Leseprobe

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Einleitung
Chantal Magnin, Anne Juhasz und Pascale Gazareth1
Jugendliche rebellieren in den französischen Vorstädten gegen ihren Ausschluss aus Bildung, Arbeitsmarkt und Politik. In Deutschland drücken Arbeitslosigkeit und Armut nicht nur auf die Stimmung der Betroffenen, sondern die der ganzen Bevölkerung. In der Schweiz wird die vermehrte Armutsgefährdung unter dem Gesichtspunkt verhandelt, wie viel Geld sie die
Gesellschaft kostet. Nicht die gesellschaftliche Bewältigung sozialer Probleme, sondern die Legitimität der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme steht zur Debatte. Obwohl die Ausdrucksformen neuer sozialer Ungleichheiten im nationalen Kontext jeweils unterschiedliche Gestalt annehmen, liegen ihnen doch ähnliche Wirkungsmechanismen zugrunde. Genau
diese gilt es mit der Thematisierung neuer sozialer Ungleichheit in den Blick
zu nehmen. Dieses Buch soll denn auch einen Beitrag für ein besseres Verständnis dieser Prozesse leisten.
Die in diesem Band diskutierten Formen von Ungleichheit werden deshalb
als „neu“ bezeichnet, weil die aktuelle Erosion wirtschaftlicher Sicherheiten
in Verbindung mit dem Abbau von sozialen Rechten neue Armutsgefährdungen und Einschränkungen von Teilhabemöglichkeiten zur Folge haben kann.
Nicht mehr nur Personen ganz an den Rändern der Gesellschaft sind davon
bedroht, die Gefährdung betrifft die Angehörigen aller sozialen Schichten.
Grund ist der drohende Ausschluss aus dem Erwerbsleben. Da ein solcher
Ausschluss sowohl in individueller als auch gesellschaftlicher Hinsicht desintegrierende Wirkungen entfalten kann, stellt sich mit den neuen sozialen
Ungleichheiten auch die Integrationsfrage neu. So macht beispielsweise Robert Castel in seiner Chronik der Lohnarbeit geltend, dass die Transformationen im Sinne einer Prekarisierung von Lohnarbeit letztlich zu einer Form von
„negativem Individualismus“ führen würden (Castel 2000: 401ff.). Darunter
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Wir danken insbesondere Stephanie Schönholzer vom Schweizerischen Nationalfonds, Programmkoordinatorin des NFP 51 „Integration und Ausschluss“, für ihre tatkräftige Unterstützung
des Publikationsvorhabens, und Sascha Liebermann für die kritische Lektüre der Einleitung und
die wertvollen Hinweise.
Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt
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sind mögliche individuelle Entkoppelungsprozesse zu verstehen – und dies
mit für die Gesellschaft desintegrativer Wirkung. Es ist dieser negative Individualismus, der Castel zur Vermutung veranlasst, dass die soziale Frage in
Zukunft in verstärktem Ausmaß auf die Agenden nationaler Politik gesetzt
werden würde. Dass Erwerbsarbeit und die an sie gekoppelte soziale Sicherung im Laufe der Zeit andere Identitätsstützen wie Familienzugehörigkeit
oder Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften allmählich verdrängt haben, führe
zu einer zusätzlichen Dramatisierung der Problematik, wie sie sich heute
stelle, so Castel (ebd.: 336).
In der Literatur bestehen sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, ob,
welche und inwiefern die sozialen Auswirkungen aktueller wirtschaftlicher
Entwicklungen sich heute schon abzeichnen. Diese Unterschiede in der Einschätzung lassen sich vielfach auf die multiplen Verwendungen des Integrationsbegriffs zurückführen. Es fällt auf, dass für die Definition und den
Gebrauch dieses soziologischen Begriffs insbesondere die Sprachgrenze,
entlang jener sich die deutsch und französisch sprechenden Forschungsgemeinschaften konstituieren, eine wichtige Rolle spielt. Dies gelangt auch in
diesem Buch zum Ausdruck, das mit seinen Beiträgen diese Sprachgrenze
überschreitet. Diese unterscheiden sich außer in ihrem Forschungsgegenstand nicht zuletzt aufgrund der ihnen zugrunde gelegten Definitionen von
Integration. So werden in dieser Publikation unterschiedliche soziologische
Perspektiven auf Integrations- und Desintegrationsprozesse vereint. Allgemein liegt den Aufsätzen die Frage nach den in der Arbeitswelt wirksamen
Einschluss- und Ausschlussprozessen zugrunde und somit jene nach der
Generierung sozialer Ungleichheit in der Erwerbsgesellschaft. Gemeinsam ist
den hier versammelten Beiträgen zudem, dass sie die Analyse von Integrations- und Ausschlussprozessen in der Arbeitswelt stets aus zwei Perspektiven
vornehmen: In der Arbeitswelt, konzeptualisiert als einem gewichtigen Ausschnitt sozialer Lebenswelt, sind selbst Integrations- und Desintegrationsprozesse wirksam, deren Verlauf wiederum entscheidend ist für die Wirksamkeit
von Ein- und Ausschlussprozessen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Dies
führt zugleich auf das Terrain soziologischer Grundfragen wie jenen nach
den Prozessen von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung. Im Folgenden wird nun zunächst auf die angesprochenen sozioökonomischen Umwälzungen eingegangen, danach die Bedeutung von Arbeit und Lohnarbeit aus
historischer Sicht beleuchtet und zu guter Letzt die Frage von Exklusion und
Ausschluss sowie sozialer Integration eingehend erörtert. Im Anschluss daran
werden die einzelnen Beiträge kurz vorgestellt.
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EINLEITUNG
Gesellschaftliches Gefüge in Bewegung
Wie die national unterschiedlichen Ausprägungsformen sozialer Gefährdungslagen und ihre Diskussionen zeigen, erfolgt die Gestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung weiterhin im nationalen Kontext, obwohl
gerade durch sie die Bedeutung nationaler Grenzen vermindert wird: Zwar
hat der Abbau von Handelshemmnissen die verstärkte Ausrichtung der wirtschaftlichen Produktion auf internationale Märkte zur Folge, doch auch dies
geht letztlich auf Entscheidungen zurück, die im Rahmen des sich innerhalb
nationaler Grenzen konstituierenden Rechtsstaats getroffen wurden. Dementsprechend manifestieren sich die Auswirkungen im Rahmen nationaler Ordnungssysteme. Das Subjekt erhält seine Handlungsfähigkeit erst durch die
Möglichkeiten und Rechte, mit denen es der Nationalstaat versieht. Rechte
der Teilhabe am Wohlstand und der sozialen Sicherheit sind in den einzelnen
Rechtsordnungen jedoch formell kaum oder höchstens ansatzweise verankert.
Diese sind vielmehr an die kulturelle und durch soziale Sicherungssysteme
institutionalisierte Verpflichtung zur Lohnarbeit gekoppelt. Dies bedeutet
nichts anderes, als dass die soziale Sicherung des Individuums auf einem
stabilen Anstellungsverhältnis beruht. Doch angesichts der in den letzten
zwanzig Jahren gestiegenen Erwerbslosigkeit sind nicht alle potentiell Erwerbstätigen in den Markt integriert. Sowohl ihre Teilhabe am Wohlstand als
auch ihre soziale Absicherung werden fraglich. Die sozialen Sicherungssysteme setzen jedoch als Ideal eine Erwerbsbeteiligung aller weiterhin voraus.
Als Erwerbsarbeit wird hier jene Form von Betätigung bezeichnet, die der
Herstellung von Gütern oder der Erbringung von Leistungen zum Zweck
ihres Verkaufs auf dem Markt dient. Lohnarbeit umfasst dagegen nur jenen
Teil von Erwerbstätigkeit, die in abhängiger Anstellung ausgeübt wird. Letztere beinhaltet die Überlassung der Nutzung der Arbeitskraft im Tausch gegen Lohn. Durch diese Überlassung, in Verbindung mit der gesellschaftlich
institutionalisierten Lohnabhängigkeit, geht stets das Risiko einer übermäßigen Ausbeutung einher. Sind die neuen Formen sozialer Ungleichheit Ausdruck übermässiger Ausbeutung? Trifft dies zu, kann dies die Stabilität gesellschaftlicher Ordnung durchaus gefährden. Es ist jedoch die gleichzeitige
Verknappung von Lohnarbeit, und sei dies nur auf Teilarbeitsmärkten, die
das gesellschaftlichen Gefüge zum Wanken bringt: Mit einer Verknappung
von Erwerbs- und Lohnarbeit droht der westeuropäischen Gesellschaft das
Fundament abhanden zu kommen, auf dem sie ruht.
Zunehmende Flexibilisierung und Deregulierung der Beschäftigungsverhältnisse müssten nicht zwangsläufig einen Marginalisierungsdruck für die
Beschäftigten mit sich bringen, solange alle Erwerbstätigen weiterhin in der
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Lage blieben, ihre Arbeitskraft ihren Vorstellungen entsprechend zu verwerten, unabhängig davon, wie oft sie die Stelle wechseln. Dass dem nicht so ist,
geht zurück auf die gleichzeitige Verknappung des Stellengebots in gewissen
Bereichen, die allerdings wegen der raschen und durch verschiedene Faktoren verursachten wirtschaftlichen Veränderungen im Voraus nur schwer
bestimmbar sind. Für einzelne Kategorien von Beschäftigten kann diese Verknappung indes einen Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt auf Dauer zur Folge
haben. Die Angst der Erwerbstätigen, dass genau dies eintrifft, ist genährt
davon, dass die „Überzähligen“ für „die Welt nutzlos“ werden, nicht zuletzt
deshalb, weil es sich bei dieser Welt um eine Lohnarbeitsgesellschaft handelt
(Castel 2000: 337). Wer diese aus dem Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen sind,
darüber geben neben entsprechenden Forschungen jeweils die amtlichen
Statistiken zu den betroffenen Risikogruppen Aufschluss. Die Europäische
Union identifizierte in den 1990er Jahren als in ihren Mitgliedstaaten besonders von Armut bedrohte Gruppen die folgenden: Frauen, Kinder und ältere
Menschen, Migrantinnen und Migranten, gering Qualifizierte, Landwirtinnen
und Landwirte, Selbstständige und Inhaberinnen und Inhaber kleiner Geschäfte (Europäische Kommission 2002: 48ff.). Gemäß dieser Sozialstatistik
spielt bei der Armutsgefährdung die Erwerbsintensität der Haushalte eine
entscheidende Rolle (ebd.: 51). Die Ergebnisse variieren zwar je nach Kontext und auch untersuchter Zeitspanne, doch viele der erwähnten Gruppen
tauchen in den Untersuchungen als in besonderem Ausmaß von Marginalisierung Bedrohte immer wieder auf.
Passend zu den raschen Marktentwicklungen, dem technologischen Wandel und der dadurch möglichen Automatisierung standardisierter Arbeitsabläufe durch Maschinen gestalten sich die neuen Managementkonzepte, wie
sie von Luc Boltanski und Eve Chiapello untersucht worden sind (Boltanski,
Chiapello 2003). Sie kommen zum Schluss, dass der Kapitalismus die Legitimität neu in der Projektförmigkeit und im Netzwerkcharakter organisierter
Arbeit und Produktion findet. Das neue Regime steht in Übereinstimmung
dazu, dass in einer hoch technisierten Wissens- und Informationsgesellschaft
die Modi wirtschaftlicher Produktion ständigen Veränderungen unterworfen
sind. Trotz der in der Ratgeberliteratur enthaltenen Vielfalt an Ansätzen ist
ihnen zumindest ein Anliegen gemeinsam: Die Organisationsformen von
Lohnarbeit sollten den Unternehmen möglichst große Spielräume belassen.
Flexibilität ist alles, Kontinuität zählt wenig (vgl. auch Schultheis in diesem
Band). Damit ändern sich auch die Anforderungsprofile für Beschäftigte. An
sie werden erhöhte Flexibilitäts- und zeitliche Verfügbarkeitsansprüche gestellt. Konjunkturelle Schwankungen werden durch befristete Anstellungen
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EINLEITUNG
und Leiharbeit aufgefangen. Für die Arbeitskräfte nehmen die Belastungen
am Arbeitsplatz zu (Paugam 2000: 35ff. und Paugam in diesem Band).
Zur sozialen Verletzbarkeit
Die Wiederkehr der arbeitenden Armen und der „Überflüssigen“ werfe am
Übergang ins 21. Jahrhundert, so Martin Kronauer, auf neue und zugespitzte
Weise das Problem der gesellschaftlichen Ausgrenzung auf (Kronauer 2002:
116). Bezogen auf das gesellschaftliche Problem der Arbeitslosigkeit ist
oftmals auch von einer drohenden Spaltung der Gesellschaft die Rede (vgl.
Kronauer, Vogel, Gerlach 1994: 229), von „Insidern und Outsidern“ (Zilian
2004) sowie „prekärem Wohlstand“ (Vogel 2004) und einer Ausdehnung
einer Zone der Vulnerabilität und Prekarität (Castel 2000: 360ff.). In Frankreich ist die Thematik neben Castel insbesondere auch von Pierre Bourdieu
und dessen Forschungsgruppe aufgegriffen worden, dies mit der Studie „Das
Elend der Welt“ (Bourdieu 1997), die von Franz Schultheis und Kristina
Schulz auch auf die deutschen Verhältnisse bezogen durchgeführt wurde
(Schultheis, Schulz 2005). Zeitlich dazwischen liegt eine sich ebenfalls am
französischen Vorbild orientierende Studie zum „Ende der Gemütlichkeit“ in
der Schweiz (Honegger, Rychner 1998). Im Kontext all dieser Untersuchungen galt es, die durch strukturelle Veränderungen verursachten Konfigurationen sozialen Leidens aufzuspüren.
Problematisiert wird die Zunahme der ungleichen Verteilung des in der
Gesellschaft produzierten Wohlstandes auch bezüglich ihrer politischen Folgen. Hanspeter Kriesi spricht in diesem Zusammenhang von einem „immer
tiefgreifenderen Gegensatz zwischen den Gewinnern des Modernisierungsprozesses und denjenigen, die sich auf der Verliererseite“ befinden (Kriesi
1995: 16f.). Es entstehe ein Konflikt zwischen den Gewinnern in der neuen
Mittelklasse und der heterogenen Klasse der Verlierer, die sich dadurch unterschieden, dass die Ersteren eine „genügende Menge von konvertiblen
Ressourcen – vor allem ihre professionellen Fähigkeiten und ihr Sachwissen
– zur Verfügung haben“, während die Letzteren genau darüber nicht verfügen. Kriesi sieht das Aufkommen des Neokonservatismus nicht als Ausdruck
eines Wertewandels, sondern macht dafür viel unmittelbarere Gründe geltend, wie die Immigration, die Beschleunigung der europäischen Integration
und die Unfähigkeit der westeuropäischen Regierungen, die wirtschaftlichen
und politischen Krisen zu bewältigen (ebd.: 37). Wie die individuelle Verarbeitung und Wahrnehmung des sozioökonomischen Wandels mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus zusammenhängt, zeigen Jörg Flecker und Sabine
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Kirschenhofer am Beispiel Österreichs auf, wo die Lücke im Deutungsangebot der etablierten Parteien zum Aufstieg des Rechtspopulismus beigetragen
habe (Flecker, Kirschenhofer 2007). Diese Lücke werde insbesondere verursacht durch die mangelnde öffentliche Wahrnehmung von Problemlagen.
Mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus gehen neue Formen der Stigmatisierung sozial Benachteiligter einher. Die Benachteiligten werden zur Projektionsfläche nicht zuletzt deshalb, weil Erwerbsarbeit durch die Verknappung
ihres Angebots selbst zum Erfolgskriterium wird. Dies bildet den Hintergrund für die Stilisierung von Arbeitslosigkeit als persönlichem Misserfolg:
Wichtiger noch als der ausgeübte Beruf wird für die Erlangung eines sozialen
Status und für die Anerkennung, ob es jemandem gelingt, die eigene Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu verwerten. Die Individualisierung
im Grunde strukturell bedingten Unglücks, wie es Erwerbslosigkeit typischerweise darstellt, wird durch die Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme und die aktivierungspolitischen Ausprägungen einer aufgezwungenen
Integrationsförderung noch bestärkt. Aktivierung und „Employability“ (dt.
Beschäftigungsfähigkeit) sind die politischen Schlagworte und die darauf
ausgerichteten Praktiken von Sozialbehörden, die implizieren, dass der erfolgreiche Verlauf der beruflichen Laufbahn und die Integration in den Arbeitsmarkt ausschließlich eine Frage individuellen Willens und individueller
Fähigkeiten ist (vgl. Lødemel, Trickey 2000; Maeder, Nadai 2005; Magnin
2005). Auf diese Weise wird nicht nur die einstige, historisch indessen überholt geglaubte Unterscheidung in „würdige“ und „unwürdige“ Arme wieder
eingeführt. Darüber hinaus erlaubt die Individualisierung im Grunde strukturell verursachten Unglücks, wie dies Erwerbslosigkeit in einer Erwerbsgesellschaft schon fast idealtypisch darstellt, national organisierter Politik, am
nicht realisierbaren Ideal von Vollbeschäftigung festzuhalten, obwohl die
Arbeitslosenzahlen längst als Hinweise darauf zu deuten sind, dass nicht alle,
die möchten, Gelegenheit haben, einem durch den Markt vermittelten Erwerb
nachzugehen. In der aktuellen aktivierungspolitischen Optik wird die Integrationsfrage verkürzt auf die individuelle Förderung der Partizipation am Arbeitsmarkt, was sich zugleich als eine ausschließlich auf Erwerbsarbeit konzentrierende Leistungsethik ausdrückt, die hinsichtlich ihrer inhaltlichen
Ausrichtung jedoch selbst einem Wandel unterworfen ist. Was diesen Wandel anbelangt konstatiert beispielsweise Sighard Neckel eine Bedeutungsverschiebung vom Leistungs- hin zum Erfolgsprinzip (Neckel 2001). Das unternehmerische Selbst wird zur ideologischen Leitfigur, die Marktintegration
und damit gesellschaftliche Integration der Lohnarbeitsgesellschaft gewährleisten soll. Dass diese Ideologie und die durch sie formulierten kulturellnormativen Anforderungen an das Handeln letztlich an die Stelle der die
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EINLEITUNG
Industriegesellschaft prägenden Arbeitsdisziplin treten und was dies bedeutet,
beschreibt Heinz Steinert: „Was uns als Flexibilisierung angetragen wird, ist
tatsächlich ein enormer Schub an Normierung und Standardisierung unter
dem verschärften Druck von Konkurrenz und den zugehörigen Ängsten, die
bewältigt werden, indem wir andere in der Hoffnung ausschliessen (lassen),
dass wir dadurch selbst diesem Schicksal entgehen. Wir müssen uns zusätzlich die Normierung selbst antun und unsere Standardisierung selbst managen
– nicht ohne Beratung, versteht sich, von der wir umstellt sind und von der
wir gewöhnlich die Normen erst vermittelt bekommen, denen wir mit ihrer
Hilfe gerecht werden sollen.“ (Steinert 2005: 47) Die an die Arbeitskraft
gestellten Anforderungen sind einem Wandel unterworfen, das Ziel, das mit
der Anpassung an diese Anforderungen erreicht werden soll, bleibt sich
gleich: die individuelle Integration in den Arbeitsmarkt.
Die kulturelle Bedeutung von Erwerbsarbeit
Historisch besehen war Arbeit keineswegs immer nur ein Mittel, um sich der
Anerkennung der Gemeinschaft zu versichern. Dass sie den Menschen lange
über den Zeitraum des früheren Christentums hinaus nur als Mühsal und
Plage galt, verdeutlicht insbesondere die etymologische Bedeutung des Begriffs „Arbeit“, dies nicht nur in der deutschen Sprache, sondern auch im
Französischen, im Spanischen und Portugiesischen. Im Deutschen geht „arbeiten“ auf ein Verb zurück, das „verwaist sein, ein zu schwerer körperlicher
Tätigkeit verdingtes Kind sein“ bedeutet, was im Niederhochdeutschen auf
eine schwere körperliche Anstrengung verwies und auch mit Unwürdigkeit in
Verbindung stand. Unwürdig war zunächst auch Lohnarbeit. Noch heute
zitiert man in Bern den Ausspruch einer stadtbekannten und einer dem Adelsstand angehörenden Frau, genannt „Madame de Meuron“, die zwecks der
Verortung von Menschen innerhalb der sozialen Hierarchie folgenden kernigen Satz geprägt haben soll: „Sind Sie jemand oder beziehen Sie Lohn?“ (Syt
der öpper oder nämet der Lohn?). Dieser Ausspruch amüsiert nicht zuletzt
deshalb, weil er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geäußert wurde,
als selbst der Lohnarbeit nichts Anrüchiges mehr anhaftete. Im Gegenteil:
Die zum Zweck des Erwerbs ausgeübte berufliche Tätigkeit verbürgte einen
gewissen Status, sicherte dem berufstätigen Individuum eine gesellschaftliche
Position. Im Unterschied zum Status des Adels galt diese Position aufgrund
ihrer Erarbeitung mittels Anstrengung und Leistung als verdientermaßen
erworben.
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Hannah Arendt erklärt sich den Aufstieg der Arbeit „von der untersten und
verachtetsten Stufe zum Rang der höchstgeschätzten aller Tätigkeiten“ mit
John Lockes Entdeckung der Arbeit als einer Quelle des Eigentums (Arendt
1999: 119f.). Sozialphilosophen und Nationalökonomen werteten die Arbeit
auf „zum Kern menschlicher Existenz und Selbstverwirklichung“, sagt auch
der Historiker Jürgen Kocka, was zu ihrer Zeit im eklatanten Widerspruch
zur äußerst beengten, mühseligen und harten, ständisch differenzierten, jedoch zunehmend die ständische Ordnung sprengenden Praxis der Arbeit auf
dem Feld und im Haus, in Werkstätten und auf Baustellen gestanden habe
(Kocka 2000: 478). Im selben thematischen Kontext weist Arendt auf einen
unauflösbaren Widerspruch in den Schriften von Marx hin, wie er zweitrangigen Autoren nicht unterlaufen würde, bei den „grossen Autoren“ jedoch in
den Mittelpunkt ihres Werkes führt (Arendt 1999: 123). Für Arendt besteht
der eklatante Widerspruch darin, „dass Karl Marx in allen Stadien seines
Denkens davon ausgeht, den Menschen als ein Animal laborans zu definieren, um dann dies arbeitende Lebewesen in eine ideale Gesellschaftsordnung
zu führen, in der gerade sein grösstes und menschlichstes Vermögen brachliegen würde“ (ebd.). In Abgrenzung zu Marx differenziert Arendt deshalb
zwischen Arbeit als für das Überleben notwendigen Tätigkeiten und dem
Herstellen bleibender Werte, die der Sinnstiftung dienen.
Zum kulturellen Aufstieg von Arbeit und Lohnarbeit trug bekanntlich auch
die vorgängige Herausbildung einer protestantischen Ethik bei, wie sie Max
Weber in seinen religionssoziologischen Studien rekonstruierte (Weber
1988). Aufgrund der protestantischen Heilslehre wurde Berufsarbeit vollends
zum Selbstzweck und zwar als Mittel, sich die göttliche Gnade zu verdienen,
wie dies im Luther’schen Berufsgedanken (ebd.: 63ff.) zum Ausdruck gelangt. Dadurch blieb „die Tätigkeit, zu der Gott berufen hatte“, nicht mehr
länger für die ständisch Privilegierten reserviert, sondern umfasste auch die
profane Lebensbewältigung durch Arbeit, wie Ulrich Oevermann schreibt
(Oevermann 2001: 98). Doch insbesondere der Kalvinismus, der laut Weber
den Geist des Kapitalismus in seiner reinsten Form verkörperte, trug durch
das Ausbleiben einer Heilsvergewisserung entscheidend zur Ausformung
einer auf die innerweltliche Askese ausgerichteten, methodischen Lebensführung bei (Weber 1988: 84ff). Weber hat mit seinen religionssoziologischen
Studien ein Verständnis des Kapitalismus als bestimmten kulturellnormativen Handlungsprinzipien verpflichtete Wirtschaftsordnung geschaffen. Durch die Verallgemeinerung des Luther’schen Berufsgedankens und
der kalvinistischen Ethik wurde die berufliche Tätigkeit zu einem Mittel
individueller Bewährung. Dieses Mittel und damit auch die Bewährung des
Individuums werden durch die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft selbst auf
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die Probe gestellt. Was passiert, wenn Individuen aufgrund ihres Ausschlusses aus der Arbeitswelt nicht mehr über diese Möglichkeit der Bewährung
verfügen, wofür Luthers Berufsethik den Grundstein legte? Wie kann lebenspraktisch Sinn gestiftet werden, wenn das berufliche Feld dem eigenen Betätigungswunsch verschlossen bleibt? Oevermann ist überzeugt, dass die „ästhetische Erfahrung, und damit einhergehend die Basis von authentischer
Darstellung, die gelungene künstlerische Synthesis von Form und Inhalt“
stattdessen ins Zentrum der Stiftung lebenspraktischen Sinns rücken wird
(Oevermann 2001: 37f.). Einen solchen, für die Gemeinschaft verbindlichen
Bewährungsmythos bilden jene Subjekte heraus, die sich vom allem übergeordneten Ziel einer individuellen Arbeitsmarktintegration lösen und alternative Formen der Selbstbetätigung, die letztlich der Gemeinschaft dienen, entwickeln. Eine Verallgemeinerung einer entsprechenden Lebensführung würde die Loslösung der Sicherung der materiellen Existenz von Lohnarbeit
erfordern, die Auseinanderdividierung jener Verknüpfung also, wie sie für
die Entstehung der modernen Lohnarbeitsgesellschaft konstitutiv war (Castel
2000). Solange eine Lebensweise unabhängig von Lohnarbeit institutionell
nicht ermöglicht wird, zum Beispiel durch die Einführung eines Grundeinkommens in ausreichender Höhe, bleibt der Weg aus strukturellen Gründen
versperrt, sich alternative Betätigungsfelder zu suchen, die ausserhalb von
Erwerbs- und Lohnarbeit zum Wohl der Gemeinschaft beitragen würden.
Was die Gesellschaft zusammenhält
Gesellschaftliche Integration ist keineswegs nur eine Frage der Möglichkeit
zur Erwerbsbeteiligung. Solidarisches Handeln kann sich auch auf Formen
der Betätigung für das Gemeinwohl beziehen, das Gemeinwesen ist auf unentschädigtes, bürgerschaftlich-politisches Engagement dringend angewiesen. Doch nicht die Wahrnehmung politischer Teilhabemöglichkeiten und die
Gewährung politischer Rechte stehen im Fokus dieses Sammelbands, sondern die sich mit der Durchsetzung des Kapitalismus und der Verallgemeinerung von Lohn- und Erwerbsarbeit als institutionell vorgesehenem Mittel zur
Sicherung der materiellen Existenz konstituierende Arbeitswelt als eigenständige Sphäre sozialen Lebens. Die sozialen Folgen des ökonomischen
Strukturwandels, wie sie beschrieben wurden, führen zu Erscheinungen, die
aktuell unter dem Begriff „Exklusion“ subsumiert werden. Der in diesem
Zusammenhang verwendete Exklusions-Begriff bezieht sich im Unterschied
zur systemtheoretischen Lesart auf einen auf verschiedene Gruppen und auch
einzelne Individuen bezogenen Ausschlussprozess von gesellschaftlichen
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Teilhabemöglichkeiten (vgl. Kronauer 2002). Exklusion bezeichnet eine neue
soziale Frage, die sich laut Kronauer auf zugespitzte Weise neu als „Problem
der Teilhabe an (bzw. des Ausschlusses von) den gesellschaftlich realisierten
Möglichkeiten des Lebensstandards, der politischen Einflussnahme und der
sozialen Anerkennung“ stellt (Kronauer 2002: 11) und damit zur Metapher
der aktuellen sozialen Transformationen wird (ebd.: 32). Die Verwendung
des Exklusions-Begriffs stellt den Versuch dar, klassische Themen der Soziologie wie Armut und Arbeitslosigkeit unter einem neuen gesellschaftstheoretischen Blickwinkel zu betrachten, der den aktuellen Entwicklungen gerecht
zu werden vermag und damit auf neue gesellschaftliche Problemlagen verweist (vgl. Kronauer und Schnapper in diesem Band und als Überblick zur
Diskussion auch Bude, Willisch 2006).
Inwiefern wird diese neue soziale Frage zum Prüfstein der Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft? Eine Gesellschaft als eine integrierte zu bezeichnen, bedeutet zunächst, dass normative Handlungskonzepte die in ihr stattfindenden Prozesse in geordneten Bahnen verlaufen lassen, weshalb das
soziale System nicht auseinander fällt. Durch die Anerkennung der Gültigkeit
der Normen bindet sich das Individuum an die gesellschaftliche Ordnung und
die in ihr wirksamen Prinzipien. Es handelt sich dabei um Prozesse der Angleichung und Differenzierung, die auf einer dem Einzelnen übergeordneter
Ebene verbindlicher Wertvorstellungen und -strukturen bedürfen, damit sich
gesellschaftliche Ordnung konstituieren kann. Diese wechselseitigen Prozesse des Ausgleichs, unter den permanenten Bedingungen ihres Wandels, werden in der aktuellen politischen Verwendung des Integrationsbegriffs wie
beschrieben verkürzt auf die individuelle Bereitschaft von Betroffenen, sich
in das bestehende Ganze einzugliedern, das nicht zuletzt als ein undynamisches starres Gebilde vorgestellt wird. Es ist dieser Integrationsbegriff, der
den politischen Diskurs heute prägt, dies insbesondere im Zusammenhang
mit der Einführung von Instrumenten aktivierender Sozialpolitik und migrationspolitischen Fragen. Integration bezeichnet soziologisch gesehen nicht
nur einen Prozess, sondern verweist zugleich auf normativ-diskursive Bezugspunkte, deren historisch spezifische Ausgestaltung über die Zugehörigkeit und Teilhabe von sozialen Gruppen entscheidet. Inwiefern Ausschlussmechanismen im Einzelnen wirksam sind oder eine Gesellschaft als integrierte bezeichnet werden kann, ist stets in Abhängigkeit zu den jeweiligen gesellschaftlichen Normensystemen zu betrachten, die den Zugang zu Ressourcen
und die Partizipationsmöglichkeiten letztlich strukturieren respektive ihrer
politischen Regulierung zu Grunde liegen. Letzteres steht im Fokus einer
konstruktivistischen und auch diskurstheoretischen Sichtweise, wie sie vielfach die im deutschsprachigen Raum durchgeführten empirischen Arbeiten
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theoretisch anleitet. Hier werden Integrations- und Ausgrenzungsprozesse als
solche der Fremd- und Selbstzuschreibung analysiert oder in Anlehnung an
die Arbeiten Michel Foucaults als Macht ausübende Diskurse konzeptualisiert, wie dies zum Beispiel bei den von Stephan Lessenich im Buch „Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe“ veröffentlichten Beiträgen der Fall ist (Lessenich 2003: 11ff.). Anders in der französischen Tradition soziologischer Forschung, in der die integrierte Gesellschaft in Anschluss an Emile Durkheim
und dessen Studie zur Transformation gesellschaftlicher Arbeitsteilung
(Durkheim 1988) selbst normativer Bezugspunkt ist und zwar insofern, als
Abweichungen als Anomien und pathologische Formen sozialen Lebens
begriffen werden. Ausgehend von dieser französischen Lesart sind es solche
Abweichungen, die den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft bedrohen.
In diesem Zusammenhang sind auch die im französischen Kontext mit dem
Begriff „Exklusion“ bezeichneten Phänomene zu sehen (vgl. Schnapper in
diesem Band). Dieser Deutung zufolge ist es letztlich ein Mangel an gesellschaftlicher Solidarität, der die gesellschaftliche Integration gefährdet. Integration und Ausschluss werden als auf realen Erfahrungen gründende Phänomene begriffen, die in ihrer Historizität zu deuten und somit als der Veränderbarkeit unterliegend zu analysieren sind. Die verschiedenen Ausdrucksformen von Exklusionsprozessen werden als maßgeblich bestimmt durch
institutionelle Regulierungen einerseits, anderseits die Wahrnehmung und
Weltauslegung der Handelnden begriffen, die analytisch je für sich genommen zu betrachten sind: Die Selbstdeutung der Handelnden muss keineswegs
dem Phänomen entsprechen und umgekehrt: Ein tatsächlich stattfindender
Exklusionsprozess, im Sinne eines Ausschlusses aus Teilhabemöglichkeiten,
braucht nicht zwingend ins Bewusstsein der Betroffenen zu gelangen. Mit der
Diskussion der erwähnten Aspekte soll dieses Buch einen Beitrag zu einem
besseren Verständnis dieser Prozesse leisten, wie sie sich im Bereich von
Beschäftigung und Arbeitswelt vollziehen. Mit solchen Prozessen befassen
sich sämtliche der in diesem Buch publizierten Beiträge, sowohl die beiden
vorangestellten Beiträge von Dominique Schnapper und Martin Kronauer,
bei denen es sich um theoretische Erörterungen des Themas handelt, wie
auch die Beiträge, in denen auf empirischer Basis gewonnene Forschungsergebnisse präsentiert werden.
Übersicht über die Beiträge zum vorliegenden Band
Die folgenden theoretischen und empirischen Beiträge beleuchten die Thematik von Integration und Ausschluss in der Arbeitswelt und dadurch herGazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt
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vorgerufene spezifische Entwicklungen in einzelnen europäischen Ländern.
Die Beiträge aus Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz beziehen sich dabei auf unterschiedliche Aspekte aktueller Veränderungen: so auf
die Prekarisierung von Lohnarbeit, den Zugang zum Recht atypisch Beschäftigter, die gewerkschaftliche Organisation von Solo-Selbstständigen, die
selbstständige Erwerbstätigkeit von Migrantinnen und Migranten.
Die Idee zu diesem Buch entstand ausgehend von im Rahmen des Schweizer Forschungsprogramms NFP 51 „Integration und Ausschluss“
(www.nfp51.ch) durchgeführten Projekten. Bei denjenigen Beiträgen, die
sich auf die Schweiz beziehen, handelt es sich mit Ausnahme von Franz
Schultheis’ Beitrag um die Präsentation von Untersuchungsergebnissen, die
im Rahmen dieses Forschungsprogramms gewonnen wurden. Die Schweiz ist
in Bezug auf die zu diskutierende Entwicklung insofern ein interessantes
Beispiel, als es sich um ein früh industrialisiertes Land mit einer von Beginn
weg am internationalen Markt ausgerichteten Industrie (Textil, Uhren, Maschinen) handelt, das heute über einen besonderen, das heißt sich von den
Internationalisierungstendenzen abhebenden institutionellen Kontext verfügt.
Obwohl die Schweiz nicht Mitglied der Europäischen Union ist, ist die Ausrichtung der Wirtschaft, insbesondere auch des florierenden Bankensektors,
weiterhin sehr international ausgerichtet. Und auch in der Schweiz gibt es
zunehmend mehr Verlierer, werden desintegrierende Tendenzen aufgrund
wirtschaftlicher Entwicklungen sichtbar. Gerade weil in der Schweiz so lange
Zeit Vollbeschäftigung und Arbeitsfrieden zur Normalität gehörten, ist es
interessant und wichtig, diese neuen Desintegrationstendenzen zu untersuchen.
Die ersten beiden Beiträge nähern sich der Thematik von Integration und
Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt aus theoretischer Perspektive an. Im
Beitrag von Dominique Schnapper wird in der Tradition der französischen
Soziologie ausgeführt, dass mit der Thematik der sozialen Integration und der
Exklusion eine genuin soziologische Fragestellung angesprochen ist, nämlich
jene, wie soziale Beziehungen aufrechterhalten oder gestärkt werden können
in Gesellschaften, die auf der Souveränität des Individuums gründen. Ob es
sich bei den beobachteten sozialen Phänomenen um die Problematik der
Integration der Kinder von Migrantinnen und Migranten handelt oder um
Armut und Prekarisierung aufgrund des Ausschlusses von der Arbeitswelt –
bei beiden Problemen stellt sich, so Schnapper, die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, nach der Integration von Individuen in die Gesellschaft und der Integration der Gesellschaft. Die Autorin betont, dass jede
soziale Organisation, handle es sich nun um die Familie oder die Nation,
definitionsgemäß mit der Integration gewisser Personen und der Exklusion
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anderer einhergehe. Zu untersuchen gelte es deshalb nicht die Exklusion als
solche, sondern vielmehr die spezifischen Formen, welche die Prozesse von
Exklusion und Inklusion in modernen demokratischen Gesellschaften annehmen.
Martin Kronauer schließt mit seinen Ausführungen an die französische
Diskussion an, ergänzt jedoch im Unterschied zu Schnapper das Konzept der
Integration in angelsächsischer Tradition um das Element der Integration im
Sinne von citizenship. Integration bedeutet für ihn somit nicht nur Interdependenz, d.h. die Einbindung in die formalisierten Wechselbeziehungen der
gesellschaftlichen Arbeitsteilung und in die Reziprozität informeller Nahbeziehungen, sondern auch Partizipation, d.h. Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben entsprechend allgemein anerkannter Standards, vermittelt über Bürgerrechte. Kronauer führt aus, wie sich durch den Auf- und Ausbau moderner
Wohlfahrtsstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg die institutionelle Einbindung der Bevölkerung und ihre Teilhabemöglichkeiten verändert haben,
wobei die Vollbeschäftigung eine der Voraussetzungen bildete, auf deren
Hintergrund sich die persönlichen, politischen und sozialen Rechte ausbilden
konnten. Angesichts dessen, dass die zentrale Säule der Erwerbsarbeit brüchig wird, stellt sich die Frage, wie sich die soziale Eingliederung in Bezug
auf die Partizipation über den Bürgerstatus, die Interdependenzen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und die Reziprozitätsverhältnisse sozialer Verwandtschaftsbeziehungen und Bekanntschaften verändern und welche Zusammenhänge zwischen diesen Ebenen bestehen. Kronauer plädiert dafür,
Exklusion und Ausgrenzung sowohl als Prozess- wie als Zustandskategorien
zu verstehen und den Blick nicht auf Randgruppen, sondern auf das gesellschaftliche Zentrum zu lenken, wo über Integration und Exklusion entschieden wird. Die Analyse von Exklusion ist nach Kronauer zudem eine Gesellschaftsanalyse, denn die gegenwärtigen Veränderungen durchdringen das
gesellschaftliche Leben insgesamt. Der Umstand, dass sich die Folgen der
Exklusion auf verschiedene Weise und sozialstrukturell ungleich bemerkbar
machen, kann die Exklusionsgefahr verschärfen, da aus dem Kampf um Ressourcen neue Ausgrenzungen und Ungleichheiten resultieren. Gerade deshalb
muss, so kann nach Kronauer gefolgert werden, Ausgrenzung als Ausgrenzung in der Gesellschaft und damit als besonderes Ungleichheitsverhältnis
verstanden werden.
In den darauf folgenden Beiträgen werden empirische Untersuchungen
über verschiedene Aspekte von Integration und Ausschluss vom und auf dem
Arbeitsmarkt dargestellt.
Ausgangspunkt des Beitrags von Franz Schultheis bildet die Diagnose,
wonach wir heute in einer Zeit massiver wirtschaftlicher, sozialer und kultuGazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt
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reller Umbrüche leben, die mit grundlegenden Veränderungen der normativen Veränderungen an den Arbeitnehmer einhergehen. Diesen gesellschaftlichen Wandel und seine Folgen für die betroffenen Menschen beleuchtet der
Autor anhand einer empirischen Untersuchung der Veränderungen in einem
weltbekannten Schweizer Unternehmen, das im Gefolge einer zweifachen
Fusion rund 4.000 Mitarbeiter „freigestellt hat“. Wie Schultheis ausführt,
erweisen sich das Geschlecht, die Familiensituation, das Alter, aber auch das
kulturelle Kapital in Form von schulischen und universitären Diplomen als
entscheidende Selektionskriterien. Gefragt ist zudem nicht mehr, sich treu an
ein Unternehmen zu binden und sesshaft zu sein. Die idealtypische Verkörperung des employable man repräsentiert vielmehr der höchst flexible und mobile Unternehmer seiner selbst, der „Homo McKinnseyanus“, der genug
Selbstvertrauen in den eigenen Marktwert hat, „um auch bei kurzfristigen
Anstellungen keine Existenzangst zu bekommen“. Der Umstand, dass der
„employable man“ sein ganzes Leben dem Diktat des Arbeitsmarktes unterwirft, lässt allerdings die Frage aufkommen, inwiefern dadurch seine Integration in andere Teilsysteme der Gesellschaft gefährdet wird und inwiefern er
beispielsweise noch Bürgerpflichten nachkommt. Die „unemployable men“,
deren Möglichkeitsräume viel geringer sind, bilden laut Schultheis die Negativfolie zum „employable man“. Zwischen deren verinnerlichten Erwartungen und im Sozialisationsprozess angeeigneten Dispositionen und den objektiven gesellschaftlichen Strukturen diagnostiziert Schultheis ein Auseinanderklaffen, das zu einer Quelle gesellschaftlichen Unbehagens und Leidens
der betroffenen Individuen werde. Schultheis zufolge drängt sich Durkheims
Konzept der Anomie auf, um die Konsequenzen dieser Dissonanzen zu beschreiben.
Dass Prekarisierung sich allerdings nicht nur bei ökonomischer Unsicherheit findet, sondern auch dann, wenn die eigene Arbeit nicht als befriedigend
und sinnvoll erlebt wird, bildet den Ausgangspunkt des Beitrags von Serge
Paugam. Er beschäftigt sich mit dem Konzept der sozialen Disqualifikation
und fragt danach, inwiefern es angewendet werden kann, um die Lebensbedingungen prekär Beschäftigter zu analysieren. Auf der Basis einer empirischen Untersuchung in französischen Unternehmen beschreibt der Autor
zunächst die strukturellen Faktoren der doppelten Prekarisierung der Lohnabhängigen. Zwar habe, so Paugam, die Autonomie der Beschäftigten zugenommen und der Anspruch an eine Selbstverwirklichung durch die Arbeit sei
gestiegen, gerade deshalb seien aber auch die Risiken gewachsen, dass man
diesen Anforderungen nicht mehr genügen könne und innerhalb eines Unternehmens oder auf dem Arbeitsmarkt zurückgestuft werde. Wie Paugam weiter ausführt, ergeben sich verschiedene negative Effekte der prekären Formen
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beruflicher Integration, die sich in ähnlicher Form auch bei Arbeitslosen
beobachten lassen. Entscheidend ist aber, dass die prekär Beschäftigten den
Eindruck haben, nicht mehr als Teil der „normal Beschäftigten“ anerkannt zu
werden, womit sie eine grundlegende Disqualifizierung ihrer Fähigkeiten
erleben. Darin erkennt Paugam den gleichen Prozess der Disqualifizierung
wie bei Arbeitslosen, was wiederum auf neue Ungleichheiten unter den Beschäftigten verweist.
Pascale Gazareth, Malika Wyss und Katia Iglesias knüpfen an Paugams Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen von Integration bei
der Arbeit bzw. prekärer Beschäftigung an und untersuchen anhand einer
quantitativ-empirischen Analyse die Faktoren, die das Risiko der Armut trotz
Beschäftigung in der Schweiz beeinflussen. In ihrem Beitrag geht es ihnen
somit darum, die Zusammenhänge zwischen neuen Formen von Ungleichheit
auf dem Arbeitsmarkt und Armut zu beleuchten. Die Autorinnen berücksichtigen dabei auch qualitative Aspekte der prekären Beschäftigung und verfolgen eine dynamische, prozessorientierte Perspektive. Die Auswertungen
zeigen, dass die Qualität der beruflichen Integration das Armutsrisiko der
Betroffenen tatsächlich beeinflusst, wobei eine „Hierarchie der Risiken“
beobachtet werden kann. In Einklang mit Befunden von Paugam oder auch
Kraemer ist das Ergebnis der Autorinnen, dass Unzufriedenheit bei der Arbeit
das Armutsrisiko auch dann beeinflusst, wenn keine Instabilität bzw. Unsicherheit der Beschäftigung vorliegt. Überraschend ist, dass zwischen Männern und Frauen keine Unterschiede in Bezug auf den Zusammenhang zwischen prekärer Beschäftigung und Armut bestehen, sondern nur in Bezug auf
die Art und Weise, wie sich die prekäre Beschäftigung auf das Leben der
Betroffenen auswirkt und mit welchen weiteren Faktoren sie korreliert. Die
Ergebnisse zeigen schließlich auch, dass von prekärer Beschäftigung jene
Gruppen am meisten betroffen sind, die auch unter den Arbeitslosen überproportional vertreten sind: Junge, Ausländerinnen und Ausländer, Personen
mit geringer Ausbildung und Alleinerziehende. Dies verweist nach Ansicht
der Autorinnen darauf, dass neue Ungleichheiten und neue Polarisierungen
innerhalb der Beschäftigten entstehen, was die soziale Kohäsion der Gesellschaft bedroht, die nach wie vor um den Wert der Arbeit zentriert ist. Zu
hinterfragen sei daher, inwiefern die Arbeit heute noch ihre integrative Funktion zu erfüllen imstande sei und welche Lösungen die Gesellschaft für jene
bieten könne, die heute zu den „Überzähligen“ gehören.
Ob und inwiefern allerdings der Zusammenhang von Prekarisierung der
Arbeit und sozialer Desintegration tatsächlich plausibel begründet ist – dieser
Frage geht Klaus Kraemer in seinem Beitrag nach. Auf der Grundlage einer
eigenen Untersuchung beschreibt er zunächst zwei Typen von Beschäftigten,
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bei denen die Sicherheitserwartungen bezüglich ihrer Erwerbsarbeit prekär
geworden sind: die Verunsicherten und die Gefährdeten. Die Beschreibung
dieser beiden Typen macht deutlich, dass eine trennscharfe Unterscheidung
von prekären und nicht-prekären Arbeitsverhältnissen dadurch erschwert
wird, dass instabile Erwerbslagen sowohl verunsichernd als auch disziplinierend auf noch geschützte Normalarbeitsverhältnisse zurückwirken. Zudem, so
Kraemer, ist eine eindeutige Zuordnung von Integrations- und Desintegrationsprozessen zu unterschiedlichen Zonen, wie es Castel postuliert, wenig
sinnvoll, wenn die subjektiven Deutungsmuster unterschiedlicher Beschäftigtengruppen berücksichtigt werden. Kraemer schlägt vor, von einem Integrations-Desintegrationsparadoxon zu sprechen, wenn ein und derselbe Prozess
mit gegenläufigen Tendenzen innerhalb einer Zone oder zwischen den Zonen
der Arbeitsgesellschaft einhergeht. Vor diesem Hintergrund postuliert Kraemer, dass mit der Zurückdrängung regulärer und der Ausbreitung prekärer
Beschäftigungsformen nicht einfach desintegrative Effekte verbunden sind,
sondern vielmehr ein grundlegender Wandel des arbeitsweltlichen Integrationsmodus verbunden ist, der als eine Umstellung des Integrationsmodus von
Teilhabe und Partizipation auf Disziplinierung und Folgebereitschaft beschrieben werden kann. Prekarisierung kann daher, so Kraemer, nicht mit
sozialer Desintegration gleichgesetzt werden. Umgekehrt können sowohl
Desintegrationserfahrungen als auch Anpassungsleistungen spezifische Integrationsnormen hervorrufen. Kraemer plädiert daher dafür, die Prekarisierungsproblematik nicht auf eine bestimmte Gruppe von „Prekarisierten“ zu
beschränken, sondern die Aufmerksamkeit auf den Wandel sozialer Integrationsmodi zu richten, der gerade durch die Prekarisierung von Erwerbsarbeit
hervorgerufen werde.
Der Artikel von Peter Böhringer, Sandra Contzen, Michael Nollert und
Alessandro Pelizzari kann im Anschluss daran gelesen werden als ein Beitrag zur Frage, inwiefern die zunehmend fehlende integrative Funktion der
Arbeit durch Absicherungen durch das Recht kompensiert oder abgefedert
werden kann. Im Zentrum ihres Artikel steht nämlich die Problematik des
Gebrauchs von und des Zugangs zum Recht atypisch Beschäftigter in der
Schweiz. Die Autoren und die Autorin fokussieren dabei auf drei atypische
Arbeitsverhältnisse: auf Heimarbeit, internationale Arbeitsverhältnisse und
auf Schwarzarbeit. In einem ersten Teil ihres Beitrags beschreiben Böhringer
et al. auf der Grundlage einer von ihnen durchgeführten Online-Befragung,
dass der allgemeine arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Schutz von
Expertinnen und Experten auf diesem Gebiet für ungenügend erachtet wird,
wobei die Situation atypisch Beschäftigter als deutlich unsicherer eingeschätzt wird als jene der Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnissen. Im
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zweiten Teil ihres Beitrags untersuchen Böhringer et al. anhand von Tiefeninterviews, welche Faktoren die Zugangschancen zum Arbeits- und Sozialversicherungsrecht prägen und wie sich die unterschiedlichen Chancen in individuellen Erwerbsoptionen niederschlagen. Die ausgewählten Fallbeispiele
machen deutlich, dass bei einer Kumulation von strukturellen und individuellen Defiziten sowie institutionellen Barrieren der Zugang zum Recht erschwert ist. Die Folgen sind ein hohes Prekaritätsrisiko, starke Ausbeutung
und im Extremfall der Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt. Der Beitrag von
Böhringer et al. zeigt auf, dass ein Ausbau des gesetzlichen Schutzes atypisch
Beschäftigter zur Überwindung von Ausgrenzungsrisiken nicht ausreichend
ist, da die größte Hürde im Rechtszugang die Wahrnehmung des Rechts als
Ressource darstellt. Nötig wären nach Meinung der Autoren und der Autorin
daher nicht neue Rechtsnormen, sondern die Behebung struktureller Barrieren beim Zugang zum Recht und individueller Defizite.
Auch Georg Adam und Susanne Pernicka beschäftigen sich in ihrem
Beitrag in einem gewissen Sinn mit der Absicherung atypisch Beschäftigter,
nämlich mit der spezifischen Situation Solo-Selbstständiger und deren kollektiver Interessenvertretung am Beispiel der Erwachsenenbildung in Österreich. Der Autor und die Autorin gehen von der Tatsache aus, dass die Förderung des „lebenslanges Lernens“ in Österreich zwar einen Beschäftigungsboom bei den Dozentinnen und Dozenten herbeigeführt hat, deren Integration
in den ersten Arbeitsmarkt als überwiegend Solo-Selbstständige oder Scheinselbstständige aber prekär ist. Adam und Pernicka fragen angesichts dessen
in ihrem Beitrag danach, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen die
überwiegend solo-selbstständig Beschäftigten in der berufsbezogenen Erwachsenenbildung eine gewerkschaftliche Organisationsbereitschaft aufweisen. Es zeigt sich, dass diese Organisationsbereitschaft relativ klein ist, wofür
verschiedene Faktoren auf der Makro-, Meso- und Mikroebene verantwortlich sind. Aufschlussreich ist das Ergebnis, wonach neben fehlender berufsfachlicher Regulierung der Erwachsenenbildung und der Konkurrenz unter
den Dozentinnen und Dozenten auch die Konkurrenz zwischen Stammbelegschaft und Solo-Selbstständigen sowie eine Fehldeutung der Bedarfe vieler
Solo-Selbstständiger ein Hindernis zur gewerkschaftlichen Organisierung
und Mitgliedschaft darstellen. Letztlich führt, so kann gefolgert werden, die
nach wie vor bestehende Orientierung an unselbständiger Arbeit als Normalarbeitsverhältnis dazu, dass der prekären Situation Solo-Selbstständiger durch
ihre fehlende gewerkschaftliche Organisierung nichts entgegengehalten werden kann und sich die Individualisierung struktureller Veränderungen auch
auf dieser Ebene reproduziert.
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Die individuelle Bearbeitung struktureller Veränderungen und deren Folgen steht denn auch im Zentrum des Beitrags von Chantal Magnin und
Simone Suter. Sie beschäftigen sich mit der Frage, wie angesichts der Flexibilisierung von Arbeitsbeziehungen und der Auflösung standardisierter Erwerbs- und Karrieremuster die damit einhergehenden Unsicherheiten und
davon verursachten Probleme bewältigt werden. Den Autorinnen ist es dabei
ein Anliegen, nicht nur die subjektiv verfolgten Handlungsabsichten zu untersuchen, sondern auch die daraus resultierenden Konsequenzen, um deutlich zu machen, was sich prekär Beschäftigte vom angestrebten Gelingen
einer Integration in den Arbeitsmarkten erhoffen und was es für die Gesellschaft bedeutet, wenn diesen Erwartungen nicht entsprochen wird. Auf der
Grundlage einer empirischen Untersuchung rekonstruieren die Autorinnen
zwei unterschiedliche Gruppen von prekär Beschäftigten in der Schweiz: Für
die erste Gruppe ist typisch, dass sie sich zwar zur Bewältigung der Unsicherheit Flexibilisierungsanforderungen anzueignen versuchen, sich aber
weiterhin an traditionellen Arrangements von Arbeitsverhältnissen orientieren. Bei der zweiten Gruppe, den „Unflexiblen“, lässt sich dagegen ein Bedeutungsgewinn moralischer Wertvorstellungen im Sinne eines Anspruchs
auf ein sozial integriertes Leben mittels Lohnarbeit als Reaktion auf ein verletztes Gerechtigkeitsempfinden beobachten. Die Fallbeispiele zeigen auf,
dass heute individuelle Merkmale auf dem Arbeitsmarkt an Bedeutung gewinnen, während berufliche Kompetenzen ihre Bedeutung einbüßen. In Bezug auf die zukünftige Entwicklung bedeutet dies nach Magnin und Suter,
dass im Bereich der Dienstleistungen zunehmend die Voraussetzungen für
eine Regulierung von Arbeitsbedingungen qua Beruf fehlen und Beschäftigte
ihre kollektive Lage kaum mehr als solche erkennen können.
Eine Individualisierung sozialer Ungleichheit stellt gewissermaßen auch
die selbstständige Erwerbstätigkeit dar, sofern sie dazu dient, sich „selbstständig“ auf dem Arbeitsmarkt wieder zu integrieren, von dem man ausgeschlossen wurde. Inwiefern die selbstständige Erwerbstätigkeit tatsächlich als
Ausdruck von Ausschluss vom Arbeitsmarkt oder nicht viel eher als Ausdruck von Etablierung und Emanzipation und in diesem Sinne von Integration zu interpretieren ist, dieser Frage gehen Anne Juhasz, Raphaela Hettlage und Christian Suter am Beispiel der selbstständigen Erwerbstätigkeit
von Migrantinnen und Migranten in der Schweiz nach. Anhand einer empirischen Untersuchung rekonstruieren sie einerseits die Wege und Motive, die
zum Schritt in die Selbstständigkeit führen und andererseits die Folgen, die
sich aus der selbstständigen Erwerbstätigkeit für die Unternehmerinnen und
Unternehmer ergeben. Die Analysen zeigen, dass sich in den einzelnen Biografien Phasen von Integration und Phasen von Ausschluss ablösen und sich
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oft auch eine Gleichzeitigkeit von Integrations- und Ausschlussprozessen
finden lässt. Dies zeigt, dass die Rolle der selbstständigen Erwerbstätigkeit
von Migrantinnen und Migranten in Integrations- und Ausschlussprozessen
nicht losgelöst vom jeweiligen Kontext und der einzelnen Biografie untersucht werden kann. Die Autorinnen und der Autor ziehen aus ihren Analysen
zudem den Schluss, dass für den ökonomischen Erfolg des Unternehmens
und für die Abwendung von Ausschlussprozessen soziale, kulturelle und
biografische Ressourcen von entscheidender Bedeutung sind. Dies verweist
darauf, dass sich in der Selbstständigkeit soziale Ungleichheiten verstärken.
Wer bereits über wichtige Ressourcen verfügt, weist die größeren Chancen
auf, mit der Selbstständigkeit wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Dagegen
besteht bei Personen, die über geringe Ressourcen verfügen und womöglich
unbeabsichtigt in die Selbstständigkeit geraten sind, die Gefahr, dass die
Selbstständigkeit sie in die Prekarisierung führt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass alle Beiträge neue Spaltungen
und eine Verschärfung der sozialen Ungleichheiten diagnostizieren. Ein
mehrfach dokumentiertes Ergebnis betrifft auch den Umstand, dass Arbeit
keine individuelle soziale Integration mehr garantiert, sondern neue Formen
von Ausschluss gerade aufgrund der arbeitsmarktlichen Integration und damit verbundenen Belastungen entstehen. Beispielsweise zeigt sich, dass prekäre Verhältnisse nicht „nur“ bei Personen in gefährdeten Positionen und
ökonomischer Unsicherheit zu beobachten sind, sondern auch bei jenen,
deren Arbeitssituation unbefriedigend ist oder die aus Sorge um die zukünftige Sicherheit ihres Arbeitsplatzes verunsichert sind. Prekäre Verhältnisse
finden sich demnach längst nicht nur an den Rändern der Gesellschaft. Dies
weist darauf hin, dass die Zone der Vulnerabilität bereits tief in die Zone der
Integration vorgedrungen ist. Diese Analyse setzt eine Perspektive voraus,
die den Blick primär auf Prozesse und nicht auf einzelne Randgruppen richtet. Dass dieser Blick auf die Prozesse und Modalitäten von Integration und
Ausschluss einer Untersuchung einzelner Gruppen vorzuziehen ist, ist ebenfalls ein Fazit, das aus den hier versammelten Beiträgen gezogen werden
kann. Angesichts der genannten Befunde stellt sich zudem die Frage, ob es
auch Anzeichen dafür gibt, dass diesen Tendenzen etwas entgegengehalten
wird. Wie gut funktionieren die bestehenden Sicherungssysteme und lassen
sich neue Formen sozialer Absicherungen beobachten? Die vorliegenden
Beiträge deuten darauf hin, dass neue Absicherungen weder auf der Ebene
der Gesetzgebung, in gewerkschaftlichen Organisation noch in der öffentlichen Diskussion im Sinne einer Bewusstwerdung für kollektiv prekäre Lagen
sichtbar werden oder dass es zumindest Anzeichen dafür gibt, dass sie im
Entstehen begriffen sind. Es sind also keine neuen Integrationsmodi auszuGazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt
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machen. Einzig wer über persönliche Ressourcen wie kulturelles, soziales
oder ökonomisches Kapital verfügt, kann heute den drohenden Ausschlussprozessen vom und auf dem Arbeitsmarkt Gegensteuer bieten. Diese genannten Ressourcen sind allerdings ungleich verteilt, was wiederum auf neue
Spaltungen und neue Ungleichheiten verweist, die in den verschiedenen Beiträgen zahlreich dokumentiert wurden. Sofern Migrantinnen und Migranten
als „Seismograph“ der Gesellschaft bezeichnet werden können und sich an
ihrer Lage zukünftige Entwicklungen schon früh aufzeigen lassen, ist zu
vermuten, dass in Zukunft auch andere vermehrt versuchen werden, ihr
Glück in der wirtschaftlichen Selbstständigkeit zu suchen und damit im
eigentlichen Sinn „autonom“ zu werden. Inwiefern die individuelle Bearbeitung struktureller Ausschlussprozesse gelingen kann, ist abhängig von institutionellen und kulturellen Faktoren. Möglicherweise nimmt deren Bedeutung aber angesichts von Globalisierungsprozessen heute ab; zumindest zeigen die vorliegenden Beiträge, dass in Deutschland, in Österreich, in Frankreich und in der Schweiz, trotz unterschiedlicher institutioneller und kultureller Rahmenbedingungen, ähnliche Entwicklungen zu beobachten sind. Differenzen lassen sich allenfalls in der Geschwindigkeit der Entwicklungen, in
der Art und Weise wie sich die Probleme artikulieren, in ihrer Intensität und
auch in ihrer öffentlichen Thematisierung beobachten – dass aber in all diesen Ländern die herkömmlichen Verteilungsmechanismen nicht mehr genug
gut greifen und sich deshalb neue soziale Ungleichheiten herausbilden, davon
handeln die Beiträge dieses Sammelbandes.
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