltende Verbesserung bringen. Im Sinne der Resilienz könnte formuliert werden: Der Mensch soll dauerhaft resilient gemacht werden, damit er nicht ständig neuer und anderer Maßnahmen bedarf. Fraglich ist jedoch, wie es sich mit resilienten Menschen oder Systemen verhält, welche zwar resilient sind, aber Schaden anrichten. Beispielsweise ist eine Diktatur wie die von Assad in Syrien enorm resilient in dem Sinne, dass sie bisher schwere Krisen überlebt hat. Dennoch ist dies als negativ und nicht wünschenswert zu betrachten. Eine weitere wichtige Frage, der wir nachgingen, war die der Resilienz von Systemen. Die Soziale Arbeit könnte z. B. Probleme personifizieren und nur den Klienten betrachten, weitere Systemeigenschaften aber ausklammern. Die systemischen Voraussetzungen, z. B. soziale Anerkennung, die Möglichkeit, zu lernen und zu arbeiten oder politischen Einfluss zu haben, müssen jedoch gegeben sein, also auch miteinbezogen werden. Ist dies nicht gewährleistet, ist ein Mensch vielmehr im negativen Sinne anpassungsfähig: Er stemmt sich auch gegen die widrigsten Umstände. Dieser 70 Mensch besitzt zwar ohne Zweifel eine gewisse mentale Stärke, aber für echte, im positiven Sinne zu beurteilende Resilienz braucht es sowohl innere Voraussetzungen als auch Voraussetzungen in sozialer, politischer und natürlicher Umwelt. Auf dieser Verständnisbasis stand der Vorschlag im Raum, Resilienz anhand des Capability Ansatzes zu definieren, welcher im Vortrag von Dr. Rebecca Gutwald vorgestellt wurde. Folgender Definitionsvorschlag steht im Raum: Ein Mensch ist dann resilient, wenn er im Sinne des CA angemessene wertvolle capabilities, d. h. Verwirklichungschancen und Fähigkeiten, besitzt. Moderation Monika Ripperger, Fachbereichsleiterin Kindertages­ betreuung im Stadtschulamt Frankfurt am Main Literatur Holling, Crawford Stanley, Walker, Brian (2013): „Resilience Defined”, working paper, online abrufbar unter http://isecoeco.org/pdf/resilience.pdf. Murphy, Lois Barclay (1987): Further Reflections on Resilience, in: Anthony, E. James; Cohler, Bertram J. (Hg.): The invulnerable child, New York, Guilford, S. 84-105. Podiumsdiskussion 71 Podiumsdiskussion Podiumsdiskussion Jürgen Mattis: Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, jetzt sind wir aus der schönen Sonne draußen noch einmal in diese Denkhöhle gekommen. Wir wollen eine Abschlussrunde versuchen, wobei ich schon einige Rückmeldungen eben in der Kaffeepause bekommen habe, dass der Fachtag viele Fragen aufgeworfen hätte. Es ist ja auch gut, wenn man mit Fragestellungen nach Hause geht, über die man weiter nachdenken möchte. Wenn die Diskussionen des Fachtags bewirkt haben, dass man ein paar Spuren für sich selbst weiterverfolgen kann, dann ist das schon eine gute Sache. Ohne den Anspruch zu haben, den Tag einfangen zu können, möchten wir in der Abschlussrunde doch nochmal an einige Fragen anknüpfen: Wie ist das Verhältnis von unserer Bildungspraxis einerseits und einer ethischen Theoriebildung bzw. Moralphilosophie andererseits? Unter dem Gesichtspunkt des Genderaspekts und unter dem Gesichtspunkt, verschiedene Professionen zusammenzubringen, habe ich fünf Vortragende des 72 heutigen Tages angefragt, ob sie bereit sind, bei dieser Abschlussrunde mitzumachen und einzubringen, wie sich in ihrer Arbeit das Verhältnis von Theorie und Praxis darstellt. In einer ersten Fragerunde würde ich gerne die Frage an alle fünf ausgehend von ihrer beruflichen Tätigkeit stellen. Herr Dr. Ebers, Sie sind von Hause aus Philosoph, Soziologe und vergleichender Religionswissenschaftler. Sie arbeiten im Institut für Angewandte Philosophie und Sozialforschung in Bonn. Auf der Homepage des Instituts ist die Aufgabe formuliert, „in der Lebenswirklichkeit Gestaltungsspielräume und Orientierungspunkte zu erschließen.“ Dafür müssen Sie letztlich Kunden finden, die nach einer philosophischen Beratung oder Sozialforschung verlangen. Sie arbeiten also an einer Schnittstelle, die wahrscheinlich recht ungewöhnlich ist. Deshalb interessiert uns natürlich besonders, wie Sie die Wechselwirkung von Lebenswelt, Praxis und ethisch-moralphilosophischer Theoriebildung aus Ihrer beruflichen Erfahrung beurteilen. Podiumsdiskussion Philosophieren mit Kindern z. B. unterscheidet sich vom Philosophie-Unterricht in der Schule dadurch, dass es eben nicht nach einem Lehrplan abläuft, sondern eine Situation geschaffen wird, in der möglichst viele möglichst frei ihre Gedanken äußern können, auch mit bestimmten Techniken, denn Philosophieren ist ja kein Labern, sondern es kommt schon darauf an, ein bestimmtes Niveau zu erreichen. Es gibt aber kein Ergebnis. In einer Stunde habe ich z. B. mit Kindern über Gerechtigkeit gesprochen und selbst ganz viel dabei gelernt. Die Kinder haben eine der schönsten Definitionen für Gerechtigkeit genannt, die ich bisher gehört habe: „Gerechtigkeit ist, wenn keiner gewinnt.“ Das war ein Ergebnis, das mich selbst überrascht hat. Dr. Thomas Ebers: Die Arbeit sieht eigentlich so aus, wie heute Morgen schon berichtet wurde. Frau Dr. Gutwald hatte erwähnt, dass Ethik ein Reflexionswissen ist, d. h. es ist immer etwas Begleitendes. Die Reflexion über Praxis ist nicht ein Anhängsel, sondern gehört wesentlich dazu. Genau das biete ich auch an: Eine begleitende, theoretische Fundierung über das, was man in der Lebenswirklichkeit tut. Mattis: Was kommt dabei heraus? Mattis: Wunderbar, jetzt kann ich mir das etwas besser vorstellen. Ich erlaube mir nun, zu Prof. Dr. Margitta Kunert-Zier weiterzugehen. Sie sind von Hause aus Diplom-Pädagogin und Sozialpädagogin. Sie lehren an der FH Frankfurt Soziale Arbeit und haben es mit dem professionellen Nachwuchs zu tun. Dort wird Praxis reflektiert und aufgearbeitet, was junge Studierende aus den verschiedenen Praktika an Fragestellungen mitbringen. Sie haben auch einen Auftrag des Jugendamtes und des Stadtschulamtes zur Leitung der Arbeitsgemeinschaft Genderorientierungsleitlinien. Das ist eine Arbeitsgemeinschaft, die die Leitlinien der Stadt Frankfurt zur Geschlechtergerechtigkeit weiterentwickelt und versucht, die neueste Genderforschung einzubringen. Sie arbeiten an der Schnittstelle von Forschung und praktischer Ausbildung. Für welche professionelle Haltung werben Sie bei den Studierenden und was sind Ihre Erfahrungen zu dem Zusammenhang von innerer Haltung und Praxis? Ebers: Man macht sich Gedanken über die Lebenswirklichkeit. Was Sie hier organisiert haben, ist der Idealfall von philosophischem Reflexionswissen. Im Grunde geht es darum, in der Diskussion mit Kindern, Erwachsenen oder auch alten Menschen die Möglichkeit eines Diskussionsraumes zu eröffnen. […] Es gibt kein fest definiertes Ziel. Prof. Dr. Margitta Kunert-Zier: Mein Schwerpunkt ist Pädagogik, deshalb beschäftige ich mich auch mit dem Bildungsauftrag der Sozialen Arbeit. Im Unterschied zur formalen Bildung haben wir den ganzen Menschen im Blick und lehren Lebensbildung und Lebensbewältigung. Es ist mir sehr wichtig, dass die Studierenden dazu sowohl Mattis: Könnten Sie uns an einem Beispiel verdeutlichen, wie es praktisch funktioniert, wenn ein Unternehmen, eine Gruppierung oder eine Einzelperson zu Ihnen kommt? Ebers: Ich bin als Philosoph zunächst einmal weniger Theoretiker als vielmehr Bildungspraktiker. Ich arbeite sehr viel mit Kindern in Schulen oder Museen und begleite z. B. Ausstellungen philosophisch. 73 Podiumsdiskussion Fachwissen erwerben als auch Handlungs- und Selbstkompetenzen. Aus dieser Triade entwickelt sich eine Professionalität, die im Idealfall diversitätsbewusst ist. Zu diesen Kompetenzen gehört, dass sie in der Lage sind, soziale Probleme gesellschaftstheoretisch zu interpretieren, dass sie ihr Wissen in der Praxis anwenden können und vor allem ihre eigene Rolle sehr gründlich reflektieren. Der Aufbau des Bachelors ist an diesen Kompetenzen orientiert. In Frankfurt haben wir den Vorteil, nahe am Puls der Zeit zu sein, weil hier die sozialen Kontraste sehr stark sind. Unsere Studierenden arbeiten überwiegend in Vierteln mit besonderem Entwicklungsbedarf und einem hohen Anteil von Migrantinnen und Migranten. Sie müssen also Vielfaltskompetenzen entwickeln. Sie bekommen einen Einblick in die Gestaltung des Lebens in einer multikulturellen Gesellschaft. Einerseits sollen sie selbst damit umgehen können, andererseits aber auch die Klienten befähigen, in einer Gesellschaft der Vielfalt zurechtzukommen. Mattis: Das klingt nach einem hohen Anspruch für die Studierenden. In welche Richtungen möchten Sie ihre Studierenden ganz persönlich bringen? 74 Kunert-Zier: Ich möchte vor allem, dass sie ihre Potentiale entfalten, ihre Ressourcen entwickeln und diese für die Soziale Arbeit nutzbar machen. Es ist mir wichtig, herauszufinden, wie die Studierenden die Gesellschaft wahrnehmen und welche Vorlieben und Begabungen sie haben. Sehr positiv ist, wenn sie diese Begabungen, sei es Sport, Musik, Kochen, Werken oder Kunst, auch anwenden. Da der Zivildienst abgeschafft worden ist, studieren plötzlich viele junge Männer. Grundsätzlich sind unsere Studierenden in den letzten Jahren immer jünger geworden. Viele müssen erst mal als Erwachsene in der Großstadt Frankfurt zurechtkommen. Es gibt Leute, die kommen vom Land aus wohlbehüteten Elternhäusern und kommen nach ihrem ersten Praktikum entsetzt zurück und wollen doch lieber in die KiTa gehen. Dort sind die Welten aber genauso bunt. Die wenigen Frankfurter Studierenden verstehen so etwas eher und wirken als Dolmetscher. Die sozialen Kontraste fordern also sehr viel: Es braucht eine umfassende Stärkung der Persönlichkeit, um diesen Aufgaben gewachsen zu sein und den eigenen psychischen Haushalt zu regulieren. Podiumsdiskussion Mattis: Vielen Dank für diesen Einblick. Dr. Klaus-Dieter Dohne, Sie sind in der Runde der Psychologe, Arzt und Psychotherapeut. Sie sind Unternehmenscoach und arbeiten gleichzeitig in der Lernforschung mit dem Neurowissenschaftler Prof. Gerald Hüther in Göttingen. Sie veröffentlichen gemeinsam mit Hüther und fordern die Ausbildung und Förderung sogenannter Metakompetenzen. Ich bin gespannt, wie Sie durch Ihre Arbeit die Wechselwirkung von Ethik, Moral und (Bildungs-)Praxis bestimmen. Dr. Klaus-Dieter Dohne: Ich komme eher aus der Praxis und beschäftige mich wissenschaftlich mit dem Frontalhirn, dem menschlichsten Teil des Hirns. Ich schaue mir an, mit welchen Kommunikations- und Beziehungsmustern Menschen interagieren. Diese Muster bestimmen nicht nur die Ausbildung des Frontalhirns von Geburt an, sondern auch, ob wir Menschen unsere Potenziale gegenseitig freilegen oder nicht. Im Falle von Unternehmen geht es z. B. darum, eine andere Führungskultur zu entwickeln. Metakompetenzen stellen sich dann automatisch ein, wenn die Erfüllung gewisser Grundbedürfnisse für Menschen situativ möglich ist. Jeder weiß, dass es Situationen gibt, in denen wir nicht unser volles Leistungspotential zur Verfügung haben. Somit stellt sich die Frage, ob wir eher direkt mit Menschen sprechen müssen, um ihre Bedürfnisse zu erfahren oder über die Wege der Vermittlung nachdenken müssen, also z. B. indirektes Lernen. Die Menschen, mit denen ich zu tun habe, können aus meiner Sicht ihre Probleme nur selbst lösen, durch schlaue Ratschläge von außen ist das nicht möglich. Mattis: Was würden Sie in Ihrer Rolle als Unternehmensberater etwa der evangelischen Kirche oder dem Stadtschulamt raten? Dohne: Ich würde versuchen, gemeinsam einen Rahmen zu kreieren, durch den es allen Beteiligten aus einer entspannten Haltung heraus möglich wird, über ihr Verhalten, ihre Aufgaben und Ziele im Team zu reflektieren, ohne dass sie gleich von Anderen etikettiert werden. Oft lösen sich dann Missverständnisse von ganz alleine. Leider ist das in unserer Arbeitsorganisation noch nicht sehr verbreitet. Mattis: Sie plädieren also für mehr Entspannung und Freiräume im Arbeitsalltag? Dohne: Ja, vor allem aber für den Mut, zu schauen, was die Kolleginnen und Kollegen gerade umtreibt. Es geht um Feinheiten, wie etwa ein gemeinsames Mittagessen, die das Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaft vermitteln. Vordergründig geht es in der Arbeitspraxis um fachliche Kompetenz, aber auf einer anderen Ebene kämpfen wir alle um Wertschätzung und Anerkennung. Das möchte ich sichtbar machen. Mattis: Vielen Dank. Frau Dr. Gutwald, Sie haben in ihrem Vortrag gesagt, dass die Praxis vorausgeht und die Ethik sich in der Reflexion auf diese Praxis bezieht. Sie forschen am Lehrstuhl für Philosophie der Universität München, wie ist Ihr Zugang zur Bildungspraxis? Dr. Rebecca Gutwald: Den Zugang muss man sich selbst erschließen, etwa über solche Veranstaltungen wie heute. In der Philosophie ist die Bildungsarbeit ein wenig in Vergessenheit geraten. Man konzentriert sich auf Theorien und Philosophiegeschichte, der Austausch mit der Praxis ist oft nicht gegeben, vielleicht sogar 75 Podiumsdiskussion nicht erwünscht. Das zu ändern ist eine Herausforderung. dung auseinandersetzen. Was ist Ihre Erfahrung mit dieser Wechselwirkung? Mattis: Unser Versuch war ja, Menschen aus dem Elfenbeinturm der Theorie zu bewegen, zu uns zu kommen. Wie beurteilen Sie aber aus ihrer Perspektive die Bildungslandschaft? Welche Haltungen und Wertorientierungen nehmen Sie wahr? Günther Emlein: Mit der Wechselwirkung ist es so eine Sache, das unterstellt ja schon eine Form von Kausalität. Ich bin mit meiner Theorie in die Praxis hineingesprungen, habe dort ausprobiert und bin dann zurückgegangen und habe die Theorie nachformuliert, weil sich die Praxis widerständig gezeigt hat. Eine Idee hat nicht funktioniert, also bin ich zurück in die Theorie, um mit einer anderen Idee in die Praxis zu gehen. Von Praxis zu reden ist selbst eine Form von Theorie. Theoria heißt Schau, also Sichtweise. Wenn wir etwas als Praxis deklarieren, ist es ja auch eine Sichtweise. Die Praxis an sich erreichen wir nicht, zumindest nicht, wenn man konstruktivistisch denkt. Theorie hat mit Gedanken zu tun, Praxis hat mit Leuten zu tun. Die Leute sind anders als ich sie mir vorstelle und davon lasse ich mich natürlich für die Theorie anregen. So pendele ich im Grunde seit ich beruflich tätig bin. Es sind bald dreißig Jahre und es gibt immer noch etwas zu entdecken. […] Gutwald: Ich habe in meinem Vortrag versucht, die individuell zugeschnittene Bildungsarbeit stark zu machen. Die konkrete Situation eines Einzelnen sollte Vorrang vor der Ausrichtung an einen Standard haben. In vielen Bereichen sind wir davon jedoch relativ weit weg. Mattis: Vielen Dank. Herr Emlein, Sie sind Pfarrer und Theologe. Sie sind zum einen Krankenhausseelsorger an der Universität in Mainz, zum anderen aber bei der Systemischen Gesellschaft Lehrsupervisor und bei der Gesellschaft für Pastoraltheologie in der Ausbildung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern tätig. Ich stelle mir vor, dass Sie sich tägliche mit Praxis und Theoriebil- 76 Podiumsdiskussion Mattis: In der Bildungs- und Sozialarbeit haben wir es ja vorwiegend mit dem Schulsystem zu tun. Dort arbeiten wir mit Jugendlichen, die oft über viele Jahre eine Frustration in Bezug auf das System ausgebildet haben. Die Schwierigkeit in der Arbeit mit diesen Jugendlichen besteht darin, gleichzeitig innerhalb des Systems zu bleiben und aus ihm auszusteigen, um Prozesse der Öffnung zu ermöglichen. Von allem, was in dieser Runde heute gesagt worden ist, nehme ich die Idee mit, sehr stark an der eigenen inneren Haltung zu arbeiten. Sich nicht nur von der Praxis bestimmen zu lassen, sondern sich den Freiraum zu nehmen, selbst als Person kreativ zu intervenieren und diese Kreativität auf die hilfesuchenden Menschen zurückzuspiegeln. Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie uns diese Abschlussrunde ermög- licht haben. Außerdem möchte ich mich bei allen Vortragenden heute früh im Plenum und in den Denkräumen bedanken. Ich möchte mich ganz herzlich bei Frau Höhle und dem ganzen Organisationsteam um Frau Kloppmann herum bedanken. Ich möchte mich bedanken bei sankt peter für die Gastfreundschaft und Verköstigung. Ich möchte mich auch im Namen des Stadtschulamtes bei den Kooperationspartnerinnen und –partnern, dem Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit und dem Zentrum Bildung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der Liebfrauenschule bedanken. Ganz herzlich möchte ich mich bei Ihnen allen bedanken, dass Sie so aufmerksam in den Denkräumen mitgehört, mitgedacht und sich beteiligt haben. Ich glaube, dass wir alle weitere Fragen aus diesem Tag mitnehmen und sich die eine oder andere Spur in unserem Kopf gelegt hat. 77 Referentinnen und Referenten Informationen zu den Referentinnen und Referenten Prof. Dr. Birgit Bender-Junker ist Professorin für Theologie, Ethik und Bildungsarbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ethik und Sozialphilosophie in der Sozialen Arbeit, (religiöse) Biografieforschung, Religion in der Geschichte der Sozialen Arbeit. Prof. Dr. Sandro Bliemetsrieder Dipl.-Sozialpädagoge (FH) ist Professor für Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik an der Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Erziehung und Bildung, Bildungsgerechtigkeit und Menschenrechtsorientierung, sozialpädagogische Professionalität, diagnostisches Fallverstehen und rekonstruktive Forschung. Dr. Julian Culp ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Leibniz-Forschungsgruppe Transnationale Gerechtigkeit am Arbeitsbereich Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre umfassen Theorien sozialer und politischer Gerechtigkeit, Theorien sozialer Entwicklung und Theorien deliberativer Demokratie innerhalb und jenseits des Staates – ausgehend von der Diskurstheorie, dem Fähigkeitenansatz und dem liberalen Egalitarismus. Dr. Klaus-Dieter Dohne Dipl.-Psychologe, ist Inhaber von Psychologisches Unternehmensmanagement und Geschäftsführer des Beratungs- und Coachingunternehmens Culture Work GmbH und darüber hinaus Vorstandsmitglied der Milton-Erickson-Gesellschaft (MEG) und Ausbilder an namhaften Instituten. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Beratung von Unternehmern, Entscheidern und Inhabern von mittelständischen Unternehmen, das Coaching von Führungskräften sowie die Entwicklung von strategischen Interventionen in Krisensituationen. Dr. Thomas Ebers studierte Philosophie, Soziologie und vergleichende Religionswissenschaft. Er leitet das Institut für angewandte Philosophie und Sozialforschung 423 in Bonn und ist als Fachbuchautor und Referent tätig. Günther Emlein ist Pfarrer der EKHN, seit 1995 als Klinikseelsorger an der Universitätsmedizin Mainz tätig. Er ist Kursleiter für systemisch orientierte Seelsorge am Zentrum Seelsorge und Beratung der EKHN, Friedberg, Supervisor am IPOS, Friedberg, Lehrsupervisor DGfP, Lehrender Supervisor SG und arbeitet an einer Dissertation zur Systemtheorie der Seelsorge. Prof. Dr. Ute Gahlings Philosophin, Privatdozentin an der Technischen Universität Darmstadt, Gast- und Vertretungsprofessuren in Berlin und Darmstadt, Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, Gründungsmitglied und zweite Vorsitzende des Instituts für Praxis der Philosophie e.V. (IPPh) Darmstadt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Ethik (Berufs-, Technik- und Wirtschaftsethik), Leibphilosophie, Anthropologie, Kulturphilosophie, Geschlechtertheorie, Phänomenologie. 78 Referentinnen und Referenten Dr. Rebecca Gutwald arbeitet schwerpunktmäßig zu den Themen angewandte Ethik und praktische Philosophie (vor allem Capability Ansatz) als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Nida-Rümelin an der Ludwig-Maximilans-Universität München. Sie hat Rechtswissenschaften sowie Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie studiert und im Bereich Ethik promoviert. Dr. Reinhild Hugenroth ist Sprecherin der Arbeitsgruppe „Bildung und Qualifizierung“ im Bundesnetzwerk bürgerschaftliches Engagement, stellv. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogikk, freiberuflich tätig, Expertisen für politische Bildung, zivilgesellschaftliches Lernen, Kompetenzerwerb im bürgerschaftlichen Engagement - mit und ohne soziale Medien. Axel Klimek ist Mitbegründer und Geschäftsführer der ISIS Academy GmbH, einem Trainingsinstitut für Veränderungsmanagement im Bereich Nachhaltiger Entwicklung und Inhaber der Beratungsgesellschaft Axel Klimek 3p. Er arbeitet seit vielen Jahren als Organisationsberater und Coach in Europa, Asien und Afrika und unterstützt Führungskräfte, Organisationen und Entwicklungsprogramme dabei, komplexe Veränderungsprozesse zu gestalten und Nachhaltigkeit mit dem Kerngeschäft und der Wertschöpfungskette zu verbinden. Prof. Dr. Margitta Kunert-Zier Diplompädagogin, seit 2008 Professorin für Pädagogik in der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Ihre Schwerpunkte sind: Kinder- und Jugendarbeit, Bildung und Partizipation, Geschlechterbewusste Pädagogik und Genderkompetenz. Sie hat langjährige Berufserfahrungen als Kommunale Jugendpflegerin, Geschäftsführerin, Landesjugendpflegerin sowie in der Fort- und Weiterbildung; Beraterin des Jugend- und Sozialamtes der Stadt Frankfurt am Main - Implementierung des Genderorientierungsrahmens in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Dr. Gottfried Schüz ist Grund- und Hauptschullehrer und seit 1994 Leiter des Staatlichen Studienseminars für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen Mainz. Er hat ein berufsbegleitendes Zweitstudium der Philosophie, Evangelischen Theologie und Pädagogik mit Promotion in Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz absolviert. Seit 2006 ist er ehrenamtlicher Vorsitzender der Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum Frankfurt am Main. 79 80