Hausarbeit zum Proseminar „Schulische Sozialisation“ im Wintersemester 2003/04 Leitung: Dr. Hans-Peter GERSTNER Erziehungswissenschaftliches Seminar (AE Schulpädagogik) Universität Heidelberg Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit und ohne Hyperaktivität (ADS/ADHS) Jochen SEELINGER Talstr. 35 78089 Unterkirnach/Schwarzwald ([email protected]) 7. Sem. LA Gymnasien (Politik, Geographie, Mathematik) vorgelegt am 29. März 2004 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung: Von „Zappelphilippen“ und „Träumern“ . . . . . . . . . . . . 3 2. AD(H)S . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2.1. Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2.2. Therapeutische Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 3. Schulische Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 3.1. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 3.2. Sozialisation und AD(H)S . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 4. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 5. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 6. Verzeichnis der Internet-Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2 1. Einleitung: Von „Zappelphilippen“ und „Träumern“ Viele Lehrer kennen sie aus eigener Berufserfahrung: die „Zappelphilippe“ und „Träumer“, die entweder dem Unterricht nicht folgen oder diesen gar massiv und auch vorsätzlich stören. Es sind Kinder, die völlig „aus dem Rahmen fallen“ und bei denen anscheinend sämtliche erzieherische Maßnahmen versagen. Angeblich ist die Zahl dieser Kinder in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Seit einiger Zeit sprechen Ärzte bei solchen „Problemkindern“ von dem Vorhandensein der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizitstörung, die mit und ohne Hyperaktivität auftreten kann; kurz: ADS und ADHS.1 Es stellt sich nun die Frage: Ist AD(H)S überhaupt eine „richtige“ Krankheit und wenn ja, auf welche Weise kann sie behandelt werden? Dazu müssen folgende Aspekte betrachtet werden: Wie wird AD(H)S diagnostiziert und wie sieht die geschichtliche und aktuelle Entwicklung aus? Sind dabei geographische Besonderheiten zu erkennen? Neben der Perspektive der direkt Betroffenen, also den Kindern, soll auch auf die der Eltern- bzw. Lehrer eingegangen werden: Wie sieht das Kind seine eigene Erkrankung, wie reagiert das soziale Umfeld darauf? Sind durch therapeutische Maßnahmen Besserungen zu erzielen? Ist es zu vertreten, eventuell auch Psychopharmaka, also Medikamente, die eine steuernde Wirkung auf die psychischen Abläufe im Menschen ausüben, zu verabreichen? Ein anderer Punkt ist die Frage, in wie weit das Verhalten der AD(H)SKinder in die gängigen Sozialisationstheorien einzuordnen ist bzw. ob die Theorien an dieser Stelle versagen. Oder anders formuliert: Ist AD(H)S tatsächlich eine genetisch bzw. biologisch verursachte Krankheit oder wurden diese Kinder einfach nur schlecht erzogen bzw. unzureichend sozialisiert? 1 Vgl.: später in dieser Arbeit: S. 4 ff. 3 2. AD(H)S 2.1. Symptome Grundsätzlich typisch für das Vorhandensein von AD(H)S ist die dem Alter des jeweiligen Kindes nicht angemessene Verhaltensweise, die sich in der Regel auch nicht von alleine bessert. Das auffallende Verhalten ist also zeitlich gesehen relativ stabil und tritt nicht nur in einzelnen Phasen auf.2 Oftmals geht eine AD(H)S einher mit anderen Problemen wie einer LeseRechtschreibschwäche oder einer Rechenschwäche, die dem Kind insbesondere in der Schule große Schwierigkeiten bereiten.3 Wie bereits angedeutet, tritt die Störung in zwei verschiedenen Arten auf. Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ohne Hyperaktivität (ADS) zeichnet sich durch Unaufmerksamkeit, Impulsivität sowie durch eine eher geminderte Aktivität aus. Umgangssprachlich werden solche Kinder auch als „Träumer“ bezeichnet. Von dieser Form scheinen Mädchen häufiger betroffen zu sein. Kinder mit ADS sind zerstreut und vergessen oft gegebene Arbeitsanweisungen. Durch das „zurückgezogene“ Verhalten werden ADSKinder in der Schule häufig isoliert und aufgrund ihrer schlechten Leistungen gelten sie als dumm oder faul.4 Die weitaus bekanntere und vor allem auch auffälligere Variante der Störung ist die Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität (ADHS). Hier hat man es also mit den „Zappelphilippen“ zu tun. Zu den Symptomen Unaufmerksamkeit und Impulsivität, wie sie auch bei der ADS auftreten, kommen in diesem Fall beispielsweise Wutanfälle des betroffenen Kindes hinzu. Das Sozialverhalten ist gestört, zum Teil sind die Kinder aggressiv und können keine Freundschaften eingehen. Besonders in der Schule kommt es für das Kind zu erheblichen Schwierigkeiten. Das auffällige Verhalten 2 Vgl.: später in dieser Arbeit: S. 6. Vgl.: Leitfaden ads/ adhs: S. 10 u. S. 16. 4 Ebd.: S. 11. 3 4 zeigt sich durch anhaltende Unterrichtsstörungen sowie wenig Ausdauer und schnelle Ablenkbarkeit bei gestellten Aufgaben. Ein ADHS-Kind redet ständig dazwischen, produziert Geräusche, zappelt auf seinem Stuhl, ärgert den Banknachbarn (falls ein solcher überhaupt noch vorhanden ist) oder schmeißt mit Gegenständen um sich. Die Beschwerden von Seiten der Lehrer gegenüber dem Kind und sehr bald auch gegenüber den Eltern nehmen kein Ende. Auf Ermahnungen reagiert das Kind entweder mit Wutanfällen oder aber es spielt den „Klassenclown“, um Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erhalten. Das Verhalten läuft oftmals nach dem Motto „Hauptsache auffallen – egal wie“ ab. Durch ständige Ermahnungen und das beschriebene Verhalten darauf, welches dann zu erneuten Ermahnungen und auch Bestrafungen führt, isoliert sich das Kind zunehmend und hat ein schwindendes Selbstbewusstsein. Es kommt so zu einer Art Negativ-Spirale.5 Das typische ADHS-Kind ist männlich und fällt zunehmend auch in der Freizeit auf. So kommt es häufig zu Unfällen durch unüberlegtes Handeln. Außerdem beginnen solche Kinder früher als andere, Zigaretten zu rauchen oder Alkohol zu trinken. Insgesamt ist also der physische und psychische Gesundheitszustand schlechter als bei Altersgenossen,6 und die Verhaltensweisen sind risikoreicher. In der Literatur wird immer wieder betont, dass AD(H)S „keine moderne Zivilisationskrankheit“ sei. Als Gegenbeispiel wird etwa der 1847/1848 erschienene „Struwwelpeter“ von H. HOFFMANN genannt. Außerdem trete AD(H)S „nicht nur in unseren westlichen Ländern“ auf, sondern das „Problem wird weltweit beobachtet, beschrieben und beforscht“.7 Trotzdem scheint die Problematik in den letzten Jahren zugenommen zu haben, und bei den Fallbeispielen ist eine klare Konzentration auf die höher entwickelten Industriestaaten zu erkennen. 5 Ebd.: S. 12. Ebd.: S. 13. 7 Vgl.: http://www.ag-adhs.de/public/index.php 6 5 Um ADS, im Folgenden „Punkt 1)“ oder ADHS, im Folgenden „Punkt 2)“ zu diagnostizieren, wurden einheitliche Kriterien aufgestellt:8 A. Entweder Punkt 1) oder Punkt 2) müssen zutreffen: 1) mind. sechs der folgenden Symptome von Unaufmerksamkeit müssen während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden sein: a) Flüchtigkeitsfehler bei den Hausaufgaben b) Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten bei Aufgaben oder Spielen c) scheint oft nicht zuzuhören d) führt häufig Anweisungen nicht durch und kann (Schul) Arbeiten oder andere Pflichten nicht zu Ende bringen e) hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben zu organisieren f) hat eine Abneigung gegen Aufgaben, die längerandauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie z.B. Hausaufgaben) g) verliert häufig Gegenstände, die benötigt werden h) lässt sich öfter durch äußere Reize leicht ablenken i) ist bei Alltagshäufigkeiten häufig vergesslich 2) mind. sechs der folgenden Symptome von Hyperaktivität sind während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden: a) zappelt häufig auf dem Stuhl herum b) steht in der Klasse häufig auf c) läuft häufig herum oder klettert exzessiv d) hat häufig Schwierigkeiten, sich ruhig zu beschäftigen e) ist häufig „auf Achse“ oder wirkt wie „getrieben“ f) redet häufig übermäßig viel g) platzt häufig mit Antworten heraus h) kann nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist i) unterbricht und stört andere häufig B. Einige Symptome unter A. treten vor dem Alter von sieben Jahren auf. C. Beeinträchtigungen durch diese Symptome zeigen sich in mind. zwei Bereichen (z. B. in der Schule und zu Hause). D. Es müssen deutliche Hinweise auf eine klinisch bedeutsame Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit vorhanden sein. E. Die Symptome treten nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf und können auch nicht durch eine andere Störung besser erklärt werden (z. B. affektive Störung, Angststörung, dissoziative Störung oder eine Persönlichkeitsstörung). 8 Vgl.: LAUTH/SCHLOTTKE: S. 4. 6 2.2. Therapeutische Möglichkeiten Die Diagnose von AD(H)S ist, wie die Kriterien auf S. 6 zeigen, recht aufwendig. Dennoch ist es unerlässlich, dass eine korrekte Diagnose gestellt wurde, bevor mit einer Therapie begonnen wird. Auch das betroffene Kind sollte in altersangemessener Form über die Situation aufgeklärt werden. Eine medikamentöse Behandlung trifft zwar oftmals auf vielfältige prinzipielle Bedenken, erscheint aber aufgrund der Tatsache, dass sie im Vergleich zu anderen therapeutischen Maßnahmen weit billiger und mit weniger Aufwand anzuwenden und durchzusetzen ist, auch sehr verlockend. Bei aufmerksamkeitsgestörten Kindern kommen Psychopharmaka zum Einsatz, vor allem das Medikament Ritalin® mit dem Wirkstoff Methylphenidat. Die Behandlungsdauer liegt dabei zwischen wenigen Monaten und maximal zwei Jahren. Grundsätzlich sprechen die meisten Kinder auf die verschriebenen Medikamente an, dass heißt das Ausmaß der Unaufmerksamkeit bzw. Ablenkbarkeit kann gesenkt werden. Da bei vielen AD(H)S-Kindern, wie schon weiter oben beschrieben, zur eigentlichen „Erkrankung“ zusätzliche Probleme wie z. B. mangelndes Selbstbewusstsein oder enorme Leistungsrückstände in der Schule hinzu kommen, kann allerdings eine rein medikamentöse Behandlung nicht ausreichen. Zum Einsatz sollte daher eine sogenannte Kombinationstherapie kommen: Die Verhaltensvoraussetzungen eines Kindes werden zunächst durch Medikamente verbessert, um sodann eine psychologische Behandlung anzuschließen. Im Verlauf der psychologischen Behandlung sollte die Medikamentengabe so schnell wie möglich reduziert und allmählich vollständig ausgeblendet werden. Ingesamt muss eine solche (Kombinations) Therapie sorgfältig geplant sein, und sowohl dem betroffenen Kind als auch den Eltern genau erläutert werden.9 9 Ebd.: S. 46 f. 7 Das bei der medikamentösen Behandlung eingesetzte Medikament Ritalin® wird sehr unterschiedlich bewertet: Nachdem es einst als „Wundermittel gegen Konzentrationsschwäche und Hyperaktivität bei Kindern“ galt, wächst nun „die Sorge wegen Missbrauchs“.10 Von einer „Schulhofdroge“ und von schon beobachtetem „Diebstahl“ des Medikaments wird gar gesprochen. Diese Aussagen können allerdings als „maßlos übertrieben“ angesehen werden.11 Dennoch ist es richtig, dass die Medikamentengabe in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat.12 Egal ob sich nun die AD(H)S-Fälle an sich oder nur ihre Diagnose vervielfacht haben - es stellt sich auch die Frage nach einer Vorbeugung von AD(H)S. Viele Eltern von AD(H)S-Kindern berichten, dass ihre Kinder praktisch von Geburt an „besonders unruhig und nervenaufreibend waren“. Wenn die Eltern es schaffen, sich optimal auf das schwierige Baby einzustellen, verschwinden die Symptome wie z. B. anscheinend grundloses Schreien nicht nur rascher, sondern es können auch Langzeitwirkungen wie eben AD(H)S vermieden werden. Es gibt dafür eigens ausgebildete Fachleute, an welche sich die Eltern wenden können, falls sie Hilfe von außen benötigen.13 Wird für das Baby oder später das (Klein)Kind eine solch intensive Betreuung notwendig, ist die aktuelle (bereits stark fortgeschrittene) Entwicklung hin zur Klein- und Kleinstfamilie sehr problematisch. Das Kind ist oftmals auf sich alleine gestellt, wenn nur noch ein Elternteil für die Erziehung zuständig ist. Gleichzeitig lernt das (Schul)Kind, welches keine Geschwister hat und tagsüber alleine zu Hause ist und hauptsächlich fern sieht oder Computer spielt, wichtige soziale Umgangsformen schlechter. Kann ein Grund für die steigende Anzahl der „Problemkinder“ nicht doch auch in geänderten Bedingungen der Sozialisation gesucht werden? 10 Vgl.: http://www.hyperarchiv.de/arcnews/F000001f.htm Vgl.: http://www.adhs.ch/add/schulhofdroge.htm 12 Vgl.: KÖHLER: S. 113 ff. 13 Vgl.: http://www.schmidthansreinhard.de/ADS-Vorbeugung.htm 11 8 3. Schulische Sozialisation 3.1. Begriffsbestimmung Im Unterschied zu den meisten anderen Lebewesen sind Menschen in den ersten Lebensjahren nicht von sich aus (über)lebensfähig sondern auf die Hilfe anderer, normalerweise der Mutter bzw. der Eltern, angewiesen. Neben der rein körperlichen Verpflegung ist von Seiten der Erzieher auch psychische liebevolle Zuwendung nötig, damit sich beim Säugling eine Art „Ur-Vertrauen“ in die Umgebung entwickeln kann. In der späteren Phase der eigentlichen Sozialisation wird, nachdem die Sprache erlernt wurde, darauf aufbauend aus dem Kind eine „Person“, welche gesellschaftlich und zunehmend auch politisch urteils- und handlungsfähig ist. Der Begriff Sozialisation meint dabei den Prozess der Einordnung des einzelnen in die Gesellschaft. Es handelt sich hierbei um eine allmähliche Einübung in gesellschaftliche Umgangsformen und Verhaltensweisen. Dieses Heranreifen zu einem gesellschaftlichen und gesellschaftsfähigen Menschen durchläuft verschiedene Sozialisationsinstanzen: Beginnend in der Familie und im Kindergarten, setzt es sich in der Schule und in der Berufsaubildung fort und wird zusätzlich beeinflusst durch (Massen)Medien wie vor allem das Fernsehen oder aber auch durch peer-groups. Als vollständig abgeschlossen kann die Entwicklung zur (oder besser gesagt als) Person nie angesehen werden, es handelt sich eher um einen lebenslangen Prozess. Der Phase der Kindheit kommt aber natürlich eine gewichtige Rolle hinzu – hier wird der Grundstein gelegt, sei es im positiven oder im negativen Sinne.14 Beim Vorgang der Sozialisation hat die Familie eine besondere Bedeutung, allerdings mit sinkender Tendenz, ausgelöst durch neuere gesellschaftliche Entwicklungen (etwa Abkehr vom traditionellen Familienbild) – und im 14 Vgl.: HILLIGEN: S. 745 ff. Unberücksichtigt bleibt hier die Tatsache, dass der Prozess der Sozialisation mit 18 oder 21 Jahren zumindest aus rechtlicher Sicht als abgeschlossen gilt. 9 Gegensatz zu früher wird vor allem die (Institution) Schule in diesem Bereich immer wichtiger. Der Teilbereich der Sozialisation in der Schule kann so mit dem Begriff Schulische Sozialisation zusammengefasst werden, wobei die anderen Sozialisationsinstanzen, vor allem die der Familie, wohl nie vollständig ausgeblendet werden können. Wie bereits angedeutet, haben sich die Vorzeichen der Sozialisation für die Kinder im Laufe der Zeit geändert. Insgesamt gesehen könnte man annehmen, dass zumindest was die höher entwickelten Industrieländer betrifft, die Voraussetzungen für eine erfüllte Kindheit noch nie so gut gegeben waren wie heute. Bei einer sinkender Anzahl von Geburten pro Frau wird die kindliche Individualität und Subjektivität groß geschrieben, was sich z. B. im Verbot der Kinderarbeit ausdrückt. Ein Kind gilt in der Regel als Sinnerfüllung im Leben der Eltern, und dies nicht (mehr) im materiellen Sinne. Die Erziehung des Kindes findet aber trotzdem nur noch teilweise in der Familie statt; Kindergarten und Schule sind die mittlerweile ebenso wichtigen Sozialisationsinstanzen.15 Die Schule hat, nicht zuletzt durch ihren Pflichtcharakter, die (Haupt-) Aufgabe erhalten, für die erfolgreiche Erziehung und Sozialisation der Heranwachsenden zu sorgen. Aber durch lange Schul- und Ausbildungszeiten scheinen junge Menschen von heute immer später „erwachsen“ zu werden – Probleme wie die steigende Jugendarbeitslosigkeit verstärken diesen Eindruck. Gleichzeitig sind bereits die Kinder der jüngsten Schuljahrgänge durch weit gefächerte Freizeitangebote und gute finanzielle Lage außerhalb der Schulzeit zeitlich meist „ausgebucht“ und „gestresst“ und können so als früher „erwachsen“ als die Kinder der Generation zuvor gelten.16 Letztgenanntes gilt insbesondere auch im biologischen Sinne. Diese gegenläufige Entwicklung muss insbesondere von Eltern und Lehrern erkannt werden und sodann in Fragen der Erziehung berücksichtigt werden. 15 16 Vgl.: BRÜNDEL/HURRELMANN: S. 19. Vgl.: HURRELMANN: S. 8f. 10 3.2. Sozialisation und AD(H)S Ist es nun möglich, ein Auftreten von AD(H)S mit den Bedingungen, unter denen die Sozialisation, wiederum insbesondere zu Hause und in der Schule, abläuft bzw. abgelaufen ist, in Zusammenhang zu bringen? Drei verschiedene Konzepte sollen hierzu vorgestellt werden:17 1) Verstärkungstheoretische Überlegungen Durch das „anstrengende“ Verhalten von AD(H)S-Kindern versuchen Eltern und Lehrer ihre Forderungen oftmals mit Hilfe von negativen Verstärkungen (z. B. Strafen oder zumindest deren Androhung) durchzusetzen. Es kommt so zu einem besonders hohen Maß von ungünstigem Verhalten der Eltern und Lehrern gegenüber dem betroffenen Kind. 2) Interaktionelle Theorien Das AD(H)S-Kind provoziert durch sein Verhalten, von Eltern und Lehrern stärker kontrolliert zu werden als andere Kinder. Das Interaktionsverhalten der Autoritätsperson(en) wird also durch das Kind selbst ausgelöst. 3) Milieureaktive Verursachungshypothesen Entscheidend ist hier das Milieu, in dem das Kind aufwächst. Ungünstige Bedingungen führen zu abweichendem Verhalten, hier also beispielsweise auch zu AD(H)S. Solche schlechten Bedingungen zeigen sich einerseits in familiären Problemen wie etwa geringe Lernförderung, Arbeitslosigkeit oder Drogenabhängigkeit auf Seiten der Eltern, und andererseits in Problemen im gesellschaftlichen und geographischen Umfeld, also etwa das Stadtviertel und die Schule, wo sich das Kind aufhält. Während die ersten beiden Modelle die „Schuld“ beim Kind sehen, dass durch sein auffälliges Verhalten wiederum strengeres Verhalten auf Elternund Lehrerseite verursacht, ist die Aussage des dritten Modells, dass die Gründe bei den Eltern und beim gesellschaftlich Umfeld zu suchen sind. 17 Vgl.: LAUTH/SCHLOTTKE: S. 17. 11 Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass die oben beschriebenen Modelle ein Auftreten von AD(H)S alleine nicht erklären können. Sonst müssten alle Kinder aus sozial schwächerem Elternhaus in dieser Hinsicht auffällig sein – gleichzeitig gibt es sicherlich auch den Fall einer nicht „einwandfrei“ abgelaufenen Erziehung bzw. Sozialisation, wobei das Kind aber nicht unbedingt aufmerksamkeitsgestört sein muss. Überhaupt sollte auch bedacht werden, was mit einer erfolgreichen Sozialisation genau gemeint wird. Wenn sich ein Kind oder später ein Erwachsener in der Gesellschaft so verhält, dass im Zweifelsfalle immer der Weg des geringsten Widerstandes oder des geringsten Aufsehens gewählt wird, so muss dies nicht unbedingt die „beste“ Möglichkeit von Sozialisation (gewesen) sein. „Aus Fehlern lernt man“ – Dieser Spruch gilt in einem gewissen Maß sicherlich auch im Bereich von Sozialisation und Heranwachsen. Daher kann nicht von vornherein von einer gut oder schlecht abgelaufenen Sozialisation gesprochen werden; wie bereits in der Begriffsbestimmung unter 3.1. erwähnt, läuft der „Personwerdungsprozess“ genau genommen das ganze Leben ab. Dies macht es auch so schwer, für das Auftreten von abweichendem Verhalten, in diesem Fall also für die Erscheinung AD(H)S, einen einzigen Grund innerhalb der frühen Entwicklungsphase des Kindes anzugeben. Man kann deshalb annehmen, dass es für das Auftreten einer Aufmerksamkeitsstörung mehrere Ursachen gibt; hierbei kommen zu den sozialen Faktoren noch die auf der biologischen Seite dazu. Erst das ungünstige Zusammenwirken von pädagogischen und somatischen Faktoren, hier etwa die „Tendenz zu vermehrter Reizsuche bzw. eine erhöhte Ablenkungsbereitschaft“, führt unter Umständen zu einer AD(H)S, die dann in der Regel allerdings nicht mehr ohne ärztliche Behandlung behoben werden kann.18 18 Ebd.: S. 18 f. 12 4. Fazit und Ausblick Die „World Federation for Mental Health“ (WFMH) hat zum Thema AD(H)S „internationale Richtlinien für die Medienberichterstattung“ herausgegeben: Dort wird vorgeschlagen, statt von einer „Krankheit“ besser von einer „Störung“ zu sprechen; außerdem ist auch die Formulierung „schlimmes Benehmen“ nicht angemessen.19 Wie AD(H)S nun konkret behandelt werden soll, ist weiterhin umstritten. Als Kompromiss bietet sich die kombinierte Therapie aus Medikamentengabe und Verhaltenstherapie an, wobei grundsätzlich jedes Kind ein Recht auf eine individuelle Beratung und Behandlung hat. Die Auswirkungen von Ritalin® scheinen dabei ambivalent zu sein: Einerseits wird von einem „ruhig stellen“ der Kinder gesprochen; es soll zu einem „Zombie-Effekt“ kommen, wo die Kinder von etwas Fremden kontrolliert werden und beispielsweise nicht mehr spielen wollen.20 Andere Kinder sehen die Medikamentgabe viel positiver. So haben sie nach der Einnahme von Ritalin® ein bedeutend besseres Schriftbild, machen weniger Rechtschreibfehler und können auch eigene Geschichten spannender erzählen und niederschreiben.21 Ein weiterer Vorteil der Medikamenteneinnahme ist die positive Reaktion der Umwelt. Lehrer und Eltern honorieren den Rückgang der Verhaltensprobleme recht schnell. Das Selbstvertrauen des Kindes wird so wiederum rasch gestärkt.22 Ob mit oder ohne Medikamentengabe: Verfügen Lehrer und Eltern über genügende Sozialkompetenzen, kann AD(H)S deutlich besser behandelt werden – Ist dies nicht der Fall, verschlimmern sich die Symptome meist.23 Bei der gesamten AD(H)S-Problematik muss auch in Zukunft auf alle Fälle der dann aktuelle (medizinische) Kenntnisstand berücksichtigt werden. 19 Vgl.: http://www.wfmh.org/aboutus/initiatives/documents/adhdguidelines-german.pdf Vgl.: KÖHLER: S. 139 f. 21 Vgl.: AUST-CLAUS/HAMMER: S. 289 f. 22 Vgl.: LAUTH/SCHLOTTKE: S. 17. 23 Ebd.: S. 18. 20 13 5. Literaturverzeichnis AUST-CLAUS, E./HAMMER, P.-M. (1999): Das A.D.S. – Buch. Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Neue Konzentrations-Hilfen für Zappelphilippe und Träumer. Ratingen. BRÜNDEL, H./HURRELMANN, K. (1996): Einführung in die Kindheitsforschung. Weinheim und Basel. Hamburger Arbeitskreis (2002): Leitfaden ads/adhs. Informationsbroschüre des Hamburger Arbeitskreises. Hamburg. HILLIGEN, W. (1995): Sozialisation. In: H. DRECHSLER/W. HILLIGEN/F. NEUMANN (Hg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik. München. HURRELMANN, K. (1989): Warteschleifen. Keine Berufs- und Zukunftsperspektiven für Jugendliche? Weinheim und Basel. KÖHLER, H. (2002): War Michel aus Lönneberga aufmerksamkeitsgestört? Der ADSMythos und die neue Kindergeneration. Stuttgart. LAUTH, G. W./SCHLOTTKE, P. F. (1999): Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern. 4. Aufl. Weinheim und Basel. 14 6. Verzeichnis der Internet-Quellen (Stand: 29.03.2004) http://www.adhs.ch/ http://www.ads-ev.de/ http://www.ads-norderstedt.de/ http://www.ag-adhs.de/ http://www.auek.de/ http://www.hyperarchiv.de/ http://www.hypies.de/ http://www.osn.de/user/hunter/ http://www.reuters.co.uk/ http://www.schmidthansreinhard.de/ http://www.wfmh.org/ 15