SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE Alexander Glasunow "Ich bin von der Musik besessen" Zum 150. Geburtstag des Komponisten (3) Von Ulla Zierau Sendung: Mittwoch, 12. August 2015 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Ulla Zierau Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 1 SWR2 Musikstunde mit Ulla Zierau 12. August 2015 Alexander Glasunow "Ich bin von der Musik besessen" Zum 150. Geburtstag des Komponisten (3) Signet "Ich bin von der Musik besessen" Zum 150. Geburtstag des russischen Komponisten Alexander Glasunow – heute begleiten wir den 24-jähringen nach Paris und vollenden eine Oper. Dazu begrüßt Sie Ulla Zierau. (0’15) Titelmusik Die Komponistengruppe das „Mächtige Häuflein“ um Milij Balakirew, der Lehrer und Freund Nikolaj Rimskij-Korsakow, der Verleger Belajeff und der Kosmopolit Peter Tschaikowsky, sie alle sind von dem jungen, begabten Komponisten Alexander Glasunow begeistert und jeder prägt und fördert ihn auf seine Weise. Erstaunlich eigentlich, dass Glasunow dabei die große Tradition der russischen Oper, begonnen von Glinka, fortgesetzt von Rimskij, Mussorgskij und Tschaikowsky, dass er die selbst nicht aufgreift. Glasunow schreibt keine eigene Oper, dennoch zeichnet er sich für ein großes russisches Bühnenwerk mitverantwortlich. Alexander Borodins „Fürst Igor“. (0’45) 2 Musik 1: Alexander Borodin: Fürst Igor, Tanz der Polowetzer Mädchen, 2. Akt Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Leitung: EsaPekka Salonen M0034095 003, Philips, 412552-2, 2‘07 Tanz der Polowetzer Mädchen aus dem zweiten Akt der Oper „Fürst Igor“ von Alexander Borodin. Esa-Pekka Salonen leitete das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Wie kommt es, dass bei Borodins „Fürst Igor“ immer auch die Namen Glasunow und Rimskij-Korsakow genannt werden. Nun Borodin ist mit nur 54 Jahren, ganz plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Über viele Jahre hat er an seiner Oper „Fürst Igor“ gearbeitet, hat das Werk aber nicht vollendet. Hauptberuflich war Borodin Chemiker, Forscher und Lehrer, so dass die Musik, die er so innig liebte, oft hintenan stehen musste. „Fürst Igor“ war sein Lebenswerk und blieb dennoch Fragment. Noch zu Lebzeiten unterstützt Rimskij-Korsakow den Freund beim Orchestrieren und Redigieren. Einzelne Abschnitte werden auch schon aufgeführt. Rimskij versichert Borodin: „Ich bin bereit, Ihnen in Ihrer Arbeit zu helfen, umzuarbeiten, abzuschreiben, zu transponieren, zu instrumentieren, alles, was Sie wünschen, und Sie sollen sich nicht schämen, da ich - glauben Sie mir – wünsche, dass Ihre Oper auf die Bühne kommt, vielleicht noch mehr als Sie“. Bei ihren musikalischen Zusammenkünften werden immer wieder Stücke aus „Fürst Igor“ besprochen und am Klavier gespielt. Glasunow erinnert sich: „All dies versetzte die Zuhörer und selbstverständlich auch mich in hellste Begeisterung und erzwang bei uns tiefste Verehrung vor der Inspiration, Wucht und schöpferischen Urwüchsigkeit dieses großen russischen Musikers.“ 3 Borodin muss eine Vorahnung gehabt haben, Rimskij vertraut er an: „Ich werde die Oper nicht vollenden. Ihr beide - also Rimskij und Glasunow - seid verpflichtet, es nach meinem Tode zu tun“. Und so kommt es auch. In Gedenken an ihren Freund machen sich Rimskij und Glasunow an die Arbeit. Was für eine Mamutaufgabe liegt vor ihnen. Das Suchen nach Manuskriptseiten und Skizzen, das Sichten des Materials, das Ordnen der bereits fertigen Teile und vor allem das Erinnern an Borodins Klavierspiel bei den Musikabenden. Glasunow verfügt über ein unglaublich gutes musikalisches Gedächtnis und so bringt er Abschnitte zu Papier, die er nur einmal gehört hat, wie die Ouvertüre, die Borodin auf dem Klavier vorgespielt hat. Während also Rimskij die einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammenfügt, die von Borodin geschrieben Abschnitte redigiert und wo nötig instrumentiert, setzt sich Glasunow an den fragmentarischen zweiten und den überhaupt noch nicht vorhandenen dritten Akt und notiert die Ouvertüre nach dem Plan von Borodin. Unglaublich. Wenn immer die Ouvertüre zu Fürst Igor gespielt wird, steht da der Name Alexander Borodin, in Wahrheit ist jede Note von Glasunow zu Papier gebracht, aus dem Gedächtnis nach Borodins Spiel. (2’55) Musik 2: Borodin / Glasunow: Ouvertüre zu „Fürst Igor“ Russisches Nationalorchester / Leitung: Michail Pletnjew M0012446 002, Deutsche Grammophon, 439892-2, 10‘06 4 Ouvertüre zu Alexander Borodins Oper „Fürst Igor“, wie sie Glasunow aus dem Gedächtnis nach Borodins Klavierspiel aufgeschrieben und dann nach eigener Manier instrumentiert hat. Fast zwei Jahre dauert die Vollendung der Oper. Glasunow nimmt den Fürsten mit in die Sommerfrische auf die Krim und wieder mit nach Hause, immer wieder sitzt er an den noch fehlenden Teilen, bringt eigenes Gedankengut ein und erinnert sich an Borodins Ideen. Glasunow meint: „Es zeigte sich, dass unsere Zusammenarbeit nicht nur ein simples Arrangement der Musik von Borodin sein konnte, sondern eine Arbeit, die abgesehen von unseren technischen Anmerkungen, eine große schöpferische Anstrengung erforderte.“ Anders als Mussorgskys „Boris Godunow“ gibt es von „Fürst Igor“ keine Urfassung des Komponisten, sondern lediglich das Manuskript der Oper in Rimskijs und Glasunows Handschrift mit der Bemerkung Rimskijs: „Die Oper wurde vollendet am 12. März 1888“. Anderthalb Jahre später erscheint diese einzigartige Gemeinschaftsproduktion in Belaieff-Verlag. 1890 findet dann die lang erwartete Uraufführung statt. Der Komponist Nikolaj Tscherepnin bemerkt nach der Durchsicht der Partitur. „Es ist unmöglich festzustellen, ob diese Passage oder jene Partie von diesem oder jenem der drei Komponisten ist. Diese Oper ist wirklich eine gemeinsame Schöpfung von Borodin, RimskijKorsakow und Glasunow“. Diese selbstlose, freundschaftliche, kreative und äußerst fruchtbare Zusammenarbeit ist einzigartig in der Musikgeschichte. Das gemeinsame Ringen um das Werk eines anderen und es dann 5 unter dessen Namen herausgeben ist eine ganz besondere Art der Kooperation, der Verbundenheit, ja der Seelenverwandtschaft. Bis heute gilt das drei-stündige Mamutwerk „Fürst Igor“ als ein Sittengemälde der russischen Vergangenheit. Losgelöst von der Opernbühne haben die berühmten Polowetzer Tänze schnell ein Eigenleben geführt. Sie wurden schon zu Lebzeiten Borodins aufgeführt. Rimskij hatte bei der Instrumentierung geholfen, der Choreograph Michael Fokin machte sie zu einem eigenständigen Ballett. Im Konzertsaal haben sie bis heute eine große Wirkung, ob – wie im Original – mit Chor oder ohne. (2’15) Musik 3 Alexander Borodin: Polowetzer Tänze, daraus: Tanz der Sklavinnen Anima Eterna, Jos van Immerseel M0074338 010, ZZT 050502, 2‘05 „Fürst Igor“, große russische Oper, an der Alexander Borodin fast zwanzig Jahre seines Lebens gearbeitet hat und sie dennoch nicht vollenden konnte. Nikolaj Rimskij-Korsakow und Alexander Glasunow haben das posthum in seinem Namen vollbracht und das Werk editiert. Den Tanz der Sklavinnen aus den Polowetzer Tänze, die Borodin schon zu Lebzeiten aufgeführt hat, spielte hier in der SWR 2 Musikstunde Anima Eterna unter der Leitung von Jos van Immerseel. „Fürst Igor“ bleibt Glasunows einzige Oper, auch wenn es nicht allein sein Opus ist und auch nicht unter seinem Namen erscheint, aber es ist mit sein Verdienst, dass Fürst Igor das Musiktheater überhaupt erreicht hat. 6 „Fürst Igor“ also die einzige Oper in Glasunows Leben, aber nicht sein einziges Bühnenwerk. Innerhalb von vier Jahren schreibt er drei Ballette. Der Meisterchoreograph Petipa hat ihn zum Nachfolger Tschaikowskys berufen und so entstehen: „Raymonda“, „Liebeslist“ und „Die Jahreszeiten“. Dabei muss Petipa gar keine große Überredungskunst anwenden. Glasunow wäre keine echter Russe, wenn er nicht schon längst vom Ballett infiziert gewesen wäre. Immerhin wurde in Russland und zwar in Moskau 1673 das erste Ballettschauspiel aufgeführt und 1738 in Sankt Petersburg die erste Ballettschule gegründet und Puschkin beschreibt in seinem Versepos „Eugen Onegin“, entstanden in den 1820 Jahren, eine Ballerina voller Grazie: „Ihr Füßchen, kreist in leichten Ringen, dem Boden sanft nur angeschmiegt, schnellt auf – und plötzlich fliegt sie, fliegt wie zarter Flaum auf Zephirs Schwingen.“ Die Szene kennt Glasunow sicher auch und vor allem kennt er Tschaikowskys Ballette. „Durch die Bekanntschaft und Freundschaft mit Tschaikowsky geriet ich ins Theater, diese verlockende Scheinwelt. Meine Anwesenheit zu den Proben von Dornröschen und später zum Nussknacker weckte den brennenden Wunsch, meine Kräfte an einem Ballett zu erproben“. Ein ganzes Ballett wird es nicht gleich, sondern erstmal eine Suite. (2’10) Musik 4 Alexander Glasunow: Ballettszenen op.52, Scherzino Rundfunk-Sinfonieorchester der Sowjetunion / Gennadij Roschdestwenskij M0252860 008, ZYX MEL 46005-2, 1‘25 7 Scherzino aus den Ballettszenen von Alexander Glasunow. Gennadij Roschdestwenskij leitete das ehemals RundfunkSinfonieorchester der Sowjetunion. Erst ist es also eine Suite, dann werden es drei Ballette. Am populärsten „Raymonda“, eine mittelalterliche Geschichte, die in Frankreich und Ungarn spielt. Dann die Jahreszeiten, sie sind ein allegorisches Ballett ohne Handlung, es geht allein um die Darstellung der vier Jahreszeiten, aber das mit sehr viel Charme, Lebendigkeit und eingängigen Melodien. Glasunow entwirft farbenreiche Musik und Petipa entwirft eine ebensolche Choreographie, die im Februar 1900 im Petersburger Marinskij Theater uraufgeführt wird. Der Frost tanzt eine Polonaise, die Schneeflocken tanzen Walzer, zwei Gnomen machen mit einem Frühlingsfeuer dem Winter den Garaus, Blumen blühen und Vögel zwitschern. Im Sommer drehen sich Kornblumen und Klatschmohn unermüdlich im Kreis und im Herbst wird die Weinlese mit einem rauschenden Bacchanal gefeiert. (1’00) Musik 5 Alexander Glasunow: Die Jahreszeiten, Bacchanale aus dem Herbst Royal Scottish National Orchestra, Leitung: José Serebrier M0067240 017, Wea International; 2564-61434-2, 4’06 Hat Filmmusikqualitäten dieses Bacchanale aus dem Herbst der „Vier Jahreszeiten“ von Alexander Glasunow. José Serebrier leitete das Royal Scottish National Orchestra. „Nach der Komposition der Ballette fiel mir alles leicht“, erklärt Glasunow, „die Notwendigkeit mit den Bedingungen der 8 Choreographie zu rechnen, legte mich fest, aber sie ertüchtigte mich auch für die sinfonischen Schwierigkeiten, enthielten denn nicht die eisernen Fesseln die beste Schule für die Entwicklung und Erziehung des Formgefühls? Muss man nicht gerade in den engen Fesseln die Freiheit lernen?“ Beim Ballettschreiben, in den engen Fesseln der Choreographie lernt Glasunow also seine sinfonische Freiheit kennen und die schöpft er bald nach allen Regeln der Kunst aus. Und dass aus einem seiner sinfonischen Werke, dann nochmal ein Ballett wird, hat ihn nicht weiter gestört. Der junge Tänzer Michail Fokin kreiert aus Glasunows Suite „Chopiniana“ eine Choreographie und entwirft zu jedem der fünf Stücke eine Handlung. Glasunow schätzt Chopin über die Maßen und hat für seine Suite einige Klavierstücke orchestriert und für das Ballett fügt er dann noch den berühmten Walzer in cis-Moll hinzu. Unter dem Titel „Les Sylphides“ wird das Ballett in Sankt Petersburg uraufgeführt. Fokin erinnert sich später: „Chopiniana wurde zu einem der größten Erfolge, die irgendeiner meiner Schöpfungen zuteilwurde.“ Sicher liegt es auch an der Instrumentation Glasunows. Und Fokin fordert seine Tänzer auf: „Tanzt nicht für das Publikum, stellt euch nicht selbst zur Schau, schaut nicht auf euch, sondern bemüht eure Fantasie, um die euch unsichtbar umgebenden Elementarwesen, die ätherischen Sylphiden, zu erblicken. Bewundert sie, greift nach ihnen, wenn ihr tanzt.“ Zwei Jahre später bringt Diaghilew „Les Sylphides“ in Paris auf die Bühne mit der absoluten Ballettprominenz: Pawlowa und Nijinsky. (2‘05) 9 Musik 6 Alexander Glasunow: Chopiniana, Waler cis-moll Nürnberger Symphoniker, Zsolt Déaky, M0015220 009, COL 9030.2, 4‘24 Walzer aus der Chopiniana Suite bzw. dem Ballett „Les Sylphides“ von Alexander Glasunow. Zsolt Déaky leitete die Nürnberger Symphoniker. Als Komponist hat sich Glasunow inzwischen längst etabliert, jetzt will er auch noch dirigieren. Noch während der Vorbereitung der Uraufführung von „Fürst Igor“ plant der 22-jährige seinen ersten Auftritt und zwar bei den Russischen Sinfonie-Konzerten in Sankt Petersburg. Glasunow erinnert sich an die Vorbereitungen seiner ersten Sinfonie. „Ich nahm mir vor, sie auswendig zu dirigieren, aber in der Probe ging es an einer leichten Stelle daneben, so dass ich diese Absicht für immer fallen ließ.“ Rimskij-Korsakow bewertet Glasunows Debüt nicht gerade sehr schmeichelhaft: „Der von Natur langsame, in seinen Bewegungen ungelenke und eckige, dazu stets leise sprechende Maestro zeigte recht wenig Geschick in der Arbeit mit dem Orchester.“ Das wird sich ändern, Glasunow gilt bald als hervorragender Interpret seiner eignen und anderer Werke. Die Musiker liegen ihm zu Füßen, sie schätzen seine geniale Musikalität, sein absolutes Gehör und seine Versiertheit auf einzelnen Instrumenten. Er weiß, wie ein Horn zu klingen hat, welche Möglichkeiten der Cellist hat und wie sich der Pauker in Szene setzen kann. Der Anfang als Dirigent ist gemacht und schon lockt ein Angebot aus dem Ausland. 10 Auf der Weltausstellung in Paris - im Jahr 1889 – soll Glasunow neben Rimskij als Dirigent russischer Musik auftreten. Die Konzerte der russischen Delegation werden mit großem Trara angekündigt und gefeiert. Glasunow dirigiert beim ersten Konzert seine sinfonische Dichtung „Stenka Rasin“ und beim zweiten seine zweite Sinfonie. Und er ist begeistert, vor allem vom französischen Orchester: „Die Holzbläser und teilweise auch die Hörner sind besser als bei uns. Außerdem sind sie alle Gentlemen“. Ja, die Franzosen, sie nehmen Glasunow mit offenen Armen auf und geben ihm das Gefühl, dass sie ihn und überhaupt die russische Musik schätzen und lieben. Zu den Proben und Konzerten kommt die französische Prominenz, Delibes, Massenet, Debussy, Messager und Thomas. Glasunow schreibt von einem Fest der russischen Musik. „Als man die Tänze aus „Fürst Igor“ spielte, saß ich in der Loge von Massenet, der Borodins Überlegenheit über sich anerkannte, was ich bei einem so ruhmverwöhnten Mann wie Massenet eine bemerkenswerte Tatsache finde“. Als Glasunow bei Fauré eingeladen ist, setzen sich zwei junge Musiker ans Klavier und spielen Rimskijs Antar vierhändig. Ob sich Glasunow selbst auch mal ans Klavier setzt, das hat er uns leider nicht überliefert. Aber hier in der SWR 2 Musikstunde hören wir ihn mit einem eigenen Präludium in einer Welte Mignon Produktion. (2’45) 11 Musik 7 Alexander Glasunow: Präludium Nr.1 D-dur Alexander Glasunow, Welte Mignon Klavier M0396139 002, TACET 203, 2‘22 Alexander Glasunow spielt Alexander Glasunow, das Präludium Nr.1 D-dur in der Welte Mignon Einspielung von 1910. Glasunow, der Zögling Rimskij-Korsakows, der gleichberechtigte, anerkannte Partner im Kreise um Balakirew, der Freund Tschaikowskys. Er lässt sich nicht in eine Schublade stecken. Mit Mitte zwanzig steht er auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Er ist er nicht nur in Russland ein gefeierter Komponist, sondern auch in Europa und was für ihn noch viel wichtiger ist, er saugt die europäische Musik in sich auf. In Paris besucht er Konzerte und Opernaufführungen, hört Musik von Liszt und Chopin und lässt vieles davon auch in seine Musik miteinfließen. Was ihm, vor allem zu Zeiten der Sowjetunion nicht selten den Vorwurf einbringt, dass er zum Träger „aller vielgestaltigen Einwirkungen der europäischen Musik geworden sei“, so formuliert es ein Kritiker. Weiterer Stein des Anstoßes in sozialistischen Jahren ist Glasunows Herkunft. So heißt es: Glasunow ist in seinem außermusikalischen Leben der Vertreter wohlhabenden Bürgertums, sein Wesen ist durchsetzt von der dieser Gesellschaftsklasse eigentümlichen ruhig-epikureischen und lau-liberalen Weltanschauung und einer dementsprechenden Empfindungsweise“. Und die Kritik macht auch vor seinen Sinfonien nicht halt. Ihnen fehle die starke Dynamik, echte Leidenschaft und Unmittelbarkeit des Empfindens. Sein Stil sei geprägt von handwerklichem Können und der Vollendung der Form, das klingt nach dem Vorwurf von inhaltlicher 12 Leere, aber was wenn man diese technische Perfektion und die Vollkommenheit der Form zum ästhetischen Wert, zum ästhetischen Inhalt erklärt. Glasunow passt nicht in das Bild eines russischen Naturburschen, er ist kein Nationalist, der sich von Äußerlichkeiten vereinnahmen lässt. Er liebt seine geistige Freiheit, die musikalische Vielfalt, den Kontrapunkt, die Polyphonie, die Melodieführung, die Instrumentatierung. Er ist einer der großartigsten Sinfoniker der russischen Musikgeschichte und zwar unabhängig davon in welchem politischen Umfeld er gerade steckt, Zarenreich, Revolution oder Sowjetunion. (2’00) Musik 8: Alexander Glasunow: Sinfonie Nr.6, 3. Satz, Intermezzo BBC National Orchestra of Wales, Tadaaki Otaka M0272204 007, BIS-CD-1368, 5’16 Das BBC National Orchestra of Wales unter der Leitung von Tadaaki Otaka mit dem Menuett-artigen Intermezzo aus der sechsten Sinfonie von Alexander Glasunow. Der Sinfoniker Glasunow entfaltet in seinen acht Sinfonien, den sinfonischen Dichtungen und den Solokonzerten sein kontrapunktisches Können, die Verwobenheit seiner Themen, die Stimmführung und Dichte des Orchestersatzes, seinen Sinn für Dramatik und epische Erzählweise, ebenso sein Bewusstsein für Tradition. All das macht seine Musik aus. 13 Immer wieder bezieht er die europäischen musikalischen Idiome mit ein, schlägt eine Brücke von der Gegenwart in die Vergangenheit, was ihm das Attribut „Der letzte Klassiker der russischen Musik“ einbringt oder gelegentlich auch den Beinamen „Der russische Brahms“. Glasunow steht am Ende eines Jahrhunderts und schaut auf ein Füllhorn von Musik zurück. Immer wieder verbeugt er sich vor seinem großen Vorbild Mozart. In einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1931 mit dem Titel „Mozart in uns allen“ beschreibt er Mozart als ein Wunder, als einen Stern, der alle Welt-Lichter in den Schatten stellte. „Dieses Phänomen versetzte die Zeitgenossen in Erstaunen. Noch heute befindet sich die Menschheit in der gleichen Erregung vor Mozart, dem größten schöpferischen Genie in der Musik“, so Glasunow und er erklärt Mozarts Kunst wie folgt: „Die Frische und echte Schönheit seiner musikalischen Gedanken paart sich mit der Reinheit des Stils und mustergültiger Verarbeitung. Bei allem Mut in seiner Schreibweise verletzt keine Stelle das Ohr. Er vermeidet jeden Bruch der durch Jahrhunderte entstandenen Traditionen. Glasunow beleuchtet auch Mozarts Einfluss auf die russische Musik, er nennt Glinka, Tschaikowsky, der in seiner vierten Orchestersuite ganz offensichtlich für Mozarts schwärme, ebenso Rimskij-Korsakow mit seiner kurzen Oper „Mozart und Salieri“, in der sogar einige Takte aus Mozarts Requiem zitiert werden. Glasunows Fazit: „Heute sind sich alle Richtungen, die es in der Musik gibt, einig in der Huldigung dieses Namens: Mozart.“ In der Genialität, in der Leichtigkeit und Perfektion, der Themenfindung, -verarbeitung ist Glasunow ohne Zweifel Mozart seelenverwandt. Der zweite Satz aus seinem fünften 14 Streichquartett klingt in meinen Ohren ein wenig mozartesk, er klingt graziös und erinnert ein wenig an klassische Tänze. Glasunow war nicht nur der letzte Klassiker der russischen Musik, sondern auch ihr erster Klassizist. (2’45) Musik 9 Alexander Glasunow: Streichquartett Nr.5 d-moll, 2. Satz Scherzo Utrecht String Quartet M0018484 006, MDG 6031236-2, 4‘30 Scherzo, der 2. Satz aus dem fünften Streichquartett von Alexander Glasunow, gespielt vom Utrecht String Quartet. Morgen gehen wir mit Glasunow ins Sankt Petersburger Konservatorium, durchleben politisch turbulente Zeiten und lassen seine prominenten Schüler Strawinsky, Prokofjew und Schostakowitsch zu Wort kommen. Bis dahin verabschiedet sich Ulla Zierau (0’20) 15