Die „kräftig anregende Wirkung“ der Vortragslehre Riemanns für analytische Interpretationen mit der Software RUBATO Anja Fleischer Nachwuchsgruppe KIT-MaMuTh1 Technische Universität Berlin Institut für Kommunikations- und Softwaretechnik Franklinstr. 28/29 D 10 587 Berlin Email: [email protected] Einleitung Die Weiterentwicklung der RUBATO-Software zur Analyse und Interpretation von Musikstücken2 ist Teil der Forschungsarbeit der Nachwuchsgruppe für Mathematische Musiktheorie an der Technischen Universität Berlin. Der Ansatz von RUBATO, aus analytischen Daten der Partitur Interpretationsvorschläge abzuleiten, steht in der Riemannschen Tradition, die Aufgabe des Interpreten in der „Verdeutlichung von Struktur“ zu sehen. Im folgenden soll am Beispiel des langsamen Satzes aus Beethovens Klaviersonate op. 13 gezeigt werden, inwiefern Anregungen von Riemann bezüglich der Analyse und der Interpretation in der Mathematischen Musiktheorie aufgegriffen und innerhalb von empirischen Experimenten getestet werden. Diese gegenseitige Durchdringung von klassischer Musiktheorie und experimenteller bzw. empirischer Forschung gestattet einen neuen kreativ-kritischen Umgang mit Hugo Riemanns Theorieschriften. Sie erscheint um so wichtiger, als bis heute keine umfassende Kritik der Riemannschen Theorie existiert (Kopiez 1997: 97). Darüber hinaus kann sie einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Bestrebungen der systematischen Musikwissenschaft leisten, die Kluft zwischen empirischen Untersuchungen mit fehlendem theoretischen Überbau einerseits und andererseits Modellen hohen Theoriegrades, die nicht auf ihre Angemessenheit bezüglich der menschlichen Wahrnehmung empirisch überprüft werden können, zu überbrücken. Riemanns Bedeutung für die Performanceforschung des 20. Jahrhunderts „Unter Ausdruck versteht die Ästhetik zunächst ganz allgemein die Objektivierung einer Idee, die für Andere sichtbare oder hörbare, überhaupt auffaßbare Darstellung derselben, die Mittheilung eines Gedankens; ... Der Begriff des musikalischen Ausdrucks ist hiernach direkt verständlich als die deutliche Ausprägung der musikalischen Gedanken, das plastische Heraustreten der Motive und Themen, die Übersichtlichkeit des ganzen Aufbaues des Kunstwerkes. Man kann ebenso von einem Ausdruck des Kunstwerkes selbst reden, von dem Ausdruck, den der Komponist seiner Idee gegeben hat, also von ausdrucksvoller Musik, als von einem Ausdrucke, den der reproducirende Künstler dem von ihm vorgetragenen Kunstwerke giebt, also von ausdrucksvollem Spiel oder Gesang.“ (Riemann 1884b: 43). Die Untersuchung des „ausdrucksvollen Spiels oder Gesanges“ innerhalb der Performanceforschung ist im Vergleich zur Musiktheorie, wie z.B. der Harmonie- oder Rhythmuslehre, ein verhältnismäßig junges Forschungsgebiet. Den Beginn der experimentellen Performancefor1 finanziert durch die Volkswagenstiftung im Rahmen des Förderprogramms: Nachwuchsgruppen an den Universitäten 2 entstanden im Rahmen eines Schweizer Nationalfondprojektes unter Leitung von Guerino Mazzola 1 schung datiert Kopiez (1997: 1) auf 1938 mit Seashor‘s „Psychology of Music“. Grundsätzlich lassen sich innerhalb der Performanceforschung zwei Richtungen unterscheiden: zum einen die Methode der Messung von Performancedaten von Interpreten für die Formulierung von Hypothesen über die untersuchten Interpretationsabläufe. Dazu zählt beispielsweise Repp´s Vergleich der 24 Interpretationen von Schumanns Träumerei durch namhafte Pianisten. Dieser Richtung steht seit den 80er Jahren die computergenerierte Modellierung von Interpretationen gegenüber, wie z.B. im Analyse-durch-Synthese-Modell von Johan Sundberg. Ein anderer Ansatz hierzu ist die unter Guerino Mazzola und Oliver Zahorka entstandene RUBATO-Software zur Analyse und Interpretation von Musikstücken. Sie bietet die Möglichkeit, aus analytischen Sachverhalten der Partitur Interpretationsvorschläge abzuleiten und in einer computergenerierten Performance hörbar zu machen. Der Ansatz, aus strukturellen Beziehungen des Notentextes einen Interpretationsvorschlag abzuleiten, findet sich bereits in Riemanns diversen Schriften über den musikalischen Vortrag. Aus seiner oben angeführten Definition von „Ausdruck“ als der „deutlichen Ausprägung der musikalischen Gedanken“ ergibt sich die Frage, welche Ausdrucksmöglichkeiten dem Interpreten dafür zur Verfügung stehen. Riemann selbst erörtert diese Fragestellung beispielsweise im „Handbuch des Klavierspiels“, in der „Musikalischen Dynamik und Agogik“ oder auch in „Der Ausdruck in der Musik“. Obwohl er selbst um die Unvollständigkeit seiner Darstellungen weiß: „Es sei mir ferne zu wähnen, dass ich etwas vollkommenes oder erschöpfendes geleistet hätte ... Wenn ich nur kräftig anregend wirke, so wird mir das eine völlig genügende Befriedigung gewähren, auch wenn nach mir andere kommen sollten, welche meine Aufstellungen rektifizieren oder widerlegen.“ (Riemann 1884a: 269), reicht sein Einfluß tatsächlich bis zu den Vortragstheorien des 20. Jahrhunderts: „Wie kein anderer Autor seiner Zeit bezieht Riemann den Hörer ein, denn letztlich sei es die Aufgabe des Spielers, dem Hörer eine Verständnishilfe zum sinnvollen Erfassen musikalischer Zusammenhänge liefern. ... Alle Vortragstheorien des 20. Jahrhunderts stehen in dieser gedanklichen Tradition, wenn sie auch die Rolle des Spielers als "Strukturverdeutlicher", der seine Auffassung der musikalischen Struktur dem Hörer vermittelt, neu zu definieren versucht.“ (Kopiez 1997: 95). Auch der RUBATO-Ansatz, aus strukturellen Beziehungen der Noten einen Interpretationsvorschlag abzuleiten, läßt sich in ähnlichem Sinne als „Anregung“ auf Riemann zurückführen: „ ... führt erst eine Analyse der motivischen Struktur zum ausdrucksvollen Vortrag. Auch dieser Gedanke, dass Interpretation auf der vorhergehenden Analyse basiert, verweist weit ins 20. Jahrhundert und ist charakteristisch für die modernen Interpretationslehren wie z.B. die von Adorno.“ (Kopiez 1997: 95). Auch wenn an dieser Stelle eine sicher dringende umfassende Kritik der Vorschläge Riemanns für den ausdrucksvollen Vortrag nicht möglich ist, so sollen doch im folgenden einige seiner Gedanken kurz vorgestellt werden, die als Anregungen für die schöpferische Arbeit mit RUBATO dienen können, wie analytische Sachverhalte der Partitur in einer musikalischen Interpretation dieser Partitur ausgedrückt werden können. Einige Vorschläge für Interpretationsregeln aus Riemanns Vortragslehren Riemann geht in der Untersuchung des musikalischen Vortrags von der Existenz von Gesetzmäßigkeiten aus, gleichwohl diese nicht zur einzig gültigen Interpretation eines Werkes führen. So betont er, wie „gewaltig verschieden die Nachschöpfungen“ (Riemann 1884b: 45) des Musikstückes durch den Interpreten sein können und bemerkt ebenso, daß der Interpret 2 selbst das Stück nicht zweimal auf genau gleiche Weise spielen könnte. Dies spricht jedoch nicht gegen die Existenz von Gesetzmäßigkeiten. „Künstler darf nur der heißen, der, wenn auch nicht selbst neue Werke zu schaffen, so doch die Werke der großen Meister durch verständnisvolle Interpretation nachzuschaffen weiß. ... Diese höhere geistige Ausbildung hat auszugehen von allgemeinen Gesetzen des musikalischen Vortrags ...“ (Riemann 1905: 69). Ein wichtiges allgemeines Gesetz formuliert er in der Dynamikgestaltung von Melodielinien: „Eine schlicht empfundene, deutlich gegliederte Melodie trägt die Gesetze ihres Vortrages in sich selbst und bedarf häufig kaum der Crescendo- und Diminuendo-Zeichen. Wünscht der Komponist als Niveau der dynamischen Schattirung, als Ausgangs- und Endpunkt der dynamischen Entwickelung einen anderen Stärkegrad als das schlichte Mezzoforte, so muß er das allerdings durch p, f, pp oder ff anzeigen, und ebenso müssen plötzliche Kontraste, die Effekt und nicht schlichte Natur sind, vorgeschrieben werden. Das allgemein giltige Gesetz für die dynamische Schattirung des Melodischen ist Steigerung der Tonstärke bei steigender, Verminderung der Tonstärke bei fallender Melodie. Jede Abweichung von diesem Grundgesetze ist, sofern sie nicht durch andere Gesetze von gleich allgemeiner Giltigkeit, welche wir gleich kennen lernen werden, bedingt wird, abnorm, irregulär und muß daher vom Komponisten ausdrücklich verlangt werden. Man wird finden, daß die Komponisten ein Crescendo für die fallende oder ein Diminuendo für die steigende Melodie stets durch Zeichen oder Worte fordern, während das Crescendo der steigenden und das Diminuendo der fallenden Melodie gewöhnlich als selbstverständlich vorausgesetzt werden.“ (Riemann 1884b: 46). Hier wird eine Art Grundgesetz aufgestellt, welches immer dann gültig ist, wenn nichts anderes vom Komponisten vorgeschrieben wird. Grundgesetz bedeutet dabei nicht, daß es stets zur Anwendung kommt, sondern daß die Verletzung dieser Grundregel ihre Ursache in einer besonderen Struktur des Notentextes finden muß: „Die verbreitetste von allen Vortragsregeln ist die, daß steigende Melodie crescendo, und fallende diminuendo gespielt wird. Das ist zwar eine Bauernregel, aber keine schlechte. In der Tat verbinden sich gewöhnlich die sämtlichen der Musik zu Gebote stehenden Steigerungsmittel: anwachsende Tonstärke (crescendo), Zunahme der Lebendigkeit (stringendo) und Aufschwung der Melodie, und desgleichen gehen auch die negativen Bildungen meist Hand in Hand: decrescendo, ritardando und fallende Melodie. Allein diese Kombination der Faktoren ist doch nicht die allein mögliche oder allein gerechtfertigte. ... daß ein crescendo nach der Tiefe, weit entfernt, etwas Falsches, Naturwidriges zu sein, vielmehr als zwar minder häufige, doch der gegenteiligen vollkommen gleichberechtigte Kombination anerkannt werden muß. Die sich uns hier aufwerfende Frage ist nur: Wann ist bei fallender Melodie das drescendo statt des diminuendo am Platze?“ (Riemann 1905: 88). Die dynamische Gestaltung einer fallenden Melodie mittels eines crescendo ist demnach durchaus erlaubt, sie bedarf aber einer gesonderten Begründung. Daß Riemann unter „Gesetz“ nicht eine in jedem Fall anzuwendende Regel versteht, kommt auch in seiner Diskussion des Zusammenhangs zwischen der Dynamik und der Harmonik zum Ausdruck: „Die Wegwendung von der Haupt-Tonart bedingt daher regelmässig ein crescendo, wie umgekehrt die Rückkehr zur Haupttonart gewöhnlich im diminuendo geschieht. Es versteht sich, dass ein solches Parallelgehen von Harmonik und Dynamik nicht konsequent und für grössere Formen durchführbar ist; ... würden die grossen dynamischen Kontouren, wenn ein solches Gesetz giltig wäre, stets dieselben oder annähernd dieselben sein müssen, d.h. eine sterile Einförmigkeit würde zur Norm erhoben sein. Innerhalb der bezeichneten Grenzen gehen aber Dynamik und Harmonik wirklich parallel.“ (Riemann 1884a: 187). Riemann stellt nun „Grundgesetze“ für den „Normfall“ bezüglich der drei Parameter Rhythmik/Metrik - Melodik - Harmonik auf und bezeichnet sie an einigen Stellen mit „schlichter Dynamik“ oder „schlichter Agogik“. Sie gelten damit als Grundregeln, welche durch andere aus den Notenbeziehungen zu begründende Regeln modifiziert werden können. Das „schlichte“ Gesetz der Melodik haben wir bereits zitiert. Bezüglich der metrischen Strukturen, welche im wesentlichen die Bestimmung der Motive als kleinste Sinneinheit meint, fordert 3 die schlichte Regel die Verdeutlichung der Motive und Motivgrenzen durch eine einheitliche dynamische und agogische Gestaltung sowie eine Betonung der schweren Taktzeit: „ ... vielmehr müssen die kleineren Bildungen kenntlich bleiben und zwar eben vermittels der dynamischen und agogischen Nüancierung. ... wird vielmehr jedes Gebilde, das zu einem Vorausgegangenen in Symmetrie tritt, selbständig nüanciert ... Im engsten Rahmen der Taktmotive ist die Agogik so zu gestalten, daß der leichteren Zeit (d.h. der im Auftakt stehenden) etwas von ihrer Dauer abgezogen und der schweren etwas zugelegt wird (wofür der Name Tempo „rubato“ schon lange gebräuchlich ist).“ (Riemann 1905: 72). „Dieses hochwichtige Mittel der Verdeutlichung der rhythmischen Natur der Motive (eben durch die agogischen Nüancen) hat man früher allzuwenig beachtet. ... soweit eine Phrase reicht, eine einheitliche dynamische und agogische Nüance (sei es ein crescendo oder ein diminuendo oder -- das gewöhnliche -- ein crescendo und wieder zurückbildendes diminuendo) anzuwenden ist; zum wenigsten ist das die gesunde Grundlage des Ausdrucks.“ (Riemann 1905: 76). Auch hier betont er nochmals, daß die schlichte Regel nur die „gesunde Grundlage des Ausdrucks“ liefert, welche einer weiteren Differenzierung des Vortrages in Abhängigkeit von anderen analytischen Aspekten bedarf: „Es kommen dann die natürlichen Verbindungsformen des Dynamischen mit dem Melodischen und Harmonischen zur Geltung, welche Anlaß geben, von der schlichten Dynamik des Metrums abzugehen.“ (Riemann 1905: 79). Auch im Himblick auf die harmonischen Strukturen der Partitur formuliert er ein „schlichtes“ oder „natürliches“ Gesetz: „ ... das Leben auf harmonischem Gebiete ist das Wegbewegen von einer Harmonie zu anderen und die Wiederkehr zur Hauptharmonie. ... Es ist nach allem vorausgegangenen nur natürlich, daß der positiven Harmonieentwickelung sich das crescendo und auch eine lebendige, frische Nuancierung des Tempo gesellt, den Rückbildungen der Harmonie dagegen das diminuendo und ritardando.“ (Riemann 1905: 91). In der „Musikalischen Dynamik und Agogik“ räumt er die gegenteilige Verbindung der Harmonieentwicklung mit der Dynamik und Agogik ein, die gegenüber der „natürlichen“ Verbindung jedoch eher den Charakter des Besonderen trägt: „Da alles harmonische Geschehen seine Existenzbedingung wie seine Erklärung in der Beziehung auf einen Hauptklang (die Tonika) findet, so kann die positive Entwickelung in der Harmonik, das harmonische Werden, nichts anderes sein als die Wegbewegung von der Tonika, und die negative, das harmonische Vergehen, nichts anderes als die Rückkehr zur Tonika, der harmonische Schluss. Mit dieser Definition ist bereits ein sicherer Anhalt für das natürliche Verhältnis zwischen Harmonik und Dynamik gegeben: die schlichte Verbindung beider Faktoren muss das crescendo für das harmonischpositive und das diminuendo für das harmonisch- negative seu; wenn die gegentheilige Kombination vorkommen kann, so wird sie doch als das ungewöhnliche, abnorme erscheinen.“ (Riemann 1884a: 186). Neben diesen Grundregeln skizziert Riemann ebenso mögliche Gründe für eine Abweichung. So können die Parameter Melodik-Rhythmik-Harmonik jeweils das eigene Grundgesetz, als auch das Gesetz eines anderen Parameters modifzieren. Ein Beispiel ist die Verlagerung des Höhepunkts vom metrischen Schwerpunkt zum melodisch wichtigsten Ton: „Wenn wir gelegentlich der Erläuterung der natürlichen Dynamik der metrischen Formen bemerken mußten, daß oft auch durch die Richtung der Melodiebewegung eine Abweichung von der Grundregel veranlaßt wird, so sollte das besagen, daß eine Gipfelung der Melodie vor dem metrischen Schwerpunkte oft ein gleichfalls bereits vor dem Schwerpunkte beginnendes diminuendo veranlaßt.“ (Riemann 1905: 89) 4 oder die Verlagerung des Höhepunkts der Dynamik auf dem metrischen Schwerpunkt durch harmonische Besonderheiten: „Wie in der Melodie besonders auffallende Schritte (Ecken), so erfordern in der Harmonie alle auffälligen Akkorde, komplizierten Dissonanzen oder weiter ausholenden Harmonieschritte Akzentuation; ... Treten solche auffällige oder für die Modulation entscheidende Akkorde in unmittelbarer Nachbarschaft des Schwerpunktes auf, so veranlassen sie eine Verschiebung des Gipfels der Dynamik; für kleine Motive stellen sie die natürliche Dynamik wohl ganz auf den Kopf ... Ein gelindes Verweilen (agogischer Akzent) wird der Verdeutlichung der Dissonanzen in der Regel zustatten kommen.“ (Riemann 1905: 92). Auch wenn an dieser Stelle nicht alle Regeln, die das Abweichen von der „natürlichen“ Dynamik und Agogik veranlassen, diskutiert werden sollen, ergibt sich bereits aus den angegebenen Beispielen das Problem der Interaktion zwischen diesen Regeln, wann welche Regel für ein konkretes Musikstück zum Tragen kommen soll, wenn anhand dieser allgemeinen Formulierungen eine tatsächlich lebendige Interpretation gestaltet wird. Riemann war sich dieser Schwierigkeit durchaus bewußt: „Kombiniert man die verschiedenen Faktoren, welche ich einzeln kurz charakterisiert habe, die natürliche Dynamik für Steigung und Fall der Melodie und für die metrischen und rhythmischen Motive und Phrasen, die natürlichen Beschleunigungen und Hemmungen, welche durch harmonische, melodische und metrisch-rhythmische Rücksichten sich gebieten, so wird man im einzelnen Falle bereits regelmäßig Konflikte verschiedener Bestimmungen finden, die gegen einander kompensiert sein wollen und kompensiert werden müssen. Der musikalische Ausdruck ist also, selbst angenommen, daß die ihn bestimmenden Gesetze klar erkannt wären, doch nicht etwas Einfaches sondern etwas sehr Komplicirtes ...“ (Riemann 1884b: 63). Riemanns Ausgaben von Beethovens Klaviersonaten mit Phrasierungsangaben sind ein solcher Versuch, aus diesen allgemeinen Formulierungen über die Gesetze des musikalischen Vortrags konkrete Interpretationsvorschläge abzuleiten. Trotzdem liefern auch diese Phrasierungsausgaben natürlich keine eindeutige Vorlage für eine Interpretation, bleibt auch bei deren Umsetzung in die klingende Interpretation noch Spielraum besonders hinsichtlich der quantitativen Differenzierung - wie laut, wie schnell usw. muß gespielt werden? Riemann war sich bewußt, daß gerade diese Frage eine entscheidende ästhetische Rolle für die jeweilige Interpretation spielt: „Es muss aber sehr gewarnt werden, dass man nicht die dynamischen Anfangsaccente und die agogischen Accente für unentbehrlich halte; sie stets und überall hervorzuheben würde etwas ähnlich sein, als wenn man beim Sprechen stets die Silben scharf trennen oder wohl gar in der Schriftsprache Theilungsstriche zwischen dieselben einschalten wollte, ... So betrachtet werden beide wesentlich dem korrekten Ausdruck dienen, ohne an die Schulstube zu erinnern.“ (Riemann 1884a: 33). Ein „Maß“ für die Verlängerung von metrisch „schweren“ Noten versucht er an anderer Stelle zu definieren: „Es muß eben der Anfang derjenigen Note verlängert werden, welche den Schwerpunkt bildet ... Wie stark diese Verlängerungen sein dürfen, kann nicht allgemeingültig festgestellt werden; man kann sagen: jede Verlängerung, die als solche auffällt, ist zu stark; sie darf nur als lebenswahrer Ausdruck ins Bewußtsein fallen.“ (Riemann 1905: 75). Hier zeigt sich die Schwierigkeit, inwieweit allgemein formulierte Regeln in einer konkreten Erarbeitung von Interpretationen umgesetzt werden können ohne zu „SchulstubenInterpretationen“ zu führen, da gerade das „rechte Maß“ oft entscheidend ist für die ästhetische Wirkung. Computergestützte Modellierungen ermöglichen hier durch die explizite Anwendung der Regel und das entstehende klangliche Resultat eine wesentlich konsequentere Überprüfung des Regelwerks als Riemanns Phrasierungsausgaben. 5 Die RUBATO-Software zur Analyse und Interpretation musikalischer Texte RUBATO ist eine Software, mit der Notentexte analysiert werden können nach verschiedenen Gesichtspunkten - wie der Melodik, der Rhythmik und der Harmonik. Die Analysemethoden vereinen klassische musiktheoretische Ansätze mit solchen aus der Mathematischen Musiktheorie und können durch den modularen Aufbau von RUBATO ständig erweitert werden. Jede Analyse liefert für jede Note der Partitur einen numerischen Wert - das sogenannte analytische Gewicht, welches das Analyseresultat für diese Note repräsentiert. Dieser Wert kann anschließend benutzt werden, um eine musikalische Interpretation des Stückes zu beeinflussen. Die in der Analyse ermittelte Struktur kann also in einer computergestützen Performance verdeutlicht werden. Der zu analysierende Notentext liegt in Form eines midiFiles vor, ebenso die auf Grundlage von Analysen erstellte musikalische Interpretation. Die zur Verfügung stehenden Analysewerkzeuge - genannt Rubetten - ermöglichen dem Benutzer durch eine Vielzahl von auszuwählenden Parametern, verschiedene Analyseresultate für dasselbe Stück zu erhalten, je nach Wahl des Gesichtspunktes. Die Performance-Rubette ermöglicht durch eine Vielfalt von Operatoren das Experimentieren mit verschiedenen Umsetzungsmöglichkeiten der Analysen innerhalb der Interpretation, wie z.B. der Dynamik und Agogik. Somit hat weder der Analyse- noch der Interpretationsteil in RUBATO einen normativen Charakter, sondern er bietet dem Benutzer die Möglichkeit, sowohl verschiedene Analyse- als auch Interpretationsergebnisse zu produzieren. Eine Einführung in diese Software findet man auf folgenden Internetseiten: http://bird.musik.uni-osnabrueck.de/MaMuTh/BE/index.html sowie http://www.ifi.unizh.ch/gropus/mml/musicmedia/rubato/rubato.html. Im folgenden soll anhand der Experimente der Autorin mit dem 2. Satz aus Beethovens Pathetique verdeutlicht werden, welche Fragestellungen bezüglich der Rolle des Spielers als "Strukturverdeutlicher" mit Hilfe von RUBATO aufgeworfen und diskutiert werden können. Die Analyse Die metrische Analyse Riemanns Rhythmustheorie, wie die in der „Musikalischen Dynamik und Agogik“, setzt wesentlich die Kenntnis der Taktstruktur des betrachteten Musikstückes voraus. Die metrische Analyse innerhalb von RUBATO arbeitet zunächst ohne Kenntnis der vorgeschriebenen Taktart und ohne Beachtung der Taktstriche. Auch die Tonhöhenstruktur und die Tondauern werden vernachlässigt, lediglich die Einsatzzeiten der Noten bestimmen die metrische Struktur. Dabei kennzeichnet die Einsatzzeit den (Zeit-)Punkt der Partitur, an dem die Note beginnt. Das ist beispielsweise mit dem Sprachgebrauch von „der 1“ des Taktes oder „der 4“ vergleichbar als der Stelle des ersten oder letzten Viertels im 4/4-Takt. In der Analyse werden nun regelmäßige Raster oder Kämme von Einsatzzeiten der auftretenden Noten gesucht. Würde beispielsweise bei 8 aufeinanderfolgenden Takten immer mindestens eine Note „auf der 1“ stehen oder beginnen, wäre dies ein regelmäßiges Raster der Länge 7, der Abstand zwischen den Zinken des Kammes wäre genau ein Takt. Jedes solche Raster von Tönen gleichen zeitlichen Abstandes wird lokales Metrum genannt. Dabei kann der Benutzer die minimale Länge eines solchen Rasters vorgeben, die überhaupt nur in Betracht gezogen werden soll innerhalb der Analyse. Die minimale Länge 1 beispielsweise meint alle Raster, die mindestens zwei Töne umfassen und somit kann an dieser Stelle noch kaum von einem regelmäßig wiederkehrenden Muster gesprochen werden, wie das etwas bei der minimale Länge 7 der Fall ist, die alle regelmäßigen Kämme mit mindestens 8 Tönen im gleichen Zeitabstand erfaßt. Nun wird für jede Einsatzzeit das sogenannte metrische Gewicht errechnet, welches die metrische Bedeutung oder „Schwere“ gemessen am Gesamtstück angibt, analog zum Sprachgebrauch Riemanns vom „Hauptgewicht“ „ ... hat die Notenschrift Mittel, die wichtigste Note eines kleineren oder kleinsten Tonbildes für das Auge kenntlich zu machen, also anzuzeigen, auf welche Note des Hauptgewicht zu legen ist ... “ (Riemann 1905: 70). 6 Dabei ist eine Einsatzzeit um so wichtiger oder schwerer, an je mehr regelmäßigen Rastern sie beteiligt ist. Doch betrachten wir zunächst 3 Analyseergebnisse für den Sonatensatz: Abbildung 1: 3 Metrische Gewichte Die waagerechte Achse stellt die Achse der Einsatzzeiten von Beginn bis Ende des Stückes dar. Die daran angetragenen Balken geben mit ihrer Höhe das metrische Gewicht der entsprechenden Einsatzzeit an. Je höher der Balken, um so höher das Gewicht der zugehörigen Einsatzzeit. Die drei Analysen unterscheiden sich durch die Vorgabe der zugelassenen minimalen Länge der lokalen Metren. In der obersten Darstellung wurden alle Raster unterhalb der Mindestlänge von 80 vernachlässigt, in der mittleren unterhalb der Mindestlänge von 60 und in der unteren unterhalb der Mindestlänge von 4. Dadurch, daß in der obersten Darstellung viele Einsatzzeiten, die in keinem Raster von mindestens 80 auftreten, das Gewicht 0 erhalten und daher auch keinen Balken haben, ergibt die oberste Analyse das gröbste Bild. Immerhin lassen sich unterschiedliche Stufen deutlich erkennen, die beispielsweise einen Vorschlag für die Abschnitts- oder Einheitenbildung aus metrischer Sicht dieses Stückes liefern könnten. Die nach dem ersten Drittel (bestehend aus gleichlangen Balken auf den Halbtakten) erfolgende erste höhere Stufe, die wiederum in sich in 3 Schichten deutlich untergliedert ist, kennzeichnt das erneute Erklingen des Hauptthemas in Takt 29. Die nächste höhere Stufe (etwa ab der Mitte des Bildes) kennzeichnet den Mittelteil des Sonatensatzes, beginnend mit Takt 37 und ist durch die ununterbrochen durchlaufenden Triolen charakterisiert. Diese erhalten die insgesamt für das Stück höchsten metrischen Werte, da die Triolen in besonders vielen Rastern vorkommen. Die am Ende des Stücks stehenden kürzeren Balken kennzeichnen die viel geringeren metrischen Gewichte in den letzten Takten des Stücks, bedingt durch die eingeschobenen Pausen, die die 7 durchlaufenden Triolen-Raster unterbrechen und so auf den Schluß des Stückes vorbereiten. Die Unterschiede innerhalb der einzelnen Stufenabschnitte werden im untersten Bild am deutlichsten, beispielsweise erhalten hier im ersten Drittel die Volltakte auf der „1“ des Taktes höhere Werte als die Halbtakte auf der „2“, noch geringeren Werte erhalten die dazwischen liegenden Einsatzzeiten. Somit ergibt sich auch ohne vorherige Kenntnis der Taktart die Taktstruktur im Ergebnis der Analyse, denn die Takte sind durch Einsatzzeiten unterschiedlicher metrischer Gewichte deutlich gekennzeichnet, die „schwerste“ Zeit ist die „1“, die nächst schwerere die „2“ usw. Wie schon Riemann (1919: 23) bemerkte, besteht der Sonatensatz quasi aus 3 Schichten oder Stimmen: der Melodie, einer Baßlinie und der Füllstimme, die hauptsächlich in Sechzehntel und Triolen verläuft. Gerade die durchlaufenden Triolen bestimmen das Bild der metrischen Analyse entscheidend, da sie in sehr vielen Rastern vorkommen. Man könnte ebenso fragen, wie die metrische Struktur des Stückes aussehen würde, wenn nur die rhythmisch abwechslungsreicheren Außenstimmen ohne die recht gleichförmig durchlaufende Füllstimme ausgewertet werden: Abbildung 2: Metrisches Gewicht ohne Mittelstimme Hier erkennt man an den Längen der Balken wiederum besonders deutlich die Taktstruktur. Die Stufenbildung zwischen den Abschnitten des Stückes wie in den ersten drei Analysen tritt nicht so krass zutage. Insofern eignet sich dieses metrische Gewicht vor allem für eine Interpretation, die eher die Taktstruktur „verdeutlichen“ soll. Möchte man dagegen eher großformale Abschnitte in der Interpretation kennzeichnen, wäre eines der ersten drei Gewichte geeigneter für die Umsetzung in der Interpretation. Natürlich lassen sich auch beide Strukturaspekte miteinander kombinieren in der Gestaltung des Stückes, doch dazu später. Die melodische Analyse Riemann definiert die Bestimmung und Abgrenzung der Motive als kleinste Sinneinheiten besonders aus der metrischen Struktur heraus. Die metrische Analyse mit RUBATO kann, wie oben gezeigt, zu einer Bestimmung von eher großformalen Einheiten führen. Mit den kleinsten Einheiten dagegen arbeitet die melodische Analyse, die im wesentlichen alle Motive, bestehend aus einer Anzahl von Tönen unterhalb einer (durch den Benutzer vorzugebenden) Schranke sowie innerhalb eines anzugebenden zeitlichen Rahmens, den diese Noten höchstens voneinander entfernt liegen dürfen, über Ähnlichkeiten miteinander vergleicht. Dabei meint Motiv an dieser Stelle jede mögliche Notengruppierung von Tönen mit unterschiedlichen Einsatzzeiten und bezeichnet noch nicht das „charakteristische Motiv“ als eine ausgezeichnete Tongruppierung. Das melodische Gewicht eines Tons berechnet sich aus den Gewichten aller Motive, deren Bestandteil er ist. Dabei ist das Gewicht eines Motivs um so höher, je mehr andere ähnliche Motive existieren, in denen es enthalten ist (die sogenannte „Präsenz“ des Motivs) und je mehr ähnliche Motive in ihm enthalten sind (der sogenannte „Inhalt“ des Motivs). Wir sehen hier als kurzes Beispiel die melodisch-motivische Analyse der Melodie der ersten 8 Takte, die waagerechte Achse bezeichnet die Einsatzzeit, die senkrechte Achse die Tonhöhe, die Noten sind also wie in unserem gewohnten Notensystem, jedoch ohne 8 Notenlinien, dargestellt. Dabei wurden Motive bis zu einer Länge von 4 Noten, die nicht weiter als 4 Takte auseinanderliegen dürfen, miteinander auf Ähnlichkeit verglichen. Diese Voreinstellung bedeutet (auch bei diesem relativ kurzen Ausschnitt) einen Vergleich von insgesamt circa 4000 Motiven. Die Färbung des Notenkopfes kennzeichnet das melodische Gewicht -- je dunkler die Färbung, um so höher ist das Gewicht. Die in diesem Sinne melodisch wichtigste Note ist also das b des 5. Taktes: Abbildung 3: Melodisches Gewicht Die Harmonieanalyse Die Harmonieanalyse in RUBATO basiert auf der Riemannschen Funktionsharmonik. Auch die HarmoRubette ist im wesentlichen ein Werkzeug zur Erstellung von Analysen, d.h. es wird nicht eine einzige gültige Analyse generiert. Vielmehr werden je nach Benutzervoreinstellungen sehr verschiedene Resultate entstehen, was den oft sehr vieldeutigen harmonischen Beziehungen und den damit verbundenen unterschiedlichen Blickwinkeln auf harmonische Strukturen Rechnung trägt. Im Ergebnis jeder mit RUBATO durchgeführten Harmonieanalyse wird jedem Akkord eine tonale Funktion in einer Tonart zugeordnet. Als Beispiel dienen hier die letzten Takte des Sonatensatzes. Die waagerechte Achse bezeichnet die zeitliche Aufeinanderfolge der Akkorde (im diesem Ausschnitt sind es insgesamt 7), die senkrechte Achse kennzeichnet die 12 Tonarten, abgetragen im Quintabstand mit „C“ in der Mitte. In den Kästchen sind die ermittelten tonalen Funktionen eingetragen, hier treten nur die Dominante und die Tonika auf, bezogen auf As-Dur: Abbildung 4: Ergebnis der Harmonieanalyse 9 Dieses Analyseresultat ist nur eines aus vielen möglichen. Wie in der metrischen Analyse für jede Einsatzzeit ein metrisches Gewicht, in der melodischen Analyse für jede Note ein melodisches Gewicht, so wird in der Harmonienalyse für jeden Akkord ein Akkordgewicht errechnet, das seine „Wichtigkeit“, seinen Beitrag zum harmonischen Gesamtverlauf des Stückes anzeigt. Dieses Akkordgewicht, welches noch für jeden Ton zu einem harmonischen Tongewicht verfeinert werden kann, kann anschließend in der Interpretation eingesetzt werden als Gestaltungselement entsprechend dem harmonischen Verlauf des Stückes. Einige der Informationen, welche in das Akkordgewicht mit einfließen, sollen hier kurz dargestellt werden. Zunächst erhält jeder Akkord eine zahlenmäßige Bewertung, wie „gut“ er die entsprechende tonale Funktion vertritt. Im von mir gewählten Modell vertritt beispielsweise der C-DurDreiklang die Tonika in C-Dur besser als der A-Moll-Dreiklang (als Parallelklang) die Tonika in C-Dur vertritt, ist der Dominantseptakkord eine „deutlichere“ Dominante als der entsprechende Dreiklang ohne die Septe. Nun werden auch die Akkordschritte, also die Übergänge von einem Akkord zum nächsten bewertet, da es insbesondere auch um die Bewertung des harmonischen Verlaufs im Stück geht. Dies läßt sich vielleicht als Maß von Spannung oder Entspannung zwischen zunächst zwei aufeinanderfolgenden Akkorden verstehen. Beispielsweise ist der Übergang von einem Akkord zum folgenden viel größer oder weiter, wenn der folgende Akkord in einer neuen Tonart steht und nicht mehr in der Tonart des Vorgängers. Je größer der Tonartenabstand (der ebenso vom Benutzer vorgegeben werden kann), um so größer der Übergang zwischen den zugehörigen Akkorden. Ebenso kann der Benutzer die Übergänge zwischen den tonalen Funktionen bewerten. Im folgenden Bild ist eine Möglichkeit der Zuordnung von Übergangswerten von einem Akkord zum nächst folgenden auf der Abstraktionsstufe der tonalen Funktionen angegeben: Abbildung 5: Die Matrix der Bewertung der Akkordschritte In dieser Variante ist beispielsweise die Folge T-T oder D-D als sehr spannungsarm gekennzeichnet (Wert 0), weil in der Wiederholung nichts Neues passiert, während der Schritt von der Dominante zur Tonika eine große Entspannung durch die Rückkehr zum tonalen Zentrum bedeutet und daher mit einem positiven Vorzeichen (Wert 10) versehen ist, hingegen die Bewegung von der Tonika zur Subdominante oder Dominante als Spannung verschiedenen Grades bewertet ist und ein negatives Vorzeichen erhält (Wert -10 bzw. -5). In das Akkordgewicht fließen also sowohl die Bewertungen des Akkords selbst, als auch die Übergänge zwischen den Akkorden mit ein, wobei nicht nur zwei aufeinanderfolgende Akkorde betrachtet werden, sondern für jeden Akkord die gesamte Umgebung beachtet wird, so daß das Gewicht den harmonischen Verlauf durch das Stück berücksichtigt. Hier nun das zum oben gezeigten Analyseresultat zugehörige Bild der Akkordgewichte für die entsprechenden 7 Akkorde (je höher der Punkt, um so höher das Gewicht des Akkords), ermittelt mit der angegebenen Matrix der Übergänge zwischen den tonalen Funktionen: 10 Abbildung 6: Die harmonischen Akkordgewichte Die ersten 4 Akkorde mit der Folge D-T-D-T widerspiegeln deutlich die Einträge der Matrix: D-T mit positivem Vorzeichen bewirkt einen Abstieg der Kurve, T-D mit negativem Vorzeichen einen Anstieg. Die Kurven der Akkordgewichte verhalten sich je nach Bewertung der Akkorde und Akkordfortschreitungen sehr verschieden. Dies läßt sich benutzen, um dieselbe Analyse in verschiedene harmonische Spannngsverläufe umzusetzen, je nachdem, wie man „Spannung“ definiert. Riemanns bereits Seite. 5 vorgestellter Vorschlag aus dem „Handbuch des Klavierspiels“ lautete: „das Leben auf harmonischem Gebiete ist das Wegbewegen von einer Harmonie zu anderen und die Wiederkehr zur Hauptharmonie. ... daß der positiven Harmonieentwickelung sich das crescendo und auch eine lebendige, frische Nuancierung des Tempo gesellt, den Rückbildungen der Harmonie dagegen das diminuendo und ritardando.“ Diese grundsätzliche Unterscheidung der beiden Richtungen (weg von der Tonika -- hin zur Tonika) sind in der oben gezeigten Matrix der Übergangswerte der tonalen Funktionen repräsentiert. Dies ist sicher nicht die einzige Möglichkeit, einen harmonischen Spannungsverlauf auszudrücken. Riemann selbst definierte in der „Musikalischen Logik“ die Kadenz als Moment der Entzweihung der Tonika in der Subdominante und Dominante und die Rückkehr zur Tonika als Aufhebung dieser Entzweihung. Dies läßt sich modellieren in einer Variante, welche das Erklingen einer Tonika immer als Ruhepol wertet, während der Schritt zur Dominante eine Spannung in die eine Richtung und der Schritt zur Subdominante eine Spannung in entgegengesetzter Richtung bedeutet: Abbildung 7: Ein weiteres Beispiel für die Matrix der tonalen Schritte Diese Definition von Spannung führt zu folgender Kurve der Akkordgewichte für dieselben Akkorde: 11 Abbildung 8: Die zugehörigen Akkordgewichte Die Gestaltung Die in den Analysen gewonnenen metrischen, melodischen und harmonischen Gewichte können nun auf verschiedenste Parameter der Interpretation einwirken und diese beeinflussen. Die Performance-Rubette gestattet mit Hilfe von sogenannten Gestaltungsoperatoren, welche die Gestaltung der Interpretation durch die analytischen Gewichte realisieren, das Experimentieren mit der Frage, wie die in der Analyse ermittelte Struktur durch den musikalischen Vortrag verdeutlicht werden kann. Anders gesagt, die Definition der Rolle des Spielers als dem "Strukturverdeutlicher", wie eingangs Riemanns entscheidender Beitrag für die Vortragstheorien des 20. Jahrhunderts bezeichnet wurde, wird in der analysebasierten Performance verwirklicht. An dieser Stelle sollen nicht die Vielzahl der Möglichkeiten diskutiert werden, sondern einige im Laufe eines Experimentes an der TU Berlin erstellte Varianten, welche Probanden an dem Yamaha-Diskflügel DS 6 Pro im August 1999 zur Bewertung vorgespielt wurden3. Der Ausgangspunkt des Interpretationsvorganges in der Performance-Rubette ist eine „uninterpretierte“ Partitur, d.h. ein midi-File ohne Tempo- und Dynamikschwankungen oder Veränderungen der Artikulation. Zunächst wurde die metrische Analyse von Abbildung 2, welche die Taktstrukturen deutlich anzeigt, durch den Tempooperator umgesetzt für eine erste Agogikgestaltung des Stückes ganz im Sinne von Riemanns Bestimmung des Einflusses der Taktstruktur auf die Agogik (siehe Seite. 8): „Im engsten Rahmen der Taktmotive ist die Agogik so zu gestalten, daß der leichteren Zeit (d.h. der im Auftakt stehenden) etwas von ihrer Dauer abgezogen und der schweren etwas zugelegt wird (wofür der Name Tempo „rubato“ schon lange gebräuchlich ist).“ Die in der Abbildung durch die längeren Balken dargestellten schwergewichtigen Taktzeiten wurden daher länger gedehnt gespielt, die leichteren dagegen kürzer. Dies führte jedoch zu einer absurd klingenden Interpretation, die aus dem Auftakt in die schwere 1 des nächsten Taktes quasi „hineinstolpert“. Offensichtlich ist diese Variante die falsche „Verdeutlichung“ der Struktur oder zumindest eine, die den Zuhörern ein Lächeln über die Ungeschicklichkeit des Spielers entlockte. Kehrt man jedoch das Gewicht um und dehnt somit in der Agogikgestaltung durch den Tempooperator den unbetonten letzten Taktteil, gestaltet also in der umgekehrten Richtung wie der von Riemann vorgeschlagenen, ergibt sich durch die Dehnung des Auftaktes hin zur schweren Einsatzzeit des nächsten Taktes eine erstaunlich plausibel erklingende Interpretation. Neben diesen metrisch motivierten Agogikgestaltungen wurden andere Interpretationen erstellt, die die in der Harmonieanalyse erzielten unterschiedlichen Spannungsverläufe für den Tempoverlauf benutzen. Dabei wurde sowohl die von Riemann vorgeschlagene Regel zur Beschleunigung beim Verlassen der Tonika und zum ritardando bei der Rückkehr zur Tonika getestet (Kurvenanstieg = accelerando, Kurvenabstieg = ritardando), als auch die umgekehrte Variante (Kurvenanstieg = ritardando, 3 An dieser Stelle sei der Firma Yamaha für die freundliche Leihgabe des Instruments gedankt. 12 Kurvenabstieg = accelerando). Interessanterweise wurde von den Versuchspersonen eher die umgekehrteVariante bevorzugt. Neben der Tempogestaltung des Stückes durch die metrische bzw. harmonische Struktur wurde in einem nächsten Schritt die Dynamik mit Hilfe der melodischen Struktur gestaltet. Die von Riemann aufgestellte Grundregel zur Gestaltung der Dynamik in Abhängikeit von der Melodik lautet zunächst (siehe Zitat Seite†3), daß steigende Melodien im crescendo und fallende im diminuendo zu spielen seien. Die Charakterisierung von Melodien nach steigenden oder fallenden Linien ist im Vergleich zur melodisch-motivischen Analyse der Melorubette eine vergleichsweise sehr einfache Information über die Struktur der Melodie. Daher ist es erstaunlich, daß eine Gestaltung der Dynamik der Melodie durch die melodischen Gewichte wie in Abbildung 3 Seite†10 der Art, daß je wichtiger der Ton entsprechend der melodischen Analyse (d.h je dunkler der Notenkopf) ist, desto lauter er gespielt wird, recht gut den Dynamikanweisungen von Riemann (1905: 77) für diese Stelle entsprechen. Wollte man Riemanns Regel implementieren, ergäbe sich die Frage, ob jegliche Änderung der Bewegungsrichtung der Melodie schon eine neue Melodielinie definiert, dann würden beispielsweise innerhalb der 5 Melodietöne der ersten 2 Takte 3 Melodielinien auftreten. Eine konsequente Anwendung dieser Regel hieße: je höher der Ton, umso lauter muß er gespielt werden. Diese Regel findet sich im Regelwerk des Analysedurch-Synthese-Modells von Sundberg wieder. In der Dynamikgestaltung unter Berücksichtigung der melodischen Gewichte in RUBATO drückt sich dagegen eher die Analyse der motivischen Struktur aus, welche Riemann in seiner eingangs zitierten Bestimmung von „Ausdruck“ fordert: „Der Begriff des musikalischen Ausdrucks ist hiernach direkt verständlich als die deutliche Ausprägung der musikalischen Gedanken, das plastische Heraustreten der Motive und Themen ...“ An anderer Stelle bezieht er sich dabei auf die Dynamikgestaltung: „Scheint es sonach, als vermöge die melodische Bewegung keine bestimmende Bedeutung für die dynamische Schattirung zu gewinnen, so werden wir bald des Gegentheils inne wenn wir der Frage näher treten, welchen Einfluss die melodische Bewegung bei Bestimmung der Motivgrenzen ausübt. Hier ist sie nämlich beinahe allein bestimmend und wird es daher mittelbar in umfangreichstem Masse auch für die Dynamik“. (Riemann 1884a: 173). Gerade die Dynamikgestaltung, erwachsend aus den melodischen Gewichten, führte im Experiment zu klanglich überzeugenden Resultaten. Dieselbe Methode angewendet auf die Dynamikgestaltung des Moment Musicaux‘ op 94 Nr.6 von Schubert ergab eine Dynamikgestaltung, die zwar nicht mit den durch den Komponisten vorgebenen Dynamikbezeichnungen übereinstimmt und so den Hörerwartungen nicht entgegenkommt, aber trotzdem durch ihre innere Logik besticht. Die Gestaltung in der Performance-Rubette ermöglicht grundsätzlich die Verwendung einer unbegrenzten Anzahl von analytischen Gewichten innerhalb einer Interpretation. Sie können quasi „parallel“ wirken, wie hier das melodische Gewicht auf die Dynamik und das harmonische auf das Tempo, aber sie können natürlich auch auf denselben Interpretationsparameter einwirken. Insofern bleibt die Frage, ob Riemanns Auffassungen zu den Grundregeln der Interpretation, welche bei (sicher genauer zu definierenden) Besonderheiten entsprechend der Partitur abzuwandeln sind zugunsten anderer von ihm benannter Gesetze, dadurch getestet werden können, daß zunächst ein Gewicht entsprechend der Grundregel angewendet und im nächsten Interpretationsschritt durch ein analytisches Gewicht verfeinert wird. Die Fülle der von ihm benannten Regeln, die an vielen Stellen offen läßt, wie sie an konkreter Stelle mit welchen Kombinationen untereinander angewendet werden sollen (bestimmt die Melodik die Dynamik oder eher die harmonische Entwicklung und wenn beide, dann in welcher Abhängigkeit voneinander?), könnte so durch das entsprechende Kombinieren der Gewichte in der Interpretation getestet werden. Riemanns Versuch, die Quantität der Interpretationsnuancen zu beschreiben: „jede Verlängerung, die als solche auffällt, ist zu stark; sie darf nur als lebenswahrer Ausdruck ins Bewußtsein fallen.“ (Riemann 1905: 76) 13 kann von der Autorin in der Arbeit mit RUBATO insofern bestätigt werden, als meist eine sehr feine Abweichung als „Verdeutlichung“ durch die analytischen Gewichte ästhetisch wirkungsvollere Interpretationen erzielt. Natürlich hängt inbesondere die Nuancierung vom gewählten Klangerzeuger ab. Gerade die dynamische Differenzierung ließ die Interpretationen der Stücke am Diskflügel besonders lebendig erscheinen. Riemanns Eingeständnis, keine „erschöpfende“ Theorie für die Vortragslehre aufgestellt zu haben, läßt sich trotz neuer Forschungsergebnisse sicher auch auf die Performancetheorien des 20. Jahrhunderts übertragen. RUBATO liefert hierbei ein Werkzeug, an konkreten Stücken zu experimentieren, wobei der Benutzer an jeder Stelle entscheiden muß, welcher Parameter durch welches Gewicht in welcher Weise beeinflußt werden soll, auch wenn er noch keine umfassenden Regelwerke dafür kennt. Die mit RUBATO erstellten Interpretationen können andererseits aus ihrer Entstehungsgeschichte her vollständig rekonstruiert und verstanden werden, da der Prozeß der sukzessiven Verfeinerung der Interpretation festgehalten und gespeichert wird und jederzeit wieder ladbar ist. Die während des Hörexperiments am Yamaha-Diskflügel von den Versuchspersonen geäußerten Verbalbewertungen zu den jeweils 5 verschiedenen Interpretationen des 2.Satzes von Beethovens Pathetique sowie des Moment Musicaux op 94 Nr. 6 von Schubert ließen sich auf diese Weise zum Teil sehr gut in Beziehung setzen zum vorausgegangenen Interpretationsvorgang. Diese Art von Rückkopplung oder Bewertung durch Hörer kann ihrerseits wichtige Informationen liefern, inwiefern die „Verdeutlichung von Struktur“ innerhalb der Interpretation tatsächlich gelungen ist. Literaturverzeichnis Fleischer, A. (1999) Harmonic Analysis and the „Feel“ of a Performance. In: Ioannis Zannos (Hg.), Music and Signs. Semiotic and cognitive studies in music. Bratislava. Kopiez, R.(1997) Experimentelle Untersuchungen zur Wahrnehmung musikalischer Interpretationsunterschiede. Habilitationsschrift für das Fach Musikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Mazzola, G. (1993) Geometry and logic of musical performance I (Swiss National Science Foundation, Grant Nr. 21-33651.92) Report Zürich. Mazzola, G. & Zahorka, O. (1994) Geometry and logic of musical performance II: RUBATO (Swiss National Science Foundation, Grant Nr. 21-33651.92) Report Zürich. Mazzola, G. & Zahorka, O. 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