Somatopsychische Prozesse - psychosomatik.uni

Werbung
Psychosomatisch –
somatopsychische Prozesse:
Körper krank, Psyche krank, Arzt krank?
Christoph Herrmann-Lingen
GÖTTINGEN
Fallbeispiel „Frau Runge“
Leitsymptome
• Starke Schmerzen (VAS 6-10) unterschiedlicher
Lokalisation seit 5 J.
• Vielfache Arztbesuche ohne richtungsweisenden
Befund, fühlt sich nicht ernst genommen
• Div. Schmerzmittel versucht ohne wesentl. Erfolg,
OP CTS, Massagen etc. ebenfalls ohne Besserung
• Seit einigen Monaten traurig, lustlos, matt / müde,
Durchschlafstörung, Früherwachen, Grübeln,
Antriebs- und Konzentrationsstörung
GÖTTINGEN
Fallbeispiel „Frau Runge“
DD Somatisierungsstörung /
Anhaltende Schmerzstörung (ICD-10)
Somatisierungsstörung:
• Dauer min. 2 J.
• Ständ. Beschäftigung mit
Symptomatik
• Hohe Inanspruchnahme,
keine hinreichende
somatische Erklärung
• Hartnäckige Weigerung,
somat. Krankheitskonzept
aufzugeben
• Multiple, wechselnde
Körpersymptome
(mind. 6 der Folgenden)
− Bauchschmerz, Übelkeit,
Überblähungsgefühl, Erbrachen,
Durchfall, schlechter Geschmack
− Atemlosigkeit, Brustschmerz
− Dysurie, genitale
Missempfindungen, Ausfluss
− Veränderungen der Hautfarbe,
Gliederschmerzen, Taubheits/Kribbelgefühl
GÖTTINGEN
Fallbeispiel „Frau Runge“
DD Somatisierungsstörung /
Anhaltende Schmerzstörung (ICD-10)
Anhaltende Schmerzstörung:
• Dauer min. 6 Mon.
• Schwerer und belastender Schmerz
• Hauptfokus der Aufmerksamkeit
• Keine hinreichende somatische Erklärung
• Zusammenhang mit emotionalen Konflikten oder
psychosozialen Belastungen
• Nicht nur im Rahmen einer Depression oder Schizophrenie
GÖTTINGEN
Fallbeispiel „Frau Runge“
Korrekte Diagnosen
• Anhaltende (somatoforme) Schmerzstörung
• Mittelgradige depressive Episode
• Therapeutische Optionen:
– Ambulante Psychotherapie
– Ggfs. Antidepressivum
– Ggfs. multimodale psychosomatische Behandlung
GÖTTINGEN
Typische psychosomatische
Krankheitsbilder ?
• Koronare Herzkrankheit
• Herzinsuffizienz
• Herzrhythmustörungen
• Chronisch entzündliche (Darm-)Erkrankungen
• Diabetes mellitus
• Asthma bronchiale
• Ulcus duodeni
GÖTTINGEN
„Psychosomatische Krankheit“
Meint nicht…
• Psychische Krankheit
• Psychogene Krankheit
… sondern meint :
Interaktion
psychosozialer und
körperlicher Faktoren in
• Eingebildete Krankheit
Entstehung und / oder
• Simulation
Verlauf einer Krankheit
GÖTTINGEN
Psychosomatisch – somatopsychische
Interaktionen
Genetik,
stoffl. Umwelt
Risikoverhalten,
Psychophysiologische
Prozesse (ICD-10 F54)
Körperl. Dysfunktion
Organschädigung
Persönlichkeit,
soz. Umwelt
Psychosozialer
„Stress“
Somatopsychische
Prozesse (z.B. ICD-10 F43)
GÖTTINGEN
Körperliche Dysfunktion / Krankheit
verursacht
• Körperliche Symptome, z.B. Schmerz
• Störungen der Leistungsfähigkeit
• Störungen des Körper- und Selbstbilds
• Störungen der sozialen Rollenfunktionen
• Psychosozialen Anpassungsdruck
GÖTTINGEN
Reaktionen auf Belastungen und
Anpassungsstörungen (ICD-10 F43)
Gemeinsames Merkmal:
Belastendes Ereignis als notwendige Voraussetzung!
Typen:
• ICD-10 F43.0: Akute Belastungsreaktion
• ICD-10 F43.2: Anpassungsstörung
• ICD-10 F43.1: Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Häufige Folgen z.B. körperlicher Krankheit
Häufige Ursachen unerklärter Körpersymptome
GÖTTINGEN
Akute Belastungsreaktion
Symptomatik
Zeitlicher Verlauf
•
•
•
•
•
•
• Auftreten Minuten bis
Tage nach Belastung
• Rascher
Symptomwechsel
• Rasches spontanes
Abklingen
• Selten Übergang in
PTBS
Gefühl der Betäubung
Bewusstseinseinengung
Aufmerksamkeitsstörung
Desorientiertheit
Soz. Rückzug
Veg. Angstäquivalente
(Schwitzen, Erröten,
Tachykardie)
GÖTTINGEN
Akute Belastungsreaktion
Therapieprinzipien
• Vor allem kurze Krisenintervention
(Abklärung von Suizidalität und schwerer
Angst, u.U. pharmakologische Therapie,
Organisation sozialer Unterstützung)
• Wegen Tendenz zur Spontanremission meist
keine längere Therapie erforderlich
GÖTTINGEN
Anpassungsstörungen
Einteilung nach Symptomatik
• Kurze (F43.20) oder längere (F43.21) depressive
Reaktion
• Angst und depressive Reaktion gemischt (F43.22)
• Vorwiegende Beeinträchtigung anderer Gefühle oder
des Sozialverhaltens (Non-Adhärenz…) (F43.23 / .28)
Relevanz in der somatischen Medizin
• Sehr häufiges Vorkommen; z.T. Spontanremission
• Oft Übergang in schwere / anhaltende Störung
GÖTTINGEN
Anpassungsstörungen
• Auftreten nach entscheidenden, meist
belastenden Lebensveränderungen
(z.B. Verlust durch Trennung, Tod, Emigration;
berufliche Zurücksetzung;
schwere körperliche Erkrankungen!)
• Zeitliches Kriterium
– Beginn innerhalb eines Monats
– Dauer nicht länger als 6 Monate bzw. 2 Jahre
GÖTTINGEN
Anpassungsstörungen
Therapieprinzipien:
• Psychosomatische Grundversorgung
• Kurzfristig ggfs. symptomat. Medikation
• Oft Indikation zur Kurzzeit-Psychotherapie
• Ziele:
– Erarbeitung von Bewältigungsstrategien
– Nutzung vorhandener persönlicher Ressourcen
GÖTTINGEN
Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Gravierende psychische Störung
• nach belastendem Erlebnis
– von außergewöhnlicher Schwere
– mit potenzieller oder realer Bedrohung der
körperlichen Unversehrtheit
– für sich selbst oder andere.
• Auftreten mit einer Latenz von mehreren
Wochen, selten mehr als 6 Monate
GÖTTINGEN
Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Hauptsymptome
• Intrusionen
– Flash backs / Albträume
• Konstriktion:
Vermeidung traumaassoziierter Stimuli
– Sozialer Rückzug
– Numbing (Emotionale Taubheit)
• Hyperarousal
– Schreckhaftigkeit / Hypervigilanz / Schlafstörungen /
Reizbarkeit
GÖTTINGEN
Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Epidemiologie und Verlauf
•
•
•
•
Lebenszeitprävalenz 1-10 %
Frauen zu Männer 2:1
Kinder und Jugendliche besonders vulnerabel
Durchschnittliche Beschwerdedauer 36 Monate
mit und 64 Monate ohne Behandlung
• Wahrscheinlichkeit der Chronifizierung 30%
• Wahrscheinlichkeit Spontanremission 50%
GÖTTINGEN
Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Therapeutische Grundprinzipien
• Stabilisierung
• Traumabearbeitung
• Rehabilitation
Therapieeffekte auf PTBS-Symptome
(Metaanalyse Watts et al. 2013)
GÖTTINGEN
Effektstärke
Psychotherapie allg.
Kogn. Verhaltenstherapie
EMDR
Psychodynam. Therapie
Pharmakotherapie
Antidepressiva
Risperidon
Somat. Ther. (rTMS, Akupunktur)
1,14
1,26
1,01
0,78
0,42
0,43
0,41
1,24
Psychische Belastungen im Medizinstudium
GÖTTINGEN
•
•
•
•
•
•
Leistungsdruck
Übertriebene Konkurrenz
Konfrontation mit schwerem Leiden, Tod
und Sterben
Übertriebenes Mitleiden, Selbstzweifel,
innere Abschottung
Hypochondrisches Erleben gelehrter
Krankheitssymptome am eigenen Leib
Lebensphasenübergänge
„Wenn ich erstmal Arzt bin, wird alles besser“?
Belastungen junger Ärztinnen und Ärzte
GÖTTINGEN
(Buddeberg-Fischer et al., Z Psychosom Med Psychother 2005)
• Mittlere Wochenarbeitszeit 57 (max. 90!) Std.
• Zeitdruck mit geringem Entscheidungsspielraum
• Mangelndes Teamwork
• schlechte Führungskultur,
insuffizientes Mentoring (insbes. für Frauen)
• „Overcommittment“ (insbes. für Frauen)
• In 1/3 Angst- bzw. Depressionssymptome
Suizidraten bei Ärztinnen im Vergleich
zur gleichaltrigen Normalbevölkerung
GÖTTINGEN
Schernhammer & Colditz, Am J Psychiatry 2004; 161:2295–2302
Höhere Lebenszufriedenheit
(und Schutz vor Angst / Depression) durch…
GÖTTINGEN
(Buddeberg-Fischer et al., Z Psychosom Med Psychother 2005)
- Keine Überverausgabung
- Gutes Teamwork
- Gutes Kohärenzgefühl
- Anerkennung
- Wenig Stress
- Mentoring
- Gute soziale Beziehungen
GÖTTINGEN
Hilfen im Umgang mit beruflichen
Belastungen in ärztlichen Alltag
• Mentoring / peer groups
• Teamkonferenzen
• Telefonhotlines
• Einzel- / Teamsupervision
• Balintgruppenarbeit (schon im PJ!)
• Abschiedsrituale für verstorbene Patienten
• Selbsterfahrung
Maßnahmen zur Förderung der
Lebenszufriedenheit für (angehende) Ärzte
GÖTTINGEN
- Patienten als Gegenüber annehmen
- Balance aus Empathie und Distanz wahren
(Begegnung zulassen und Grenzen setzen)
- Auf eigene Bedürfnisse achten
- Gesund leben (z.B. Bewegung, Entspannung)
- Zufriedenstellendes Privatleben bewahren
- Beziehungen pflegen (Tutor / Mentor suchen,
Semester-Solidarität, Teamwork, Freundschaften)
Wenn nötig: Hilfe annehmen
GÖTTINGEN
Psychotherapeutische Ambulanz für Studierende
Humboldtallee 38 / www.pas.uni-goettingen.de
Zusammenfassung
GÖTTINGEN
• Körperliche Krankheit als Stressfaktor
kann Anpassungs- und Belastungsstörungen auslösen
• Sekundär funktionelle Körperbeschwerden
(„Psychische Überlagerung“)
• Auch viele andere Stressoren können belasten bzw.
traumatisieren
• Stressoren in Medizinstudium / Arztberuf erhöhen Risiko
für psychische / psychosomatische Störungen
• Balance zwischen Zuwendung zum Patienten und
Selbstfürsorge notwendig.
Herunterladen