Dokumentation - Evangelische Kirche Frankfurt am Main

Werbung
Foto: Wolfgang Günzel
Innere Haltung –
philosophische und ethische Standpunkte
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Der Dokumentationsband steht Ihnen kostenfrei zum Download zur Verfügung:
www.frankfurt-evangelisch.de/fachtag.html
Mit Unterstützung von:
ISBN 978-3-9816379-0-8
Dokumentation
einer Fachtagung am 24. September 2013
Foto: Wolfgang Günzel
Innere Haltung –
philosophische und ethische Standpunkte
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Der Dokumentationsband steht Ihnen kostenfrei zum Download zur Verfügung:
www.frankfurt-evangelisch.de/fachtag.html
Mit Unterstützung von:
ISBN 978-3-9816379-0-8
Dokumentation
einer Fachtagung am 24. September 2013
Innere Haltung –
philosophische und ethische Standpunkte
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Dokumentation
einer Fachtagung am 24. September 2013
in sankt peter
Impressum
Herausgeber:
Jürgen Mattis, Ute Sauer
Veranstalter der Tagung:
Evangelischer Regionalverband Frankfurt am Main und
Stadtschulamt der Stadt Frankfurt am Main
Vorbereitungsgruppe der Veranstalter und Konzeption der Fachtagung
und der Dokumentation:
Dr. Elard Apel, Maike Henningsen, Stephanie Höhle, Steffen Kurz,
Jürgen Mattis, Monika Ripperger, Miriam Schmidt-Walter,
PD Dr. Wolfgang Schrödter, Matthias Weber, Dr. Christiane Wessels,
Petra Zender
Redaktion: Stephanie Höhle
Gestaltung: 2thepoint, Heusenstamm
Druckerei: Druckerei Lokay e. K., Reinheim
Fotos: Enrico Corsano
Titelfoto: Wolfgang Günzel
ISBN 978-3-9816379-0-8
Schutzgebühr: 5 Euro
Inhalt
Vorwort der Vorbereitungsgruppe
3
Einladung zur Tagung
4
Tagesprogramm
5
11 Denkräume
6
Grußwort
8
Vortrag I – Dr. Julian Culp
12
Die innere Haltung ausrichten auf Gerechtigkeit und Demokratie! Zur sozialen und politischen Relevanz
der Bildungs- und Sozialarbeit unter Bedingungen des Pluralismus und der Transnationalisierung
Vortrag II – Dr. Rebecca Gutwald
21
Moralische Normen in der sozialen Arbeit am Beispiel des Capability Approaches und verwandter Ansätze
Denkraum 1 – Prof. Dr. Birgit Bender-Junker
34
Die Bedeutung der evangelischen ­Sozialethik für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Denkraum 2 – Dr. Reinhild Hugenroth
37
Die Bedeutung des Partizipations- und Demokratiediskurses der Bürger­gesellschaft für die innere
Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Denkraum 3 – Axel Klimek
41
Die Bedeutung eines Ansatzes der Nachhaltigkeit für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Denkraum 4 – Günther Emlein
45
Die Bedeutung des systemischen Ansatzes für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Denkraum 5 – Prof. Dr. Sandro Bliemetsrieder
48
Die Bedeutung der Menschenrechte für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Denkraum 6 – Prof. Dr. Margitta Kunert-Zier
52
Die Bedeutung des Diversity-Ansatzes für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Denkraum 7 – Dr. Klaus-Dieter Dohne
55
Die Bedeutung der Kompetenzorientierung für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Denkraum 8 – Dr. Gottfried Schüz
57
Die Bedeutung einer radikalen Individualethik – am Beispiel der K
­ ulturphilosophie Albert Schweitzers –
für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Denkraum 9 – Dr. Thomas Ebers
61
Die Bedeutung von Inklusion für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Denkraum 10 – Prof. Dr. Ute Gahlings
64
Die Bedeutung der Thesen von Martha Nussbaum zu Demokratie und B
­ ildung für die innere Haltung
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Denkraum 11 – Dr. Rebecca Gutwald
68
Capabilities, Resilienz und Nachhaltigkeit und ihre Relevanz für die innere Haltung in der Bildungsund Sozialarbeit
2
Podiumsdiskussion
72
Informationen zu den Referentinnen und Referenten
78
Vorwort der Vorbereitungsgruppe
Vorwort der Vorbereitungsgruppe
Liebe Leserin, lieber Leser,
Pfarrer Jürgen Mattis, Leiter des
Fachbereich I: Beratung, Bildung, Jugend
im Evangelischen Regionalverband
Frankfurt am Main
schon bei der Vorbereitung des Fachtages „Innere Haltung –
­philosophische und ethische Standpunkte in der Bildungs- und
­Sozialarbeit“ entstand in der gemeinsamen Arbeitsgruppe zwischen
Evangelischem Regionalverband Frankfurt am Main und Stadtschulamt Frankfurt am Main der Eindruck, dass eine schriftliche Dokumentation der Vorträge und Diskussionen Interesse finden könnte.
Zum einen gibt es eine Suche nach gemeinsamen Orientierungen
und Verständigungen, zum anderen erschweren oft unterschied­
liche Perspektiven und Ansätze in den heutigen Fachdiskussionen
und konzeptionellen Ausrichtungen des Arbeitsfeldes die Reflexion
auf die Grundlagen des Arbeitsauftrages.
Unter der ordnenden Fragestellung des Fachtages kann aus den Vorträgen und Diskussionen der 11 Denkräumen eine komprimierte Sammlung unterschiedlicher Denkansätze dokumentiert werden, die viele
Impulse zum eigenen Weiterdenken bietet. Es bestand ebenso der Wunsch, die beiden Eröffnungsvorträge zu veröffentlichen und nachlesbar zu machen.
Dr. Julian Culp zeigte in seinem Vortrag, dass die Bildungs- und Sozialarbeit für die Herstellung bzw.
den Erhalt demokratischer Verhältnisse von großer Bedeutung ist. In sozialen Einrichtungen und Bildungseinrichtungen werden die aus seiner Sicht wesentlichen Kompetenzen vermittelt, durch die erst
eine demokratische politische Kultur entstehen kann.
Dr. Rebecca Gutwald rückte in ihrem Vortrag, ausgehend vom „Capability Approach“ von Martha Nussbaum, die Verwirklichungschancen eines jeden Menschen für ein gutes Leben in den Mittelpunkt. Bildung und Erziehung nehmen aus ihrer Ansicht eine Schlüsselstellung ein bei der Erhöhung der Verwirklichungschancen.
Wir danken allen Vortragenden und Protokollierenden herzlich für die erbrachte Textarbeit und die
schnelle und kooperative Zusammenarbeit. Wir hoffen, dass Sie als Leserin und Leser durch die Texte
animiert und herausgefordert werden, Ihre eigene „Innere Haltung“ zu reflektieren und weiter zu denken. Ganz besonders danken wir Frau Stephanie Höhle für die Redaktionsarbeit, ohne deren beharrlichen
Einsatz dieser Band sicher nicht zustande gekommen wäre.
Jürgen Mattis für die Vorbereitungsgruppe
3
Einladung zur Tagung
Einladung zur Tagung
Innere Haltung – Philosophische und ethische Standpunkte
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Diskussionen und Debatten der letzten Jahre um Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe, um Integrationskonzepte und Diversitätserfordernisse, um Inklusion und eine erweiterte Charta der Menschenrechte,
um Kinderarmut und Ganztagsschule, um Kompetenzorientierung und Resilienz etc. haben in der Bildungs- und Sozialarbeit Spuren hinterlassen, gleichzeitig zu einer gewissen Unübersichtlichkeit und zu
Orientierungsschwierigkeiten geführt. In Zeiten des Auf- und Abstiegs nationaler Mächte und politischer Neuordnungen, in Zeiten der Finanz- und Europakrise, in Zeiten von Energiewende und globaler
Wissens­entgrenzung erlebt die Philosophie wieder öffentliche Nachfrage. Die Komplexität führt anscheinend zum Wunsch nach Ordnung der Begriffe und einer vernünftigen Durchdringung von Geltungsansprüchen und Entwicklungen.
Auch dieser Fachtag soll dem Denken und der Reflexion Raum geben. Wir haben daher die Workshops
diesmal „Denkräume“ genannt, da das gemein same Nachdenken über die wichtigsten Fundamente und
Orientierungen in unserer Arbeit – unsere „Inneren Haltung“ – im Zentrum der Diskussion stehen soll.
Keine Best-Practice-Beispiele sollen diesmal die Debatte um neue Konzepte des Lernens und der Ermöglichung von Bildung und Teilhabe herausfordern, sondern unser innerer Kompass und unsere Standpunkte für die Arbeit in Frankfurt am Main bilden den Fokus.
Wir freuen uns, Sie einzuladen zu zwei Einleitungsvorträgen der politischen und praktischen Philosophie
durch Herrn Dr. Julian Culp aus Frankfurt und Frau Dr. Rebecca Gutwald aus München und 11 interessanten „Denkräumen“, in denen jeweils nach einem circa 20-minütigen Vortrag die Diskussion eröffnet
wird. Eine Abschlussrunde wendet sich dann noch der Frage des Verhältnisses von Praxis und Theorie
zu. Von Theodor W. Adorno haben wir gelernt, dass Vernunft und Denken für eine kritische Theorie der
Gesellschaft unerlässlich sind und erst in der Reflexion bestehender Verhältnisse sich Hoffnung auf
Befreiung gründet.
Wir laden Sie für die beiden Veranstalter des Fachtages ganz herzlich zur Teilnahme und zum Mitdenken ein!
Jürgen Mattis
Evangelischer Regionalverband
Frankfurt am Main
4
Ute Sauer
Stadtschulamt Frankfurt am Main
Tagesprogramm
Tagesprogramm
Uhr
ab 9:30
10:00
10:30
11:30
12:30
Anmeldung und Stehcafé
egrüßung
B
Pfarrerin Esther Gebhardt
Vorsitzende des Vorstandes des Evangelischen Regionalverbandes
Frankfurt am Main
Ute Sauer
Leiterin des Stadtschulamtes Frankfurt am Main
ortrag I
V
Die Innere Haltung ausrichten auf Gerechtigkeit und Demokratie!
Zur sozialen und politischen Relevanz der Bildungs- und Sozialarbeit
unter Bedingungen des Pluralismus und der Transnationalisierung
Dr. Julian Culp
Leibnitz-Forschungsgruppe „Transnationale Gerechtigkeit“,
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main
anschließende Diskussion
Vortrag II
Moralische Normen in der sozialen Arbeit am Beispiel des Capability Approaches
und verwandter Ansätze
Dr. Rebecca Gutwald
Lehrstuhl Philosophie IV der Ludwig-Maximilians-Universität München
anschließende Diskussion
Mittagspause
13:30
bis 15:30
11 Denkräume zu „Innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit“
Kaffeepause
15:45
16:00
Abschlussdiskussion
Zum Verhältnis von Bildungspraxis und ethischer Theoriebildung
bzw. Moralphilosophie
Moderation: Pfarrer Jürgen Mattis
Evangelischer Regionalverband Frankfurt am Main
Ende der Veranstaltung
17:00
5
denkräume
11 Denkräume
1.Die Bedeutung evangelischer Sozialethik für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Prof. Dr. Birgit Bender-Junker, Evangelische Hochschule Darmstadt
Evangelische Sozialethik verfügt über keinen für alle verbindlichen Kanon von Themen und Leitorientierungen. Vielmehr
erwachsen dieser Sozialethik aus der konkreten Situation von verantwortlich Handelnden immer neue Herausforderungen. Birgit Bender-Junker wird Grundlinien skizzieren, die einen gewissen Konsens unter evangelischen Sozialethiker/-innen darstellen. Was diese Grundlinien für die Haltung in der Arbeit bedeuteten, ist dann Thema der Diskussion.
Moderation: Dr. Gisela Matthiae, Pfarrerin für Frauenarbeit und Leiterin
des EVAngelischen Frauenbegegnungszentrums in Frankfurt am Main
2.Die Bedeutung des Partizipations- und Demokratiediskurses der Bürgergesellschaft für die innere Haltung
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Dr. Reinhild Hugenroth, Bildungsberaterin und Sprecherin der AG „Bildung/Qualifizierung“ im
­Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, Berlin
Die Interdependenzen von Bildung auf der einen und von demokratischen Staatsordnungen auf der anderen Seite
stehen im Mittelpunkt dieses Denkraums. Dieser Denkfigur liegt die Annahme zugrunde, dass eine vitale bürgerschaftliche Demokratie durch Bildungsprozesse ihre eigenen kulturellen und moralischen Bestandsvoraussetzungen
stets wieder neu erzeugen muss. Die Verbindungen zwischen Erziehung und politischer Freiheit, Bildung und Demokratie werden in den Blick genommen und reflektiert.
Moderation: Dr. Elard Apel, Pädagogische Grundsatzplanung im Stadtschulamt Frankfurt am Main
3.Die Bedeutung eines Ansatzes der Nachhaltigkeit für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Axel Klimek, Geschäftsführer der ISIS-Academy GmbH, Hofheim
Wie entwickelt der Mensch eine verantwortliche Lebensführung für nachfolgende Generationen? Kann eine solche
Lebensführung zum Ziel und zur Handlungsleitlinie in der Bildungs- und Sozialarbeit werden? Die Initiierung von
langfristigen Strategien in Entwicklungs- und Veränderungsprozessen ist ein zentrales Thema der Nachhaltigkeit.
Hierzu wird die ISIS-Methode zum Bereich Nachhaltige Entwicklung vorgestellt: I – Indikatoren, S – Systemische
Verknüpfung, I – Innovation, S – Strategie.
Moderation: Esther Kaiser, pädagogische Koordinatorin im Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit in
Frankfurt am Main e.V.
4.Die Bedeutung des systemischen Ansatzes für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Günther Emlein, Pfarrer an der Universitätsmedizin Mainz, Lehrender Supervisor der Systemischen Gesellschaft
„Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird“ (Heinz von Foerster). Die anklingende Philosophie heißt: Es ist gut, stets in einer Weise zu handeln, welche die Freiheit des anderen und die der Gemeinschaft
vergrößert. Je größer die Freiheit, desto größer die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben,
für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Nur wer frei ist, also immer auch anders agieren könnte,
kann verantwortlich handeln.
Moderation: PD Dr. Wolfgang Schrödter, Leiter des Evangelischen Zentrums für Beratung in Höchst des
­Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt am Main
5.Die Bedeutung der Menschenrechte für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Prof. Dr. Sandro Bliemetsrieder, Fachbereich Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik an der Hochschule
Esslingen
In der Sozialen Arbeit geht es immer auch um moralische Orientierungspunkte. Die Menschenrechte sind hierfür eine
Notwendigkeit, nicht zuletzt aufgrund der Missachtungserfahrungen menschlicher Würde. Sie stellen, auf Grundlage
des universalen Begriffs der Menschenwürde, eine Liste sozialer, psychischer und physischer Verfasstheiten dar. Die
Menschenrechtsorientierung wird mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen konfrontiert, und zwar im Horizont
von Bedürfnisgerechtigkeit, Autonomie, Solidarität und Verantwortung.
Moderation: Maike Henningsen, Leiterin Arbeitsbereich Jugendhilfe und Täter-Opfer-Ausgleich im
­Evangelischen Regionalverband Frankfurt am Main
6.Die Bedeutung des Diversity-Ansatzes für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Prof. Dr. Margitta Kunert-Zier, Fachhochschule Frankfurt am Main
Die Idee von Diversity wurde nicht aus dem wirtschaftlichen Kontext generiert. In Wissenschaft, Philosophie und
Politik sind Forderungen der Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit weit vorher bekannt. Sie zielen darauf ab,
dass alle Menschen in ihrer Gleichheit und ihren Differenzen bzw. Diversitäten an allen gesellschaftlichen Ressour-
6
denkräume
cen partizipieren können müssen und mit dieser Teilhabe auch anerkannter Teil der Gesellschaft werden. Welche
Bedeutung hat diese Idee für die Soziale Arbeit?
Moderation: Steffen Kurz, Sozialpädagogische Förderung und Jugendhilfeangebote in Schulen im
­Stadtschulamt Frankfurt am Main
7.Die Bedeutung der Kompetenzorientierung für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Dr. Klaus-Dieter Dohne, Screen Team und Culture Work, Göttingen
Die Ausbildung von Metakompetenzen und die Beobachtung von Kompetenzentwicklung sind zentraler Bestandteil
der Entwicklung von Menschen. Die neueren Untersuchungen und Erkenntnisse im Bereich der Hirnforschung geben
Hinweise dazu, welche Kompetenzen beispielsweise die Beziehungsfähigkeit von Menschen verbessert und welche
diese einschränken oder unterbinden. Es wird die Methode und Bedeutung eines auf den Erkenntnissen der Hirnforschung basierenden Verfahrens zur Kompetenzfeststellung vorgestellt.
Moderation: Miriam Schmidt-Walter, Geschäftsführerin im Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit
in Frankfurt am Main e.V.
8.Die Bedeutung einer radikalen Individualethik – am Beispiel der Kulturphilosophie Albert Schweitzers – für
die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Dr. Gottfried Schüz, Vorsitzender der Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum, Frankfurt am Main
Vor 100 Jahren gab der Philosoph, Theologe und Musiker Albert Schweitzer eine aussichtsreiche Doppelkarriere als
Wissenschaftler und Organist auf, um in Lambarene (Gabun) eine Urwaldklinik aufzubauen. Daneben schrieb er eine
„Kulturphilosophie“, die in der Leitidee der Ehrfurcht vor dem Leben gipfelt. Darin begründet er eine radikale Individualethik, die persönliche Gesinnung und Weltverantwortung miteinander verbindet. Die Aktualität von Schweitzers
Ethik in Angesicht der gegenwärtigen Herausforderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik wird diskutiert.
Moderation: Bernd Ackermann, Geschäftsführer im Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit
in Frankfurt am Main e.V.
9.Die Bedeutung von Inklusion für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Dr. Thomas Ebers, 423 Institut für Angewandte Philosophie und Sozialforschung, Bonn
Die philosophisch-ethische Herausforderung, um die es in der Inklusion geht, wird verfehlt, wenn Inklusion bloß als
Fortsetzung von Integration gefasst wird. Beiden Konzepten liegen vielmehr grundlegend unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit zugrunde. Diese Vorstellungen finden sich im aktuellen philosophischen Gerechtigkeitsdiskurs wieder. Mit der gesellschaftlichen Debatte um Inklusion wird die Frage gestellt, in welcher Gesellschaft wir
leben wollen.
Moderation: Petra Zender, Pädagogische Grundsatzplanung im Stadtschulamt Frankfurt am Main
10.Die Bedeutung der Thesen von Martha Nussbaum zu Demokratie und Bildung für die innere Haltung in der
Bildungs- und Sozialarbeit
Prof. Dr. Ute Gahlings, Institut für Praxis der Philosophie und Fachbereich Philosophie,
Technische Universität Darmstadt
„Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht“, so lautet der Titel der aktuellen Streitschrift der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum gegen die Ökonomisierung der Bildung. Darin betont sie sowohl Eigenwert
und Sinnhaftigkeit von Bildung als auch deren Beitrag zur Entwicklung einer pluralistischen Gesellschaft. Ute Gahlings stellt die zentralen Thesen dieses Manifests vor dem Hintergrund der philosophischen Traditionen Nussbaums
vor, und lädt die Teilnehmenden zum philosophischen Austausch ein.
Moderation: Dr. Christiane Wessels, Referentin im Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung des
Zentrums Bildung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau
11.Capabilities, Resilienz und Nachhaltigkeit und ihre Relevanz für die innere Haltung
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Dr. Rebecca Gutwald, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft,
Ludwig-Maximilians-Universität München
Nach dem „Capability Approach“ sollen Menschen bestimmte Fähigkeiten und Möglichkeiten haben, um ein gutes
Leben führen zu können. „Resilienz“ und „Nachhaltigkeit“ sind wesentlicher Teil der Zieldefinitionen im Bildungsund Jugendhilfekontext. Die daraus resultierenden Handlungsempfehlungen dieser vieldeutigen Begriffe hängen
wesentlich davon ab, wie diese verstanden werden. Unterstützend wirkt die (deskriptive und normative) Begriffsausdeutung dann, wenn sie es schafft, aus ethischen Theorien konkrete Konzepte und Empfehlungen für die Praxis
abzuleiten. Dies soll im Denkraum geschehen.
Moderation: Monika Ripperger, Fachbereichsleiterin Kindertagesbetreuung im Stadtschulamt
Frankfurt am Main
7
Grusswort
Grußwort
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste,
sehr geehrte Frau Dr. Gutwald und Herr Dr. Culp,
sehr geehrte Referentinnen und Referenten der Denkräume,
sehr geehrte Kooperationspartner des Evangelischen Regional­
verbandes, wertes Vorbereitungsteam,
liebe Frau Gebhardt!
Die heutige Fachtagung widmet sich dem Thema „Innere Haltung
– philosophische und ethische Standpunkte in der Bildungs- und
­Sozialarbeit“.
Sie nimmt in ihrer Intention Fragestellungen aus der Veranstaltungsreihe des „Kooperationsverbundes Schulentwicklung und Jugendhilfe
Ute Sauer, Leiterin des Stadtschulamtes
der Stadt Frankfurt am Main
in Frankfurt“ auf. In positivem Sinne irritierend wirkte und wirkt ein
Kamingespräch mit Prof. Dr. Ziegler, Universität Bielefeld, nach, der
im Sinne des Capability-Ansatzes von Martha Nussbaum, die Frage aufrief, was denn ein „gutes Leben“
sei und die gängige Bildungs- und Jugendhilfepraxis kritisch betrachtete. Er zeigte für die Bereiche
Bildung, Erziehung und Sozialisation mit dem Werk von Martha Nussbaum eine Vielfalt an herausfordernden und weiterführenden Anknüpfungspunkten auf. Wir möchten mit der heutigen Veranstaltung
diesem aus unserer Sicht dringend nötigen Professions­diskurs Raum geben.
An dieser Stelle bedanke ich mich sehr herzlich für die gute Zusammenarbeit mit dem Evangelischen
Regionalverband bei der Vorbereitung dieses Tages. Herzlichen Dank auch an die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter meines Amtes und allen, die auch heute mitwirken.
Und - würde ich mir selbst die Frage stellen, woran ich heute um 17:00 Uhr merke, dass diese Fach­
tagung gelungen ist, dann wäre meine Antwort wohl folgende: Der Tag war reich an Inspirationen.
Er hat Lust auf mehr gemacht, weil die Referentinnen und Referenten die richtige Sprache gefunden
haben. Er hat Sie in den Dialog zu unseren Inneren Haltungen geführt und mit Dialog meine ich: gemeinsames Ergründen, gemeinsames Denken und Nachdenken.
Das Stadtschulamt organisiert Bildungs- und Betreuungsangebote für alle Kinder und Jugendlichen in
Frankfurt im Altersspektrum der 0-21 Jährigen. Die von uns als Amt mitverantwortete Praxis reicht von
der Kindertagesbetreuung über die Betreuungs- und Jugendhilfeangebote in Schulen bis zu Programmen
der Beruflichen Orientierung.
Wir treten mit Überzeugung für ein ressortübergreifendes Denken und Handeln zu zentralen Themen der
Schulentwicklung und Jugendhilfe ein. Dazu bedarf es aus unserer Sicht der Verständigung zur Inneren
Haltung, zu unseren ethischen Grundsätzen und zu grundlegenden Fragen der Gerechtigkeit, Bildung
und Demokratie.
Ich freue mich deshalb sehr, dass heute hier Fachkräfte aus verschiedensten Feldern der Jugendhilfe,
der Beratung, der Erwachsenenbildung, der Schule, der Ämter und aus unterschiedlichen Ebenen zusammengekommen sind und sich zu diesem spannenden Thema als „Gleiche“ in den Dialog begeben wollen.
Die philosophische Ausrichtung der heutigen Theorie-Impulse konfrontiert Sie vielleicht mit ungewohnten Akzentuierungen. In Vorbereitung dieses Fachtages hatten wir manchmal das Gefühl, über unseren
Professionen-Horizont „hinauszusegeln“. Ich darf Ihnen versichern, dass unsere kleinen philosophi-
8
Grusswort
schen Abstecher sehr bereichernd waren und mir gut in Erinnerung geblieben sind. Es gilt dabei,
­Begründungszusammenhänge zu erörtern und Prinzipien abzuwägen, in der Hoffnung, dass wir uns so
in unseren Überzeugungen der Realität annähern und vor allem unsere Praxis realitätstauglicher oder
auch alltagstauglicher machen.
Als Leiterin des Stadtschulamtes lege ich mein besonderes Augenmerk auf das Gelingen von Bildungsund Inklusionsprozessen. Die Vorstellung eines „richtigen Lebens“, die Selbstbestimmtheit, das Selbstverständnis als Mensch, bestimmt den Bildungsprozess und die Gestaltung des Kontextes innerhalb
dessen Kinder und Jugendliche ihre Fähigkeiten zur Entfaltung bringen, gesund aufwachsen und ein
jeweils erfülltes Leben führen können.
Wir stehen aktuell unter einem hohen Rechtfertigungsdruck. Wirtschaftliche Interessen, der Fach­
kräftemangel und die kommunale Finanzsituation nehmen Einfluss auf Betreuungsangebote, Bildungsprogramme und Curricula der Beruflichen Orientierung. Wir erlauben uns daher Fragen zu stellen. Entspricht es unserem Menschenbild und Bildungsideal, das ökonomisch rentable Rädchen im Getriebe
auszubilden? Steht eine solche Ausrichtung nicht der Intention einer Veränderung der Alltagskultur
auf dem Weg zur Inklusion entgegen? Muss es uns nicht darum gehen die Fähigkeit zu vermitteln, den
Dingen reflektiert gegenüberzustehen und so in größeren, manchmal anderen Dimensionen zu denken
und zu handeln? Und ist es vielleicht genau diese Fähigkeit, die es dem Menschen ermöglicht, sowohl
im individuellen, als auch im ethischen Sinne ein gutes Leben zu führen?
Wo sind unsere eigenen Konzepte und Ansätze der Ressourcenorientierung, der Subjektorientierung, der
Sozialraumorientierung, der Partizipation und des Empowerments einzuordnen?
Welche tragfähigen und inhaltlich fruchtbaren Bezüge lassen sich zu ethisch-philosophischen Theorien
herstellen und dienen sie tatsächlich der grundsätzlichen Orientierung im Handlungskontext Schule und
Jugendhilfe?
Ich bin sehr sicher, Demokratien brauchen mündige Bürgerinnen und Bürger, die eigenständig denken,
Traditionen infrage stellen und sich in die Lage ihrer Mitmenschen hinein versetzen können.
Wahrheit verbirgt sich auch in den Tiefen einer Erkenntnis. Auch wenn man & frau die Dinge tief durchdenkt, dann werden sie oft ganz einfach und können für den Alltag leicht handlungsleitend sein.
In diesem Sinne wünsche Ich Ihnen und uns einen gelingenden Fachtag, spannende Dialoge und glückliche Momente!
Vielen Dank.
Ute Sauer
Stadtschulamt Frankfurt am Main
9
10
Vorträge
11
vortrag I
Vortrag I
Die innere Haltung ausrichten auf Gerechtigkeit und Demokratie!
Zur sozialen und politischen Relevanz der Bildungs- und Sozialarbeit
unter Bedingungen des Pluralismus und der Transnationalisierung
Dr. Julian Culp, Leibniz-Forschungsgruppe „Transnationale Gerechtigkeit“,
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main
Dr. Julian Culp
1. Einleitung
Zunächst möchte ich Herrn Pfarrer Jürgen Mattis
vom Evangelischen Regionalverband Frankfurt und
Frau Ute Sauer vom Stadtschulamt der Stadt Frankfurt am Main herzlich für die Einladung danken,
auf diesem Fachtag einige politisch-philosophische Überlegungen zur Sozial- und Bildungsarbeit
vortragen zu dürfen. Es ist mir eine Ehre, zu dem
Kreis der Referentinnen und Referenten zu gehören, die heute auf vielfältige Weise philosophische
und ethische Standpunkte in der Sozial- und Bildungsarbeit vertreten und beleuchten werden. Die
lange und breit gefächerte Liste der elf Denkräume bzw. Fachdiskussionen, die heute Nachmittag
stattfinden werden, macht deutlich, dass es sehr
viele Berührungspunkte zwischen Philosophie und
Ethik auf der einen und Sozial- und Bildungsarbeit auf der anderen Seite gibt. Philosophische
und ethische Themen wie Nachhaltigkeit, Menschenrechte, „Diversity“, Inklusion, Demokratie
und „Capabilities“ sind, wie das Faltblatt dieses
Fachtags verrät, in der Tat auf spannende Weise
mit der Bildungs- und Sozialarbeit verknüpft.
Dennoch scheint es mir der Fall zu sein, dass bestimmte Bereiche der praktischen Philosophie –
und hierbei denke ich insbesondere an die politische Philosophie – Fragen der Erziehungslehre,
also der Pädagogik, bis vor kurzem eher vernachlässigt haben.1 Allerdings ist erfreulicherweise bereits eine Trendwende zu erkennen, da sich viele
namhafte politische Philosophinnen und Philosophen unlängst wieder verschiedenen Fragen einer
Philosophie der Bildung gewidmet haben – dazu
zählen u.a. Axel Honneth, Julian Nida-Rümelin
und Martha Nussbaum.2 Leider kann ich an dieser
Stelle nicht auf die Differenzen dieser drei unterschiedlichen Denker eingehen. Ich möchte ihnen
1)Axel Honneth ist der Auffassung, dass „jede Vorstellung davon, dass eine vitale Demokratie durch allgemeine Bildungsprozes stets wieder erst erzeugen muss, […] der politischen
se ihre eigenen kulturellen und moralischen Bestandsvoraussetzungen
Philosophie mittlerweile abhanden gekommen [ist].” Honneth, „Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. Ein vernachlässigtes
Kapitel der politischen Philosophie”, Zeitschrift für Erziehungswissenschaften (2012) 15: 429-442, 430. Viele Überlegungen dieses
Vortrages, insbesondere in dessen vierten Abschnitt, stützen sich auf diesen Aufsatz Honneths.
2)Honneth a. a. O.; Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung (Stuttgart: Körber-Stiftung, 2012); Martha Nussbaum, Nicht
für den Profit! Warum Bildung Demokratie braucht (TebiaPress, 2012). Eine politische Philosophin, die Fragen der Pädagogik bereits
früher genauer untersucht hat, ist Amy Gutmann; siehe ihr Education for Democracy (Princeton: Princeton University Press, 1999).
12
vortrag I
aber in ihrem Vorhaben folgen, die kaum zu überschätzende Wichtigkeit herauszuarbeiten, welche
die Bildungs- und Sozialarbeit für die Lebendigkeit und Widerstandsfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft besitzen.
Bevor ich kurz etwas genauer auf den Inhalt und
die Struktur meines Vortrages eingehe, möchte
ich vorausschicken, dass ich mich diesem Thema auf explorative Weise nähern muss, da meine eigenen Schwerpunkte in Forschung und Lehre
stärker auf gerechtigkeits-, entwicklungs- und demokratietheoretischen Fragen liegen, und ich theoretische und praktische Fragen der Bildungs- und
Sozialarbeit dabei großteils ausklammere. Deswegen möchte ich um Verständnis bitten, sollte ich
womöglich Themen, die für in der Bildungs- und
Sozialarbeit professionell tätige Personen vertraut
sind, allzu oberflächlich bzw. mit fehlender Sensibilität für die besonderen praktischen Erfordernisse und kontextspezifischen Problemlagen behandeln.
Ich beabsichtige in diesem Vortrag zweierlei zu
zeigen: erstens, dass das primäre Erfordernis
sozialer Gerechtigkeit darin besteht, deliberative – also von einem lebendigem Austausch von
Argumenten getragene – demokratische Strukturen einzurichten bzw. zu vertiefen. Und zweitens, dass solche demokratischen Strukturen Bildungs- und Sozialarbeit benötigen, welche eine
demokratische politische Kultur befördern. Bildungs- und Sozialarbeit müssen dazu beitragen,
demokratische Kompetenzen von Bürgerinnen und
Bürgern herauszubilden, um dadurch den Fortbestand einer demokratischen politischen Kultur zu
sichern. Zu diesen demokratischen Kompetenzen
zählen insbesondere die Bereitschaft zur Kooperation, die Fähigkeit sich selbst und andere zu respektieren sowie das Vermögen der begründeten
Stellungnahme. Gelingt es den Einrichtungen der
Bildungs- und Sozialarbeit, Bürgerinnen und Bürger dabei zu unterstützen, demokratische Kompetenzen zu erwerben, so sind sie der Nährboden
einer gerechten und demokratischen Gesellschaft.
Gegen Ende dieses Vortrages gehe ich auf zwei
Phänomene ein, die heutige Gesellschaften besonders kennzeichnen, nämlich den weltanschaulichen Pluralismus und die Transnationalisierung.
Dabei versuche ich, die spezifischen Herausforderungen zu skizzieren, welche sich einer der Demokratie und sozialen Gerechtigkeit verpflichteten
Bildungs- und Sozialarbeit angesichts dieser Phänomene gegenwärtig stellen.
2. E ine politische Diskurstheorie der
Gerechtigkeit
Ich beginne nun mit der Darstellung einiger Elemente von Rainer Forsts Gerechtigkeitstheorie,
um zu verdeutlichen, weshalb die Einrichtung
bzw. Vertiefung demokratischer Strukturen als Erfordernis der Gerechtigkeit zu verstehen ist.3 Forst
– heute Professor für politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt –
ist ein Schüler der beiden äußerst wirkmächtigen
Philosophen Jürgen Habermas und John Rawls. Er
hat eine eigene Gerechtigkeitstheorie entwickelt,
die sowohl an die diskurstheoretischen Arbeiten
von Habermas als auch die gerechtigkeitstheoretischen Arbeiten von Rawls anschließt.4
Forst vertritt ein dezidiert politisches Gerechtigkeitsverständnis, demzufolge der primäre Gerechtigkeitsanspruch darin besteht, als Rechtfertigungswesen innerhalb einer politischen
Gemeinschaft respektiert zu werden. Dies ist allen
Bürgerinnen und Bürgern Forst zufolge deswegen
geschuldet, weil sie ein fundamentales, moralisches Recht auf Rechtfertigung besitzen. Diesem
3)Forsts wichtigste Arbeiten zur Gerechtigkeit sind Kontexte der Gerechtigkeit (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994), Das Recht auf Rechtfertigung (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2007) und Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse (Berlin: Suhrkamp, 2011).
4)Siehe insbesondere Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen
Rechtsstaats (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992), Erläuterungen zur Diskursethik (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993) Philosophische
Texte Band 4 – Politische Theorie (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009) sowie John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (Frankfurt/M.:
Suhrkamp, 1979) und Politischer Liberalismus (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998).
13
vortrag I
Dr. Rebecca Gutwald, Vortragende, Ludwig-Maximilians-Universität, Esther Gebhardt,
Vorsitzende des Vorstandes des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt am Main, Ute
Sauer, Leiterin des Stadtschulamtes Frankfurt am Main
moralischen Grund-Recht entsprechend haben sie
den Anspruch, nur unter solchen Institutionen zu
leben, die ihnen gegenüber mit reziproken und allgemeinen Gründen gerechtfertigt werden können.
In politischer Hinsicht verlangt dies, dass alle
Bürgerinnen und Bürger innerhalb einer sozialen
und politischen Ordnung über hinreichend Rechtfertigungsmacht verfügen. Dies soll heißen, dass
Bürgerinnen und Bürger die gegebenen Verhältnisse effektiv in Frage stellen können müssen.
Sie sollen eine möglichst inklusive, von einem
Austausch von kritischen Argumenten getragene,
öffentliche Prüfung der gegebenen Verhältnisse
einleiten können.
Eine derartige Gerechtigkeitsauffassung bildet in
Forsts Arbeiten den normativen Kern einer kritischen Theorie der Gesellschaft und ist als eine Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse zu verstehen.
Schließlich untersucht sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse daraufhin, inwieweit
diese es Bürgerinnen und Bürgern erlauben, die
gegebenen sozialen und politischen Ordnungen zu
hinterfragen und Rechtfertigungen für den Status
quo einzufordern.
Dieses politische Verständnis besteht somit in einer dezidiert prozeduralen Sichtweise des Gerechtigkeitsbegriffs. Dieser Sichtweise entsprechend
fragt eine Theorie sozialer Gerechtigkeit nach den
grundlegenden sozialen und politischen Prozessen, welche politische Entscheidungen strukturieren und auf diese Weise bestimmte soziale, ökonomische, kulturelle und ökologische Ergebnisse
hervorbringen. Demgegenüber vertreten viele Theoretikerinnen eine ergebnisorientierte Sichtweise,
welche besagt, dass soziale Gerechtigkeit anhand
einer Liste konkreter Ergebnisse verschiedener Art
zu beurteilen ist, etwa mit Blick auf unterschiedliche menschliche Verwirklichungschancen. Martha
Nussbaums politische Philosophie fundamentaler
Gerechtigkeit ist ein prominentes Beispiel für eine
ergebnisorientierte Sichtweise.5
Dagegen sieht die prozedurale Auffassung der Gerechtigkeit von Forst die Herstellung und Vertiefung demokratischer Verhältnisse als wichtigste
gesellschaftliche Aufgabe an. Nur dadurch wird das
moralische Recht auf Rechtfertigung aller Bürgerinnen und Bürger respektiert. Schließlich gewährleisten demokratische Verhältnisse, dass Bürger
über ein hinreichendes Maß an Rechtfertigungsmacht verfügen, um die gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage stellen zu können. Hierbei wird
die Praxis der Demokratie als ein diskursiver Austausch von Gründen zwischen Mitbürgerinnen und
Mitbürgern verstanden, die sich darüber verständigen, wie sie gemeinsam leben wollen und was
sie einander wechselseitig schulden. Obgleich die
konkreten, substantiellen Forderungen der Gerechtigkeit erst innerhalb und mittels einer solchen
demokratischen Praxis des „Gebens-und-Nehmensvon-Gründen“ bestimmt und gerechtfertigt werden
können, so ist die Ermöglichung einer solchen
Praxis doch bereits eine der jeweiligen demokratischen Praxis vorausgehende Forderung der Gerechtigkeit. Die spezifische Gestalt der demokratischen
Praxis muss allerdings je nach historischem, politischem und kulturellem Kontext auf eigentümliche
Art und Weise bestimmt werden.
Es wurde gerade also – in einem ersten Schritt –
aufgezeigt, dass entsprechend Forsts politischer
bzw. diskurstheoretischer Auffassung von Gerechtigkeit die Etablierung und die Vertiefung demo-
5)Martha Nussbaum, Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit (Berlin: Suhrkamp, 2010),
insbesondere S. 103-132.
14
vortrag I
kratischer Strukturen als wichtigste gesellschaftliche Aufgaben gelten. Hieran anschließend soll nun
– in einem zweiten Schritt – geklärt werden, inwiefern die Bildungs- und Sozialarbeit in der Stadt
Frankfurt am Main und darüber hinaus zur deliberativ-demokratischen Gestaltung politischer Verhältnisse einen Beitrag leisten und auf diese Weise
ungerechte Verhältnisse überwinden können.
Im Rahmen dieses zweiten Schrittes soll eine Reflexion hinsichtlich aktueller politischer Entwicklungen stattfinden, um die spezifischen Herausforderungen an die Bildungs- und Sozialarbeit in der
Gegenwart besser verstehen zu können. Deswegen
nehme ich einerseits Bezug auf die anhaltende
Transnationalisierung nahezu aller Bereiche sozialen Lebens, und gehe andererseits auch kurz auf
den fortwährenden und nicht mehr wegzudenkenden weltanschaulichen Pluralismus ein, der so genannte postsäkulare Gesellschaften charakterisiert.
3. Der Beitrag der Bildungs- und
Sozialarbeit zur Demokratie
Ich möchte in diesem zweiten Schritt zunächst
darauf zu sprechen kommen, weshalb und inwiefern Bildungs- und Sozialarbeit für die Herstellung
bzw. den Erhalt demokratischer Verhältnisse erforderlich sind. Wirft man einen Blick zurück auf die
Geschichte des politischen Denkens, so ist klar
erkennbar, dass viele der prominentesten neuzeitlichen Theoretiker der Demokratie sich ausgiebig
mit Fragen der Erziehungslehre und teils auch
mit damit einhergehenden Fragen der angemessenen Ausgestaltung erzieherischer Einrichtungen
beschäftigt haben. Hierzu zählen u.a. Immanuel
Kant, Jean-Jacques Rousseau, Emile Durkheim
und John Dewey.
Der Grund hierfür scheint auf der Hand zu liegen: ohne erzieherische Einrichtungen, welche
Menschen darin unterrichten, ihre Unmündigkeit
abzulegen und sich ihrer Freiheit und der damit
verbundenen Verantwortung gewahr zu werden,
ist eine demokratische im Sinne einer sich selbst
bestimmenden politischen Gemeinschaft kaum
vorstellbar. Denn sofern wir unter einer demokratischen Gesellschaft eine solche verstehen, in
welcher es deren Mitgliedern selbst überlassen ist,
kollektiv über sich selbst zu herrschen, so ist es
zuallererst erforderlich, dass sich die Mitglieder
einer demokratischen Gesellschaft auch selbst als
freie, selbstbestimmte Wesen ansehen. Der Sozialphilosoph Axel Honneth formuliert diesen Gedanken so: „Der kleine, naturgetriebene Mensch
muss erst einen Prozess der auf Freiheit zielenden
Erziehung durchlaufen haben, bevor er Mitglied
eines sich selbst regierenden Staatsvolks werden
kann.“6
Es genügt also nicht, sich allein demokratietheoretisch auf die Frage der Institutionen zu konzentrieren, innerhalb welcher sich Personen als
freie und gleiche Autorinnen und Adressatinnen
von Gesetzen anerkennen können. Man muss sich
ebenfalls darüber Gedanken machen, wie es gelingen kann, dass Menschen sich überhaupt als
Freie und Gleiche begreifen. Für Letzteres sind
zweifelsohne öffentliche Bildungsinstitutionen
und solche Institutionen flankierende soziale Einrichtungen, also Einrichtungen, welche bestimmte
Defizite kompensieren und Fehlentwicklungen korrigieren, von besonderer Wichtigkeit.
Es ist so gesehen geradezu offensichtlich, dass
eine demokratische Gesellschaft eine Art von
Bildungs- und Sozialarbeit benötigt, welche Menschen zu Bürgerinnen und Bürgern formt, die über
grundlegende demokratische Kompetenzen bzw.
Fähigkeiten verfügen. Die soziale und politische
Relevanz der Bildungs- und Sozialarbeit besteht
also darin, dass diese dazu beitragen können, die
politisch-kulturellen Voraussetzungen für ein vernünftig funktionierendes demokratisches politisches Gemeinwesen zu schaffen.
Um diesen Gedanken zu konkretisieren, möchte
ich kurz drei solcher demokratischer Kompetenzen
nennen, zu deren Herausbildung die Bildungsund Sozialarbeit sehr viel beisteuern können:
6) Honneth, a.a.O., S. 429.
15
vortrag I
(1) erstens, die Bereitschaft zur sozialen und politischen Kooperation;
(2) zweitens, die Fähigkeit, sich selbst und andere
zu respektieren;
(3) drittens, das Vermögen, begründet Stellung zu
nehmen. Erst durch das Erlernen bzw. Wiedererlernen dieser demokratischen Kompetenzen in Einrichtungen der Bildungs- und Sozialarbeit kann
eine demokratische politische Kultur entstehen.
(1) Die demokratische Kompetenz der Kooperationsbereitschaft ist eine wesentliche Charaktereigenschaft demokratischer Bürgerinnen und
Bürger, da diese, in den Worten von John Dewey,
eine „Gemeinschaft der Forschenden“ bilden,
welche als politisch Handelnde notwendig aufeinander angewiesen sind. Denn sie müssen zusammenarbeiten, um mittels des Austauschs von
Argumenten festzustellen, welche Grundsätze und
Institutionen für ihre politische Gesellschaft die
am besten gerechtfertigten sind. Schließlich soll
letztlich der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (Habermas) für die Herrschaftsausübung
maßgeblich sein, und nicht die Wünsche einiger
weniger, die über die meiste Gewalt verfügen.
Eine auf der Forstschen Gerechtigkeitstheorie
basierende deliberative Demokratietheorie folgt
nämlich nicht der Idee Platons, dass es lediglich darauf ankäme, dass eine kleine herrschende Elite – in Platons Vorstellung die Gruppe der
Philosophenkönige – gut genug gebildet ist, um
weise Entscheidungen zu treffen. Ebensowenig
16
folgt eine solche deliberative Demokratietheorie
den Vorstellungen ökonomischer Theorien der Demokratie, denen zufolge subjektive Präferenzen
mittels eines angemessenen Verfahrens aggregiert werden müssen, um zu einer rationalen politischen Entscheidung zu kommen. Vielmehr geht
eine solche deliberative Vorstellung von Demokratie davon aus, dass alle Bürgerinnen und Bürger
sich auf relevante Weise an einem kollektiven und
auf Argumenten basierendem Meinungs- und Willensbildungsprozess beteiligen können müssen.
Alle Bürgerinnen und Bürger sollen also über ein
bestimmtes Maß an normativer Autorität verfügen
und diese u.a. dazu nutzen können, um bestimmte
Präferenzen von Mitbürgerinnen und Mitbürgern
zu kritisieren und diese Präferenzen dadurch ggf.
auch zu transformieren.
Darüber hinaus soll der kollektive Meinungs- und
Willensbildungsprozess sich nicht allzu sehr an
den dominanten bzw. vorherrschenden Praktiken
und Auffassungen orientieren, sondern auf inklusive Weise alle Perspektiven berücksichtigen.
Deswegen müssen alle Bürgerinnen zudem dazu
im Stande sein, die Positionen und Meinungen
anderer wahrzunehmen, nachzuvollziehen und in
die politische Entscheidungsfindung einfließen
zu lassen. Zur demokratischen Kompetenz der
Kooperationsbereitschaft muss deswegen auch
Empathievermögen zählen bzw. eben die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und deren
Perspektive zumindest einigermaßen verstehen
zu können.
vortrag I
(2) Eine weitere demokratische Kompetenz besteht
in der Fähigkeit zur Einnahme einer respektvollen
Haltung – und zwar sowohl gegenüber anderen als
auch gegenüber sich selbst. Die Art von Respekt
um die es hier geht, ist die, sich selbst und andere
als Wesen zu respektieren, die eine Rechtfertigung
dafür verdienen, warum man sich auf eine bestimmte Art und Weise ihnen gegenüber verhält.
Demnach müssen demokratische Bürgerinnen und
Bürger sich selbst und andere als Wesen ansehen,
auf die nicht beliebig – also nicht willkürlich –
Einfluss genommen werden darf. Vielmehr müssen sie sich als Wesen ansehen, die ein Recht auf
Rechtfertigung besitzen. Wie bereits erwähnt besagt dieses moralische Grund-Recht, dass Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch darauf haben,
dass die Gesetze und politischen Maßnahmen, die
in ihrer Gesellschaft beschlossen werden, ihnen
gegenüber auf vernünftige Weise gerechtfertigt
werden können.
Sich selbst als ein Wesen mit einem solchen GrundRecht zu respektieren ist eine Voraussetzung dafür, dass es Bürgerinnen und Bürger überhaupt
wagen – und nicht ihre Scham oder ihr Minderwertigkeitsgefühl sie daran hindert –, in der Öffentlichkeit aufzutreten und für ihre Meinungen,
Überzeugungen und Ansprüche einzutreten.
Zudem ist dieser Respekt allen Bürgerinnen und
Bürgern geschuldet, denn der Gegenstand des Respekts besteht in der Fähigkeit eines jeden und
einer jeden, die gegebenen Verhältnisse und sich
selbst in Frage stellen zu können, also mittels des
eigenen Vernunftgebrauchs Kritik üben zu können. Daher muss eine solche Form des Respekts
notwendigerweise allen vernunftbegabten, kritikfähigen Personen zukommen – und nicht exklusiv
nur einer bestimmten Personengruppe. Dadurch
ist dieser Respekt nicht von kulturellen, religiösen
oder andersartigen Differenzen einiger weniger
Personen abhängig, sondern ist allen Personen
aufgrund ihres grundlegenden moralischen Rechts
auf Rechtfertigung geschuldet.
(3) Schließlich besteht eine weitere demokratische Kompetenz in dem Vermögen der begründeten Stellungnahme, welches nötig ist, um aktiv
politische Entscheidungen mitgestalten zu können, und um dazu in der Lage zu sein, gegebenenfalls seine politischen Auffassungen und sein
politisches Verhalten gegenüber anderen rechtfertigen zu können. Zur Erlangung dieses Vermögens
der begründeten Stellungnahme bedarf es basaler
kommunikativer Fähigkeiten sowohl sprachlicher
als auch schriftlicher Natur. Des Weiteren ist aber
auch ein gesellschaftliches Orientierungswissen
nötig, womit ich insbesondere spezifische historische und kulturelle Kenntnisse meine, die es
einem im jeweiligen sozialen und politischen Kontext erlauben, effektiv Einfluss zu nehmen. Ohne
Kenntnisse der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland ist es beispielsweise kaum möglich,
Deutschlands außenpolitisches Verhalten angemessen zu interpretieren und hierauf argumentativ einzuwirken. Im Wesentlichen geht es bei dem
Vermögen der begründeten Stellungnahme also
darum, seine eigenen Überzeugungen mit guten
Gründen, also mit kontextsensiblen, schlüssigen
Argumenten, darlegen zu können.
Es wäre in der Tat sehr wertvoll, Überlegungen dazu
anzustellen, auf welche Art und Weise, also mit
welcher Methode, diese demokratischen Kompetenzen in der Praxis der Bildungs- und Sozialarbeit
wohl am besten vermittelt werden könnten. Ich
kann an dieser Stelle allerdings nicht mehr sagen,
als dass eine gewohnheitsmäßige Einübung einer
demokratischen Praxis, also ein alltägliches Training kooperativer, respektvoller und kommunikativ-verantwortlicher Verhaltensweisen hierfür wohl
unverzichtbar ist. Eine bloß theoretische Wissensvermittlung von demokratischen Grundsätzen ist
mit großer Wahrscheinlichkeit unzureichend.
Kooperative Formen des Lernens, spielerisches
Praktizieren wechselseitiger Perspektivübernahme
und eine alltägliche, selbstverständliche Einbindung in kollektive Entscheidungsprozesse scheinen mir daher essentiell, um in Personen demokratieförderliche charakterliche Eigenschaften
hervorzubringen. Das Erlernen der drei demokratischen Kompetenzen – also der Bereitschaft zum
kooperativen Austausch von Argumenten, der Fähigkeit zum respektvollen Umgang miteinander und
der Kapazität, begründet Stellung zu nehmen – sind
17
vortrag I
so gesehen auf fundamentale Weise auf eine diese
Kompetenzen trainierende Praxis angewiesen. Die
Einrichtungen der Bildungs- und Sozialarbeit– um
kurz bei diesem Bild zu bleiben – sind die hierfür
maßgeblichen Trainingsstätten.
Ich möchte abschließend nun noch die gegenwärtigen Herausforderungen des weltanschaulichen
Pluralismus und der Transnationalisierung skizzieren, um die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen nicht zu sehr aus den Augen zu verlieren.
4. Die Herausforderung des
weltanschaulichen Pluralismus
Die Herausforderung des weltanschaulichen Pluralismus besteht darin, dass ein solcher Pluralismus
es verunmöglicht, dass eine einzige – etwa eine
religiöse – Weltanschauung als Grundlage der Verbindlichkeit demokratischer Normen dienen könnte. Die Verbindlichkeit der demokratischen Idee,
dass sich die Adressaten von Gesetzen selbst auch
als Autoren dieser verstehen können müssen, darf
nicht nur auf einer bestimmten Weltanschauung
beruhen. Andernfalls ist eine stabile politische
Ordnung angesichts des weltanschaulichen Pluralismus nicht sicherzustellen. Daher ist es unter
der Bedingung eines weltanschaulichen Pluralismus notwendig, eine eigenständige moralische
Grundlage der Verbindlichkeit demokratischer
Normen zu identifizieren, welche für alle Bürgerinnen und Bürger trotz ihrer vielfältigen religiösen
und nicht-religiösen Weltanschauungen gültig ist.
Um sich die Komplexität dieser Herausforderung
zu verdeutlichen, ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, welche Strategien des Umgangs mit
dieser Herausforderung zum Scheitern verurteilt
sind. Zum einen gibt es Versuche von konservativer Seite, den weltanschaulichen Pluralismus
als eine Fehlentwicklung darzustellen, die korrigiert und durch die allgemeine Akzeptanz einer
religiösen Weltanschauung ersetzt werden müsse.
Dies sei nicht nur deswegen nötig, um den wah-
ren Glauben bzw. das menschliche Seelenheil zu
sichern, sondern auch deswegen, weil andernfalls
die politisch-kulturellen Voraussetzungen der Demokratie nicht erhalten werden könnten.
Diese konservative Strategie, nämlich im Namen
der Rettung einer demokratischen politischen
Kultur gleichsam die Dominanz einer bestimmten,
gewöhnlich religiösen, Weltanschauung verteidigen zu wollen, verstrickt sich allerdings in einem
unausweichlichem Widerspruch. Schließlich sollen
sich Bürgerinnen und Bürger in Demokratien als
Freie und Gleiche erachten, welche über die Gewissens-, Meinungs- und Versammlungsfreiheiten
verfügen, ihren je persönlichen bzw. gruppenspezifischen Vorstellungen des guten Lebens zu folgen. Verschiedene Personen und Gruppen dürfen
also ihre je unterschiedlichen Lebenserfahrungen
unterschiedlich interpretieren und beurteilen. Daher ist es unvermeidlich, dass Mitglieder echter
Demokratien eine Pluralität an Weltanschauungen
vertreten. Eine Demokratie ist mit der alleinigen
Dominanz einer bestimmten religiösen – oder auch
nicht-religiösen – Weltanschauung inkompatibel.7
So betrachtet ist es geradezu verwunderlich, dass
die Soziologie erst vor nicht allzu langer Zeit die
Säkularisierungsthese aufgegeben hat, der zufolge die Religionszugehörigkeit der Bevölkerung
moderner Gesellschaften stetig abnehmen würde.
Die These scheint auf einer gravierenden Fehleinschätzung bezüglich der religiösitätsmindernden
Effekte eines weltanschaulich neutralen Staates
zu beruhen.8
Ebenso wenig wie für den Effekt eines weltanschaulich neutralen Staates das Aussterben der
Religiosität gehalten werden darf, darf man meinen, dass ein weltanschaulich neutraler Staat keiner moralischen Grundlage bedarf. Genau hierin
besteht allerdings eine zweite fehlgeleitete Strategie mit dem weltanschaulichen Pluralismus umzugehen. Verteidiger dieser Strategie behaupten,
dass eine demokratische politische Kultur von jeglichen moralischen Überzeugungen entkernt sei,
und deswegen auch keiner geteilten moralischen
7) Dies ist eine der leitenden Einsichten von John Rawls’ wichtigem Spätwerk Politischer Liberalismus (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998).
8)Vgl. zur Relevanz von Religionen in modernen Gesellschaften José Casanova, Public Religions in the Modern World (Chicago: University of Chicago Press, 1994).
18
vortrag I
Grundlage der Verbindlichkeit demokratischer
Normen bedürfe.
Diese Strategie überzeugt deswegen, weil eine Demokratie sehr wohl auf Grundsätzen beruht, die
einen unbedingten moralischen Geltungsanspruch
besitzen. Die zentrale demokratische Idee, dass
alle Adressantinnen und Adressaten von Gesetzen
sich als deren Autorinnen und Autoren verstehen
können müssen, ist schließlich moralischer Natur.
Sie besagt, dass niemand über ein naturrechtlich
oder religiös begründetes Privileg verfügt, andere zu beherrschen. Vielmehr sind alle befugt zu
herrschen und alle Bürgerinnen müssen sich als
Autorinnen von Gesetzen verstehen können.
Ebenso hat die Erläuterung der drei demokratischen Kompetenzen gezeigt, dass eine Demokratie
auf moralischen Einstellungen wie Kooperationsbereitschaft, wechselseitigen Respekt und Verantwortlichkeit beruhen muss. Die Demokratie gründet
somit sehr wohl auf moralischen Überzeugungen.
Gerade deswegen darf eine demokratische Gesellschaft nicht darauf verzichten, in öffentlichen
Institutionen wie eben jenen Einrichtungen der
Bildungs- und Sozialarbeit bestimmte moralische
Einstellungen zu fördern. Andernfalls verschwindet
eine auf fortwährende Selbsterneuerung angewiesene demokratische politische Kultur, auf welcher
eine demokratische Herrschaftsform basiert.
5. Die Herausforderung der
Transnationalisierung
Kommen wir nun aber zu einer weiteren Herausforderung einer demokratiefördernden Bildungs- und
Sozialarbeit, nämlich der Transnationalisierung.
Die Transnationalisierung besteht in Prozessen
des sozialen, ökonomischen und kulturellen Austausches über Landesgrenzen hinweg.
Diese Prozesse, insbesondere die ökonomischen
Prozesse dieser Art, bringen Demokratien in Bedrängnis. Folgen wir einer weit verbreiteten politikökonomischen Analyse9, so liegt der Grund
hierfür in der Standortkonkurrenz, welche dem
Staatensystem innewohnt. Staaten treten in einer
ökonomisch transnationalisierten Welt in einen
Wettbewerb um Unternehmen und Investitionen.
Dadurch entsteht eine Abwärtsspirale staatlicher
Deregulierung. Folge hiervon ist ein verkleinerter,
weniger handlungsfähiger Staat und eine weniger
abgesicherte, tendenziell stärker verunsicherte
Bürgerschaft. Bürgerinnen und Bürger verlieren
somit die Fähigkeit die sie betreffenden Geschehnisse demokratisch zu kontrollieren.
Eine überzeugende Antwort auf diese Problemlage
besagt, dass Staaten sich noch stärker international zusammenschließen müssen. Denn dadurch
können sie international geltende Standards und
Normen beschließen, die Unternehmen und Investoren dann überall zu beachten haben. Somit ist
ein internationales Mindestmaß an Regulierung
festlegbar, welches der wettbewerbsbedingten
Abwärtsspirale der Deregulierung einen Riegel
vorschiebt.
Dies wirft allerdings die Frage auf, wie die dadurch entstehenden inter- und supranationalen
Institutionen auf eine mehr oder weniger demokratische Weise kontrolliert werden können. Mit
anderen Worten, wie können Bürgerinnen und
Bürger auch jenseits des Staates auf demokratische Art und Weise auf die Ausübung öffentlicher
Gewalt Einfluss nehmen?
Ohne auch nur im Ansatz hierauf an dieser Stelle antworten zu können, möchte ich lediglich auf
einen relativ offensichtlichen Punkt hinweisen: in
dem Maße, in dem demokratische Regierungsformen jenseits des Staates nötig werden, in dem
Maße bedarf es ebenso einer transnationalen, demokratischen politischen Kultur.
Die Herausforderung der Transnationalisierung besteht für die Bildungs- und Sozialarbeit deswegen
darin, zu überlegen, auf welche Weise Menschen
zu Bürgerinnen und Bürgern einer transnationalen Demokratie geformt werden können. Welche
Methoden sind anzuwenden, und welche Praktiken einzuüben, damit demokratische Kompeten-
9)Vgl. Habermas, Die Postnationale Konstellation (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998) und Miriam Ronzoni, “The Global Order: A Case of
Global Background Injustice?”, Philosophy and Public Affairs 37 (2009), 229-256.
19
vortrag I
zen nicht nur innerhalb des Staates, sondern auch
jenseits davon, zum Tragen kommen? Oder anders
gefragt, wie können transnationale politische
Identitäten entwickelt werden?
6. Schluss
Zu guter letzt möchte ich die soziale und politische Relevanz der Bildungs- und Sozialarbeit nun
aber doch noch stärker qualifizieren, da andernfalls womöglich der Eindruck entsteht, dass die
Bildungs- und Sozialarbeit mit zu vielen Erwartungen überfrachtet sind. In der Tat habe ich bislang
argumentiert, dass eine demokratische Gesellschaft essenziell auf die Bildungs- und Sozialarbeit angewiesen ist, da es anders nicht auszumachen ist, wie die fortwährende Erneuerung bzw.
die Stabilität einer demokratischen politischen
Kultur gesichert werden könnte. Allerdings ist es
offensichtlich, dass die Bildungs- und Sozialarbeit
nur dann dieser fundamentalen gesellschaftlichen
Aufgabe gerecht werden können, wenn andere
gesellschaftliche Kräfte, insbesondere jene ökonomischer und politischer Natur, nicht allzu sehr
sozial desintegrierend und dadurch demokratiehemmend wirken.10
Um dies zu illustrieren, sei der in allen wirtschaftlich fortschrittlichen Ländern gegenwärtig
existierende Trend genannt, dass sich Einkommens- und Vermögensungleichheiten verstärken.
Folglich sind die ökonomischen Ressourcen der
heranwachsenden Bevölkerung ausgesprochen ungleich verteilt. Dies wiederum erschwert selbstverständlich die Aufgabe der Einrichtungen der
Bildungs- und Sozialarbeit, Personen das demokratische Bewusstsein zu vermitteln, dass sie zumindest in politischer Hinsicht Gleiche sind und
zudem in einer demokratischen Gesellschaft politisch aufeinander angewiesen sind.
Ebenso erschwert eine oftmals von einem eindimensionalen ökonomischen Denken beherrschte Bildungspolitik die Förderung demokratischer
10) Vgl. Nida-Rümelin, a. a. O., Kap. 8.
20
Kompetenzen. Denn diese achtet sehr stark auf
Berufsqualifizierung, Leistungsorientierung und
so genannter Employability, und verliert dabei
den demokratischen Sinn öffentlicher Erziehungseinrichtungen manchmal völlig aus den Augen.
Diese Tendenzen in Politik und Wirtschaft haben
zur Folge, dass die Bildungs- und Sozialarbeit unter relativ ungünstigen Umständen ihrer wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe nachzukommen
haben.
Es ist sehr bedeutsam, diese erschwerenden Rahmenbedingungen im Blick zu behalten, weil die
Gefahr besteht, dass öffentliche erzieherische
Einrichtungen andernfalls die Funktion der Pseudo-Legitimierung politischer Ungleichheit übernehmen. Dies kann dann passieren, wenn diesen
Einrichtungen fälschlicher Weise zugeschrieben
wird, gleiche Startbedingungen geschaffen zu
haben, sodass existierende politische Ungleichheiten allein unterschiedlicher individueller oder
gruppenspezifischer Leistung geschuldet sind.
Aus diesem Grund ist stets kritisch zu prüfen, ob
unter Berücksichtigung der existierenden politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen,
die Einrichtungen der Bildungs- und Sozialarbeit
überhaupt in der Lage sind, politische Gleichheit
herzustellen.
Hinsichtlich der Erfolgsfaktoren der Bildungs- und
Sozialarbeit sei zuallerletzt noch bemerkt, dass es
natürlich wenig förderlich ist, dass die öffentliche Entlohnung vieler erzieherischer und fast aller sozialer Berufe nicht einmal entfernt dem entspricht, was die soziale und politische Relevanz
dieser Arbeit ausmacht. Gerade deswegen bedarf
es in diesen Berufen eines hohen Grades intrinsischer moralischer Motivation und somit auch einer
sehr anspruchsvollen inneren Haltung. Diese Motivation und diese Haltung sollten aber bloß nicht
dabei im Wege stehen, berechtigte Ansprüche gegenüber der Gesellschaft geltend zu machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
vortrag II
Vortrag II
Moralische Normen in der sozialen Arbeit am Beispiel des Capability
Approaches und verwandter Ansätze
Dr. Rebecca Gutwald, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft,
Ludwig-Maximilians-Univsersität München
Ethik und Philosophie stoßen derzeit auch außerhalb der Universitätsmauern auf reges Interesse,
vielleicht sogar auf ein Bedürfnis. Das mag an den
großen Umbrüchen liegen, die uns bevorstehen,
etwa im Klima, der Finanzwelt oder in Wirtschaft
und Politik. Für uns Ethiker bedeutet dies eine
große Chance, denn anders als die Kirche bzw. die
Theologie verfügen wir kaum über Institutionen,
welche in der Lebenswelt verankert sind. Es fehlt
daher sowohl Erfahrung als auch der institutionelle Rückhalt, die theoretisch gewonnen Ergebnisse
nach außen zu tragen. Um dies zu tun, muss die
Ethik den Blick nach Außen wenden und stärker
kommunizieren. Nur so kann praktische Philosophie auch wieder praktisch werden.
Um die Verbindung zwischen Ethik und Praxis
geht es mir hier. Mein Schwerpunkt liegt auf der
Frage, was es bedeutet, wenn das Wohlergehen
eines Menschen aus Sicht der Ethik des sogenannten Capability Ansatzes definiert wird, und was
daraus für die innere Haltung von Professionellen in der sozialen Arbeit folgt: wie können die
theoretischen Elemente des Capability Ansatzes
und insbesondere sein Begriff des menschlichen
Wohlergehens als Grundlage dienen, um eine respektvolle Haltung gegenüber anderen (und auch
der eigenen Profession) einzunehmen? Wie kann
man als Pädagoge das Wohlergehen von Klienten
befördern? Wie kann man die zentralen capabilities (d. h. Fähigkeiten und Möglichkeiten) des
Klientels der sozialen Arbeit und auch der Sozialarbeiter selbst fördern?
Ich hoffe, mit meinem Vortrag zur Beantwortung
dieser Fragen beizutragen. Ich gehe wie folgt vor:
Nach einer kurzen Einführung in die Aufgaben der
Dr. Rebecca Gutwald
Ethik aus meiner Sicht, gehe ich auf mein Hauptthema ein: Wie kann die Ethik des Capability Ansatzes (im Folgenden mit CA abgekürzt) moralische Normen generieren, welche die soziale Arbeit
und die innere Haltung anleiten? Dazu werde ich
zunächst auf die Entstehungsgeschichte des Ansatzes verweisen, um auf dieser Basis seine Ausgangsideen zu erläutern. Nach Betrachtung der
normativen Angelpunkte des Capability Ansatzes
– Freiheit und Gerechtigkeit – komme ich zu den
Fragen der Anwendung. Um aufzuzeigen, inwiefern
der eine CA eine Alternative in Theorie und Praxis
in der Bildungsarbeit sein kann, werde ich ihn mit
ähnlichen Ansätzen vergleichen. Im Fokus stehen
dabei Listen von wertvollen Gütern und die damit
verbundenen Versuche, wertvolle Dimensionen des
menschlichen Lebens auszuzeichnen. Ich schließe
mit dem konkreten Thema der Bildung, welche im
CA einen zentralen und besonderen Stellenwert
21
vortrag II
hat, um den potentiellen Mehrwert des CA in der
Sozialen Arbeit aufzuzeigen. Dies beziehe ich auf
die innere Haltung, in der Hoffnung, eine Diskussionsgrundlage zu schaffen, auf der sich Ethik und
Praxis weiter austauschen können.
Einführung
Wann geht es Menschen gut? Braucht man Bildung, Grundeinkommen oder Gesundheit? Was
kann der Staat, was können Institutionen tun, um
Wohlergehen zu fördern?
Fragen wie diese sind in der Ethik nicht neu, stellen sich aber je nach Kontext und Zielsetzung
immer wieder anders. Wir werden sie als Ethiker
nie abschließend beantworten können. Vielmehr
sind wir Ethiker, so sehe ich das, „Geburtshelfer“,
um Reflexion und Orientierungshilfe zu geben. Die
gemeinsame Reflexion zeigt uns auf, was normativ wichtig und wertvoll ist. Das kann nicht im
luftleeren Raum geschehen: die Ethik ist auf den
Input und das Sachwissen der Disziplin angewiesen, in der die ethische Frage auftritt.
Der Capability Ansatz ist aus meiner Sicht gut
geeignet, um Theorie und Praxis miteinander zu
verbinden. Wie ich im Folgenden zeigen will, ist er
ein aussichtsreicher Kandidat, um Normen für die
Praxis zu generieren.
Der Capability Ansatz
Der Capabilty Ansatz wurde ursprünglich als Analyse und normative Beurteilungsgrundlage für
Wohlstand in der globalen Entwicklungshilfe konzipiert, als Alternative zu Theorien in der Standardökonomie.1
Geistiger Vater des Ansatzes ist der indische Ökonom und Philosoph Amartya Sen aus Indien. Als
vielfach ausgezeichneter Wissenschaftler hat er
nicht nur an den renommiertesten Universitäten
der Welt gearbeitet, sondern ist für seine Arbeit
in der Entwicklungshilfepolitik ausgezeichnet und
bekannt.2
Die Philosophin Martha Nussbaum hat den CA in
philosophisch-ethischer Hinsicht weiter etabliert.
Insbesondere hat sie den Ansatz als Grundlage für
eine partielle, universale Theorie der sozialen Gerechtigkeit herangezogen.3
Worin besteht die Grundidee des CA? In wenigen Sätzen zusammengefasst: die Beurteilung
des Wohlergehens eines Menschen soll nicht allein darauf abstellen, was dieser Mensch besitzt
und welche Eigenschaften er aktuell aufweist. Es
ist vielmehr gewichtig, was der Mensch gerade
ist und tut – die sogenannten Funktionsweisen.
Noch wichtiger ist, was ein Mensch tatsächlich zu
tun und zu sein in der Lage ist – also wie viele
Funktionsweisen möglich sind, eben jene capabilities. Erst das Denken in dieser Weise gibt uns
ein umfängliches, d. h. hinreichend multidimensionales Bild vom menschlichen Wohlergehen. Damit wenden sich capability-Theoretiker gegen eine
zu einseitige, also monodimensionale Bewertung
des Wohlergehens, wie sie das Standardmodell der
Ökonomie vorschlägt und wie sie auch in einigen
ethischen Theorien zu finden ist.
Sen hat an etablierten Modellen zur Wohlstandsmessung überzeugend kritisiert, dass sie zu wenig über das gesamte Wohlergehen des Menschen
aussagen. Beispielsweise wurde, bevor Sen seinen
Entwurf in die Entwicklungsökonomie einbrachte,
das Wohlergehen und die Entwicklung von den jeweiligen Institutionen weitgehend an einer Größe
gemessen: Am Bruttosozialprodukt pro Kopf. Sagt
diese Größe aus zwei Gründen nahezu nichts über
das Wohlergehen des Einzelnen bzw. die Gesamtgesellschaft aus: Zum einen wird die tatsächliche
Güterverteilung in dem jeweiligen Land gar nicht
berücksichtigt, sondern nur am Durchschnittseinkommen bzw. Median gemessen. Was der Einzelne
tatsächlich hat und ist, ist nicht ersehbar. Andere
Ansätze orientieren sich an der Zufriedenheit der
1) Vgl. Sen (1999).
2) Vgl. www.nobelprize.org (2013).
3)Vgl. u.a. ihre Hauptwerke zu dem Thema: Women and Human Development und Frontiers of Justice. Eine sehr gute Einführung in
Nussbaums Interpretation des CA bietet ihr neues Buch Creating Capabilities (vgl. Literaturverzeichnis.)
22
vortrag II
Menschen mit ihrer Situation, was laut Sen und
Nussbaum ebenfalls zu kurz gegriffen ist.
Diese Aspekte sagen nämlich nahezu nichts darüber aus, wie gut es einem Menschen wirklich geht.
Der CA stellt sich damit klassischen wohlfahrts­
ökonomischen Theorien (z. B. bestimmten utilitaristischen Ansätzen) entgegen, welche nur auf die
aktuelle Situation des Individuums blicken.4 Was
aus Sicht des CA tatsächlich für die Bewertung
menschlicher Lebensqualität betrachtet werden
sollte, möchte ich anhand von drei Beispielen aus
der Literatur des CA beschreiben.
1. Die Ressource Fahrrad
Nehmen wir an, ich besäße ein Fahrrad. Man mag
mich in dieser Hinsicht für wohlhabend halten.
Was aber, wenn ich nicht Fahrrad fahren kann?
Oder wenn ich beispielsweise in einer gebirgigen Gegend ohne Straßen lebe? In diesem Fall
kann ich diese vermeintlich wertvolle Ressource
nicht für mich nutzen5. Ich kann also aus meinem
„Reichtum nichts machen“. Dies heißt im Übrigen
nicht, dass der Besitz von monetären und anderen
Ressourcen von CA-Theoretikern als unwichtig für
das Wohlergehen betrachtet wird – aber er reicht
nicht aus.
2. Der Fastende und der Hungernde
Ein Mensch, der hungert, und ein Mensch, der fastet, befinden sich häufig in dem gleichen Zustand:
unterernährt und ohne Nahrung. Der entscheidende Unterschied ist jedoch: Wenn ein Mensch fastet, hat er sich dazu freiwillig entschieden. Er hat
die Möglichkeit, zu essen oder eben nicht. Während ein Mensch der hungert, keine Alternative
hat, d. h. er hat – wie Sen es formuliert – keinen Zugang zu einer alternativen Funktionsweise
(functionings)6. Daher geht es ihm schlecht. Beim
Fastenden können wir aber umgekehrt sagen, ihm
gehe es gut, obwohl er körperlich und psychisch
unter dem Nahrungsentzug leiden mag.
4) Vgl. Sen (1999) und (2010), Nussbaum (2006).
5) Vgl. Sen (2010).
6) Vgl. Sen (1985a).
23
vortrag II
des Einzelnen liegt. So wenden sie sich damit
nicht nur gegen etablierte ökonomische Messtheorien anhand von Präferenzen, sondern auch gegen den philosophischen Ansatz des Utilitarismus,
welcher Wohlstand und gutes Handeln daran festmacht, wie es das – subjektiv definierte – Glück
der Individuen in einer Gesellschaft mehrt.8
Für uns ist hier Folgendes wichtig: laut CA geht es
darum, was ein Mensch gegeben seiner Güter und
seiner Situation tatsächlich tun und sein kann.
Dies drückt sich theoretisch in der Sprache des
CA anhand folgender drei Unterscheidungen aus.
3. Anpassung an widrigste Umstände
Es ist für den CA nicht einmal allein ein ausreichender Indikator für Wohlergehen, ob jemand zufrieden mit seiner Situation ist, denn dies könnte
aus Anpassung an widrige Umstände geschehen
sein. Sen stützt sich in seiner Argumentation hier
auf das Problem der adaptiven Präferenzbildung,
die er an einem Beispiel aus seiner indischen
Heimat illustriert: dort wurde eine Studie zum
Gesundheitszustand von indischen Witwern und
Witwen erstellt. Die befragten Witwen, die generell in der indischen Gesellschaft eine der unteren
Klassen bilden, schätzten ihren Gesundheitszustand als gut oder zufriedenstellend ein, während
die gleichaltrigen Witwer häufig damit recht unzufrieden waren. Die medizinische Untersuchung
zeichnete ein umgekehrtes Bild: der Zustand der
Witwen war wesentlich schlechter. Man nimmt an,
dass die positive Beurteilung des Gesundheitszustands darauf zurückzuführen ist, dass sie die
Vorstellung der indischen Gesellschaft über ihre
soziale Rolle stark internalisiert hatten und sich
ebenso damit abgefunden hatten, dass an ihrer
Situation nicht viel zu ändern sei.7
Sen und Nussbaum weisen darauf hin, dass Wohlergehen also auch nicht rein an der Zufriedenheit
7)
8)
9)
10)
24
Vgl. Sen (1999).
Vgl. Sen (1999).
Vgl. Sen (1985a).
Vgl. Sen (1987).
a) Funktionen (functionings)
Formal sind die sogenannten „functionings“ bzw.
Funktionen die kleinste Einheit, die man betrachtet: es sind wertvolle Arten und Weisen, auf welchen ein Mensch etwas sein oder tun kann (Sen
spricht von „valuable doings und beings“9). Dies
können – zunächst einmal ohne weitere Qualifizierung – alle denkbaren Arten und Weisen sein,
z. B. mobil sein, arbeiten, krank sein, wohlgenährt
oder gesund sein. Eine Funktion kann bereits erreicht sein – dann spricht man von erreichten
Funktionsweisen (achieved functionings), z. B.
eine erworbene Fähigkeit. Ebenso kann aber so
eine Funktion erst möglich sein, also etwas, was
man zu erreichen vermag. Dies führt uns zu den
capabilities.
b) Verwirklichungschancen (capabilities)
Eine der genannten Funktionen kann also möglich sein, man kann in der Lage sein, sie zu
erreichen. In diesem Sinn stellt sie einen Teil
­einer Menge von Verwirklichungschancen dar.
Die ­capabilities oder das capability set, von dem
Sen spricht, sind dann ganze Bündel von Arten,
zu sein oder etwas zu tun. Mit anderen Worten:
sie sind alternative Lebensweisen, aus denen
ich auswählen kann, z. B. mit meinem Fahrrad
zur ­Arbeit zu fahren oder zu laufen, den Bus zu
nehmen etc10.
vortrag II
Abb. 1: Schaubild in Anlehnung an Robeyns (2005)
Güter und Ressourcen spielen hier nicht die wichtigste, aber eine zentrale Rolle. Ob ich eine Lebensweise verwirklichen kann, hängt im Wesentlichen davon ab, wie ich meine Güter umwandeln
kann, also von den Konversionsfaktoren.
c) Konversionsfaktoren (conversion factors)
Sie stellen alle die Umstände, Faktoren und Voraussetzungen dar, welche ein Mensch benötigt,
um aus Gütern und Ressourcen etwas zu machen
– damit bestimmen sie im Wesentlichen, wozu ein
Mensch in der Lage ist. Zu den Faktoren gehören
Umwelt, Soziales, individuelle Talente, körperliche
Voraussetzungen.
Bei capabilities stehen also ganze Lebensweisen
im Blickpunkt, aus denen ein Individuum auswählen kann. Der Lebensstandard hängt gewissermaßen davon ab, ob die Person Wahlmöglichkeiten
hat. Sen bezeichnet die Verwirklichungschancen
somit als ein Bündel („vector“11) an Chancen und
Möglichkeiten, die widerspiegeln, dass eine Person die Möglichkeit hat, das eine oder das andere
Leben zu führen. Die belgische Philosophin Ingrid
Robeyns hat diese komplexe Beurteilungsgrundlage für Wohlergehen in folgendem Schema veranschaulicht (siehe Abb.1)12.
Aus diesem Bild und den Bemerkungen von Sen
sollte ersichtlich werden: Verwirklichungschancen sind eng mit dem Begriff der freien Wahl und
Selbstbestimmung eines Individuums verknüpft.
Man kann sogar sagen: So umfassen capabilities
alle möglichen functionings bzw. die Lebensweisen der Person. In Robeyns Bild wird beschrieben
wie eine solche Wahl vor sich gehen sollte, in der
komplexen Situation, in der sich ein Individuum befindet: der Mensch besitzt eine bestimmte
Ressource. Verschiedene Konversionsfaktoren von
Umwelt, körperlichen Voraussetzungen, über Soziales und Politisches bestimmen, wie er diese
umwandeln kann. Daraus ergeben sich die Verwirklichungschancen, die ihm zur Verfügung stehen. Aus diesen wählt er schließlich eine oder ein
Bündel aus. Das ist seine Lebensweise, d. h. das
Bündel der erreichten Funktionen – das, was er
aktuell ist und tut.
11) Vgl. Sen (1992).
12) Vgl. Robeyns (2005).
25
vortrag II
Der Fokus liegt also auf der freien Wahl des Individuums. Man kann auch formulieren: capabilities
sind substantielle Freiheiten eines Individuums.
Damit wird Freiheit und Selbstbestimmung zum
Dreh- und Angelpunkt des CA. Der Mensch wird
vom CA als Akteur („agent“13) angesehen, der in
die Lage gebracht werden soll, sein Leben selbst
zu bestimmen.
Im weiteren gilt es, herauszufinden, welche Voraussetzungen und Kompetenzen im Individuum
vorliegen müssen, damit er – mit dem CA gesprochen – in der Lage ist, seine Verwirklichungschancen wahrzunehmen. Dies bedeutet, dass der
Mensch gewisse interne Fähigkeiten zur Einsicht
und Reflexion haben muss, die es ihm ermöglichen, eine Wahl für sich zu treffen. Korrespondierend dazu müssen entsprechend äußere Faktoren
vorhanden sein, etwa günstige Umweltfaktoren,
soziale Anerkennung etc.
Soziale Gerechtigkeit
Die Auffassung des CA, dass ein Mensch in die
Lage gebracht werden muss, zumindest zu einem
gewissen Grad, ausreichende, wertvolle Verwirklichungschancen zu haben, zieht die Frage nach
sich, inwieweit der Staat und Institutionen in der
Pflicht stehen, dies zu unterstützen. Mit anderen
Worten: die Frage der sozialen Gerechtigkeit.
Nussbaum und (mit Einschränkungen) auch Sen
legen den capability-Begriff ihrer Auffassung von
sozialer Gerechtigkeit zugrunde – zumindest teilweise. Beachtet werden muss, dass der CA auch
in seiner weitesten Interpretation nur einen Teil
einer Theorie der Gerechtigkeit darstellen kann,
indem er fragt, wie man Lebensqualität misst.14 Er
sagt nicht abschließend, wie Güter in einer Gesellschaft verteilt werden sollen, z. B. gleich, bis zu
einem gewissen Grad, nach Bedürfnis etc. Vieles
ist mit dem CA in dieser Hinsicht kompatibel. Wie
von Julian Culp in diesem Band dargestellt, hat
John Rawls einen umfassenden liberalen Gerech13)
14)
15)
16)
26
Vgl. Sen (1985b).
Vgl. Gutwald et al. (2011) und (2013).
Vgl. Culp (2013) in diesem Band.
Vgl. Gutwald et al. (2011) und (2013).
tigkeitsbegriff entwickelt, der nicht nur angibt,
wie gerechtigkeitstheoretische Prinzipien gefunden werden (in einer Art Diskurs), sondern auch,
wie diese aussehen (z. B. eine mögliche ungleiche
Verteilung zugunsten der Schwächsten).15 In die
philosophischen Details zu gehen würde an dieser Stelle zu weit führen. Anmerken möchte ich
jedoch, dass der CA – zumindest aus meiner Sicht
– keine so umfassende Gerechtigkeitstheorie darstellt wie die Theorie von John Rawls, da ihm z. B.
ausgefeiltere Prinzipien fehlen bzw. er mit einer
ganzen Reihe von verschiedenen Prinzipien kombinierbar ist.
Der CA macht aber in seinem Bereich grundsätzliche normative Aussagen, die für eine weiter zu
erarbeitende Gerechtigkeitstheorie von enormer
Wichtigkeit sind: Er fordert ganz klar, dass die
Metrik, also die Bemessungsgrundlage unserer
Gerechtigkeitstheorie, in capabilities bestehen
muss. Sie gilt es gerecht zu verteilen bzw. herzustellen.
Zentral für den auf dem CA aufbauenden Gerechtigkeitsbegriff sind folgende fünf Elemente16:
■ Multidimensionalität: es gibt zahlreiche Definitionen für menschliches Wohlergehen bzw. für
Mangel, die der CA respektieren kann und will.
■ Partizipation: der Lebensentwurf und die Situation des Individuums sind entscheidend dafür,
welche capabilities und welche Funktionsweisen
es verwirklichen will. Von überaus wichtiger Bedeutung ist damit, dass dem Menschen lediglich
Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, er
aber nicht in bestimmte Funktionsweisen gedrängt wird.
■ Daraus ergibt sich ein Respekt für Pluralismus
und eine gleichzeitige Berücksichtigung ungleicher Voraussetzungen – gerade dies sehen Capability-Theoretiker in traditionellen Theorien wie
der von Rawls, Habermas etc. nicht hinlänglich
berücksichtigt, da diese, kurz gefasst, nur Menschen umfassen, welche auch am Diskurs zur
Aushandlung von gerechtigkeitstheoretischen
Prinzipien teilnehmen können.
vortrag II
■
Wichtig ist zuletzt, dass der CA nicht bei der Forderung nach Rechten stehen bleibt. Er möchte
einen positiven Anspruch generieren, dass Menschen in die Lage versetzt werden, bestimmte
Chancen zu verwirklichen. Beispielsweise nützt
in bestimmten Gesellschaften ein Recht darauf,
sich scheiden zu lassen, wenig, wenn Frauen
nach der Scheidung nur Ächtung bleibt oder sie
nicht wissen, wie sie dieses Recht durchsetzen
können.
Das gerechtigkeitstheoretische Ziel des CA ist
demnach, Menschen durch staatliche und institutionelle Unterstützung in die Lage zu versetzen,
ihr Leben selbst nach ihren Fähigkeiten und Voraussetzungen zu leben – durch die Bereitstellung
von realen, wertvollen und diversen Verwirklichungschancen. Je nach Situation des Individuums kann dies sehr unterschiedlich aufwendige
Maßnahmen nötig machen. Um wieder das o. g.
Beispiel des Fahrrads zu bemühen: wenn ein geh-
behinderter Mensch Fahrrad fahren möchte, müssen speziellere Voraussetzungen erfüllt sein als
bei gehenden Menschen.
Was aber sind die capabilities, die man bereitstellen muss, damit jeder Bürger seine eigenen
Lebensziele erreichen kann? Darüber, wie man
diese feststellt, herrscht Uneinigkeit in der Capability-Community, und sogar zwischen den beiden
Hauptvertretern Sen und Nussbaum. Sen ist der
eben genannte Partizipationsgedanke wichtig,
sodass die Ausgestaltung von capabilities in die
Hände der Betroffenen, z. B. der Bürger eines
Staates legen will, die diese – ähnlich wie bei dem
von Herrn Culp vorgestellten Ansatz – im Diskurs
festlegen sollen.17 Dennoch finden sich bei Sen einige Anhaltspunkte dafür, dass er einige Dimensionen für enorm wichtig hält.
Nussbaum wird konkreter und hat eine Liste von
zehn Dimensionen entworfen, welche sie für offen
und ausgestaltbar genug hält, dass sie global und
universal gelten können. Sie ist mehr als kontro-
17) Vgl. Sen (2010).
27
vortrag II
Beispiele: Was sind wertvolle Capabilities?
Nussbaum
Central Human Capabilities
Sen
- Politische Freiheit
1. Leben
- Ökonomische Mittel
2. Körperliche Gesundheit
- Soziale Möglichkeiten
3. Körperliche Integrität
- Transparenz
4. Sinne, Emotionen, Denken
- Sicherheit
5. Vorstellungskraft
6. Praktische Vernunft
7. Soziale Zugehörigkeit
8. Beziehungen zu anderen Spezies
9. Spiel
10. Kontrolle über die Umwelt
Abb. 2: Listen in Anlehnung an Alkire (2002) und Nussbaum (2005)
Maslow Bedürfnispyramide
vers, jedoch – so finde ich – u. a. aus dem Grund
wichtig, dass sie in der praktischen Anwendung
Orientierung liefern kann. In Abbildung 2 sehen
Sie die von beiden identifizierten verschiedenen
Dimensionen.
Nicht überraschend ist, dass Sens und Nussbaums
Angaben sich in vielen Punkten überschneiden.
Auf Nussbaums Liste finden sich vor allem Elemente, welche, denke ich, die meisten von uns als
unabdingbar für ein selbstbestimmtes Leben halten würden, etwa das Leben an sich, Gesundheit,
die Möglichkeit, Beziehungen einzugehen oder für
sich selbst zu entscheiden.
Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die kontroversen Punkte auf dieser Liste eingehen, derer
es viele gibt. Mir geht es vielmehr darum, aufzuzeigen, wie der CA konkret Ansprüche formuliert.
Dies werde ich im Vergleich mit anderen Ansätzen
aufnehmen. Davor noch ein paar Worte zur praktischen Anwendung des CA vor dem Hintergrund der
Entwicklungshilfeökonomie bzw. -ethik, aus der er
ursprünglich kommt.
Entwicklungshilfeethik
Abb. 3: Maslowsche Bedürfnispyramide, Maslow (1981)
18) Vgl. Sen 1999.
28
Der CA hat großen Einfluss auf die praktische
Ökonomie und internationale Politik genommen,
speziell in der Armutsforschung. Wurde Armut
früher nur als Mangel an monetären Ressourcen
aufgefasst und am Bruttosozialprodukt pro Kopf
gemessen, hat Sen durch seine Arbeit auf diesem
Gebiet einen Paradigmenwechsel erwirkt. Armut
wird vielmehr als Armut an Chancen und Möglichkeiten begriffen. Erinnern wir uns an das Beispiel
vom Hungernden und Fastenden – ersterem fehlen
die capabilities.18
Auf Basis dieses Gedankens hat Sen mit Kollegen den Human Development Index der UN neu
formuliert, sodass ein multidimensionales Messverfahren entstanden ist, das drei Größen misst:
Lebenserwartung, Ausbildung und Einkommen.
vortrag II
Ähnliches ist am Human Poverty Index und anderen Messverfahren in diesem Bereich zu beobachten.19
Die genannten Elemente sind ohne Zweifel wichtig für ein selbstbestimmtes, ja sogar für ein nur
einigermaßen zumutbares Leben. Lässt sich dieser
Zusammenhang nicht aber in einer einfacheren
Sprache – etwa in der von Grundbedürfnissen oder
–rechten – fassen? Wozu brauchen wir die Sprache
von capabilities? Worin liegt der Mehrwert? Was
den CA auszeichnet möchte ich zunächst im Vergleich mit anderen Ansätzen zeigen, welche ähnliche Forderungen stellen, aber einige Elemente
vermissen lassen.
Max Neef: Fundamental Human Needs
Kontrast zu konkurrierenden und
ähnlichen Ansätzen
Ein häufig ins Feld geführter Ansatz im Bereich
der sozialen Gerechtigkeit, vor allem im internationalen Bereich, ist die Theorie der grundlegenden
Bedürfnisse (fundamental human needs oder basic needs genannt), z. B. verkörpert in der Maslowschen Bedürfnispyramide (Abb. 3), welche eine
Reihe der Dimensionen von Nussbaums Ansatz
ebenso beinhaltet und sogar eine Hierarchisierung einführt: Grundbedürfnisse stehen über der
Selbstverwirklichung. Nussbaum verzichtet zwar
bewusst auf diese Hierarchisierung zugunsten der
Offenheit und Freiheit – man kann sich schließlich
auch gegen die Verwirklichung von Grundbedürfnissen entscheiden wie etwa das obige Beispiel
des fastenden Menschen zeigt. Jedoch ist die Frage, ob es nicht höher und niedriger stehende Bedürfnisse geben kann und sollte.
Ähnlicher zu Nussbaum, da ohne Hierarchisierung,
ist da z. B. der Ansatz von Manfred Max-Neef, der
auf die Hierarchisierung verzichtet, ebenso wie
die Formulierung in den Millenium Human Development Goals (siehe Abb. 4 und 520).
Abb. 4: Max Neef: Fundamental Human Needs, Max Neef (1991)
Millennium Development Goals
Abb. 5: Millenium Development Goals der UN
19) Vgl. u.a. United Nations Development Programme, online abrufbar unter: http://hdr.undp.org/en/humandev/.
20) Vgl. http://www.un.org/millenniumgoals/.
29
vortrag II
Rawls1993
Political Liberalism
soll konkreter darauf bezogen werden, welchen
Herausforderungen die Bildungs- und Sozialarbeit
damit begegnet, wenn sie die Förderung von capabilities in den Mittelpunkt stellt.
The basic liberties,
freedom of movement,
freedom of association,
freedom of occupational
choice against a background
of diverse opportunities,
powers and prerogatives
of office
positions of responsibility
in political and economic
institutions,
income and wealth,
the social bases of
self respect
Abb. 6: Liste von Rawls‘ Primärgütern
Sogar John Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit enthält eine Liste von sogenannten Primärgütern
(„primary goods“), welche sich im Wesentlichen
auf Grundrechte beziehen (siehe Abb. 621).
Wenn wir uns also vor Augen führen, dass es die
Möglichkeit gäbe, entweder Grundbedürfnisse
oder Grundrechte einzuführen, vielleicht sogar
wie bei Rawls mit weiteren Gütern, warum sollten wir einen anderen Terminus wie capabilities
einführen?
Diese kritische Frage ist, wie ich gerne zugebe,
durchaus berechtigt. Dennoch meine ich, dass der
CA die Perspektive auf soziale Probleme in wichtigen Punkten schärft und besser fassen kann als
die eben gezeigten Theorien. Dies zeige ich abschließend an dem Anwendungsbeispiel der Bildung und von Kernfragen der Sozialen Arbeit, vor
allem der Frage nach der inneren Haltung. Dies
21) Vgl. Rawls (1971).
22) Vgl. Wolff, De-Shalit (2007).
23) Vgl. Deneulin, Shahani (2009).
30
Bildung und Soziale Arbeit
Für die Bildungsarbeit und den sozialen Bereich
stellt der CA vor allem eine plausible Richtschnur
dar, welche mit dem Grundsatz der Erhöhung der
Verwirklichungschancen Orientierung für die Förderung des Einzelnen gibt. Basis dafür ist aus
Sicht des CA – wie in der allgemeinen Messung
von Wohlergehen – zunächst einmal die Distanzierung von simplen Bemessungsgrundlagen wie
etwa Zufriedenheit oder Zahl der Einrichtungen
oder Abschlüsse.
Vielmehr soll für den Einzelnen durch eine auf
seine Situation zugeschnittene Bildungsmaßnahme der Raum an Möglichkeiten und Fähigkeiten
erweitert werden, damit er zwischen verschiedenen Lebensweisen kompetent wählen kann. Bildung und Erziehung nimmt in einer solchen Wahl
zweifellos eine Schlüsselstellung ein, sie ist eine
„fertile capability“22, welche zahlreiche, wertvolle
Freiheitsräume eröffnet. Demgemäß hat Bildung
im CA drei Rollen: Sie ist instrumentell wichtig für
die weitere Entwicklung eines Menschen, seiner
Handlungen und Lebensweise. Sie wird den Einzelnen im Sinne des Empowerment mit Selbstschätzung und anderen Fähigkeiten ausstatten. Sie
wirkt, drittens, umverteilend in der Gesellschaft,
da die Menschen andere, bessere Positionen erreichen können.23
Aus Sicht der Befähigung und der Erweiterung
des Möglichkeitsspielraums schlägt der CA damit
massive Investitionen im Bildungsbereich und ein
Engagement dahingehend vor, dass der Einzelne,
entsprechend seiner Talente und Voraussetzungen,
die für ihn passende Bildung erhält, um passende
Funktionen zu genießen. Das bedeutet eine gewaltige Anstrengung, Forschung, Umwälzung und
vortrag II
vermutlich auch massive Investition im Bereich
Bildung - um es milde auszudrücken.
Abgesehen von diesen sehr großflächigen und einschneidenden Forderungen, welche Schlüsse kann
man für die Praxis der Sozialen Arbeit – soweit ich
das sagen kann – aus dem CA ziehen? Fünf Thesen
vertrete ich dazu:
1.Grundlegend ist die Freiheitsorientierung des
CA, d. h. die Fokussierung auf die Selbstbestimmung des Individuums, das unbedingt
ernst zu nehmen ist.
2.Dieses Ernstnehmen wird in einem wichtigen
ersten Schritt durch die Partizipation des Individuums erreicht, indem er gleichwertig bereits
in die Problemdefintion eingebunden wird.
3.Eine Offenheit für Pluralismus und eine gleichzeitige Zurückhaltung, den Klienten „auf den
richtigen Weg“ zu bringen, ist selbstverständlich.
4.Nicht nur der Sozialarbeiter, sondern der Staat
wird in die Pflicht genommen: Menschen sollen
in die Lage zur Selbstbestimmung versetzt werden. Der Sozialarbeiter und der Klient sollen
dies einfordern können.
5.Wie ich aus meiner Berührung mit Konzepten
aus der Sozialen Arbeit weiß, besteht zu einigen Konzepten in der Sozialen Arbeit auch eine
theoretische Nähe, z. B. zum Empowerment, zur
Aktivierung etc.24
Ich glaube also, dass der CA sowohl in der sozialen Arbeit „andocken“ kann, aber auch einen
Mehrwert dadurch liefert, dass er eine bestimmte
Perspektive auf das Individuum liefert.
Innere Haltung
Um meinen Vortrag abzuschließen, komme ich nun
zu der Hauptfrage des Fachtages, was die Auseinandersetzung mit dem CA für die innere Haltung
der Professionellen in diesem Bereich impliziert.
Erinnern Sie sich an das, was ich eingangs gesagt
habe: ich sehe mich als Ethikerin eher als Geburtshelferin für Ihre ethische Reflexion. Ich werde
Ihnen also nicht konkret sagen, welche Haltung
Sie einnehmen müssen, sondern werde – ganz im
Sinne der Freiheitsbetonung des CA – nur Orientierung und Impulse liefern.
Der CA kann, so meine abschließende These, einen Perspektivwechsel für die Arbeit im sozialen
Bereich bewirken und deren Selbstverständnis ansprechen. Der CA impliziert, das Klientel in der sozialen Arbeit weniger als Bedürfnisempfänger oder
gar hilfsbedürftiges Objekt, dem eine Leistung
zugeordnet bzw. angeheftet wird, anzusehen. In
diesem Punkt unterscheidet sich der CA in seiner
grundlegenden Ausrichtung von den o.g. Bedürfnistheorien, welche die Hilfsbedürftigkeit und
Unzulänglichkeit von Menschen als Rechtfertigungsgrundlage für Sozialleistungen heranziehen.
Der CA nimmt den Menschen als Individuum ernst;
er plädiert dafür, den Menschen dort „abzuholen,
wo er steht“, nämlich in seiner individuellen Situation, welche von Nachteilen, aber auch von
individuellen Fähigkeiten und externen Faktoren
gekennzeichnet ist.
Menschen sollen demnach im CA nicht zu einer
bestimmten, konkret vorgegebenen Lebensweise
gebracht werden (oder von einer solchen abgebracht werden). Vielmehr soll eine ausreichende
Selbstverwirklichung im Sinne der Entfaltung von
24) Vgl. Lessmann et al. (2013).
31
vortrag II
eigenen Möglichkeitsspielräumen angestrebt werden. Das ist aus meiner Sicht die Kernbotschaft
des CA, die ich Ihnen gerne mitgeben möchte.
Nussbaum, Martha (2000): Women and Human Develop-
Literatur
Nussbaum, Martha (2006): Frontiers of Justice: Disabili-
Alkire, Sabina (2002): Dimensions of Human Develop-
ty, Nationality, Species Membership, Harvard University
ment. in: World Development Vol. 30, No. 2: 181–205
Press, Cambridge MA.
ment. The Capabilities Approach, Cambridge University
Press, Cambridge.
Deneulin Severine. Shahani Lila (2009) An Introduction
to the Human Development and Capability Approach,
Nussbaum, Martha (2011): Creating Capabilities: The
Earthscan, London
Human Development Approach, Harvard University Press,
Cambridge MA.
Gutwald, Rebecca; Leßmann, Ortrud; Rauschmayer, Felix;
Masson, Torsten (2011): The Capability Approach to
Rawls, John (1971): A Theory of Justice, Oxford Univer-
Intergenerational Justice – a survey. In: Maitreyee, the
sity Press.
e-bulletin of the Human Development and Capability
Association, Sept. 2011: The Capability Approach as a
Robeyns, Ingrid (2005): The capability approach: a
Theory of Justice.
theoretical survey, in: Journal of Human Development, 6,
1, S. 93–114.
Gutwald, Rebecca; Leßmann, Ortrud; Rauschmeyer, Felix;
Masson, Torsten (2013): A Capability Approach to inter-
Sen, Amartya (1985a): Commodities and Capabilities,
generational justice? Examining the potential of Amartya
North-Holland, Amsterdam
Sen’s ethics with regard to intergenerational issues,
angenommen beim Journal of Human Development and
Sen, Amartya (1985b): Well-being, agency and freedom:
Capabilities, erscheint Ende 2013.
the Dewey lectures 1984. The Journal of Philosophy, 1985
82 (4). S. 169-221.
Leßmann, Ortrud; Gutwald, Rebecca; Babic, Bernhard
(2013): Der Capability Approach – ein weiterer ökono-
Sen, Amartya (1987): The Standard of Living, Cambridge
mischer Ansatz auf dem Vormarsch?, Beitrag zu den
University Press, Cambridge.
Konferenz-Proceedings des Bundeskongresses für soziale
Arbeit, Hamburg, erscheint Ende 2013.
Sen, Amartya (1992): Inequality Re-examined, Oxford
University Press, Oxford.
Maslow, Abraham (1981): Motivation und Persönlichkeit
(Erstausgabe 1954, übersetzt von Paul Kruntorad), 12.
Sen, Amartya (1999): Development as Freedom, Oxford
Auflage, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg.
University Press, Oxford.
Max Neef, Manfred (1991): Human scale development:
Sen, Amartya (2010): The Idea of Justice, Harvard Uni-
conception, application and further reflections. The Apex
versity Press, Cambridge MA.
Press, London, New York.
Wolff, Jonathan; De-Shalit, Avner (2007): Disadvantage,
http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/economic-sciences/laureates/1998/sen-bio.html (biografische Informationen über Amartya Sen)
32
Oxford University Press, Oxford.
Denkräume
33
denkraum 1
Denkraum 1
Die Bedeutung der evangelischen ­Sozialethik für die innere Haltung
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Prof. Dr. Birgit Bender-Junker, Evangelische Hochschule Darmstadt
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt sich die
evangelische Sozialethik zu einem eigenständigen Fach innerhalb der Theologie, das sehr
unterschiedliche Themen bearbeitet z. B. wirtschaftsethische Fragen, friedensethische Fragen,
umweltethische Fragen, bioethische Fragen u. a.
Sozialethische Themen werden auch zu Themen
der Kirchen in den „Worten“ und „Denkschriften“
der EKD, in denen auch die sozialethischen Diskurse der Universitätstheologie rezipiert werden.
Evangelisch–sozialethische Reflexionen in diesen
Kontexten orientieren sich an zwei Paradigmen,
die sich als Verantwortungs- und Gerechtigkeitsethik identifizieren lassen. Verantwortungsethik
als evangelische Sozialethik dominiert die Diskussion bis in die 1990er Jahre und wird dann vom
Gerechtigkeitsparadigma abgelöst.
Die evangelische Sozialethik entsteht im Kontext
der sozial- und reformpolitischen Diskussionen
des liberalen und konservativen sozialen Protestantismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. In
der Weimarer Republik wird 1927 an der Berliner
Universität das „Institut für Sozialethik und Wissenschaft von der Inneren Mission“ gegründet,
das in der Tradition des konservativen Protestantismus steht. 1931 folgt dann der Lehrstuhl für
Sozialethik an der Marburger theologischen Fakultät, der in der Tradition des liberalen Protestantismus errichtet wird. Beide Gründungen lassen sich
auch als Reaktionen auf die veränderte gesellschaftliche Situation seit 1918 sehen. Die Kirchen
und die Theologie haben ihre gesellschaftlichen
Monopolstellungen verloren und sind durch die
zunehmende gesellschaftliche und staatliche „Säkularisierung“ unter Druck geraten.
34
Für die Sozialethik als Verantwortungsethik sind
Wolfgang Hubers Überlegungen aus den 1980er
Jahren grundlegend, in denen er vier Perspektiven
der Verantwortung aufzeigt, die sich ergänzen und
voneinander abhängig sind. Eine grundlegende
theologische Perspektive, für die er Bonhoeffers
Ideen der Verantwortung vor Gott und Verantwortung für den Anderen und seine Würde diskutiert;
eine gesellschaftliche Perspektive, die versucht,
gesellschaftliche Verantwortung in ihrer personalen, sozialen und technischen Perspektive zu erfassen, eine handlungspraktische Perspektive, die
die motivationalen Komponenten von Verantwortung mit den Handlungsfolgen verknüpft und eine
dialogische Perspektive, die am Dialog zwischen
unterschiedlichen Situationswahrnehmungen interessiert ist, um eine gemeinsame Situationswahrnehmung zu ermöglichen.
denkraum 1
Das zweite Paradigma, das sich seit den 1990er
Jahren herausbildet und das stärkere inhaltliche
Kriterien zur Verfügung stellt als das Verantwortungsparadigma, ist das Gerechtigkeitsparadigma.
Zu wichtigen Ideengebern für theologische Theorien der Gerechtigkeit, wie sie in den 1990er Jahren
von Heinrich Bedford-Strohm und Wolfgang Huber formuliert werden, werden die Überlegungen
der lateinamerikanischen Bischöfe von 1968 und
1979, die die „vorrangige Option für die Armen“
als Grundlage theologischer Sozialethik formulieren und einfordern. Sowohl Bedford-Strohm als
auch Huber machen die „vorrangige Option für die
Armen“ zum Kern ihrer Gerechtigkeitstheorien und
arbeiten ihre biblischen Bezüge über die sedaqua
(hebräisch) als konnektive Gerechtigkeit oder Gemeinschaftstreue Gottes deutlich heraus. In ihrer
Auseinandersetzung mit John Rawls „Theorie der
Gerechtigkeit“ sehen sie das von ihm aufgestellte
Differenzprinzip, das sie um die Idee der Teilhabe erweitern, als einen theoretischen Ort für die
Integration des Gerechtigkeitsprinzips der „vorrangigen Option für die Armen“. Sie formulieren
sozialethische Überlegungen zur Gerechtigkeit,
die sich auch in verschiedenen EKD-Denkschriften
wieder finden.
Mit Peter Dabrocks Kritik und Fortführung der
Diskussion zur theologischen Gerechtigkeit und
seiner Rezeption von Martha Nussbaums capability approach verstärkt sich die sozialethische
Reflexion darüber, wie der Beitrag evangelischer
Sozialethik an der vernunftbegründeten gesellschaftlich-ethischen Diskussion aussehen könnte.
Während die verantwortungsethische Perspektive
eine sich notwendig ergänzende Perspektive von
säkularen und theologischen Argumentationen
zugrunde legte, entwirft Dabrock eine transpartikulare Perspektive, die die Partikularität der
theologischen Thematiken und Semantiken nicht
leugnet, sondern ihre Übersetzungsmöglichkeiten
und Entsprechungsverhältnisse herausarbeitet.
Evangelische Sozialethik muss dann theologische
wie nicht-theologische Sprachspiele sprechen,
wechselseitig übersetzen können und aufmerksam
bleiben für die Grenzen der Übersetzung.
In Martha Nussbaums capabilitiy approach sieht
er die Möglichkeit, die biblischen Impulse der
Gemeinschaftstreue Gottes und der „vorrangigen
Option für die Armen und Benachteiligten“ zu
transpartikularisieren. Das Entsprechungsverhältnis liegt darin, dass beide Figuren, sowohl die
biblische „Option für die Armen und Benachteiligten“ wie ein Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, das an den Befähigungen der Einzelnen
ausgerichtet ist, auf die gesellschaftliche Inklusion der Einzelnen zielen und ihre Menschenwürde
inhaltlich ausgestalten. Evangelische Sozialethik
entwirft und diskutiert allgemeine Reflexionsmodelle für eine ethische und theologische Orientierung, die auch in innere Haltungen übersetzt
werden können.
Moderatorin Dr. Gisela Matthiae
35
denkraum 1
Protokoll
Die historische Entwicklung der evangelischen
Sozialethik in ihren konkreten Kontexten wurde
durch Frau Prof. Dr. Bender-Junker sehr lebendig
und anschaulich vorgestellt. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer sahen darin eine interessante
Fortsetzung von Debatten aus ihrem Studium, für
die es im jetzigen Arbeitsalltag kaum mehr Gelegenheit gibt. Über die Vorträge am Vormittag
hinaus wurde mit dem Ansatz von Peter Dabrock
die Verknüpfung des Gerechtigkeitsprinzips mit
Martha Nussbaums capabilites approach vorgestellt:
■ Die Einnahme einer gesellschaftspolitischen
Perspektive, die gerade nicht gegen die Ausrichtung an den Bedürfnissen der Einzelnen ausgespielt wird;
■ ein Ansatz, der sowohl biblisch-theologisch als
auch jenseits von theologischen und religiösen
Begrifflichkeiten formuliert wird;
■ eine die jeweiligen Partikularitäten übersteigende Debatte.
Diese neuen Denkzusammenhänge fanden großen Anklang in der Gruppe. Gleichwohl wurde
die evangelische Sozialethik im Folgenden nicht
intensiv diskutiert, da die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer zum großen Teil die Diskrepanz zwischen den täglichen Anforderungen am Arbeits-
platz und den Möglichkeiten zu Reflexion und
Austausch ihrer jeweiligen Theoriepositionen und
ihrer inneren Haltungen beklagten. Sie vermissen
Denkräume an ihren Arbeitsplätzen und begrüßen
dafür umso mehr diesen Fachtag. Sie erleben, dass
im Arbeitsalltag wenig nach den je individuellen
Haltungen gefragt wird und ihnen der Austausch
fehlt. Es wird der Wunsch formuliert, sich im Arbeitsalltag mehr mit der inneren Haltung, der
Motivation, den Zielen und ethischen Richtlinien
konstruktiv auseinandersetzen zu können.
Eine interessante Fortführung war, dass der capability Ansatz auch auf die Mitarbeitenden selbst
angewendet werden solle. Das könnte direkte Folgen für die Personalführung haben.
Daher wurden folgende Thesen als Forderungen
formuliert:
■ Die Ergebnisse aus den Denkräumen sollen (per
Internet) veröffentlicht werden.
■ Denkräume sollen weiter gepflegt und deren Inhalte zur Verfügung gestellt werden.
■ Fragen zur ethischen Reflexion der eigenen Haltung sollen im Fortbildungsangebot des ERV
verankert und angeboten werden.
■ Die Liste der capabilities muss auf die Mitarbeitenden selbst bezogen werden und in den
Strukturen der Personalführung berücksichtigt
werden.
■ Die Ideen, Visionen und Anregungen der Mitarbeitenden sollen in die konzeptionellen Entwicklungen einbezogen werden.
■ Die Arbeit in den Denkräumen soll methodisch
so vielfältig wie nur möglich weitergeführt werden.
Der Fachtag wurde sehr begrüßt, die Themenwahl
ebenso wie die konkrete Gestaltung. Für den Austausch in dieser und evtl. anderen Kleingruppen
hätte gerne noch mehr Zeit zur Verfügung stehen
können.
Moderation
Dr. Gisela Matthiae, Pfarrerin für Frauenarbeit und
­Leiterin des EVAngelischen Frauenbegegnungszentrums
in Frankfurt am Main
36
denkraum 2
Denkraum 2
Die Bedeutung des Partizipations- und Demokratiediskurses der Bürger­
gesellschaft für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Dr. Reinhild Hugenroth, Bildungsberaterin und Sprecherin der AG „Bildung/Qualifizierung“
im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, Berlin
Demokratie lebt von der aktiven Zivilgesellschaft.
Vor diesem Hintergrund wird der Begriff des Bürgerschaftlichen Engagements im Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages
„Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“
näher beschrieben. Demnach ist das Bürgerschaftliche Engagement vielfältig, freiwillig, öffentlich,
am Gemeinwohl orientiert und durch fehlende
Ausrichtung auf materiellen Gewinn gekennzeichnet. Das Prinzip „für sich und andere“ ist tragend,
weil Altruismus und Eigeninteresse im Rahmen des
Bürgerschaftlichen Engagements möglich sind.
Zudem gehört auch „Dagegensein“ – also zivile
Protestformen – zum Bürgerschaftlichen Engagement. Diese Definitionen werden im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) bis
heute zur Grundlage genommen, obgleich es auch
neue Definitionen im Rahmen eines Regierungsdiskurses gibt, die stärker auf „Bürgerpflichten“
abheben.
Förderung des Engagements bei Kindern und Jugendlichen sollte im Vordergrund stehen. Dies ist
angesichts der schulischen Rahmenbedingungen
wie G8 oder Ganztagsschulen nur zu verwirklichen, wenn formale, non-formale und informelle Bildung gemeinsam gedacht werden. Bürgerschaftliches Engagement, wie beispielsweise in
Umweltverbänden oder Sportvereinen praktiziert,
sind ein Bildungsort, weil dort gelernt wird, und
ein Bildungsfaktor, weil durch Bürgerschaftliches
Engagement informelles Lernen stattfindet. Ein
so definiertes erweitertes Bildungsverständnis
ermöglicht es, der doppelten Ungleichheit im Bildungssystem und im Bürgerschaftlichen Engage-
Referentin Dr. Reinhild Hugenroth
ment entgegenzuwirken.Denn: Die Demokratie ist
sozial gespalten. Junge Menschen aus benachteiligten sozialen Verhältnissen und mit niedrigem
Bildungsniveau haben nicht nur deutlich schlechtere Chancen auf den Ausbildungs- und Arbeitsmärkten, sondern sind auch tendenziell von der
Teilhabe an der politischen Macht und an den
sich durch politische und soziale Organisationen
eröffnenden Mitgestaltungsmöglichkeiten und
Kompetenzbildungsprozessen ausgeschlossen.
Angesichts dieser Ausgangslage gehört neuen Formen des Engagements Beachtung. Soziale Medien
könn(t)en eine Chance zur Beteiligung bieten –
aber sie können auch die Beteiligungsungleichheit reproduzieren. Beides ist möglich, für beide
Richtungen ist Potenzial vorhanden. Bisher nutzen beispielsweise insbesondere „ressourcenreiche
Jugendliche“ die Möglichkeit, Artikel in Wikipedia
ins Netz zu stellen, Gruppen zu organisieren oder
37
denkraum 2
begegnet man den praktischen Ausformungen des
Service Learning beispielsweise dann, wenn Schülerinnen und Schüler für eine gewisse Zeit im Rahmen des Informatikunterrichts in einem Seniorenheim tätig sind und die Senioren im Umgang mit
dem Computer unterstützen; anschließend wird
diese Erfahrung im Unterricht reflektiert.
Diskussionen zu führen. Gerade jedoch Jungen
aus der sogenannten Unterschicht, die den reinen
„Medienkonsumenten“ zuzurechnen sind, sollte
man in Engagement-Projekten mit sozialen Medien einbinden und an neue Formen des Lernens
und Beteiligens heranführen. Die Öffnung der
Schule nach Innen (Beteiligung von Schülerinnen
und Schülern, Eltern) und die Öffnung der Schule nach Außen (Zivilgesellschaft/außerschulische
Kooperationspartner) ist das Gebot der Stunde.
Dabei gehört die neue, aus den USA stammende
Lehr-Lernmethode Service Learning zu den innovativen Konzepten. John Dewey und sein Konzept „Lernen durch und für Erfahrung“ sind dafür
grundlegend. Durch das Modellprojekt „Demokratie
lernen und leben“ wurde dieser Ansatz in Deutschland erstmalig auf breiterer Basis angewendet. Die
durchgeführten Projekte sollen von Schülerinnen
und Schülern im Umfeld der Schule recherchiert
werden. Ein realer Bedarf der Gemeinde muss entdeckt und bearbeitet werden. Dabei sollen die
Schülerinnen und Schüler selbständige Entscheidungen treffen. Generationsübergreifend soll mit
gegenseitigem Respekt gleichberechtigt gearbeitet werden. Die Tätigkeit (Service) wird im Unterricht reflektiert (Learning). Im schulischen Alltag
38
Axel Honneth beschreibt, dass große Denker wie
Immanuel Kant oder John Dewey das Thema der
demokratischen Erziehung als intrinsischen Bestandteil ihrer eigenen politisch-philosophischen
Unternehmung betrachtet hätten; heute spiele es
jedoch innerhalb der normativ orientierten Demokratietheorie nur noch eine randständige Rolle.
Dieses sei nicht nur der Ausdifferenzierung der
Wissenschaftsdisziplinen geschuldet. Die politische Philosophie habe sich selbst der Aufgabe
entbunden, die Erziehungsprozesse zu bestimmen, die zur Herausbildung von demokratischer
Mündigkeit erforderlich seien. Honneth sieht es
als ein großes Problem an, wenn man die Frage
der demokratischen Erziehung aus der politischen Philosophie ausgliedere. Er verweist auf
die lange Tradition der politischen Philosophie
(so z. B. Platons „Politeia“). Der schulischen Erziehung werde kaum noch ein politischer Stellenwert eingeräumt, weil man den Spielraum für die
selbstgenerativen Aktivitäten des Rechtsstaates
für äußerst gering halte. Die sogenannte Böckenförde-These des gleichnamigen ehemaligen Bundesverfassungsrichters habe zu der Auffassung
beigetragen, dass die Demokratie in ihrer Reproduktion von der Zulieferung einiger ihr selbst vorausliegenden Traditionsbestände abhängig sei.
Böckenförde sei vielfach zu eng ausgelegt worden
– und das lehnt Honneth ab, weil daraus folge,
dass man den vorschulischen und schulischen Bildungsprozessen keinen Wert für die Vermittlung
demokratiefördernder Verhaltensweisen zutrauen
würde. Im Unterricht könne man demnach nicht
die wichtigen moralischen Einstellungen lernen,
wie z. B. Toleranzfähigkeit, das Sich-in-den-anderen-Hineinversetzen-können oder die oben schon
benannte „Gemeinwohlorientierung“. Honneth
macht nicht Böckenförde für das falsche Ver-
denkraum 2
ständnis verantwortlich, sondern die allgemeine
verkürzte Rezeption. Es sei dieser allgemeinen Rezeption nach das Erfordernis demokratischer Gesellschaften, auf das Überleben traditionaler Gesinnungsgemeinschaften zu vertrauen. Honneth
problematisiert, dass demokratische Gesinnungen
dann nicht in staatlich vermittelten Erziehungsprozessen erzeugt würden, sondern dies den vorpolitischen Milieus traditioneller Gemeinschaften
überlassen bleibe. Auf der anderen Seite macht
Honneth für die Tendenzen der Entkopplung von
politischer Philosophie und Erziehungslehre ein
nach seiner Ansicht überzogenes Neutralitätsgebot des Staates verantwortlich. Honneth erwähnt
nicht dezidiert den „Beutelsbacher Konsens“, der
Grundlage dieses Neutralitätsverständnisses innerhalb der politischen Bildung ist, aber er bezieht sich dennoch auf die demokratische Verfasstheit des Gemeinwesens. Dabei betont er – in
einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft, die
viele politische und religiöse Ansichten vereinen
muss – die Notwendigkeit und grundlegende Rolle der staatlichen Erziehung. Dazu gehöre auch,
dass das Recht der Eltern, ihrem Nachwuchs eigene partikulare Wertüberzeugungen zu vermitteln,
an der Schulpforte gebrochen werden müsse. Das
ist ein spannender Punkt: Der Staat steht nach
Honneth in der Verantwortung, um die partikularen Wertvorstellungen zu „brechen“, weil die
Demokratie ihre eigenen Wertvorstellungen hat.
Zudem beklagt Honneth, dass einige Erziehungsberechtigte lieber eine stärkere Orientierung an
der Leistungsgesellschaft mit ihren ökonomischen
Rahmenbedingungen befürworten an Stelle einer
Demokratieorientierung. Demokratie muss in der
politischen Philosophie auch einen Bezug zur Erziehung nehmen. Aktuell mangelt es an Bezügen
der Demokratietheorie zur Erziehungswissenschaft
– dabei sind sie „Zwillingsschwestern“. Die Einführung der Schulpflicht ist demokratisch legitimiert
und soll zur Teilhabe an diesem Staat befähigen.
Der schulische Unterricht soll zur Regenerierung
der Demokratie beitragen, indem Perspektivenübernahme kommunikativ eingeübt wird.
Protokoll
Anknüpfend an die Ausführungen zu „demokratischen Kompetenzen“ im Vortrag von Herrn Dr.
Julian Culp und entlang des vorliegenden Thesenpapieres von Frau Dr. Reinhild Hugenroth diskutierten die Teilnehmenden die Interdependenzen
von Bildung auf der einen und von repräsentativ-demokratischen Staatsordnungen auf der anderen Seite. In den Diskussions- und Denkbeiträgen wurden folgende Punkte und Fragestellungen
aufgeworfen und vertieft:
Generell sei zu konstatieren, dass (schulische und
außerschulische) Lernräume für die Subjekte mit
mehr Sinn und Werten zu füllen sind und in ihnen
mehr basale demokratische Transferkompetenzen
zum Tragen kommen sollten. Zudem sollten formale, non-formale und informelle Formen des Lernens grundsätzlich aufeinander bezogen werden
bzw. mehr – im Sinne des Erwerbs demokratischer
Kompetenzen – zusammenfließen. Einen Beitrag
an dieser Stelle zur Öffnung der Schule nach Innen
und Außen könne zum Beispiel die Lehr-Lern-Methode des „Service Learning“ leisten.
39
denkraum 2
Würdigung der These des Staatsrechtlers Böckenförde zu ermüdenden selbstgenerativen Kräften
demokratischer Gemeinwesen. Die Böckenförde-These liefere eine Antwort auf die Frage, warum die Demokratietheorie beinahe unmerklich den
Glauben an den Wert der staatlich organisierten
Erziehung für die Demokratie verloren habe. Es sei
plausibel und im aktuellen Bildungsdiskurs zu beobachten, dass dem demokratischen Rechtsstaat
ein nur sehr geringer Spielraum bei der Regenerierung seiner eigenen moralisch-kulturellen Bedingungen bleibt und dass die Demokratie in ihrer Reproduktion von der Zufuhr einiger ihr selbst
vorausliegender Traditionsbestände abhängig ist.
Es müsse daher kritisch angemerkt werden, dass
das staatliche Neutralitätsgebot im schulischen
Kontext in Frage zu stellen sei, wenn selbst die
Prinzipien der demokratischen Willensbildung keinerlei Niederschlag im öffentlichen Schulunterricht mehr finden. Sowohl in schulischen als auch
in außerschulischen Settings sei es daher wichtig,
den Spannungsbogen zwischen moralischen Werten und Neutralität aktiv zu gestalten und sich auf
einen demokratischen Wertekonsens beziehen zu
können, der von Respekt, Empathie, Stellungnehmen und Kooperation geprägt ist.
An dieser Stelle sei auch zu bedenken, dass es einen subjektiven Spannungsbogen gäbe, nämlich
dann, wenn die innere Haltung mit der institutionellen Haltung nicht konform gehe.
de Rahmenbedingungen, um sich zu entfalten und
weiter zu entwickeln. Das Organisieren des Miteinanders könne nicht ohne strukturelle Absicherung
„einfach so“ generiert werden. Zudem komme es
darauf an, vielfältige Orte der Begegnung und des
Austausches - auch im Sinne einer Anerkennungskultur - zu schaffen bzw. zur Verfügung zu stellen.
Abschließend wurde angemerkt, dass der kommunalen Ebene eine wichtige Steuerungsfunktion
im Demokratiediskurs zufalle. Indem sie ihre Gestaltungsmöglichkeiten reflektiere und priorisiere,
könnten entscheidende Wegmarken gesetzt werden.
Moderation
Dr. Elard Apel, Pädagogische Grundsatzplanung im Stadtschulamt Frankfurt am Main
Literatur
Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestages (Hrsg.): Bericht.
Bürgerschaftliches Engagement: Auf dem Weg in eine
zukunftsfähige Bürgergesellschaft, Bd. 4, Opladen 2002.
Honneth, Axel: Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. Ein vernachlässigtes Kapitel der politischen
Philosophie, Festvortrag anlässlich der Eröffnung des 23.
DGfE-Kongresses „Erziehungswissenschaftliche Grenzgänge“ am 12. März 2012 in Osnabrück. In: Zeitschrift für
Erziehungswissenschaft, Frankfurt 2012.
Weiter wurde darauf hingewiesen, dass Demokratiebildung und -erziehung ein lebenslanger
Prozess sei und auch außerhalb der Schul- und
Studienwelt auf der Agenda stehe. Insofern seien
auch die Akteure in der Erwachsenenbildung und
„Altenarbeit“ gefordert, den Partizipations- und
Demokratiediskurs zu führen.
Positiv wäre es, diesen Diskurs generationsübergreifend zu führen. Damit könne ein Beitrag geleistet werden zur Überwindung der Separation
gesellschaftlicher Erfahrungsbereiche.
Insgesamt müsse auch immer wieder die „strukturelle Ebene“ in den Blick genommen werden. Eine
demokratische Kultur benötige auch entsprechen-
40
Hartnuß, Birger; Hugenroth, Reinhild; Kegel, Thomas
(Hrsg.): Schule der Bürgergesellschaft. Bürgerschaftliche
Perspektiven für moderne Bildung und gute Schulen,
Schwalbach/Ts. 2013.
Hugenroth, Reinhild: Schule und bürgerschaftliches
Engagement. Lernallianzen in Nordrhein-Westfalen und
Rheinland-Pfalz als Beitrag zu einer aktiven Bürgergesellschaft?, Münster 2011.
denkraum 3
Denkraum 3
Die Bedeutung eines Ansatzes der Nachhaltigkeit für die innere Haltung
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Axel Klimek, Geschäftsführer der ISIS-Academy GmbH, Hofheim
Tiefer schauen, vernetzt denken, innovativ
entscheiden und verantwortlich handeln
Die wohl am häufigsten benutzte Definition von
Nachhaltigkeit stammt aus dem Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung aus dem Jahre 1987. Danach beschreibt
Nachhaltigkeit eine Entwicklung, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne
die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen
und ihren Lebensstil zu wählen.“
Bei den Vereinten Nationen gibt es zur Zeit Bestrebungen, ab 2015 die Millenium Goals durch Nachhaltigkeitsziele (SDGs – Sustainable Development
Goals) zu ergänzen bzw. zu ersetzen. Aus Sicht der
UN scheint es nötig zu sein, die Nachhaltigkeit
verstärkt in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit zu nehmen. Aber was macht Nachhaltigkeit eigentlich aus?
Von Albert Einstein stammt die Formulierung:
„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Ich
möchte im folgenden an einigen Thesen aufzeigen, dass Nachhaltigkeit zu einer neuen Denkweise bzw. inneren Haltung führen kann
Erste These: Nachhaltigkeit beinhaltet den
Umgang mit Komplexität
„Manager fürchten Komplexität” lautete eine
Überschrift aus der „Zeit“ vom Dezember 2012. Einer Studie entsprechend fanden 83% Prozent der
befragten Manager, dass das erreichte Niveau der
Komplexität in ihren Unternehmen zu hoch sei.
Sicherlich sollte man immer wieder darauf achten, Komplexität nicht unnötig zu vergrößern.
Referent Axel Klimek
Aber wenn wir uns die großen Herausforderungen
der Welt, wie die Finanzkrise, den Klimawandel,
die Einkommensschere, das Nord-Süd-Gefälle anschauen, dann merken wir schnell, dass einfache
Antworten nicht tief genug wirken.
Wir brauchen nicht weniger Komplexität, sondern mehr Wissen und Methodiken, um mit der
Komplexität angemessen umzugehen. Ein Beispiel
für eine solche Methode ist der Nachhaltigkeitskompass. Es ist ein Werkzeug, um sich in den vier
Nachhaltigkeitsdimensionen N - Natur/Ökologie,
O - Ökonomie, S - Soziales/Gesellschaft und W –
Wohlbefinden sicher bewegen zu können.
Die Welt ist komplex und Nachhaltigkeit ist ein
Ansatz, diese Komplexität zu erfassen und mit ihr
umzugehen.
41
denkraum 3
Zweite These: Nachhaltigkeit achtet auf systemische Wechselwirkungen
Eindimensionale Lösungsansätze lösen Probleme
oftmals nicht wirklich. So haben Versuche,
S chädlinge durch Pestizide zu bekämpfen, nicht
vollständig zu ihrer gewollten Vernichtung geführt (kausale Logik), sondern die Evolution hat
auch Schädlinge hervorgebracht, die gegen diese Pestizide resistent sind.
■ die krebserregende Wirkung von Zigaretten
durch Reduzierung von Nikotin und Teer in Zigaretten zu verringern, auch dazu geführt, dass
Raucher mehr rauchen und tiefer inhalieren. Sie
wollen ihre „benötigte“ Nikotinmenge dadurch
aufnehmen. Letztendlich ist die Krebsgefährdung teilweise sogar gestiegen.
■ Autostaus durch verbreiterte Straßen zu minimieren, oftmals auch dazu geführt, dass noch
mehr Menschen ihr Auto nutzten. Nach einer
kurzfristigen Entlastung entstanden die Staus
aufs Neue.
■
42
Die Welt ist nicht nur komplex, sondern gleichzeitig auch noch systemisch miteinander verwoben.
Systemisches Denken bezieht die Tatsache mit
ein, dass unser jetziges und lokales Tun Wirkungen erzeugen kann, die sowohl zeitlich als auch
räumlich entfernt von den ursprünglichen Handlungen liegen. Um diese zu erfassen, müssen wir
als Voraussetzung diese Art systemisches Denken
und Wahrnehmen lernen und anwenden.
Dritte These: Nachhaltigkeit ist Innovation
Unser Gehirn verbraucht etwa 20% unserer Gesamt­
energie bei nur 2% der Körpermasse. Obwohl oder
weil das Gehirn der größte Energieverbraucher des
Körpers ist, ist es bestrebt, Energie so effizient
wie möglich zu nutzen. Dies tut es unter anderem dadurch, dass es bestimmte wichtige Prozesse
mittels fester neuronaler Verknüpfungen verankert. Das heißt vieles läuft in „verdrahteten“ Routinen und Gewohnheiten ab.
Nicht nur Tätigkeiten wie Autofahren werden im
Laufe der Zeit durch feste neuronale Strukturen im
denkraum 3
Gehirn verankert sondern auch Denkweisen, Einschätzungen und Haltungen. Der Psychologe Abraham Maslow beschrieb dieses Phänomen als er
sagte: „Wenn das einzige Werkzeug, was ich habe,
ein Hammer ist, dann sieht jedes Problem wie ein
Nagel aus.“
Hirnphysiologisch ist es nachvollziehbar, wenn
Menschen auf Probleme mit den gleichen Lösungsvorschlägen reagieren. Aber wie hilfreich ist es,
wenn bei Steigerung von Jugendkriminalität als
Lösung eine Verschärfung der Gesetzgebung gefordert wird oder EU-Forderungen nach stärkerer
CO²-Reduktion durch Ausnahmeregelung für die
heimische Autoindustrie abgepuffert werden sollen?
Innovation sieht anders aus. Innovation braucht
Unvoreingenommenheit, Ergebnisoffenheit und
Kreativität. Obwohl innovative Ideen manchmal
wie von selbst unter der Dusche kommen, ist es
sicherer, sie durch einen Prozess wie ISIS – Indikatoren, Systeme, Innovation, Strategie – zu
unterstützen.
Vierte These: Nachhaltigkeit bedeutet Erweiterung von Verantwortung
Um die Bedürfnisse aller heutigen Generationen
und der zukünftigen Generation ernst nehmen zu
können, müssen wir die Bereitschaft haben, unser
aktuelles Handeln kritisch zu hinterfragen.
Es ist selbstverständlich, sich sowohl um eigene
Bedürfnisse zu kümmern als auch um die von den
Menschen, mit denen wir uns gemeinschaftlich
verbunden fühlen. Das können Menschen unserer
Familie, unserer Abteilung, unserer Organisation/
Firma, unseres Staates usw. sein. Diese Fokussierung bedeutet gleichzeitig aber auch eine Grenze
zum Du, zu anderen Familien, Abteilungen, Organisationen/Firmen und Staaten. Wir nehmen
deren Bedürfnisse nicht in der gleichen Art und
Weise ernst wie die eigenen. Einige Evolutionsbiologen sagen, dass diese Ich-Zentriertheit ein wesentlicher Faktor für die erfolgreiche Entwicklung
unserer Spezies war. Das mag richtig sein, solange
Entwicklung in einem scheinbar offenen System
funktioniert, in dem die Auswirkungen des eigenen Handelns lokal und zeitlich begrenzt sind.
Wir sind als Menschen in unserer Entwicklung
aber an einem Punkt angelangt, an dem unser
Tun spürbare, direkte Einflüsse auf die Lebensbedingungen des Gesamtsystems Erde hat. Wir
sehen dies bei Themen wie Klimawandel, Entsorgung von Atommüll (der über Zehntausend Jahre gefährlich strahlt), Aussterben von Tierarten,
Finanzkrise usw.
Wenn wir Menschen es nicht schaffen, innerhalb
unserer Haltung ein Verantwortungsempfinden
für das Ganze zu entwickeln, dann werden wir
dem Anspruch der Nachhaltigkeitsdefinition der
Brundtland-Kommission nicht gerecht werden
können. Wie oben schon gesagt beschreibt Nachhaltigkeit eine Entwicklung, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne
die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen
und ihren Lebensstil zu wählen.“ Eine wichtige
Hebelwirkung fällt dabei dem Sozial- und Bildungsbereich zu, da dieser als Multiplikator die
Voraussetzung von Denkweisen und Haltungen
von unzähligen Menschen direkt und indirekt beeinflusst.
Protokoll
Einstieg
Wir reichen eine Schale mit zwei Arten von Süßigkeiten herum. Süßigkeit A: teurer aussehende
und aufwendig verpackte, große Bonbons und
Süßigkeit B: einfache Bonbons. Es sind in etwa
so viele Süßigkeiten in der Schale wie Teilnehmer/innen im Raum sind. Wir bitten jede/n Teilnehmer/in, sich eine der Süßigkeiten zu nehmen.
Später während des Vortrags fragen wir, wie viele
Raffaellos bzw. Ferrero Rochers im ersten Drittel
der Gruppe genommen wurden und wie viele im
letzten Drittel übrig geblieben sind.
Die Vermutung ist, dass mehr Raffaellos und Ferrero Rochers von den Teilnehmenden des ersten
Drittels genommen wurden. Wir Menschen sind
oftmals von einer inneren Haltung getrieben, die
sich eher um uns selbst kümmert und nicht um
das Ganze.
43
denkraum 3
Die Teilnehmer/innen dieses Denkraumes haben
sich die Süßigkeiten so herausgenommen, dass
der/die letzte Teilnehmer/in eine echte Wahlmöglichkeit hatte.
Zu diesen Fragen wurde gedacht und diskutiert
Wie können wir dazu beitragen, dass sowohl wir,
als auch unsere Organisation, als auch unser Klientel unseren/ihren Verantwortungsfokus erweitern?
■ Nachhaltiger Konsum oft schwierig zu vermitteln, da häufig teurer und für Klienten daher
nicht machbar
■ Potentiale der Schüler/innen werden oft nicht
genutzt (z. B. haben manche Schüler/innen viel
Erfahrungen mit dem Anbau von Lebensmitteln
und der Verarbeitung, diese werden in der Schule nicht nachgefragt und aufgegriffen)
Wie drücken sich die vier Kompassrichtungen in
Ihren Bereichen der Bildungs- und Sozialarbeit
aus? Welche Beispiele aus Ihrer praktischen Arbeit
können Sie den vier Kompassrichtungen zuordnen?
Ökologische Nachhaltigkeit (Nature); Ökonomische Nachhaltigkeit (Ökonomie); Soziale Nachhaltigkeit (Soziales); Wohlbefinden (Wohlbefinden)
■ Gepa Kaffee verwenden
■ Projekte zum Thema Ernährung
■ Raum zur Verfügung stellen
■ Fachkräfte ausbilden
■ Jugendliche hin zu einem Schulabschluss begleiten
■ Gartenpflege wurde in Denkraum 3 gedacht und
miteinander diskutiert
44
Weitere Gedanken
■ „Upcycling“(Wiederverwertung) ist auch im
Rahmen der Theorien um eine Post-Wachstumsgesellschaft ein nötiges Thema
■ Oftmals wird die Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit als Verzichtsdebatte geführt.
Wenn das Thema „Hip und trendy“ ist, ist es
leicher anzunehmen.
■ „Do it Yourself“ Projekte werden durch das Internet verbreitet und regen zum Nachahmen an
Ziele/Aktivitäten/Schlussgedanken
■ Mut zu kleinen Schritten
■ Bewusstsein herstellen über das, was alles schon
getan wird und passiert (z. B. urban gardening)
■ Bestehende Projekte mit dem Instrument des
Kompasses betrachten
■ Gerechtigkeit zwischen den Generationen und
nicht nur untereinander
■ Nachhaltigkeit in die Jahresberichte aufnehmen
■ Die Organisationen sollten auch mit dem Instrument des „Kompasses“ betrachtet werden
■ Es braucht Leitlinien zu Nachhaltigkeit auf städtischer Ebene
■ Demokratie und Nachhaltigkeit gehören zusammen
Moderation
Esther Kaiser, pädagogische Koordinatorin im Evangelischen
Verein für Jugendsozialarbeit in Frankfurt am Main e.V.
denkraum 4
Denkraum 4
Die Bedeutung des systemischen Ansatzes für die innere Haltung
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Günther Emlein, Pfarrer an der Universitätsmedizin Mainz, Lehrender Supervisor der Systemischen
Gesellschaft
Denken und Kommunikation
Der systemische Ansatz setzt die Unterscheidung
von Denken (Bewusstsein) und Kommunikation
voraus. Denken verlässt nicht den Denkraum. Systemisch gesehen, würde man vielmehr von einem
Kommunikationsraum sprechen. Man kann nicht
erfahren, was andere denken, man kann nur hören, was sie sagen. Das Gesagte ist nicht das Gedachte; Gedachtes geht in Gesagtes nicht über,
sondern es ist etwas eigenes, vom Gedachten
unabhängig. Andere, die an Kommunikation teilnehmen, beziehen sich auf Verlautbarungen, Geäußertes und Gesagtes, nicht auf Gedachtes. Der
Beitrag des Systemischen für das Forumsthema ist
der Blick auf Kommunikation statt auf Denken.
Kommunikation – die große Unbekannte
Kommunikation besteht aus Verlautbarungen, die
auf andere Verlautbarungen – nie auf Denken –
Bezug nehmen. Kommunikation hat daher eine
eigene Dynamik. Niklas Luhmann interpretiert
Kommunikation als die Zusammenschau dreier
Selektionen: Information, Mitteilung und den
Anschluss. Mit dieser Beschreibung ist etwas impliziert: Information liegt nicht in der Welt herum, sondern sie ist aus anderem ausgewählt, von
anderem unterschieden. Dies und nicht jenes. Sie
ist eine Wahl. Ist die Information gewählt, muss
man die Form der Mitteilung selektieren. Wem und
auf welche Weise wird die Information mitgeteilt?
Zu dem Was der Kommunikation tritt das Wie der
Kommunikation.
Es kommt ein dritter, entscheidender Aspekt hinzu: Jemand muss ein Was und ein Wie einer Kommunikation aufgreifen. Dieses Aufgreifen kann
Referent Günther Emlein
man daran beobachten, dass etwas angeschlossen
wird. Ohne Anschluss verfällt das Vorausgegangene, als wäre es nie gesagt worden. Erst dieser
dritte Schritt macht Kommunikation zu Kommunikation. Was das Ereignis gewesen ist, klärt sich
erst im Nachhinein – durch den Empfänger! Was
die andere Seite tut, hat man nicht in der Hand.
Kommunikation ist nicht berechenbar, sie steckt
voller Überraschungen. Folgt man dieser Theorie,
so kann man an Kommunikation auch kein Ziel
ausmachen. Weder Konsens noch „mehr Demokratie“ sind Ziel von Kommunikation (Niklas Luhmann anders als Jürgen Habermas).
45
denkraum 4
Und wozu Systeme?
Das Wort System kommt aus dem Griechischen
und meint Einheiten, die zusammengesetzt sind.
Aber nur solche Einheiten bezeichnet man günstiger Weise als System, in dem ein Prozess mit und
zwischen den Elementen abläuft – eine Operation.
Ohne Operation kein System. Bedeutungssysteme zeugen sich selbst weiter durch unentwegtes
Rekrutieren von neuem Sinn, der angekettet wird
und das System erhält. Das Weiterzeugen durch
Anknüpfen ist deren Operation. Systemisch zu
beobachten ermöglicht, aus der endlosen und
unübersichtlichen Vielfalt der Welt sinnvolle
Kombinationen und Relationen zu errechnen und
hervorzuheben: Sinngehalte in Bezug zu anderen
Sinngehalten, oft unter Beteiligung mehrerer Personen.
Mit Dir rede ich nicht – oder doch?
Ein vierter Aspekt von Kommunikation kommt
hinzu. Kommunikation kann akzeptiert oder abgelehnt werden. Die Ablehnung bezieht sich nicht
auf das Thema der Kommunikation (das wäre nur
eine Meinungsverschiedenheit), sondern auf die
Kommunikation überhaupt. Man weigert sich, seinerseits Beiträge zu leisten, damit Kommunikation weitergeht. Kommunikation kann als Ganze
abgelehnt werden. Freiheit meint, anders sein zu
dürfen, als die adressierende Seite es sich vorstellt.
Die systemische Leitlinie für den Bereich der Bildung, der sozialen Arbeit und der Beratung heißt
also: Sprich so, dass das Gespräch weitergeht bzw.
ein weiterer Kontakt möglich bleibt. Sprich so,
dass man Deine Auswahl an Themen und Mitteilungsformen akzeptabel findet. Es ist darum nicht
zweckmäßig, Recht haben zu wollen. (In Organisationen ist dies natürlich anders: Dort gibt es
Recht Habende, die sich nicht zur Disposition
stellen müssen). Hat man die Vernunft oder die
Moral (oder in Religion: „den“ Glauben) auf seiner Seite, fällt es schwerer, sich zur Disposition
zu stellen.
46
Die Aufgabe systemischer Praxis: Beobachtung
zweiter Ordnung
Beratung, Bildung und soziale Arbeit regen Strukturveränderungen an. Dies ist sinnvoll, besonders
wenn die Struktur eines Systems, der Kombinationsspielraum möglicher (innovativer) Anknüpfungen zu eng ist oder gar nichts zulässt: Eine Lösung
für alle Probleme. Systemische Praxis beobachtet,
wie die Klienten beobachten. Sie fragt nicht nach
dem Warum eines Vorfalls, sondern nach dem
Wozu. Systemische Praxis beobachtet, wie die
Klienten beobachten. Sie beobachtet, dass die
Welt, die die Klienten darstellen, eine Sichtweise ist, indem sie mitbeobachtet, welche anderen
Möglichkeiten ausgeschlossen worden sind. Diese
Praxis bringt die ausgeschlossenen Möglichkeiten
ins Spiel. Systemische Praxis nimmt bestehende
Verkettungen auf und fädelt Alternativen dazu,
sodass die Klientel auswählen kann (und muss).
Sie beobachtet Beobachtungsstrategien der Klienten als Lösungen und sucht nach Alternativen.
Diese Arbeitsweise nennt die Systemtheorie Beobachtung zweiter Ordnung. Beobachtung zweiter
Ordnung beobachtet nicht Gegenstände, sie beobachtet stattdessen Beobachtungen, also Sichtweisen und regt an, bekömmlichere Sichtweisen
zu entwickeln. Diese Art der Arbeit setzt voraus,
dass wir nicht die Wahrheit haben. Hätten wir die
denkraum 4
Wahrheit, so wären Bildung und Beratung überflüssig – es gäbe nichts mehr zu lehren oder zu
beraten. Verstünden wir Bildung und Beratung als
Hinführung zur Wahrheit (die wir schon haben),
so handelten wir uns Fundamentalismus ein. Auch
Diskurstheorien handeln mit Wahrheit, mit der
Wahrheit der Vernunft: Jemand muss festlegen,
wann ein Konsens „vernünftig“ und zu akzeptieren sei.
Systemische Praxis führt genaue Einzelfallanalysen
durch. Und sie sucht anschließend individuelle Lösungen, die nur auf diesen Einzelfall passen und auf
keinen zweiten. Es gibt keine zwei Sinnsysteme, die
sich gleichen. Die großen Mythen der Veränderung
der Gesellschaft überlässt sie anderen.
Zwei Leitlinien
Diese Überlegungen lassen sich zusammenfassen
in zwei Leitlinien.
■ Handele so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird (Heinz von Foerster).
■ Überlasse der anderen Seite die Wahl.
Protokoll
Die Diskussionsrunde eröffnet Herr Dr. Schrödter
mit der Frage nach dem Provokationspotential des
systemischen Ansatzes früher und heute und worin dieses begründet liegt. In Bezugnahme auf die
Frage nach dem guten Leben erklärt Herr Emlein,
dass es dieses unter Betrachtung einer konstruktivistischen Sichtweise per se nicht gäbe. Die Suche
nach einer absoluten Wahrheit, auch im kirchlichen Sinne, sei unmöglich, da niemand beurteilen
könne, wann diese Wahrheit wirklich vorliege oder
eben, wann ein Leben gut sei. Dies sei immer nur
auf subjektiver Ebene und in rückschauender Betrachtung an das Gewesene möglich. In Hinblick
auf den Kontext von Sozialarbeit und Beratung
wird die Frage diskutiert, wie direktiv und edukativ ein Eingriff in das untersuchte System erfolgen dürfe. Herr Emlein hebt hervor, dass hierbei
weniger die Information als vielmehr die Art der
Mitteilung von Bedeutung sei und vor allem das,
was Klienten daraus für sich machten.
Eine deutlich emotionalere Diskussion entfacht
sich im Anschluss an die Frage, welche Rolle die
eigene innere Haltung im Beratungsprozess spiele. Einigen Diskutanten erscheint die Vorstellung
schwierig, dass die Haltung des Beratenden nicht
indirekt auch Einfluss auf den Beratungsprozess
ausübe. Herr Emlein stellt seinerseits die Klarheit
und Präzision von Begriffen wie Moral, Haltung,
Ethik in Frage. Bei deren Betrachtung sei es Aufgabe von Theorien, eine genaue Begriffsklärung
dieser Konstrukte zu betreiben, da sie – unscharf
verwendet – leer und beliebig auswechselbar seien. Dabei hinterfragt er wiederholt die Bedeutung
der von den Diskussionsteilnehmern verwendeten
Begriffe wie Haltung, ebenso wie die dann angeführten Begriffserklärungen der Diskutanten. Dies
scheint bei einigen Teilnehmern zu leichtem Unmut und Verwunderung über dieses radikale Hinterfragen von Bedeutung zu führen. Herr Emlein
entgegnet darauf, dass nicht zuletzt darin das
Provokationspotential der systemischen Sichtweise begründet liege, da sie konventionelle Werte
von Begriffen in Frage stelle. Bewertungen im
Sinne einer inneren Haltung könnten sogar sehr
destruktive Auswirkungen im Rahmen der Kommunikation haben, da sie schnell einsetzten und
sowohl das Selbst als auch das Gegenüber einschränkten. Eine moralische Festlegung wirke wie
ein Korsett, da es pauschal darüber entscheide,
was gut sei und was schlecht. Nach dem Marquis
de Sade könne eine schlechte Moral jedoch auch
gute Folgen haben und umgekehrt. Abschließend
beschreibt Herr Emlein den Therapie- und Beratungsprozess als ergebnisoffenen Prozess, der im
evolutionären Sinne unplanbar sei. Nach diesem
Kommunikationsmodell komme es letzten Endes
auf den Anschluss an, also auf das, was dem Kommunizierten in finaler Konsequenz folge.
Moderation
PD Dr. Wolfgang Schrödter, Leiter des Evangelischen Zentrums für Beratung in Höchst des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt am Main
47
denkraum 5
Denkraum 5
Die Bedeutung der Menschenrechte für die innere Haltung in der
­Bildungs- und Sozialarbeit
Prof. Dr. Sandro Bliemetsrieder, Fachbereich Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik
an der Hochschule Esslingen
Die Soziale Arbeit steht in der Gefahr, gesellschaftliche Verhältnisse zu dethematisieren und
allein das Individuum dekontextualisiert in den
Blick zu nehmen. So befinden wir uns derzeit in
der Sozialen Arbeit wieder in einer Phase der Psychologisierung und Pädagogisierung sozialer Probleme, einhergehend mit einer Individualisierung
und positivistisch anmutender Standardisierung
von Professionalität (vgl. Seithe 2012: 66f).
Seithe stellt fest, dass aufgrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen die Soziale Arbeit gezwungen ist, gleichermaßen die Menschenrechte
mit der Idee der Menschenwürde und ein flexibles
Menschsein mit ökonomischen Rationalitäten in
den Blick zu nehmen (vgl. ebd.: 74). Die Organi-
Referent Prof. Dr. Sandro Bliemetsrieder (links)
48
sationen stehen dabei vor der Herausforderung,
fiskalische (Spar-) Ziele und Gewinnerzielungskriterien zu formulieren, während die Professionist_
innen immer häufiger die Rechte der Adressat_innen Sozialer Arbeit auch gegenüber dem eigenen
Arbeitgeber vertreten müss(t)en (vgl. ebd.: 283).
Diese Entwicklung verlangt nach einer professionellen Habitualisierung. Der professionelle Habitus ist das Potential, welches der Krisenhaftigkeit
und Ungewissheit von Leben und seinen Praxen
gegenüber gestellt werden und Sicherheit verleihen kann, um in eine offene Zukunft hinein etwas
Förderliches und Eröffnendes zu tun (vgl. Müller,
Becker-Lenz 2008: 26). Aus der Krisenhaftigkeit
der Lebenspraxen entsteht vorrangig der Auftrag,
um den in einer (auch öffentlichen) Antwortsuche
gerungen wird. Für die im Kontext von Professionen anvertrauten bzw. sich anvertrauenden Menschen gilt es, Selbstbestimmung und Autonomie
zu fördern, und zwar Verstehen suchend, achtend
einerseits und orientiert an Werten und Normen
konstruktive „Kritik an Staat und Gesellschaft“
(Mührel 2009: 35) äußernd andererseits.
Im Fokus professionellen Handelns steht die Herstellung, Aufrechterhaltung und Gewährleistung
der Integrität einer Lebenspraxis einer Person
hinsichtlich Fragen der Gerechtigkeit, Körperlichkeit, Bildung und relativer Autonomie (vgl. Oevermann 2008: 59f). Eine sozialarbeiterische Ethik
muss dafür vor allem induktiv und gleichzeitig deduktiv sein. Der universale Begriff der Menschenwürde, der von vielen Verfassungstexten zentral
gesetzt wird, tritt für die Subjektivität von Wohlergehen ein und nimmt gleichzeitig auch überin-
denkraum 5
dividuelle Verhältnisse der Gesellschaft mit in den
Blick, in denen sich Wohlergehen einlösen lässt
(vgl. Lob-Hüdepohl 2007: 122). Die Würde eines
Anderen, in der Erfahrung des Anderen, leitet
Lévinas ausgehend vom Antlitz des Anderen ab.
Das Antlitz ist dabei metaphorisch die Transzendenz des mir begegnenden Subjektes, das mich
ungeschützt und entwaffnet in die Verantwortung
und Gerechtigkeitssuche hineinzieht, mit der impliziten Aufforderung, ihm nicht zu schaden. Die
Verantwortung für den Anderen stellt damit die
absolute Freiheit des Menschen in Frage. Aber gerade zur Verantwortungsübernahme kann sich der
Mensch frei entscheiden (vgl. Gamm 2009: 265ff).
Diese unendliche Verantwortung dem Anderen gegenüber wird nur in einer absoluten Unantastbarkeit des Anderen gerecht (vgl. Kapust 2013: 97).
Die Menschenwürde beruht somit nicht auf Reziprozität, sondern der Andere ist für mich immer
höher gestellt. Die Achtung der Menschenwürde
ist das Grundmotiv Sozialer Arbeit, von der aus
Individualität, Autonomie und Freiheit des Menschen entfaltet werden können. Das Ideal einer
demokratischen Gesellschaft versucht gleichzeitig, sowohl die individuellen Freiheiten als auch
die sozialen Pflichten für ein Ganzes in den Blick
zu nehmen. Im Zentrum dieses aufgespannten
Segels sieht Schumacher die Gerechtigkeit, die
sowohl die menschliche Freiheit in den Blick
nimmt, als auch für gerechtes Zusammenleben
wirbt (vgl. Schumacher 2013: 147). Gerechtigkeit
als Prinzip ist nur ausgehend vom Menschsein
mit seinen (Grund-)Bedürfnissen und legitimen
Wünschen ableitbar. Dieser Idee von (Bedürfnis-)
Gerechtigkeit ist die Soziale Arbeit ganz und gar
verpflichtet. Lob-Hüdepohl stellt fest: „Gerecht
ist, was gleiche Rechte und Pflichten begründet,
einen angemessenen Ausgleich von Leistung und
Gegenleistung gewährleistet, für alle eine Mindestausstattung an Grundgütern sichert sowie
strukturelle Ursachen von ungleich verteilten Beteiligungschancen an der gesellschaftlichen Entwicklung abbaut“ (Lob-Hüdepohl 2007: 129). Für
ein solches Verständnis von Gerechtigkeit können
die Menschenrechte orientierungsgebend und türöffnend sein (vgl. Schumacher 2013: 148). Sie
sind historisch betrachtet „eine grundsätzliche
Auslegung zum Selbstverständnis des Menschen“
(ebd.: 149) und stellen eine Liste sozialer, psychischer und physischer Konstitutionen dar und
drücken sich in nachvollziehbaren Erfahrungen in
einer spezifischen Gestalt aus.
Die Menschenwürde und Menschenrechte stehen
in einem Verhältnis von transzendental und immanent. Nur in diesem paradoxen Spannungsverhältnis
abstrahiert und konkretisiert sich das Menschliche
(Menschenwürde) und sein langer und schmerzhafter
Ordnungsweg im Geschichtlichen (Menschenrechte) (vgl. Kettner 2006: 116f). Die Soziale Arbeit war
in ihrer Geschichte auch erheblich an Missachtung
und Verachtung von menschlicher Würde beteiligt.
Diese eigene Miss­achtungsgeschichte (Euthanasie,
Deportation, Kolonialismus, Rassismus) muss Soziale Arbeit permanent reflektieren (vgl. Lob-Hüdepohl 2007: 119f). „Die Forderung nach Respekt und
Durchsetzung von unverletzbaren Menschenrechten
eines Jeden ist zwingende Reaktion auf die millionenhafte Erfahrung beschädigten Lebens und
angetasteter Menschenwürde, die auch im Namen
sozialer Berufe geschehen konnte“ (ebd.: 121). Die
Menschenrechte verzichten „auf prall gefüllte Ideale eines allseits gelingenden ‚guten‘ Lebens“ (ebd.:
122). Sie beschreiben vor allem die Bedingungen
49
denkraum 5
umhin, mit der Frage, ob sie sowohl für den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft Gerechtigkeit herstellen können (vgl. Lob-Hüdepohl 2007:
125f). Es stellt sich dabei auch die praktische,
empirische und theoretische Frage, wie die normativ-ethische Orientierung an den Menschenrechten in konkreten unter ökonomischem Druck
stehenden Verhältnissen fachlich-ethisch und
auf die Bedarfe der Adressat­Innen und auf ihre
Rechte bezogen argumentieren und durchsetzen
lassen.
Protokoll
und Verhältnisse, in denen Menschen jenseits von
Demütigung ihr Leben planen und verwirklichen
können (vgl. ebd.). Menschenrechte und soziale
Gerechtigkeit sind keine normativen Automatismen für Handlungsvollzüge in der Sozialen Arbeit,
sondern müssen immer wieder neu diskutiert werden: Leitfragen hierfür wären nach Lob-Hüdepohl
„Wessen Menschenrechte werden durch die Arbeit
berührt? Was bedeutet hier Orientierung an sozialer Gerechtigkeit?“ (ebd.: 115f).
Soziale Arbeit stellt sich auf der Ebene der Profession Fragen, die über die Subjekte hinausreichen: Welche Institutionalisierung ist notwendig
und hilfreich und welche eigenen Entscheidungen
können und dürfen Professionist_innen treffen?
(vgl. ebd.: 117). Dabei gilt es, paternalistische
Anteile zu reflektieren und für Emanzipation und
Partizipation einzutreten. Wenn wir als Ziele idealen professionellen Handelns Solidarität und
Unversehrtheit einer Lebenspraxis in Fragen der
Gleichheit und Teilhabe, Körperlichkeit, Bildung
und Autonomie verstehen und die Professionen
dafür eine induktive, reflexive (Berufs-)Ethik entwickeln, könnten die Menschenrechte auf ihren
orientierungsgebenden Gehalt hin untersucht
werden (vgl. ebd.), ohne dabei ihre Universalität und Unteilbarkeit aufs Spiel zu setzen (vgl.
Oelschlägel 2013: 78). Die Geltung der Menschenrechte gilt es dabei nicht zu hinterfragen,
doch wir kommen auch nicht um eine Beurteilung
unterschiedlicher Konzepte gelungenen Lebens
50
Ergänzungen zum Impulsreferat
■ Statt „innerer“ Haltung besser: „professionelle“
Haltung
■ Standardisierung vs. Individualisierung
■ Partizipative Forschung statt forschen über KlientInnen (AdressatInnenblick)
■ Nur weil Menschenrechte für uns heutzutage
selbstverständlich sind, dürfen sie nicht trivialisiert werden
■ Begriff „Menschenwürde“: Unantastbarkeit des
Menschen, die nicht hinterfragt werden kann
(eigene Verletzbarkeit bedeutet automatisch
Verletzbarkeit des Gegenübers)
Diskussion
eispiel: Häusliche Gewalt – wie gehe ich damit
B
um? Unvereinbarkeit mit Menschenrechten. Gefahr der Kulturalisierung oder Religiösisierung!
Stattdessen: verstehen/analysieren wie es dazu
kommt, dass häusliche Gewalt stattfindet. Dann
Auseinandersetzung, klare Positionierung, dabei
bedenken: jeder Mensch möchte unversehrt bleiben!
■ Beispiel: Was ist, wenn ich meinen Klienten als
Opfer sehe (z. B. in Flüchtlingsberatung)? Bin
ich dann noch professionell? Manchmal ist es
auch wichtig, das Opfer in den Fokus zu nehmen
(viel zu oft Täter-Perspektive)! Immer Selbstbestimmung und Autonomie im Blick behalten!
■
denkraum 5
chtung des Privaten: was hat mein Gegenüber
A
für Vorstellungen? Bedürfnis nach Religiosität/
Spiritualität (Privatsache). Nicht mit meinen eigenen Maßstäben messen, sondern verstehen.
■ Unbehagen und Sorge ruhig mitteilen.
■ Eigene Ohnmacht zur Kenntnis nehmen (wir
können nicht die Welt retten), dennoch können
wir etwas tun, z. B. Traumatisierung ernst nehmen und darauf eingehen.
■
Fazit
Kettner, Matthias (2006): Transhumanismus und Körperfeindlichkeit. In: Ach, Johann S.; Pollmann, Arnd (Hg.):
S oziale Arbeit braucht normative Orientierungspunkte! Menschenrechte sind ein geeignetes Instrument dafür. Daneben ist es
wichtig, sich an Individuen zu orientieren.
➔ Wechselwirkung Subjektbezogenheit/normative Ordnungen
■ Es ist ein ständiger Auseinandersetzungsprozess
notwendig. Soziale Arbeit ist nicht per se „gut“
(Missachtungsgeschichte der Sozialen Arbeit
kennen). Was sind meine Vorstellungen? Was
will mein Gegenüber?
■ Immer die Menschenwürde im Blick behalten
(aber auch wir selbst sind verletzbar)!
■ Kulturalisierung und Religiösisierung (Zuschreibungen) durch ständige Reflektion vorbeugen.
■ Klarer Standpunkt und Bewusstsein über theoretischen/normativen Hintergrund als Ausgangspunkt für Argumentationen und Handlungen.
Was steckt hinter den Dingen?
■ Permanenter Diskurs notwendig!
no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen
Moderation:
Oevermann, Ulrich (2008): Profession contra Organisati-
Maike Henningsen, Leiterin Arbeitsbereich Jugendhilfe
on? Strukturtheoretische Perspektiven zum Verhältnis von
und Täter-Opfer-Ausgleich im Evangelischen Regional­
Organisation und Profession in der Schule. In: Helsper,
verband Frankfurt am Main
Werner (u.a.) (Hrsg.): Pädagogische Professionalität in
■
Körper – Bioethische und ästhetische Aufrisse. Bielefeld,
S. 111-130.
Lob-Hüdepohl, Andreas (2007): Berufliche Soziale Arbeit
und ethische Reflexion ihrer Beziehungs- und Organisationsformen. In: Lob-Hüdepohl, Andreas/Lesch, Walter
(Hrsg.): Ethik Sozialer Arbeit. Ein Handbuch. Paderborn.
Mührel, Eric (2009): Finanzkrise – Wirtschaftskrise – Soziale Krise. Akademischer und professioneller Habitus in
Krisenzeiten. Sozialmagazin 7-8/2009, S. 29-35.
Müller, Silke/Becker-Lenz, Roland (2008): Der professionelle Habitus und seine Bildung in der Sozialen Arbeit,
Neue Praxis 1/08, S. 25-41.
Oelschlägel, Christian (2013): Diakonie und Menschenrechte. Menschenrechtsorientierung als Herausforderung
für diakonisches Handeln. Heidelberg.
Organisationen. Neue Verhältnisbestimmungen am BeiLiteratur
spiel der Schule. Wiesbaden, S. 55-77.
Gamm, Gerhard (2009): Philosophie im Zeitalter der
Extreme. Darmstadt.
Schumacher, Thomas (2013): Lehrbuch der Ethik in der
Sozialen Arbeit. Weinheim und Basel.
Kapust, Antje (2013): Phänomenologie der Alterität: Emmanuel Lévinas. In: Gröschner, Rolf/ Kapust, Antje/ Lembcke,
Seithe, Mechthild (2012): Schwarzbuch Soziale Arbeit.
Oliver W. (Hrsg.): Wörterbuch der Würde. München, S. 96-98.
Wiesbaden.
51
denkraum 6
Denkraum 6
Die Bedeutung des Diversity-Ansatzes für die innere Haltung
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Prof. Dr. Margitta Kunert-Zier, Fachhochschule Frankfurt am Main
Referentin Prof. Dr. Margitta Kunert-Zier
Ausgangspunkt für den Diversity-Ansatz, der die
Gleichberechtigung von Verschiedenen meint,
sind Kämpfe und Bewegungen gegen soziale Ungleichheit. Allen Bewegungen gemeinsam sind
machtkritische Positionen. Sie fordern das Recht
auf Individualität und freie Entscheidung über das
je eigene Leben. Alle diese Bewegungen entstanden in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche. Sie
sind gekoppelt an demokratische und emanzipatorische Utopien. Eine demokratische Gesellschaft
sollte einen Zustand schaffen, in dem jeder „ohne
Angst verschieden“ sein könne (Adorno 1969:130131). In der „Pädagogik der Vielfalt“ wird betont,
dass es keine Gleichberechtigung ohne die Anerkennung von Verschiedenheit gäbe. Zentral ist das
Betonen des gleichen Rechts von Verschiedenen
auf Lebensglück (vgl. Prengel 1995: 186).
Seit Jahren ist von etwa 20-25 % der Heranwachsenden die Rede, die einem Armutsrisiko
unterliegen und gefährdet sind, dauerhaft gesellschaftlich ausgegrenzt zu bleiben (vgl. BMFSFJ
52
2013:220). Diese Heranwachsenden verfügen über
einen geringen Bildungsstand und haben häufig
einen Migrationshintergrund. Der Blick auf soziale
Ungleichheit, die mit der Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe zusammenhängt,
birgt die Gefahr der Stigmatisierung. Wir sehen
einen Jungen mit Migrationshintergrund und gehen davon aus, dass er möglicherweise keinen
Schulabschluss hat oder Hauptschüler ist, möglicherweise kriminell, auf jeden Fall benachteiligt
ist. Der Blick auf das Individuum erfordert eine
Haltung der absoluten Offenheit: „Ich bin nicht
du und ich weiß dich nicht“ charakterisiert diese Haltung (Moeller 1986:11). Die Pädagogik der
Vielfalt kennt deshalb keine Leitbilder z. B. über
„richtige“ Mädchen oder Jungen“ (vgl. Prengel
1995:191). Sie fordert auch das Eingeständnis,
nichts über die anderen zu wissen und fragend auf
sie zuzugehen.
Die Soziale Arbeit braucht Diversity-Kompetenz.
Diese besteht aus Fachwissen, Handlungskompetenz und Selbstkompetenz und enthält immer private, professionelle und politische Dimensionen.
Das „Private“ bedeutet, die eigene Haltung zu den
Diversitätsdimensionen zu entwickeln und diese
immer wieder selbstkritisch zu reflektieren.
Das „Politische“ bedeutet, die Kenntnisse über
die Zielgruppen, gesellschaftliche Strukturen,
Ausschlussmechanismen etc. mit den subjektiven
Aussagen der KlientInnen und der spezifischen Lebensweltorientierung abzugleichen. Das „Professionelle“ bedeutet, Fachwissen, Selbstkompetenzen und Handlungskompetenzen in ein gekonntes
Zusammenspiel zu bringen und unterscheiden zu
können, was eigene Reaktion auf den „Fall“ sind.
denkraum 6
Diversitykompetenz kann sich nur entfalten, wenn
diese drei Dimensionen bewusst sind und mit der
eigenen Haltung zur Klientin oder zum Klienten in
Einklang gebracht werden.
Wenn es zu einer Selbstverständlichkeit wird, dass
wir nicht wissen, wer der andere genau ist, was er
oder sie denkt, fühlt, träumt oder anstrebt, entwickeln wir Offenheit gegenüber dem Anderen,
freuen uns über Unerwartetes und Überraschendes. Wir gehen mit einer prinzipiellen Haltung der
Neugierde auf Andere zu, und wir zollen jedem
gegenüber Respekt. Wir versuchen, die Perspektive des Anderen einzunehmen und werden sensibel gegenüber unserer eigenen Perspektive. Wir
brauchen aber auch Klarheit über unsere eigenen
Werte, Ziele, Visionen.
„Aus der Einsicht in die Kontingenz der eigenen
kulturellen Identität entsteht Toleranz – kein
förmliches Dulden des Fremden, sondern echter
und selbstverständlicher Respekt vor anderen Arten, zu leben. Nicht, dass das immer leicht wäre.
Besonders schwierig ist es dann, wenn das Fremde
die eigenen moralischen Erwartungen verletzt. Was
machen wir mit Grausamkeit, die uns in Rage versetzt, anderswo aber akzeptierter Bestandteil des
Lebens ist?
Bildung ist die schwer zu erlernende Kunst, die
Balance zu halten zwischen dem Anerkennen des
Fremden und dem Bestehen auf der eigenen moralischen Vision. Es gilt, diese Spannung auszuhalten:
Bildung verlangt hier Furchtlosigkeit.“2
„Ich bin nicht Du und ich weiß Dich nicht.“3
Die Herausforderung ist, „die Balance zu halten
zwischen dem Anerkennen des Fremden und dem
Bestehen auf der eigenen moralischen Vision.“
Das funktioniert nur mit „Furchtlosigkeit“(Bieri
2005). Es geht also auch darum, Sicherheit darin
zu gewinnen, welche Werte es zu schützen und zu
verteidigen gilt. Das kann in der Sozialen Arbeit
nur diskursiv geschehen.
„Die Dimension der Gleichheit und die Dimension der Verschiedenheit […] sind unverzichtbar,
denn Verschiedenheit ohne Gleichheit zu betonen
hat Hie­rarchie zur Folge und Gleichheit ohne Verschiedenheit zu betonen hat Gleichschaltung zur
Folge.“4
Im Anschluss an den Vortrag bekamen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer fünf Zitate vorgelegt:
„Das Bildungsziel der Selbstachtung gilt für jede,
für jeden, gilt darum immer für mich und für die Anderen. Selbstachtung und Anerkennung der Anderen
gehen hervor aus der einen Haltung des Respekts,
die das gleiche Recht auf Lebensglück für die Verschiedenen gelten lässt.“5
„Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre (…)
die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst
ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der
Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie
sollte stattdessen (…) den besseren Zustand aber
denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.“1
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden aufgefordert, sich in Kleingruppen jeweils zwei Zitate
auszuwählen und unter folgenden Fragestellungen
zu besprechen:
1. Was lösen die Zitate in mir aus?
2. Was bedeuten die Aussagen für meine Haltung
zur Diversität?
3. Welche Fragen bleiben offen?
Protokoll
1)
2)
3)
4)
5)
Adorno (1969)
Bieri (2005).
Moeller (1986), S. 11.
Prengel (2003).
Prengel (2006), S. 185f.
53
denkraum 6
In der gemeinsam geführten Abschlussdiskussion wurden vor allem Beispiele besprochen. Dabei
kristallisierten sich als besonders bedeutsam zwei
Dinge heraus:
■ die Überzeugung, dass „ich dich nicht weiß“,
man also dem Anderen möglichst offen und unvoreingenommen entgegentreten soll,
■ das Bewusstsein über die eigenen Werte und das
Bestehen auf diesen.
Der daraus resultierende Gegensatz erfordert die
von Bieri konstatierte Furchtlosigkeit.
Moderation
Steffen Kurz, Sozialpädagogische Förderung und
­Jugendhilfeangebote in Schulen im Stadtschulamt
­Frankfurt am Main
Literatur
Adorno, Theodor Wiesengrund (2. Aufl. 1969):
Minima Moralis. Reflexionen aus dem beschädigten
­Leben. Frankfurt a. M.
Bieri, Peter (2005): Wie wäre es, gebildet zu sein? Festrede an der PH Bern am 4. Nov. 2005: www.hwr-berlin.de/
fileadmin/downloads_internet/publikationen/Birie_
Gebildet_sein.pdf.
BMFSFJ. Bundesministerium für Familien, Senioren,
Frauen und Jugend: 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland.
Berlin. online abrufbar unter: www.dji.de/bibs/
14-Kinder-und-Jugendbericht.pdf.
Moeller, Michael Lukas (1986): Die Liebe ist ein Kind der
Freiheit. Reinbek.
Prengel, Annedore (2. Aufl. 1995): Pädagogik der Vielfalt.
Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen.
Prengel, Annedore (2003): Gleichberechtigung der Verschiedenen – Plädoyer für eine Pädagogik der Vielfalt, In:
Frühe Kindheit 6/03: Gleichberechtigung der Verschiedenen. Plädoyer für eine Pädagogik der Vielfalt, online
54
abrufbar unter: http://www.liga-kind.de/fruehe/603_
prengel.php.
Prengel, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt,
­Opladen, S. 185 f.
denkraum 7
Denkraum 7
Die Bedeutung der Kompetenzorientierung für die innere Haltung
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Dr. Klaus-Dieter Dohne, Screen Team und Culture Work, Göttingen
Wer berät, begleitet, therapiert oder unterrichtet – egal nach welcher Schule, welcher Theorie
oder welchem Modell er arbeitet – dem muss es
gelingen, beim Gegenüber eine neue Aufmerksamkeitsfokussierung entstehen zu lassen. Und das
funktioniert nur, wenn der Frontallappen des Gehirns aktiviert wird. Denn diese am stärksten entwickelte Region im gesamten Nervensystem eines
Menschen ist das Kontrollzentrum schlechthin.
Der Frontallappen filtert Interferenzen, fokussiert
die Aufmerksamkeit und beruhigt den menschlichen Organismus immer dann, wenn dessen Sinneswahrnehmung überladen ist. Damit hält er den
Organismus mit der äußeren und inneren Welt in
Verbindung.
Referent Dr. Klaus-Dieter Dohne
Hypno-systemische Modelle sind bestens geeignet, um im Gespräch mit dem Klienten genau solche Bedingungen herzustellen bzw. zu fördern,
die den Frontallappen unterstützen, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Ziele und Intentionen zu
fokussieren – bewusst wie unbewusst, willkürlich
wie unwillkürlich. Gelingt dies, spricht man von
einem sogenannten Trancezustand, der sich durch
fokussierte Aufmerksamkeit, erhöhte Impulskontrolle und größere Achtsamkeit im Handeln auszeichnet. In diesem Zustand kann der Frontallappen die „Lautstärke“ von parallelen Impulsen
verringern (lowering the signal-to-noise-ratio),
so können sich sowohl der motorische als auch
der sensorische Cortex beruhigen. Der Organismus wird still und ist weniger agitiert. In einem
solchen Zustand kann der Frontallappen helfen,
aufkommende assoziative Gedankenmuster, die
nicht zu der beabsichtigten Intention gehören, zu
unterbrechen.
Eine wesentliche Eigenschaft unseres Frontallappens ist, das zu bestimmen und zu bewerten, was
aktuell mittels der Sinnesmodalitäten wahrgenommen wird (VAKOG). Deshalb kann der Frontallappen durch hypnotherapeutische Interventionen
gezielt angesprochen werden, um eine Beruhigung und ein Gefühl von kontrollierter Sicherheit
zu erzeugen. Die Kommunikationsangebote bzw.
-einladungen durch einen Berater, Sozialarbeiter
oder Therapeuten wie auch die Beziehungsgestaltungen können jetzt bewertungsfrei, ohne die Gefahr von Gesichtsverlust und ohne den Anschein
von „schlauen“ Erklärungen für die Entwicklung
von Lösungen genutzt werden. Hypno-systemische Interventionen konzentrieren sich genau auf
diesen Aspekt. Wird dies nicht genügend berücksichtigt, werden keine eigenen, aus dem Inneren
stammende Lösungen gefunden. Vielmehr werden
Abwehrreaktionen und Widerstände beim Klienten
aktiviert, denn dies ist ein Schutzmechanismus
55
denkraum 7
Moderatorin Miriam Schmidt-Walter
gegenüber drohendem Autonomieverlust oder Abwertung.
Autonomieverlust oder Abwertung verursachen
heftige emotionale Reaktionen und starke innere
Bewertungsprozesse, die parallel und unwillkürlich verlaufen. Die Folge sind starke sensorische
Signale und Körperreaktionen bis hin zu biochemischen Veränderungen auf Neurotransmitterebene.
Höchste Priorität des Organismus ist es dann, den
eigenen Körper „in Sicherheit zu bringen“, deshalb reagiert er dann mit unwillkürlich ablaufenden Notfallprogrammen und Impulssteuerungen.
Das Besondere an den sogenannten „Ericksonschen
Modellen“ ist, dass sie besonders auf die bewusste Verwendung von Sprache und Sprachmustern
achten, um nicht unbeabsichtigt innere Bewertungen zu induzieren. Denn die dadurch ausgelösten oben beschriebenen Schutzmechanismen
haben zur Folge, dass Wahlfreiheit (choice),
Absicht (intend) und Unabhängigkeit von äußeren Umständen nicht mehr möglich sind. In
diesem Falle bleibt der Frontalappen inaktiv, die
Steuerung übernehmen dann eingefahrene Emotionen, z. B. alte Glaubenssätze, Gewohnheiten
und Muster.
Eine systemisch-neutrale offene Haltung ohne
Bewertung von Verhaltensweisen des Klienten ist
also notwendig. Berater bzw. Therapeuten können diese umso leichter einnehmen, je weniger
sie selbst in dieser Situation durch eigene stark
wirksame unbewusste oder emotionale Bedürfnis-
56
se absorbiert sind. Als Beispiel sei hier genannt,
dass professionelle Helfer oft – unbewusst und
bewusst – ihre eigenen Bewertungen zu den Problemen oder Themen ihrer Klienten in die Kommunikation mit einbringen. Wenn also eine bestimmte Fragestellung als „schlecht“ und als „zu
beseitigen“ bewertet wird, dann wird dieser Berater bzw. Therapeut versuchen, dieses entsprechend seinen Vorstellungen zu „lösen“. In einem
solchen Fall bieten sich lineare Modelle und Vorgehensweisen als Mittel der Wahl an. Die Folge
ist, dass die Lösungen unter Einsatz großer Energie und Überzeugungsarbeit (Kampf) dem Klienten von Außen nahegebracht wird. Die Bedeutung
hypno-systemischer Modelle liegt also nicht nur
in ihren vielfältigen Methoden und Techniken, sie
legen in erster Linie die Basis für eine angemessene innere Haltung bzw. Einstellung für wirksame
Interventionen.
Protokoll
efriedigung von Grundbedürfnissen
B
■ Ausbalancieren der Ambivalenzen
■ Wahrnehmung der eigenen Metakompetenz
■ Umgebungsfaktoren
■ Selbstverantwortung
■ Selbstwirksamkeit
■ Eigene Gedanken mitteilen
■ Wie kann ich jemanden individuell erreichen
z. B. durch Musik?
■ Einladung zum Querdenken
■ Metakompetenz (Geschichten erzählen)
■ Konsequentes Wegsehen von der Defizitorien­
tierung
■ Durchbrechen vorgegebener Muster
■ Hinterfragen von bestehenden Gedanken
■ Hinterfragen (Reflexion) von Gegebenen
■ Radikale Haltung: Kompetenzzuweisung
■ Nachhaltig sind nur selbstgefundene Lösungen
■ Ich bin gespannt, wie Du dich entscheidest
■
Moderation
Miriam Schmidt-Walter, Geschäftsführerin im Evangelischen
Verein für Jugendsozialarbeit in Frankfurt am Main e.V.
denkraum 8
Denkraum 8
Die Bedeutung einer radikalen Individualethik – am Beispiel
der ­Kulturphilosophie Albert Schweitzers – für die innere Haltung
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Dr. Gottfried Schüz, Vorsitzender der Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum, Frankfurt am Main
Wenn von einer radikalen Individualethik in Verbindung mit Albert Schweitzer die Rede ist, wird
man zunächst an dessen radikalen Schritt denken,
den er vor 100 Jahren vollzog: Nachdem er ein
komplettes Medizinstudium auf sich genommen
hatte, gab er eine aussichtsreiche Doppelkarriere
als Theologiedozent und Konzertorganist auf, um
zusammen mit seiner Frau Helene im äquatorialafrikanischen Gabun auf dem Gelände der Missionsstation Lambarene ein Urwald-Spital aufzubauen.
Ein humanitäres Aufbauwerk ohne Beispiel, einzig
dadurch motiviert, nicht länger von der Religion
der Liebe Jesu nur zu reden, sondern diese im Tun
zu verwirklichen.
Gleichwohl ist Schweitzers radikale Individualethik
nicht auf dem Boden seines christlichen Glaubens, sondern einer fundamentalen Kulturkritik
erwachsen. Im Zuge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts sah er einen ethisch-geistigen
Verfall der Kultur und zunehmende Unmenschlichkeit um sich greifen. Der Erste Weltkrieg war für
ihn die notwendige Folge dieses ethisch-geistigen
Niedergangs der Moderne.
Auch in den Aufbaujahren seines Spitals ließ
Schweitzer nicht mehr die Frage los, wie eine von
Grund auf tragfähige ethisch-geistige Erneuerung
der Menschheit erfolgen könnte.
Der Weg zu einer Kulturerneuerung und einer
Ethik, die sich über alle nationalen und weltanschaulich-religiösen Grenzen hinweg als tragfähig
erweist, lag für Schweitzer nicht in einer Erneuerung gesellschaftlicher Zustände. Eine Erneuerung
Referent Dr. Gottfried Schüz
der Kultur im ethischen Geist ist für Schweitzer
stattdessen nur über neue Gesinnung zu erreichen, die vom Humanitätsideal durchdrungen
ist. Diese ist in mehrfacher Hinsicht radikal-individual:
1. Sie geht an die Wurzeln des Menschseins. Sie
kann nicht einfach normativ verordnet werden,
sondern sie erschließt sich nur demjenigen, der
nüchtern und wahrhaftig über sein grundlegendes
Verhältnis zu anderem, ihn umgebenden Leben
nachdenkt. Dabei muss er sich mit einer Grundtatsache des Bewusstseins auseinandersetzen, die
niemand leugnen kann: „Ich bin Leben, das leben
will, inmitten von Leben, das leben will“.
57
denkraum 8
Der über diese Tatsache nachdenkende Mensch
kann nicht anders, als nicht nur den eigenen Willen zum Leben bzw. die eigene Lebensbejahung,
sondern auch die Lebensbejahung, die sich in
dem vielgestaltigen Leben um ihn herum zeigt,
mitzuerleben und in gleicher Weise anzuerkennen
wie die eigene. Wir erleben aus dieser Tatsache
geradezu die „Nötigung“, allem Leben die gleiche
„Ehrfurcht“ entgegenzubringen.
2. Zugleich ist diese Ethik „radikal“ im Blick auf
den Anspruch ihrer universellen Gültigkeit: Allem
Leben ist mit gleicher Ehrfurcht zu begegnen. Sie
lässt keinerlei Wertunterschiede zwischen den Lebewesen, gleich welcher Art oder Organisationsstufe, gelten.
„Wer von uns weiß, welche Bedeutung das andere
Lebewesen an sich und im Weltganzen hat? Die
Konsequenz dieser Unterscheidung ist dann die
Ansicht, daß es wertloses Leben gäbe, dessen Vernichtung erlaubt sei. Je nach den Umständen werden dann unter wertlosem Leben Insekten oder
primitive Völker verstanden.“
So einfach der vorstehend zitierte ethische
Grundsatz auch klingt, so schwer ist er im Ein-
58
zelfall umzusetzen; ja er führt uns buchstäblich
auf Schritt und Tritt in unentrinnbare Konflikte
hinein. Wir kommen nämlich fortgesetzt in die
Lage, eigenes Leben nur auf Kosten anderen Lebens erhalten zu können und dadurch an anderem
Leben „schuldig“ zu werden. Dies beginnt schon
beim Waldspaziergang, bei dem unter unserer
Sohle Ameisen, Insekten und andere Kleinlebewesen vernichtet werden. Oder denken wir nur
an die gigantische Zerstörung von Lebensraum
für Menschen, Pflanzen und Tiere im engeren
und weiteren Umkreis, den moderne Industriegesellschaften zur Erhaltung und Steigerung ihres
Lebensstandards billigend in Kauf nehmen; eine
Vernichtung von Leben, deren Ausmaß selbst
Schweitzer nicht kannte.
3. Eine solche Ethik, die Konflikten nicht ausweicht, ist „radikal“ auch im Blick auf seine absolute Geltung. Die Gesinnung der Ehrfurcht vor dem
Leben wirft uns geradezu in eine „erschreckend
unbegrenzte Verantwortung“. Sie kann nicht anders als alles menschliche und nichtmenschliche
Leben, wo immer es uns möglich ist, zu erhalten
und zu fördern.
denkraum 8
Diese Ethik verabschiedet sich von glatten Lösungen, die nicht wenige Zeitgenossen in klaren Regeln, in einer objektiv abgestuften Wertehierarchie
und daraus ableitbaren Handlungsanweisungen suchen. Ich muss in jeder Situation neu abwägen, inwieweit ein Schädigen oder Töten anderen Lebens
unabweisbar notwendig ist, um Leben zu erhalten.
Schweitzer hat die Ethik von jeglicher normativer
Bevormundung befreit. Als einzigen Maßstab lässt
er die Ehrfurcht vor dem Leben gelten. Sie ist der
einzig verlässliche, absolut und universell gültige
„Kompass“, der unserem frei verantwortlichen Entscheiden und Handeln Orientierung geben kann.
4. In dieser Perspektive ist auch das Verhältnis
der persönlichen Verantwortung des Einzelnen zu
seiner überindividuellen, gesellschaftlichen Verantwortung zu sehen.
Wir unterliegen der Versuchung, unser ethisches
Empfinden unter dem Druck der kollektiven Verantwortung zu relativieren. Damit aber laufen wir
Gefahr, so Schweitzer, unmerklich in eine „Pseudoethik“ abzugleiten.
„Geistige Macht haben wir nur, wenn die Menschen uns anmerken, daß wir nicht kalt nach ein
für allemal festgelegten Prinzipien entscheiden,
sondern in jedem einzelnen Falle um unsere Humanität kämpfen“.
Nur dann, wenn wir im Dienste der Gesellschaft
stehend nicht als „Vollstrecker allgemeiner Inte­
ressen“, sondern aus der Gesinnung der Humanität handeln, lässt sich eine ethische Kultur begründen. Auch hier muss jeder von Fall zu Fall
ermessen und selbst verantworten, wie weit er
den Zwang der Notwendigkeit gegeben sieht, gesellschaftlichen Forderungen zu folgen oder was
er an seiner Menschlichkeit bewahren kann.
Nur eines sollten wir nicht erwarten: Dass die
Gesellschaft kraft institutioneller Machtvollkommenheit von sich aus Humanität verwirklicht.
Staat und Gesellschaft können für eine „freie Kultur“ nur förderliche Rahmenbedingungen schaffen; aber gemacht werden kann sie nicht. Eine
Humanisierung der Lebensverhältnisse ist nicht
von oben, durch institutionelle oder gesetzliche
Regularia, zu erreichen, sondern kann nur von unten, nur über die vielen Einzelnen, die von der
ethischen Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben
erfüllt sind, erwirkt werden.
59
denkraum 8
Protokoll
Gemeinsam stellen wir fest, dass die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben unbedingt und unerbittlich
ist. Sie stellt den Menschen in seinem Verhältnis
zu anderen Menschen, aber auch zu Tieren und zu
Pflanzen in eine theoretisch unbegrenzte individuelle Verantwortung. Diese grenzenlose Verantwortung gegen alles, was lebt, zeigt eine begehbare Richtung auf, um eigene Entscheidungen zu
ermöglichen und zu rechtfertigen. Es bleibt aber
immer die Frage, ob nicht die andauernde Notwendigkeit, individuell zu entscheiden, wann ich
zum Beispiel töte und wann nicht (z. B. bei der
Nahrungsgewinnung oder bei Blumen) oder wann
ich fördere und wann nicht, zu einer kompletten
Überforderung des Einzelnen führen könnte.
Jeder einzelne muss in jedem einzelnen Fall erneut abwägen, ob er schädigt oder nicht schädigt, ob er unterstützt oder nicht unterstützt usw.
Wie kann ich zudem mit einem permanenten und
nicht auszuweichenden „Schuldigwerden“ umgehen? Reicht es hier, dass ich zwischen einer nicht
egoistischen und einer egoistischen Schuld unterscheide? Und wenn die Ursache für das moralische Handeln alleine im Menschen begründet ist,
kann ich denn davon ausgehen, dass hier der von
Schweitzer postulierte Wille zum Leben ausreicht,
damit ethisches Handeln entsteht? Wenn die Gesellschaft nicht der ethische Erzieher sein kann,
stimme ich dann Albert Schweitzer zu, dass Kultur
nicht durch die Neuorganisation der Gesellschaft,
sondern nur über den Einzelnen organisiert werden kann? Das Ethische kommt durch die vielen
einzelnen zustande, sagt Schweitzer. Wenn aber
alle Handlungen über Märkte und Normen geregelt werden, wo bleibt dann überhaupt der Raum
für individuell motiviertes moralisches Handeln?
Wie kann ich einer Fremdbestimmung entgehen
und wie kann ich die Freiheit der eigenen Entscheidung immer gewähren? Setzt dies nicht auch
voraus, dass man davon überzeugt ist, dass der
Mensch von Grund auf gut ist? Ist in allem Leben
ein Wille zum Leben vorhanden, der mit dem eigenen Willen zum Leben identisch ist? Kann ich in
60
ethischen Fragen vom Sein (von den Fakten) auf
das Sollen (Moral und Ethik) schließen?
All dies führte uns immer wieder zu der Feststellung, dass in Albert Schweitzers Ethik immer dem
freien Willen des Einzelnen die Ehrfurcht vor dem
Leben vorsteht und dass der Schuldbegriff eine
voreilige Gewissensberuhigung verhindert. Überlegungen zur Umsetzung dieser Ethik in unserem
Beruf und unserem Privatleben bedeuten immer
eine Form der absoluten Rücksichtnahme auf die
Existenz und das Glück von Mensch und Tier und
eine Rücksichtnahme im Umgang mit pflanzlichem Leben. Die Gruppe konnte in Schweitzers
Ethik eine lebensbejahende Ethik finden, die die
Möglichkeit einer Basis für unser professionelles
Handeln in sich tragen kann.
Aus der Schlussrunde seien einige Rückmeldungen
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zitiert:
„Die eigene Haltung im Sinne von Gleichwertigkeit
aller Wesen und Achtsamkeit dem Leben gegenüber
kann viel (Gutes) bewirken. Es lohnt sich immer.“
„Aus Ehrfurcht vor dem Leben erwächst Verantwortung gegenüber allem, das lebt. Diese Verantwortung macht nicht Halt vor nationalstaatlichen
Grenzen. Das Leid der Menschen dieser Welt ist auch
mein Leid.“
„Aus Ehrfurcht vor dem Leben, das nicht ich produziere, sondern das mir von Gott geschenkt wird,
sollte ich meine innere Haltung stets hinterfragen
und stets vor Resignation zu schützen versuchen.“
„Eine innere Haltung ist dann überzeugend, wenn
sie auch äußerlich zu spüren ist“
Moderation
Bernd Ackermann, Geschäftsführer im Evangelischen
­Verein für Jugendsozialarbeit in Frankfurt am Main e.V.
denkraum 9
Denkraum 9
Die Bedeutung von Inklusion für die innere Haltung
in der Bildungs- und Sozialarbeit
Dr. Thomas Ebers, 423 Institut für Angewandte Philosophie und Sozialforschung, Bonn
Die philosophisch-ethische Herausforderung, um
die es in der Inklusion geht, wird verfehlt, wenn
Inklusion bloß als Fortsetzung von Integration
gefasst wird. Beiden Konzepten liegen vielmehr
grundlegend unterschiedliche Vorstellungen von
Gerechtigkeit zugrunde. Diese Vorstellungen finden sich im aktuellen philosophischen Gerechtigkeitsdiskurs wieder. Mit der gesellschaftlichen
Debatte um Inklusion wird die Frage gestellt, in
welcher Gesellschaft wir leben wollen.
Thesen zum Wechsel von der Integration
zur Inklusion
Was ist die „innere Haltung“?
■ Haltung ist nicht Gewohnheit (wiederholtes
Tun).
■ Haltung ist nicht Habitus (gemeinschaftlich
wiederholtes Tun).
■ Hatung ist nicht Contenance bewahren in
schwierigen Stuationen oder eine Art „geistiges
Strammstehen“.
Innere Haltung meint das bewusste, reflexive Einnehmen einer Art und Weise, die umgebende Welt
und die Menschen wahrzunehmen und antwortend
Stellung zu beziehen.
„Haltung“ enthält „Halt“, verspricht Stabilität.
Verfestigung der Haltung birgt aber die Gefahr,
Möglichkeiten auszuschließen. Aus diesem Grund
der Begrenzung hat der Philosoph Karl Jaspers das
Scheitern als notwendige Bedingung echter Existenz gefasst. Im Sinne Jaspers kann ganz generell
festgestellt werden: Erst die Haltung einer revi-
Referent Dr. Thomas Ebers
sionsoffenen Haltung ist der Punkt, von dem aus
der Welt offen entgegengetreten werden kann.
These 1:
Inklusion bedeutet (oder auch: erfordert) gegenüber dem Konzept der Integration eine Revision
der inneren Haltung.
Gegenposition:
■ Der begriffliche Wechsel von Integration zur
­Inklusion
■ ist bloßes Ergebnis der Übersetzung aus dem
Englischen;
■ ist ein bloß aufmerksamkeitsheischender Etikettenwechsel;
■ ist die Anpassung an modisch politisch-korrekte
Semantik.
61
denkraum 9
Wenn es sich um einen bloßen Streit um Begriffe
handelt, warum wird aber dann Inklusion öffentlich kontrovers diskutiert?
These 2:
Inklusion wird erst in der breiteren Öffentlichkeit
diskutiert, seitdem es um den Umbau des Schulsysems geht. Es geht nun um die Aufmerksamkeits­
ökonomie: Verteilung der Aufmerksamkeit der
Lehrpersonen (knappes Gut) und somit auch um
die Fragen nach Besitzständen und der gerechten
Verteilung der Aufmerksamkeit von Lehrpersonen.
Mit der Frage nach Gerechtigkeit ist eine Spur hin
zum grundlegenden Unterschied zwischen Integraton und Inklusion gelegt.
These 3:
Inklusion fehlt häufig eine theoretische Grundlage: Der Unterschied zwischen Integration und
Inklusion ist in der aktuellen philosophischen Gerechtigkeitsdebatte zu fundieren.
These 4:
Integration knüpft an die Vertragstheorie an, wie
es John Rawls in seiner Konzeption von Gerechtigkeit wieder aufgenommen hat: Gleiche unter Gleichen - dies ist gewissermaßen die Urexklusion.
These 5:
Inklusion gründet theoretisch eher in der Kritik
an der Vertragstheorie wie sie von Martha Nussbaum vorgetragen wird. Sie zielt nicht auf eine
parternalistische Berücksichtigung, sondern auf
eine gleichberechtigte Beteiligung aller. Ungleiche unter lauter Ungleichen, die nur in ihrer Ungleichheit gleich sind – dies ist gewissermaßen
die Urinklusion.
Die Urinklusion beinhaltet zweierlei:
These 6:
Inklusion wendet sich gegen eine paternalistische
Fürsorgeethik. Nächstenliebe etc. sind selbstverständlich keine Gegensätze zur Inklusion, können
aber den Anspruch nicht ersetzen.
62
These 7:
Die Umstellung vom gesellschaftlichen Leitwort
Integration auf Inklusion erweist sich vor dem
Hintergrund der philosophischen Gerechtigkeitsdebatte als Wandel vom Lob der Gleichheit hin zu
einem Lob der Ungleichheit. Hierin besteht der
angedeutete Wandel in der inneren Haltung.
These 8:
Mit dieser Umstellung ist zugleich die Frage gestellt, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.
Inklusion stellt die Frage nach dem Selbstverständnis einer Gesellschaft. (Fraglich etwa ist der
Leistungsbegriff.)
These 9:
Die Inklusion wird gesellschaftspolitisch als zu
anspruchsvoll befunden und deswegen als bloße
Illusion auf dem Altar der gesellschaftspolitischen
Realpolitik geopfert. Hier werden Beharrungstendenzen deutlich.
These 10:
Inklusion bedeutet ein Fortschritt hin zu mehr
Menschenrechten und ist keine utopisch-illusionäre Zukunftsvision. Zwar enthält Inklusion als
Konzept utopische Momente. Es kommt darauf an,
diese als regulative Ideen zu nutzen.
Protokoll
Was war Ihnen in diesem Denkraum zur Bedeutung
der Inklusion für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit am Wichtigsten?1
iderspruch: individueller Rechtsanspruch –
W
­Inklusion?
■ Herausforderung
■ Die Zukunft ist der grundsätzliche Wandel
■ Attitude is everything
■ Yes, we can!
■ Wir brauchen eine Gleichheit aller, die die
­Ungleichheit des Einzelnen berücksichtigt
■ Lob der Vielfalt
■ Demut
■
denkraum 9
I nklusive Arbeit braucht neue Normen
Wer nicht inkludiert, der exkludiert in jedem
Fall
■ Vielfalt ist die Norm!
■ „In welcher Gesellschaft willst du/wollen wir
leben?!“
■ Lob der Ungleichheit
■ Inklusion statt Integration
■ Das Spannungsverhältnis Integration/Inklusion
ist gering!
■ Wir sind alle gleich durch unser Anderssein
■ Unterschied zwischen Integration und Inklusion liegt in der inneren Haltung
■ Blick erweitern
■ Inklusive Gesellschaft als pointilistisches Bild
■ Teilhabe ermöglichen
■
■
dass Inklusion nur umsetzbar ist, wenn
…
entsprechende innere Haltungen entwickelt
werden
■ Lob der Ungleichheit
■ Ungleichheit als Bereicherung
■ Inklusion in den Köpfen verankern. Der Mensch
begegnet dann Menschen frei von „Vor“-Urteil.
■ Die innere Haltung ist eine grundlegende Ressource, die als solche gesellschaftliche Ressourcen freisetzen wird!
■ Inklusion ist die Fortführung der Menschen­
rechte, KEINE UTOPIE
■
Moderation
Petra Zender, Pädagogische Grundsatzplanung im Stadtschulamt Frankfurt am Main
1)Die folgenden Aussagen wurden von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Ende des Denkraumes auf Karten notiert und nicht
weiter diskutiert
63
denkraum 10
Denkraum 10
Die Bedeutung der Thesen von Martha Nussbaum zu Demokratie und
­Bildung für die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Prof. Dr. Ute Gahlings, Institut für Praxis der Philosophie und Fachbereich Philosophie, Technische Universität Darmstadt
Moderatorin Dr. Christiane Wessels und Referentin Prof. Dr. Ute Gahlings
In Paragraph 26.2 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte von 1948 wird von der Bildung
gefordert, dass sie „auf die volle Entfaltung der
menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung
der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein“ muss. Die dazu erforderliche innere Haltung kann man mit Edith Stein als
Ethos bzw. Berufsethos bestimmen, das an Werten
orientiert ist. Daraus ergibt sich der Habitus, nach
Pierre Bourdieu ein System von Dispositionen und
inkorporierter Erfahrung. Für Martha Nussbaum erhält die innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit eine moralische Qualität, wenn sie sich
auf den Menschen als ein Wesen richtet, das fä-
64
hig ist, ein gutes Leben zu führen, zumindest den
Wert eines guten Lebens anzuerkennen. Das Vorhandensein der menschlichen Fähigkeiten begründet den moralischen Anspruch auf ihre Entfaltung.
Dieser Anspruch richtet sich an andere Menschen
und insbesondere, wie Aristoteles es sah, an die
Regierung.
Was aber, wenn andere Menschen und Regierungen den Menschen nicht als ein Wesen begreifen,
das die so reichhaltig besetzte Fähigkeit zu einem
guten Leben hat, so z. B. die Fähigkeit zu lachen,
zu spielen, sich an erholsamen Tätigkeiten zu erfreuen? Was, wenn sie den Menschen als ein Wesen
denkraum 10
betrachten, das der Wirtschaft dienlich sein und
Profit abwerfen soll, damit es im Produktionsprozess ein Garant für Wirtschaftswachstum bleibt?
Dann wird man mehr und mehr darauf verzichten,
Bildungsformen anzubieten, die den Reichtum
menschlicher Fähigkeiten entwickeln. Man wird
für die Wirtschaft ausbilden, statt den Menschen
zu bilden und die „volle Entfaltung“ seiner Persönlichkeit zu fördern. In der Folge davon werden
bestimmte Denkweisen wie Zweckrationalität und
Profitorientierung in den Vordergrund treten und
bestimmte Fähigkeiten, wie z. B. diejenige zu einem respektvollen Zusammenleben, verkümmern.
Bezeichnenderweise ist diese Entwicklung aktuell sogar in den Gesellschaften der so genannten
ersten Welt in vollem Gange: Geistes- und kulturwissenschaftliche, musische und künstlerische Fächer werden auf allen Stufen des Bildungswesens
zusammengestrichen; Naturwissenschaften, Technologie- und Wirtschaftswissenschaften treten
an ihre Stelle. Im Bereich der öffentlichen Mittel
werden die Ausgaben für Kultureinrichtungen wie
Theater, Musik, Literatur, gemeinnützige Vereine
etc. radikal gekürzt. Die weltweite Wirtschaftskrise wird begleitet von einer lautlosen Krise, der
Bildungskrise, die nach Nussbaum gravierender
und dramatischer ist als die Krise der Ökonomie.
Ihre Streitschrift „Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht“ ist ein leidenschaftliches Pamphlet gegen die zunehmende Ökonomisierung der Bildung und ruft zum Widerstand
gegen ein Bildungssystem auf, das in Zukunft nur
noch „Generationen nützlicher Maschinen“ hervorbringt. Für Nussbaum braucht Demokratie weniger gut funktionierende, als vielmehr mündige,
offene, neugierige, nachdenkliche und phantasievolle Menschen. Kunst, Musik, Literatur, Philosophie sowie geistes- und kulturwissenschaftliche
Bildung sind von großer Bedeutung für ein demokratisches Bewusstsein und damit im Weiteren
für die moralische Integrität von Individuen, weil
in ihnen sowohl Empathie als auch Kritikfähigkeit
mobilisiert werden. Es geht um die Kultivierung
von Gefühlen und Kognitionen, um innere Haltungen zur Welt, zu sich selbst, zu Anderen.
Wirtschaftswachstum funktioniert auch in Ländern, die Menschenrechte missachten und undemokratisch geführt werden. Den Markt interessiert
die politische, religiöse oder moralische Orientierung einzelner Menschen und Staaten nicht, es
zählen nur Kaufkraft und Kapitalmacht. Nussbaum
schreibt: „Pädagogen, die nur Wirtschaftswachstum im Blick haben, ignorieren die Kunst nicht
nur, sondern fürchten sie. Denn gut entwickelte
Empathie ist ein besonders gefährlicher Feind der
Stumpfheit, und moralische Stumpfheit ist notwendig, um ökonomische Entwicklungsprozesse
zu organisieren, die sich um Ungleichheiten nicht
scheren. Es ist leichter, Menschen als manipulierbare Objekte zu behandeln, wenn man nie gelernt
hat, sie anders zu sehen.“ (Nussbaum 2012, S. 38)
Um sie anders zu sehen, muss man gelernt haben,
was es bedeutet, Mensch zu sein und ein gutes Leben zu führen. Um sie anders zu sehen, muss man
gelernt haben, Perspektiven zu wechseln, sich in
andere einzufühlen, Kritik zu üben und auszuhalten etc. Diese Fähigkeiten werden nicht durch
die Rationalitätsformen der Natur-, Technik- und
Wirtschaftswissenschaften gefördert, sondern
durch Kunst, Literatur, Musik und Philosophie etc.
Wenn wir moralisch am Subjekt ansetzen, dann
gehört zur Bildungsarbeit nicht nur das Expertenwissen für den Beruf, sondern ein Berufsethos,
das von humanistischen Werten geprägt ist. Eine
nachhaltige Humanisierung der geographisch und
moralisch entgrenzten Wirtschaftsbeziehungen
kann nur erreicht werden, wenn wir die Menschen
in ihrer Fähigkeit stärken, moralische Wesen zu
werden und zu bleiben.
Nussbaum bezieht sich in ihrer Streitschrift auf
große reformatorische Persönlichkeiten wie Sokrates im Griechenland des 5. Jahrhunderts v.
Chr., der das Selbstdenken und den sokratischen
Diskurs einforderte, oder Rabindranath Tagore zu
Beginn des 20. Jahrhunderts, der in seiner „Lebensschule“ großen Wert auf Tanz, Spiel, Musik,
Kreativität, Literatur und Theater legte. Für das
wirtschaftliche Fortkommen des Einzelnen und
des Landes scheinen solche Bildungsinhalte wenig lukrativ zu sein, für das demokratische Leben
indes sind sie unabdingbar, weil sie die Menschen
65
denkraum 10
als fühlende und selbstständig denkende Subjekte
fördern.
Es sind nicht die Kompetenzen der Wirtschaftsakteure, die eine lebendige Demokratie und ein respektvolles Zusammenleben in einer pluralistischen
Gesellschaft ermöglichen. Letztlich aber – und das
ist Nussbaums besondere Pointe – wird eine moralisch integere Gesellschaft auch für eine vernünftige Wirtschaftsordnung und ein gesundes Wirtschaftswachstum sorgen. Die Wirtschaft wird also
langfristig sogar von der humanistischen Bildung
einer Gesellschaft profitieren. Das wiederum hätte
positive Effekte auch auf die weltwirtschaftliche
Rahmenordnung, die derzeit vom Finanzmarkt-Kapitalismus dominiert wird.
Innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
bedeutet mithin auch, dass die Bildungsakteure
sich nicht selbst darauf reduzieren, Wirtschaftsakteure zu sein, und dass sie den Menschen mit einer Haltung und einem Bildungsprogramm begegnen, das Empathie und Kritikfähigkeit fördert. Die
innere Haltung ist auf die Fähigkeiten und auf die
Beziehungsfähigkeit von menschlichen Subjekten zu richten, und nicht auf die instrumentelle
Zweckdienlichkeit von Menschen als Objekte unter
Objekten.
66
Protokoll
Ausgangsfragen
1.Welche eigenen Bildungserfahrungen bringen
die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit?
2.Welche Bedeutung haben diese Erfahrungen
für ihre professionelle Haltung?
3.Was heißt „gutes Leben“ und welche Rolle
spielt Bildung dabei?
Im Anschluss an den Input von Prof. Dr. Ute Gahlings wurden insbesondere die folgenden Aspekte
diskutiert:
Nussbaums Kritik an der zunehmenden Ökonomisierung der Gesellschaft, die sie für die USA
und Indien äußert, wird auch für die Situation in
Deutschland weitgehend geteilt. Das gilt ebenso
für ihre Forderung, den Geisteswissenschaften
wieder mehr Aufmerksamkeit zu widmen und die
Rolle der Bildung in Bezug auf Kritikfähigkeit und
Empathie von Individuen zu betonen.
Hier wird insbesondere auf die Bildungstraditionen in Deutschland verwiesen, an die sich sehr
gut anknüpfen lässt, z. B. die humanistische Bildung und die Reformpädagogik. Kritisch wird insbesondere der so genannte Bolognaprozess gese-
denkraum 10
hen, der zu einem verengten Bildungsverständnis
geführt habe.
Beobachtet wird, dass das Prinzip der Nutzenmaximierung inzwischen auch das Denken im Bildungsund Sozialbereich bestimmt. Bemängelt wird eine
fehlende Wertschätzung der menschlichen Fähigkeiten in ihrer Breite – wie sie Nussbaum in ihrem Capabilitiy Ansatz beschreibt. Es reicht z. B.
nicht aus, immer mehr Wissen anzuhäufen, Wissen
muss auch berühren! Die Einrichtung eines neuen
Schulfachs mit dem Inhalt „Emotionale Entwicklung und soziale Intelligenz“ könnte sinnvoll sein.
Zudem drohen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zu „Sozialklempnern“ zu werden, wenn sie
nur noch Vorgaben zu erfüllen haben. Ferner erscheint eine Generalkritik am Schulsystem, wie sie
in der öffentlichen Debatte häufig geäußert wird,
wenig hilfreich, da Schule als Teil eines Systems
kritisch in den Blick genommen werden muss. Kritisch gesehen wird auch die Dienstbarmachung
der Philosophie für die Ökonomie.
Wie lässt sich trotz aller Widersprüche eine innere
Haltung in der professionellen Arbeit gewinnen?
Gahlings weist hier auf die Rolle der praktischen
Philosophie hin, die zur „Selbstkultivierung“ von
Menschen beitragen will. Das bedeutet, „einen
Stand zu gewinnen“, sich selbst ernst zu nehmen,
Grenzen wahrzunehmen, aber auch neugierig zu
bleiben und mitunter etwas zu riskieren.
Beispielhaft wird die Frage nach der „Selbstkultivierung“ in der Migration besprochen, deren Gelingen
von der Bedeutung der Sicherung der Grundbedürfnisse, so auch Nussbaum, elementar abhängig ist.
Beispiel des Singens im Chor widerspricht diesem
Einwand, weil es gerade deutlich machen soll,
wie mit relativ niedrigschwelligen Angeboten zur
Partizipation, Menschen aus unterschiedlichen
Milieus erreicht werden und zu besonderen Leistungen gebracht werden. Nussbaum formuliert im
Capability Ansatz Bedingungen, die erfüllt sein
müssen, damit alle Menschen die Möglichkeit haben, ein gutes Leben zu führen.
Ein Fazit des Workshops
Begrüßt wurde von den Teilnehmenden die Möglichkeit zum ergebnisoffenen, quasi zweckfreien
Austausch über bildungsbiographische und berufliche Erfahrungen. Es wurden viele Fragen angerissen, die man gerne noch einmal vertiefen würde, so z. B. die Frage nach der inneren Haltung
des Arbeitsgebers, oder allgemein formuliert der
inneren Haltung von Institutionen. Fragen von
Individual- und Institutionenethik wären hier besonders interessant.
Moderation
Dr. Christiane Wessels, Referentin im Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung des Zentrums Bildung
der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau
Literatur
Martha Nussbaum (2012): Nicht für den Profit! ­
Warum D
­ emokratie Bildung braucht, TibiaPress Verlag,
­Überlingen.
Kritik wird an Nussbaums allzu starker Betonung der Geisteswissenschaften, insbesondere
der Philosophie geübt. Ist damit nicht auch eine
Abwertung z. B. von handwerklichen Tätigkeiten
verbunden? Sollten jetzt alle Menschen studieren
und sich mit philosophischen Fragen auseinandersetzen? Sind ihre Forderungen zur Förderung
von Kunst, Literatur und Musik zur Stärkung von
Kreativität, Kritikfähigkeit und Empathie nur das
Privileg einer Elite? Das von Nussbaum gewählte
67
denkraum 11
Denkraum 11
Capabilities, Resilienz und Nachhaltigkeit und ihre Relevanz für die
­innere Haltung in der Bildungs- und Sozialarbeit
Dr. Rebecca Gutwald, Lehrstuhl für Philosophie IV, Ludwig-Maximilians-Universität München
Der Begriff der Capabilities kann als Messinstrument für das Wohlergehen eines Menschen dienen. Capabilities bezeichnen
1.was ein Mensch tatsächlich tut und ist (die
sogenannten functionings)
2.was er zu tun in der Lage ist (die sogenannten
capabilities, d. h. die Menge von functionings,
welche der Mensch potenziell erreichen kann)
(siehe Abb. 1 auf Seite 23).
Entscheidend für die persönliche Entwicklung und
ein gelingendes Leben ist die Art und Weise, wie
Menschen den Widrigkeiten (Probleme, Schicksalsschläge, Katastrophen) des Lebens begegnen.
Diese aufmerksam wahr- und anzunehmen und
mit Hilfe persönlicher Ressourcen zu überwinden,
lässt Menschen gestärkt aus schwierigen Situationen hervorgehen. Es sind im Wesentlichen sieben
Faktoren, die Resilienz ausmachen und die sich
wechselseitig beeinflussen: Akzeptanz, Optimismus, Überzeugung der Selbstwirksamkeit, günstiger Attributionsstil, aktive Lösungsorientierung,
Netzwerkorientierung, Zukunftsorientierung.
Brian Walker (2013) wendet den Begriff Resilienz
wie folgt auf Gruppen und soziale Systeme an:
Wir müssen die allgemeine Resilienz verstehen
und stärken – also die Fähigkeit eines Systems,
eine Vielfalt an Schocks in allen Aspekten seiner
Funktionsweise zu bewältigen. Die Forschung an
zahlreichen Systemen ergab, dass sich folgende
Attribute als geeignet erwiesen, einem System
allgemeine Resilienz zu verleihen:
■
68
E in hoher Grad an Vielfalt, vor allem Vielfalt der
Reaktion (das Gleiche auf verschiedene Arten
auszuführen, was oftmals fälschlicherweise für
„Redundanz“ gehalten wird).
■ Eine relativ modulare Struktur, innerhalb derer
die Bestandteile nicht übermäßig miteinander
verbunden sind.
■ Eine gut ausgeprägte Fähigkeit, rasch auf Veränderungen zu reagieren.
■ Ein signifikantes Maß an „Offenheit“, im Rahmen derer Einwanderung und Auswanderung
aller Bestandteile möglich sind (geschlossene
Systeme bleiben statisch).
■ Aufrechterhaltung ausreichender Reserven – beispielsweise Saatgutvorräte in Ökosystemen oder
Speicherkapazitäten in sozialen Systemen (was
gegen die Just-in-time-Versorgung spricht).
■ Förderung von Innovation und Kreativität.
■ Hohes soziales Kapital, insbesondere Vertrauen,
Führungskraft und soziale Netzwerke.
■ Anpassungsfähige Führung (flexibel, distributiv
und auf Erfahrung basierend).
Bei diesen Attributen handelt es sich um die
entscheidenden Elemente eines resilienten Systems. Doch Resilienz an sich ist weder „gut“ noch
„schlecht“. Unerwünschte Systeme wie Diktaturen
oder Salzlandschaften können überaus resilient
sein. In diesen Fällen sollte die Resilienz des Systems verringert werden.
Arbeitsdefinition: Selbstwirksamkeit: Resiliente
Menschen sind Menschen, die selbst wirksam handeln und auch darauf vertrauen. Der CA fordert
entsprechend, dass der Mensch in die Lage versetzt werden soll, selbst sein Leben zu gestalten.
In Sens Konzept der Verwirklichungschancen unterscheidet man zwischen zwei Bestimmungsfaktoren:
denkraum 11
a.individuelle Verwirklichungschancen (Kompetenzen, Fähigkeiten): können bzw. müssen
grundsätzlich bei jedem vorhanden sein, etwa
Alter, Geschlecht, Gesundheit, Intelligenz,
Einkommen, Güterausstattung.
b.gesellschaftlich bedingte Chancen: diese hängen von der Ausgestaltung der Gesellschaft
wesentlich ab, z. B. Zugang zu Bildung, Gesundheitsvorsorge.
Dies hilft bei der letzten Frage nach „nature or
nurture“: d. h., ob die Fähigkeit zu Resilienz (natürlich) im Individuum angelegt ist oder ob sie ein
Produkt eines guten Sozialisationsprozesses ist
oder beides. Der CA behauptet Letzteres und kann
damit zumindest bei einem Teil der angesprochenen Fragen helfen, obwohl auch hier in Bezug auf
den komplexen Begriff der Resilienz noch starker
Forschungsbedarf besteht.
Protokoll
Die Diskussion drehte sich im Wesentlichen um
die Frage nach der Definition von Resilienz. Zwei
damit verbundene Fragen waren, ob Resilienz generell als etwas Positives betrachtet werden sollte
und, ob Resilienz eine Angelegenheit des Individuums ist oder eines Systems – oder beides.
Die Diskussion zeigte, dass Resilienz auf sehr unterschiedliche Weise begriffen werden kann.
Wir kamen zu dem Schluss, dass Definitionen von
Resilienz, welche alle Fragen explizit zu beantworten versuchen, zu komplex und dennoch meist
unvollständig sind. Aus dem Denkraum kam der
Impuls, sich dem Resilienzbegriff über die Bildsprache zu nähern. So wurde z. B. das Bild eines
Balls gezeichnet. Er schnellt immer wieder nach
oben, wenn er unter Wasser gedrückt wird. Dieses Bild bringt eine wesentliche Dimension von
Resilienz zum Ausdruck: die Fähigkeit, zuverlässig
nach einer Krise (dem Herunterdrücken) wieder
zur Oberfläche, also zu einer besseren Verfassung,
zurückzufinden.
In der Sozialen Arbeit wird, so ein weiteres Diskussionsergebnis, Resilienz in der Regel als etwas
Positives angesehen, ebenso wie Nachhaltigkeit:
Erstens sollte idealerweise ein Klient durch die
Hilfe aus der Sozialen Arbeit resilienter gemacht
werden. Ist er in diesem Zustand, ist er selbst in
der Lage, sein Leben und die damit verbundenen
Krisen zu meistern – ohne auf Hilfsangebote und
Steuerung von Außen zurückgreifen zu müssen.
Nachhaltigkeit spielt, zweitens, in diesem Zusam-
69
denkraum 11
menhang eine erheblich Rolle: Die Maßnahmen im
sozialen Kontext und in der Bildungsarbeit sollten eine anhaltende Verbesserung bringen. Im
Sinne der Resilienz könnte formuliert werden: Der
Mensch soll dauerhaft resilient gemacht werden,
damit er nicht ständig neuer und anderer Maßnahmen bedarf.
Fraglich ist jedoch, wie es sich mit resilienten
Menschen oder Systemen verhält, welche zwar
resilient sind, aber Schaden anrichten. Beispielsweise ist eine Diktatur wie die von Assad in Syrien enorm resilient in dem Sinne, dass sie bisher
schwere Krisen überlebt hat. Dennoch ist dies als
negativ und nicht wünschenswert zu betrachten.
Eine weitere wichtige Frage, der wir nachgingen,
war die der Resilienz von Systemen. Die Soziale
Arbeit könnte z. B. Probleme personifizieren und
nur den Klienten betrachten, weitere Systemeigenschaften aber ausklammern. Die systemischen
Voraussetzungen, z. B. soziale Anerkennung, die
Möglichkeit, zu lernen und zu arbeiten oder politischen Einfluss zu haben, müssen jedoch gegeben sein, also auch miteinbezogen werden. Ist
dies nicht gewährleistet, ist ein Mensch vielmehr
im negativen Sinne anpassungsfähig: Er stemmt
sich auch gegen die widrigsten Umstände. Dieser
70
Mensch besitzt zwar ohne Zweifel eine gewisse
mentale Stärke, aber für echte, im positiven Sinne
zu beurteilende Resilienz braucht es sowohl innere Voraussetzungen als auch Voraussetzungen in
sozialer, politischer und natürlicher Umwelt.
Auf dieser Verständnisbasis stand der Vorschlag im
Raum, Resilienz anhand des Capability Ansatzes
zu definieren, welcher im Vortrag von Dr. Rebecca Gutwald vorgestellt wurde. Folgender Definitionsvorschlag steht im Raum: Ein Mensch ist dann
resilient, wenn er im Sinne des CA angemessene
wertvolle capabilities, d. h. Verwirklichungschancen und Fähigkeiten, besitzt.
Moderation
Monika Ripperger, Fachbereichsleiterin Kindertages­
betreuung im Stadtschulamt Frankfurt am Main
Literatur
Holling, Crawford Stanley, Walker, Brian (2013): „Resilience Defined”, working paper, online abrufbar unter
http://isecoeco.org/pdf/resilience.pdf.
Murphy, Lois Barclay (1987): Further Reflections on Resilience, in: Anthony, E. James; Cohler, Bertram J. (Hg.):
The invulnerable child, New York, Guilford, S. 84-105.
Podiumsdiskussion
71
Podiumsdiskussion
Podiumsdiskussion
Jürgen Mattis: Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, jetzt sind wir aus der schönen Sonne draußen noch einmal in diese Denkhöhle gekommen.
Wir wollen eine Abschlussrunde versuchen, wobei ich schon einige Rückmeldungen eben in der
Kaffeepause bekommen habe, dass der Fachtag
viele Fragen aufgeworfen hätte. Es ist ja auch
gut, wenn man mit Fragestellungen nach Hause
geht, über die man weiter nachdenken möchte.
Wenn die Diskussionen des Fachtags bewirkt haben, dass man ein paar Spuren für sich selbst
weiterverfolgen kann, dann ist das schon eine
gute Sache.
Ohne den Anspruch zu haben, den Tag einfangen
zu können, möchten wir in der Abschlussrunde
doch nochmal an einige Fragen anknüpfen: Wie
ist das Verhältnis von unserer Bildungspraxis einerseits und einer ethischen Theoriebildung bzw.
Moralphilosophie andererseits? Unter dem Gesichtspunkt des Genderaspekts und unter dem
Gesichtspunkt, verschiedene Professionen zusammenzubringen, habe ich fünf Vortragende des
72
heutigen Tages angefragt, ob sie bereit sind, bei
dieser Abschlussrunde mitzumachen und einzubringen, wie sich in ihrer Arbeit das Verhältnis
von Theorie und Praxis darstellt. In einer ersten
Fragerunde würde ich gerne die Frage an alle fünf
ausgehend von ihrer beruflichen Tätigkeit stellen.
Herr Dr. Ebers, Sie sind von Hause aus Philosoph,
Soziologe und vergleichender Religionswissenschaftler. Sie arbeiten im Institut für Angewandte
Philosophie und Sozialforschung in Bonn. Auf
der Homepage des Instituts ist die Aufgabe formuliert, „in der Lebenswirklichkeit Gestaltungsspielräume und Orientierungspunkte zu erschließen.“ Dafür müssen Sie letztlich Kunden finden,
die nach einer philosophischen Beratung oder
Sozialforschung verlangen. Sie arbeiten also an
einer Schnittstelle, die wahrscheinlich recht ungewöhnlich ist. Deshalb interessiert uns natürlich besonders, wie Sie die Wechselwirkung von
Lebenswelt, Praxis und ethisch-moralphilosophischer Theoriebildung aus Ihrer beruflichen Erfahrung beurteilen.
Podiumsdiskussion
Philosophieren mit Kindern z. B. unterscheidet
sich vom Philosophie-Unterricht in der Schule dadurch, dass es eben nicht nach einem Lehrplan abläuft, sondern eine Situation geschaffen wird, in
der möglichst viele möglichst frei ihre Gedanken
äußern können, auch mit bestimmten Techniken,
denn Philosophieren ist ja kein Labern, sondern
es kommt schon darauf an, ein bestimmtes Niveau
zu erreichen. Es gibt aber kein Ergebnis. In einer Stunde habe ich z. B. mit Kindern über Gerechtigkeit gesprochen und selbst ganz viel dabei
gelernt. Die Kinder haben eine der schönsten Definitionen für Gerechtigkeit genannt, die ich bisher gehört habe: „Gerechtigkeit ist, wenn keiner
gewinnt.“ Das war ein Ergebnis, das mich selbst
überrascht hat.
Dr. Thomas Ebers: Die Arbeit sieht eigentlich
so aus, wie heute Morgen schon berichtet wurde. Frau Dr. Gutwald hatte erwähnt, dass Ethik
ein Reflexionswissen ist, d. h. es ist immer etwas
Begleitendes. Die Reflexion über Praxis ist nicht
ein Anhängsel, sondern gehört wesentlich dazu.
Genau das biete ich auch an: Eine begleitende,
theoretische Fundierung über das, was man in der
Lebenswirklichkeit tut.
Mattis: Was kommt dabei heraus?
Mattis: Wunderbar, jetzt kann ich mir das etwas
besser vorstellen. Ich erlaube mir nun, zu Prof. Dr.
Margitta Kunert-Zier weiterzugehen. Sie sind von
Hause aus Diplom-Pädagogin und Sozialpädagogin. Sie lehren an der FH Frankfurt Soziale Arbeit
und haben es mit dem professionellen Nachwuchs
zu tun. Dort wird Praxis reflektiert und aufgearbeitet, was junge Studierende aus den verschiedenen Praktika an Fragestellungen mitbringen.
Sie haben auch einen Auftrag des Jugendamtes
und des Stadtschulamtes zur Leitung der Arbeitsgemeinschaft Genderorientierungsleitlinien. Das
ist eine Arbeitsgemeinschaft, die die Leitlinien
der Stadt Frankfurt zur Geschlechtergerechtigkeit
weiterentwickelt und versucht, die neueste Genderforschung einzubringen. Sie arbeiten an der
Schnittstelle von Forschung und praktischer Ausbildung. Für welche professionelle Haltung werben Sie bei den Studierenden und was sind Ihre
Erfahrungen zu dem Zusammenhang von innerer
Haltung und Praxis?
Ebers: Man macht sich Gedanken über die Lebenswirklichkeit. Was Sie hier organisiert haben, ist
der Idealfall von philosophischem Reflexionswissen. Im Grunde geht es darum, in der Diskussion
mit Kindern, Erwachsenen oder auch alten Menschen die Möglichkeit eines Diskussionsraumes zu
eröffnen. […] Es gibt kein fest definiertes Ziel.
Prof. Dr. Margitta Kunert-Zier: Mein Schwerpunkt ist Pädagogik, deshalb beschäftige ich
mich auch mit dem Bildungsauftrag der Sozialen
Arbeit. Im Unterschied zur formalen Bildung haben wir den ganzen Menschen im Blick und lehren
Lebensbildung und Lebensbewältigung. Es ist mir
sehr wichtig, dass die Studierenden dazu sowohl
Mattis: Könnten Sie uns an einem Beispiel verdeutlichen, wie es praktisch funktioniert, wenn
ein Unternehmen, eine Gruppierung oder eine
Einzelperson zu Ihnen kommt?
Ebers: Ich bin als Philosoph zunächst einmal weniger Theoretiker als vielmehr Bildungspraktiker.
Ich arbeite sehr viel mit Kindern in Schulen oder
Museen und begleite z. B. Ausstellungen philosophisch.
73
Podiumsdiskussion
Fachwissen erwerben als auch Handlungs- und
Selbstkompetenzen. Aus dieser Triade entwickelt
sich eine Professionalität, die im Idealfall diversitätsbewusst ist. Zu diesen Kompetenzen gehört,
dass sie in der Lage sind, soziale Probleme gesellschaftstheoretisch zu interpretieren, dass sie ihr
Wissen in der Praxis anwenden können und vor
allem ihre eigene Rolle sehr gründlich reflektieren. Der Aufbau des Bachelors ist an diesen Kompetenzen orientiert. In Frankfurt haben wir den
Vorteil, nahe am Puls der Zeit zu sein, weil hier
die sozialen Kontraste sehr stark sind. Unsere Studierenden arbeiten überwiegend in Vierteln mit
besonderem Entwicklungsbedarf und einem hohen Anteil von Migrantinnen und Migranten. Sie
müssen also Vielfaltskompetenzen entwickeln. Sie
bekommen einen Einblick in die Gestaltung des
Lebens in einer multikulturellen Gesellschaft. Einerseits sollen sie selbst damit umgehen können,
andererseits aber auch die Klienten befähigen, in
einer Gesellschaft der Vielfalt zurechtzukommen.
Mattis: Das klingt nach einem hohen Anspruch für
die Studierenden. In welche Richtungen möchten
Sie ihre Studierenden ganz persönlich bringen?
74
Kunert-Zier: Ich möchte vor allem, dass sie ihre
Potentiale entfalten, ihre Ressourcen entwickeln
und diese für die Soziale Arbeit nutzbar machen.
Es ist mir wichtig, herauszufinden, wie die Studierenden die Gesellschaft wahrnehmen und welche
Vorlieben und Begabungen sie haben. Sehr positiv
ist, wenn sie diese Begabungen, sei es Sport, Musik, Kochen, Werken oder Kunst, auch anwenden.
Da der Zivildienst abgeschafft worden ist, studieren plötzlich viele junge Männer. Grundsätzlich
sind unsere Studierenden in den letzten Jahren
immer jünger geworden. Viele müssen erst mal als
Erwachsene in der Großstadt Frankfurt zurechtkommen. Es gibt Leute, die kommen vom Land aus
wohlbehüteten Elternhäusern und kommen nach
ihrem ersten Praktikum entsetzt zurück und wollen doch lieber in die KiTa gehen. Dort sind die
Welten aber genauso bunt. Die wenigen Frankfurter Studierenden verstehen so etwas eher und
wirken als Dolmetscher. Die sozialen Kontraste
fordern also sehr viel: Es braucht eine umfassende
Stärkung der Persönlichkeit, um diesen Aufgaben
gewachsen zu sein und den eigenen psychischen
Haushalt zu regulieren.
Podiumsdiskussion
Mattis: Vielen Dank für diesen Einblick. Dr.
Klaus-Dieter Dohne, Sie sind in der Runde der
Psychologe, Arzt und Psychotherapeut. Sie sind
Unternehmenscoach und arbeiten gleichzeitig in
der Lernforschung mit dem Neurowissenschaftler
Prof. Gerald Hüther in Göttingen. Sie veröffentlichen gemeinsam mit Hüther und fordern die
Ausbildung und Förderung sogenannter Metakompetenzen. Ich bin gespannt, wie Sie durch Ihre
Arbeit die Wechselwirkung von Ethik, Moral und
(Bildungs-)Praxis bestimmen.
Dr. Klaus-Dieter Dohne: Ich komme eher aus der
Praxis und beschäftige mich wissenschaftlich mit
dem Frontalhirn, dem menschlichsten Teil des
Hirns. Ich schaue mir an, mit welchen Kommunikations- und Beziehungsmustern Menschen
interagieren. Diese Muster bestimmen nicht nur
die Ausbildung des Frontalhirns von Geburt an,
sondern auch, ob wir Menschen unsere Potenziale
gegenseitig freilegen oder nicht. Im Falle von Unternehmen geht es z. B. darum, eine andere Führungskultur zu entwickeln. Metakompetenzen stellen sich dann automatisch ein, wenn die Erfüllung
gewisser Grundbedürfnisse für Menschen situativ
möglich ist. Jeder weiß, dass es Situationen gibt,
in denen wir nicht unser volles Leistungspotential
zur Verfügung haben. Somit stellt sich die Frage,
ob wir eher direkt mit Menschen sprechen müssen, um ihre Bedürfnisse zu erfahren oder über die
Wege der Vermittlung nachdenken müssen, also
z. B. indirektes Lernen. Die Menschen, mit denen
ich zu tun habe, können aus meiner Sicht ihre Probleme nur selbst lösen, durch schlaue Ratschläge
von außen ist das nicht möglich.
Mattis: Was würden Sie in Ihrer Rolle als Unternehmensberater etwa der evangelischen Kirche
oder dem Stadtschulamt raten?
Dohne: Ich würde versuchen, gemeinsam einen
Rahmen zu kreieren, durch den es allen Beteiligten aus einer entspannten Haltung heraus möglich wird, über ihr Verhalten, ihre Aufgaben und
Ziele im Team zu reflektieren, ohne dass sie gleich
von Anderen etikettiert werden. Oft lösen sich
dann Missverständnisse von ganz alleine. Leider
ist das in unserer Arbeitsorganisation noch nicht
sehr verbreitet.
Mattis: Sie plädieren also für mehr Entspannung
und Freiräume im Arbeitsalltag?
Dohne: Ja, vor allem aber für den Mut, zu schauen, was die Kolleginnen und Kollegen gerade
umtreibt. Es geht um Feinheiten, wie etwa ein
gemeinsames Mittagessen, die das Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaft vermitteln. Vordergründig geht es in der Arbeitspraxis um fachliche
Kompetenz, aber auf einer anderen Ebene kämpfen wir alle um Wertschätzung und Anerkennung.
Das möchte ich sichtbar machen.
Mattis: Vielen Dank. Frau Dr. Gutwald, Sie haben
in ihrem Vortrag gesagt, dass die Praxis vorausgeht und die Ethik sich in der Reflexion auf diese Praxis bezieht. Sie forschen am Lehrstuhl für
Philosophie der Universität München, wie ist Ihr
Zugang zur Bildungspraxis?
Dr. Rebecca Gutwald: Den Zugang muss man
sich selbst erschließen, etwa über solche Veranstaltungen wie heute. In der Philosophie ist
die Bildungsarbeit ein wenig in Vergessenheit
geraten. Man konzentriert sich auf Theorien und
Philosophiegeschichte, der Austausch mit der
Praxis ist oft nicht gegeben, vielleicht sogar
75
Podiumsdiskussion
nicht erwünscht. Das zu ändern ist eine Herausforderung.
dung auseinandersetzen. Was ist Ihre Erfahrung
mit dieser Wechselwirkung?
Mattis: Unser Versuch war ja, Menschen aus dem
Elfenbeinturm der Theorie zu bewegen, zu uns zu
kommen. Wie beurteilen Sie aber aus ihrer Perspektive die Bildungslandschaft? Welche Haltungen und Wertorientierungen nehmen Sie wahr?
Günther Emlein: Mit der Wechselwirkung ist es so
eine Sache, das unterstellt ja schon eine Form von
Kausalität. Ich bin mit meiner Theorie in die Praxis hineingesprungen, habe dort ausprobiert und
bin dann zurückgegangen und habe die Theorie
nachformuliert, weil sich die Praxis widerständig
gezeigt hat. Eine Idee hat nicht funktioniert, also
bin ich zurück in die Theorie, um mit einer anderen Idee in die Praxis zu gehen. Von Praxis zu
reden ist selbst eine Form von Theorie. Theoria
heißt Schau, also Sichtweise. Wenn wir etwas als
Praxis deklarieren, ist es ja auch eine Sichtweise.
Die Praxis an sich erreichen wir nicht, zumindest
nicht, wenn man konstruktivistisch denkt. Theorie
hat mit Gedanken zu tun, Praxis hat mit Leuten zu
tun. Die Leute sind anders als ich sie mir vorstelle
und davon lasse ich mich natürlich für die Theorie
anregen. So pendele ich im Grunde seit ich beruflich tätig bin. Es sind bald dreißig Jahre und es
gibt immer noch etwas zu entdecken. […]
Gutwald: Ich habe in meinem Vortrag versucht,
die individuell zugeschnittene Bildungsarbeit
stark zu machen. Die konkrete Situation eines
Einzelnen sollte Vorrang vor der Ausrichtung an
einen Standard haben. In vielen Bereichen sind
wir davon jedoch relativ weit weg.
Mattis: Vielen Dank. Herr Emlein, Sie sind Pfarrer und Theologe. Sie sind zum einen Krankenhausseelsorger an der Universität in Mainz, zum
anderen aber bei der Systemischen Gesellschaft
Lehrsupervisor und bei der Gesellschaft für
Pastoraltheologie in der Ausbildung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern tätig. Ich stelle mir vor,
dass Sie sich tägliche mit Praxis und Theoriebil-
76
Podiumsdiskussion
Mattis: In der Bildungs- und Sozialarbeit haben
wir es ja vorwiegend mit dem Schulsystem zu tun.
Dort arbeiten wir mit Jugendlichen, die oft über
viele Jahre eine Frustration in Bezug auf das System ausgebildet haben. Die Schwierigkeit in der
Arbeit mit diesen Jugendlichen besteht darin,
gleichzeitig innerhalb des Systems zu bleiben und
aus ihm auszusteigen, um Prozesse der Öffnung
zu ermöglichen. Von allem, was in dieser Runde
heute gesagt worden ist, nehme ich die Idee mit,
sehr stark an der eigenen inneren Haltung zu arbeiten. Sich nicht nur von der Praxis bestimmen
zu lassen, sondern sich den Freiraum zu nehmen,
selbst als Person kreativ zu intervenieren und diese Kreativität auf die hilfesuchenden Menschen
zurückzuspiegeln.
Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie uns diese Abschlussrunde ermög-
licht haben. Außerdem möchte ich mich bei allen
Vortragenden heute früh im Plenum und in den
Denkräumen bedanken. Ich möchte mich ganz
herzlich bei Frau Höhle und dem ganzen Organisationsteam um Frau Kloppmann herum bedanken.
Ich möchte mich bedanken bei sankt peter für die
Gastfreundschaft und Verköstigung. Ich möchte
mich auch im Namen des Stadtschulamtes bei den
Kooperationspartnerinnen und –partnern, dem
Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit und
dem Zentrum Bildung der Evangelischen Kirche
in Hessen und Nassau und der Liebfrauenschule
bedanken. Ganz herzlich möchte ich mich bei Ihnen allen bedanken, dass Sie so aufmerksam in
den Denkräumen mitgehört, mitgedacht und sich
beteiligt haben. Ich glaube, dass wir alle weitere
Fragen aus diesem Tag mitnehmen und sich die
eine oder andere Spur in unserem Kopf gelegt hat.
77
Referentinnen und Referenten
Informationen zu den Referentinnen und Referenten
Prof. Dr. Birgit Bender-Junker
ist Professorin für Theologie, Ethik und Bildungsarbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ethik und Sozialphilosophie in der Sozialen Arbeit, (religiöse) Biografieforschung, Religion in der Geschichte der Sozialen Arbeit.
Prof. Dr. Sandro Bliemetsrieder
Dipl.-Sozialpädagoge (FH) ist Professor für Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik an der Hochschule
Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte
sind Erziehung und Bildung, Bildungsgerechtigkeit und Menschenrechtsorientierung, sozialpädagogische Professionalität, diagnostisches Fallverstehen und rekonstruktive Forschung.
Dr. Julian Culp
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Leibniz-Forschungsgruppe Transnationale Gerechtigkeit am Arbeitsbereich Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre umfassen Theorien sozialer und politischer Gerechtigkeit, Theorien sozialer Entwicklung und Theorien deliberativer Demokratie innerhalb und jenseits des Staates – ausgehend
von der Diskurstheorie, dem Fähigkeitenansatz und dem liberalen Egalitarismus.
Dr. Klaus-Dieter Dohne
Dipl.-Psychologe, ist Inhaber von Psychologisches Unternehmensmanagement und Geschäftsführer des
Beratungs- und Coachingunternehmens Culture Work GmbH und darüber hinaus Vorstandsmitglied der
Milton-Erickson-Gesellschaft (MEG) und Ausbilder an namhaften Instituten. Zu seinen Schwerpunkten
gehören die Beratung von Unternehmern, Entscheidern und Inhabern von mittelständischen Unternehmen, das Coaching von Führungskräften sowie die Entwicklung von strategischen Interventionen in
Krisensituationen.
Dr. Thomas Ebers
studierte Philosophie, Soziologie und vergleichende Religionswissenschaft. Er leitet das Institut für
angewandte Philosophie und Sozialforschung 423 in Bonn und ist als Fachbuchautor und Referent tätig.
Günther Emlein
ist Pfarrer der EKHN, seit 1995 als Klinikseelsorger an der Universitätsmedizin Mainz tätig. Er ist Kursleiter für systemisch orientierte Seelsorge am Zentrum Seelsorge und Beratung der EKHN, Friedberg,
Supervisor am IPOS, Friedberg, Lehrsupervisor DGfP, Lehrender Supervisor SG und arbeitet an einer Dissertation zur Systemtheorie der Seelsorge.
Prof. Dr. Ute Gahlings
Philosophin, Privatdozentin an der Technischen Universität Darmstadt, Gast- und Vertretungsprofessuren in Berlin und Darmstadt, Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, Gründungsmitglied und zweite Vorsitzende des Instituts für Praxis der Philosophie e.V. (IPPh) Darmstadt.
Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Ethik (Berufs-, Technik- und Wirtschaftsethik), Leibphilosophie, Anthropologie, Kulturphilosophie, Geschlechtertheorie, Phänomenologie.
78
Referentinnen und Referenten
Dr. Rebecca Gutwald
arbeitet schwerpunktmäßig zu den Themen angewandte Ethik und praktische Philosophie (vor allem
Capability Ansatz) als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Nida-Rümelin an der Ludwig-Maximilans-Universität München. Sie hat Rechtswissenschaften sowie Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie studiert und im Bereich Ethik promoviert.
Dr. Reinhild Hugenroth
ist Sprecherin der Arbeitsgruppe „Bildung und Qualifizierung“ im Bundesnetzwerk bürgerschaftliches
Engagement, stellv. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogikk, freiberuflich
tätig, Expertisen für politische Bildung, zivilgesellschaftliches Lernen, Kompetenzerwerb im bürgerschaftlichen Engagement - mit und ohne soziale Medien.
Axel Klimek
ist Mitbegründer und Geschäftsführer der ISIS Academy GmbH, einem Trainingsinstitut für Veränderungsmanagement im Bereich Nachhaltiger Entwicklung und Inhaber der Beratungsgesellschaft Axel
Klimek 3p. Er arbeitet seit vielen Jahren als Organisationsberater und Coach in Europa, Asien und Afrika
und unterstützt Führungskräfte, Organisationen und Entwicklungsprogramme dabei, komplexe Veränderungsprozesse zu gestalten und Nachhaltigkeit mit dem Kerngeschäft und der Wertschöpfungskette zu
verbinden.
Prof. Dr. Margitta Kunert-Zier
Diplompädagogin, seit 2008 Professorin für Pädagogik in der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Ihre Schwerpunkte sind: Kinder- und Jugendarbeit, Bildung und Partizipation, Geschlechterbewusste Pädagogik und Genderkompetenz. Sie hat langjährige Berufserfahrungen als
Kommunale Jugendpflegerin, Geschäftsführerin, Landesjugendpflegerin sowie in der Fort- und Weiterbildung; Beraterin des Jugend- und Sozialamtes der Stadt Frankfurt am Main - Implementierung des
Genderorientierungsrahmens in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit.
Dr. Gottfried Schüz
ist Grund- und Hauptschullehrer und seit 1994 Leiter des Staatlichen Studienseminars für das Lehramt
an Grund- und Hauptschulen Mainz. Er hat ein berufsbegleitendes Zweitstudium der Philosophie, Evangelischen Theologie und Pädagogik mit Promotion in Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität
Mainz absolviert. Seit 2006 ist er ehrenamtlicher Vorsitzender der Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum Frankfurt am Main.
79
80
Herunterladen