Einleitung Chantal Magnin, Anne Juhasz und Pascale Gazareth1 Jugendliche rebellieren in den französischen Vorstädten gegen ihren Ausschluss aus Bildung, Arbeitsmarkt und Politik. In Deutschland drücken Arbeitslosigkeit und Armut nicht nur auf die Stimmung der Betroffenen, sondern die der ganzen Bevölkerung. In der Schweiz wird die vermehrte Armutsgefährdung unter dem Gesichtspunkt verhandelt, wie viel Geld sie die Gesellschaft kostet. Nicht die gesellschaftliche Bewältigung sozialer Probleme, sondern die Legitimität der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme steht zur Debatte. Obwohl die Ausdrucksformen neuer sozialer Ungleichheiten im nationalen Kontext jeweils unterschiedliche Gestalt annehmen, liegen ihnen doch ähnliche Wirkungsmechanismen zugrunde. Genau diese gilt es mit der Thematisierung neuer sozialer Ungleichheit in den Blick zu nehmen. Dieses Buch soll denn auch einen Beitrag für ein besseres Verständnis dieser Prozesse leisten. Die in diesem Band diskutierten Formen von Ungleichheit werden deshalb als „neu“ bezeichnet, weil die aktuelle Erosion wirtschaftlicher Sicherheiten in Verbindung mit dem Abbau von sozialen Rechten neue Armutsgefährdungen und Einschränkungen von Teilhabemöglichkeiten zur Folge haben kann. Nicht mehr nur Personen ganz an den Rändern der Gesellschaft sind davon bedroht, die Gefährdung betrifft die Angehörigen aller sozialen Schichten. Grund ist der drohende Ausschluss aus dem Erwerbsleben. Da ein solcher Ausschluss sowohl in individueller als auch gesellschaftlicher Hinsicht desintegrierende Wirkungen entfalten kann, stellt sich mit den neuen sozialen Ungleichheiten auch die Integrationsfrage neu. So macht beispielsweise Robert Castel in seiner Chronik der Lohnarbeit geltend, dass die Transformationen im Sinne einer Prekarisierung von Lohnarbeit letztlich zu einer Form von „negativem Individualismus“ führen würden (Castel 2000: 401ff.). Darunter 1 Wir danken insbesondere Stephanie Schönholzer vom Schweizerischen Nationalfonds, Programmkoordinatorin des NFP 51 „Integration und Ausschluss“, für ihre tatkräftige Unterstützung des Publikationsvorhabens, und Sascha Liebermann für die kritische Lektüre der Einleitung und die wertvollen Hinweise. Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 7 MAGNIN, JUHASZ UND GAZARETH sind mögliche individuelle Entkoppelungsprozesse zu verstehen – und dies mit für die Gesellschaft desintegrativer Wirkung. Es ist dieser negative Individualismus, der Castel zur Vermutung veranlasst, dass die soziale Frage in Zukunft in verstärktem Ausmaß auf die Agenden nationaler Politik gesetzt werden würde. Dass Erwerbsarbeit und die an sie gekoppelte soziale Sicherung im Laufe der Zeit andere Identitätsstützen wie Familienzugehörigkeit oder Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften allmählich verdrängt haben, führe zu einer zusätzlichen Dramatisierung der Problematik, wie sie sich heute stelle, so Castel (ebd.: 336). In der Literatur bestehen sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, ob, welche und inwiefern die sozialen Auswirkungen aktueller wirtschaftlicher Entwicklungen sich heute schon abzeichnen. Diese Unterschiede in der Einschätzung lassen sich vielfach auf die multiplen Verwendungen des Integrationsbegriffs zurückführen. Es fällt auf, dass für die Definition und den Gebrauch dieses soziologischen Begriffs insbesondere die Sprachgrenze, entlang jener sich die deutsch und französisch sprechenden Forschungsgemeinschaften konstituieren, eine wichtige Rolle spielt. Dies gelangt auch in diesem Buch zum Ausdruck, das mit seinen Beiträgen diese Sprachgrenze überschreitet. Diese unterscheiden sich außer in ihrem Forschungsgegenstand nicht zuletzt aufgrund der ihnen zugrunde gelegten Definitionen von Integration. So werden in dieser Publikation unterschiedliche soziologische Perspektiven auf Integrations- und Desintegrationsprozesse vereint. Allgemein liegt den Aufsätzen die Frage nach den in der Arbeitswelt wirksamen Einschluss- und Ausschlussprozessen zugrunde und somit jene nach der Generierung sozialer Ungleichheit in der Erwerbsgesellschaft. Gemeinsam ist den hier versammelten Beiträgen zudem, dass sie die Analyse von Integrations- und Ausschlussprozessen in der Arbeitswelt stets aus zwei Perspektiven vornehmen: In der Arbeitswelt, konzeptualisiert als einem gewichtigen Ausschnitt sozialer Lebenswelt, sind selbst Integrations- und Desintegrationsprozesse wirksam, deren Verlauf wiederum entscheidend ist für die Wirksamkeit von Ein- und Ausschlussprozessen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Dies führt zugleich auf das Terrain soziologischer Grundfragen wie jenen nach den Prozessen von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung. Im Folgenden wird nun zunächst auf die angesprochenen sozioökonomischen Umwälzungen eingegangen, danach die Bedeutung von Arbeit und Lohnarbeit aus historischer Sicht beleuchtet und zu guter Letzt die Frage von Exklusion und Ausschluss sowie sozialer Integration eingehend erörtert. Im Anschluss daran werden die einzelnen Beiträge kurz vorgestellt. 8 Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 EINLEITUNG Gesellschaftliches Gefüge in Bewegung Wie die national unterschiedlichen Ausprägungsformen sozialer Gefährdungslagen und ihre Diskussionen zeigen, erfolgt die Gestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung weiterhin im nationalen Kontext, obwohl gerade durch sie die Bedeutung nationaler Grenzen vermindert wird: Zwar hat der Abbau von Handelshemmnissen die verstärkte Ausrichtung der wirtschaftlichen Produktion auf internationale Märkte zur Folge, doch auch dies geht letztlich auf Entscheidungen zurück, die im Rahmen des sich innerhalb nationaler Grenzen konstituierenden Rechtsstaats getroffen wurden. Dementsprechend manifestieren sich die Auswirkungen im Rahmen nationaler Ordnungssysteme. Das Subjekt erhält seine Handlungsfähigkeit erst durch die Möglichkeiten und Rechte, mit denen es der Nationalstaat versieht. Rechte der Teilhabe am Wohlstand und der sozialen Sicherheit sind in den einzelnen Rechtsordnungen jedoch formell kaum oder höchstens ansatzweise verankert. Diese sind vielmehr an die kulturelle und durch soziale Sicherungssysteme institutionalisierte Verpflichtung zur Lohnarbeit gekoppelt. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die soziale Sicherung des Individuums auf einem stabilen Anstellungsverhältnis beruht. Doch angesichts der in den letzten zwanzig Jahren gestiegenen Erwerbslosigkeit sind nicht alle potentiell Erwerbstätigen in den Markt integriert. Sowohl ihre Teilhabe am Wohlstand als auch ihre soziale Absicherung werden fraglich. Die sozialen Sicherungssysteme setzen jedoch als Ideal eine Erwerbsbeteiligung aller weiterhin voraus. Als Erwerbsarbeit wird hier jene Form von Betätigung bezeichnet, die der Herstellung von Gütern oder der Erbringung von Leistungen zum Zweck ihres Verkaufs auf dem Markt dient. Lohnarbeit umfasst dagegen nur jenen Teil von Erwerbstätigkeit, die in abhängiger Anstellung ausgeübt wird. Letztere beinhaltet die Überlassung der Nutzung der Arbeitskraft im Tausch gegen Lohn. Durch diese Überlassung, in Verbindung mit der gesellschaftlich institutionalisierten Lohnabhängigkeit, geht stets das Risiko einer übermäßigen Ausbeutung einher. Sind die neuen Formen sozialer Ungleichheit Ausdruck übermässiger Ausbeutung? Trifft dies zu, kann dies die Stabilität gesellschaftlicher Ordnung durchaus gefährden. Es ist jedoch die gleichzeitige Verknappung von Lohnarbeit, und sei dies nur auf Teilarbeitsmärkten, die das gesellschaftlichen Gefüge zum Wanken bringt: Mit einer Verknappung von Erwerbs- und Lohnarbeit droht der westeuropäischen Gesellschaft das Fundament abhanden zu kommen, auf dem sie ruht. Zunehmende Flexibilisierung und Deregulierung der Beschäftigungsverhältnisse müssten nicht zwangsläufig einen Marginalisierungsdruck für die Beschäftigten mit sich bringen, solange alle Erwerbstätigen weiterhin in der Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 9 MAGNIN, JUHASZ UND GAZARETH Lage blieben, ihre Arbeitskraft ihren Vorstellungen entsprechend zu verwerten, unabhängig davon, wie oft sie die Stelle wechseln. Dass dem nicht so ist, geht zurück auf die gleichzeitige Verknappung des Stellengebots in gewissen Bereichen, die allerdings wegen der raschen und durch verschiedene Faktoren verursachten wirtschaftlichen Veränderungen im Voraus nur schwer bestimmbar sind. Für einzelne Kategorien von Beschäftigten kann diese Verknappung indes einen Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt auf Dauer zur Folge haben. Die Angst der Erwerbstätigen, dass genau dies eintrifft, ist genährt davon, dass die „Überzähligen“ für „die Welt nutzlos“ werden, nicht zuletzt deshalb, weil es sich bei dieser Welt um eine Lohnarbeitsgesellschaft handelt (Castel 2000: 337). Wer diese aus dem Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen sind, darüber geben neben entsprechenden Forschungen jeweils die amtlichen Statistiken zu den betroffenen Risikogruppen Aufschluss. Die Europäische Union identifizierte in den 1990er Jahren als in ihren Mitgliedstaaten besonders von Armut bedrohte Gruppen die folgenden: Frauen, Kinder und ältere Menschen, Migrantinnen und Migranten, gering Qualifizierte, Landwirtinnen und Landwirte, Selbstständige und Inhaberinnen und Inhaber kleiner Geschäfte (Europäische Kommission 2002: 48ff.). Gemäß dieser Sozialstatistik spielt bei der Armutsgefährdung die Erwerbsintensität der Haushalte eine entscheidende Rolle (ebd.: 51). Die Ergebnisse variieren zwar je nach Kontext und auch untersuchter Zeitspanne, doch viele der erwähnten Gruppen tauchen in den Untersuchungen als in besonderem Ausmaß von Marginalisierung Bedrohte immer wieder auf. Passend zu den raschen Marktentwicklungen, dem technologischen Wandel und der dadurch möglichen Automatisierung standardisierter Arbeitsabläufe durch Maschinen gestalten sich die neuen Managementkonzepte, wie sie von Luc Boltanski und Eve Chiapello untersucht worden sind (Boltanski, Chiapello 2003). Sie kommen zum Schluss, dass der Kapitalismus die Legitimität neu in der Projektförmigkeit und im Netzwerkcharakter organisierter Arbeit und Produktion findet. Das neue Regime steht in Übereinstimmung dazu, dass in einer hoch technisierten Wissens- und Informationsgesellschaft die Modi wirtschaftlicher Produktion ständigen Veränderungen unterworfen sind. Trotz der in der Ratgeberliteratur enthaltenen Vielfalt an Ansätzen ist ihnen zumindest ein Anliegen gemeinsam: Die Organisationsformen von Lohnarbeit sollten den Unternehmen möglichst große Spielräume belassen. Flexibilität ist alles, Kontinuität zählt wenig (vgl. auch Schultheis in diesem Band). Damit ändern sich auch die Anforderungsprofile für Beschäftigte. An sie werden erhöhte Flexibilitäts- und zeitliche Verfügbarkeitsansprüche gestellt. Konjunkturelle Schwankungen werden durch befristete Anstellungen 10 Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 EINLEITUNG und Leiharbeit aufgefangen. Für die Arbeitskräfte nehmen die Belastungen am Arbeitsplatz zu (Paugam 2000: 35ff. und Paugam in diesem Band). Zur sozialen Verletzbarkeit Die Wiederkehr der arbeitenden Armen und der „Überflüssigen“ werfe am Übergang ins 21. Jahrhundert, so Martin Kronauer, auf neue und zugespitzte Weise das Problem der gesellschaftlichen Ausgrenzung auf (Kronauer 2002: 116). Bezogen auf das gesellschaftliche Problem der Arbeitslosigkeit ist oftmals auch von einer drohenden Spaltung der Gesellschaft die Rede (vgl. Kronauer, Vogel, Gerlach 1994: 229), von „Insidern und Outsidern“ (Zilian 2004) sowie „prekärem Wohlstand“ (Vogel 2004) und einer Ausdehnung einer Zone der Vulnerabilität und Prekarität (Castel 2000: 360ff.). In Frankreich ist die Thematik neben Castel insbesondere auch von Pierre Bourdieu und dessen Forschungsgruppe aufgegriffen worden, dies mit der Studie „Das Elend der Welt“ (Bourdieu 1997), die von Franz Schultheis und Kristina Schulz auch auf die deutschen Verhältnisse bezogen durchgeführt wurde (Schultheis, Schulz 2005). Zeitlich dazwischen liegt eine sich ebenfalls am französischen Vorbild orientierende Studie zum „Ende der Gemütlichkeit“ in der Schweiz (Honegger, Rychner 1998). Im Kontext all dieser Untersuchungen galt es, die durch strukturelle Veränderungen verursachten Konfigurationen sozialen Leidens aufzuspüren. Problematisiert wird die Zunahme der ungleichen Verteilung des in der Gesellschaft produzierten Wohlstandes auch bezüglich ihrer politischen Folgen. Hanspeter Kriesi spricht in diesem Zusammenhang von einem „immer tiefgreifenderen Gegensatz zwischen den Gewinnern des Modernisierungsprozesses und denjenigen, die sich auf der Verliererseite“ befinden (Kriesi 1995: 16f.). Es entstehe ein Konflikt zwischen den Gewinnern in der neuen Mittelklasse und der heterogenen Klasse der Verlierer, die sich dadurch unterschieden, dass die Ersteren eine „genügende Menge von konvertiblen Ressourcen – vor allem ihre professionellen Fähigkeiten und ihr Sachwissen – zur Verfügung haben“, während die Letzteren genau darüber nicht verfügen. Kriesi sieht das Aufkommen des Neokonservatismus nicht als Ausdruck eines Wertewandels, sondern macht dafür viel unmittelbarere Gründe geltend, wie die Immigration, die Beschleunigung der europäischen Integration und die Unfähigkeit der westeuropäischen Regierungen, die wirtschaftlichen und politischen Krisen zu bewältigen (ebd.: 37). Wie die individuelle Verarbeitung und Wahrnehmung des sozioökonomischen Wandels mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus zusammenhängt, zeigen Jörg Flecker und Sabine Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 11 MAGNIN, JUHASZ UND GAZARETH Kirschenhofer am Beispiel Österreichs auf, wo die Lücke im Deutungsangebot der etablierten Parteien zum Aufstieg des Rechtspopulismus beigetragen habe (Flecker, Kirschenhofer 2007). Diese Lücke werde insbesondere verursacht durch die mangelnde öffentliche Wahrnehmung von Problemlagen. Mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus gehen neue Formen der Stigmatisierung sozial Benachteiligter einher. Die Benachteiligten werden zur Projektionsfläche nicht zuletzt deshalb, weil Erwerbsarbeit durch die Verknappung ihres Angebots selbst zum Erfolgskriterium wird. Dies bildet den Hintergrund für die Stilisierung von Arbeitslosigkeit als persönlichem Misserfolg: Wichtiger noch als der ausgeübte Beruf wird für die Erlangung eines sozialen Status und für die Anerkennung, ob es jemandem gelingt, die eigene Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu verwerten. Die Individualisierung im Grunde strukturell bedingten Unglücks, wie es Erwerbslosigkeit typischerweise darstellt, wird durch die Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme und die aktivierungspolitischen Ausprägungen einer aufgezwungenen Integrationsförderung noch bestärkt. Aktivierung und „Employability“ (dt. Beschäftigungsfähigkeit) sind die politischen Schlagworte und die darauf ausgerichteten Praktiken von Sozialbehörden, die implizieren, dass der erfolgreiche Verlauf der beruflichen Laufbahn und die Integration in den Arbeitsmarkt ausschließlich eine Frage individuellen Willens und individueller Fähigkeiten ist (vgl. Lødemel, Trickey 2000; Maeder, Nadai 2005; Magnin 2005). Auf diese Weise wird nicht nur die einstige, historisch indessen überholt geglaubte Unterscheidung in „würdige“ und „unwürdige“ Arme wieder eingeführt. Darüber hinaus erlaubt die Individualisierung im Grunde strukturell verursachten Unglücks, wie dies Erwerbslosigkeit in einer Erwerbsgesellschaft schon fast idealtypisch darstellt, national organisierter Politik, am nicht realisierbaren Ideal von Vollbeschäftigung festzuhalten, obwohl die Arbeitslosenzahlen längst als Hinweise darauf zu deuten sind, dass nicht alle, die möchten, Gelegenheit haben, einem durch den Markt vermittelten Erwerb nachzugehen. In der aktuellen aktivierungspolitischen Optik wird die Integrationsfrage verkürzt auf die individuelle Förderung der Partizipation am Arbeitsmarkt, was sich zugleich als eine ausschließlich auf Erwerbsarbeit konzentrierende Leistungsethik ausdrückt, die hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausrichtung jedoch selbst einem Wandel unterworfen ist. Was diesen Wandel anbelangt konstatiert beispielsweise Sighard Neckel eine Bedeutungsverschiebung vom Leistungs- hin zum Erfolgsprinzip (Neckel 2001). Das unternehmerische Selbst wird zur ideologischen Leitfigur, die Marktintegration und damit gesellschaftliche Integration der Lohnarbeitsgesellschaft gewährleisten soll. Dass diese Ideologie und die durch sie formulierten kulturellnormativen Anforderungen an das Handeln letztlich an die Stelle der die 12 Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 EINLEITUNG Industriegesellschaft prägenden Arbeitsdisziplin treten und was dies bedeutet, beschreibt Heinz Steinert: „Was uns als Flexibilisierung angetragen wird, ist tatsächlich ein enormer Schub an Normierung und Standardisierung unter dem verschärften Druck von Konkurrenz und den zugehörigen Ängsten, die bewältigt werden, indem wir andere in der Hoffnung ausschliessen (lassen), dass wir dadurch selbst diesem Schicksal entgehen. Wir müssen uns zusätzlich die Normierung selbst antun und unsere Standardisierung selbst managen – nicht ohne Beratung, versteht sich, von der wir umstellt sind und von der wir gewöhnlich die Normen erst vermittelt bekommen, denen wir mit ihrer Hilfe gerecht werden sollen.“ (Steinert 2005: 47) Die an die Arbeitskraft gestellten Anforderungen sind einem Wandel unterworfen, das Ziel, das mit der Anpassung an diese Anforderungen erreicht werden soll, bleibt sich gleich: die individuelle Integration in den Arbeitsmarkt. Die kulturelle Bedeutung von Erwerbsarbeit Historisch besehen war Arbeit keineswegs immer nur ein Mittel, um sich der Anerkennung der Gemeinschaft zu versichern. Dass sie den Menschen lange über den Zeitraum des früheren Christentums hinaus nur als Mühsal und Plage galt, verdeutlicht insbesondere die etymologische Bedeutung des Begriffs „Arbeit“, dies nicht nur in der deutschen Sprache, sondern auch im Französischen, im Spanischen und Portugiesischen. Im Deutschen geht „arbeiten“ auf ein Verb zurück, das „verwaist sein, ein zu schwerer körperlicher Tätigkeit verdingtes Kind sein“ bedeutet, was im Niederhochdeutschen auf eine schwere körperliche Anstrengung verwies und auch mit Unwürdigkeit in Verbindung stand. Unwürdig war zunächst auch Lohnarbeit. Noch heute zitiert man in Bern den Ausspruch einer stadtbekannten und einer dem Adelsstand angehörenden Frau, genannt „Madame de Meuron“, die zwecks der Verortung von Menschen innerhalb der sozialen Hierarchie folgenden kernigen Satz geprägt haben soll: „Sind Sie jemand oder beziehen Sie Lohn?“ (Syt der öpper oder nämet der Lohn?). Dieser Ausspruch amüsiert nicht zuletzt deshalb, weil er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geäußert wurde, als selbst der Lohnarbeit nichts Anrüchiges mehr anhaftete. Im Gegenteil: Die zum Zweck des Erwerbs ausgeübte berufliche Tätigkeit verbürgte einen gewissen Status, sicherte dem berufstätigen Individuum eine gesellschaftliche Position. Im Unterschied zum Status des Adels galt diese Position aufgrund ihrer Erarbeitung mittels Anstrengung und Leistung als verdientermaßen erworben. Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 13 MAGNIN, JUHASZ UND GAZARETH Hannah Arendt erklärt sich den Aufstieg der Arbeit „von der untersten und verachtetsten Stufe zum Rang der höchstgeschätzten aller Tätigkeiten“ mit John Lockes Entdeckung der Arbeit als einer Quelle des Eigentums (Arendt 1999: 119f.). Sozialphilosophen und Nationalökonomen werteten die Arbeit auf „zum Kern menschlicher Existenz und Selbstverwirklichung“, sagt auch der Historiker Jürgen Kocka, was zu ihrer Zeit im eklatanten Widerspruch zur äußerst beengten, mühseligen und harten, ständisch differenzierten, jedoch zunehmend die ständische Ordnung sprengenden Praxis der Arbeit auf dem Feld und im Haus, in Werkstätten und auf Baustellen gestanden habe (Kocka 2000: 478). Im selben thematischen Kontext weist Arendt auf einen unauflösbaren Widerspruch in den Schriften von Marx hin, wie er zweitrangigen Autoren nicht unterlaufen würde, bei den „grossen Autoren“ jedoch in den Mittelpunkt ihres Werkes führt (Arendt 1999: 123). Für Arendt besteht der eklatante Widerspruch darin, „dass Karl Marx in allen Stadien seines Denkens davon ausgeht, den Menschen als ein Animal laborans zu definieren, um dann dies arbeitende Lebewesen in eine ideale Gesellschaftsordnung zu führen, in der gerade sein grösstes und menschlichstes Vermögen brachliegen würde“ (ebd.). In Abgrenzung zu Marx differenziert Arendt deshalb zwischen Arbeit als für das Überleben notwendigen Tätigkeiten und dem Herstellen bleibender Werte, die der Sinnstiftung dienen. Zum kulturellen Aufstieg von Arbeit und Lohnarbeit trug bekanntlich auch die vorgängige Herausbildung einer protestantischen Ethik bei, wie sie Max Weber in seinen religionssoziologischen Studien rekonstruierte (Weber 1988). Aufgrund der protestantischen Heilslehre wurde Berufsarbeit vollends zum Selbstzweck und zwar als Mittel, sich die göttliche Gnade zu verdienen, wie dies im Luther’schen Berufsgedanken (ebd.: 63ff.) zum Ausdruck gelangt. Dadurch blieb „die Tätigkeit, zu der Gott berufen hatte“, nicht mehr länger für die ständisch Privilegierten reserviert, sondern umfasste auch die profane Lebensbewältigung durch Arbeit, wie Ulrich Oevermann schreibt (Oevermann 2001: 98). Doch insbesondere der Kalvinismus, der laut Weber den Geist des Kapitalismus in seiner reinsten Form verkörperte, trug durch das Ausbleiben einer Heilsvergewisserung entscheidend zur Ausformung einer auf die innerweltliche Askese ausgerichteten, methodischen Lebensführung bei (Weber 1988: 84ff). Weber hat mit seinen religionssoziologischen Studien ein Verständnis des Kapitalismus als bestimmten kulturellnormativen Handlungsprinzipien verpflichtete Wirtschaftsordnung geschaffen. Durch die Verallgemeinerung des Luther’schen Berufsgedankens und der kalvinistischen Ethik wurde die berufliche Tätigkeit zu einem Mittel individueller Bewährung. Dieses Mittel und damit auch die Bewährung des Individuums werden durch die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft selbst auf 14 Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 EINLEITUNG die Probe gestellt. Was passiert, wenn Individuen aufgrund ihres Ausschlusses aus der Arbeitswelt nicht mehr über diese Möglichkeit der Bewährung verfügen, wofür Luthers Berufsethik den Grundstein legte? Wie kann lebenspraktisch Sinn gestiftet werden, wenn das berufliche Feld dem eigenen Betätigungswunsch verschlossen bleibt? Oevermann ist überzeugt, dass die „ästhetische Erfahrung, und damit einhergehend die Basis von authentischer Darstellung, die gelungene künstlerische Synthesis von Form und Inhalt“ stattdessen ins Zentrum der Stiftung lebenspraktischen Sinns rücken wird (Oevermann 2001: 37f.). Einen solchen, für die Gemeinschaft verbindlichen Bewährungsmythos bilden jene Subjekte heraus, die sich vom allem übergeordneten Ziel einer individuellen Arbeitsmarktintegration lösen und alternative Formen der Selbstbetätigung, die letztlich der Gemeinschaft dienen, entwickeln. Eine Verallgemeinerung einer entsprechenden Lebensführung würde die Loslösung der Sicherung der materiellen Existenz von Lohnarbeit erfordern, die Auseinanderdividierung jener Verknüpfung also, wie sie für die Entstehung der modernen Lohnarbeitsgesellschaft konstitutiv war (Castel 2000). Solange eine Lebensweise unabhängig von Lohnarbeit institutionell nicht ermöglicht wird, zum Beispiel durch die Einführung eines Grundeinkommens in ausreichender Höhe, bleibt der Weg aus strukturellen Gründen versperrt, sich alternative Betätigungsfelder zu suchen, die ausserhalb von Erwerbs- und Lohnarbeit zum Wohl der Gemeinschaft beitragen würden. Was die Gesellschaft zusammenhält Gesellschaftliche Integration ist keineswegs nur eine Frage der Möglichkeit zur Erwerbsbeteiligung. Solidarisches Handeln kann sich auch auf Formen der Betätigung für das Gemeinwohl beziehen, das Gemeinwesen ist auf unentschädigtes, bürgerschaftlich-politisches Engagement dringend angewiesen. Doch nicht die Wahrnehmung politischer Teilhabemöglichkeiten und die Gewährung politischer Rechte stehen im Fokus dieses Sammelbands, sondern die sich mit der Durchsetzung des Kapitalismus und der Verallgemeinerung von Lohn- und Erwerbsarbeit als institutionell vorgesehenem Mittel zur Sicherung der materiellen Existenz konstituierende Arbeitswelt als eigenständige Sphäre sozialen Lebens. Die sozialen Folgen des ökonomischen Strukturwandels, wie sie beschrieben wurden, führen zu Erscheinungen, die aktuell unter dem Begriff „Exklusion“ subsumiert werden. Der in diesem Zusammenhang verwendete Exklusions-Begriff bezieht sich im Unterschied zur systemtheoretischen Lesart auf einen auf verschiedene Gruppen und auch einzelne Individuen bezogenen Ausschlussprozess von gesellschaftlichen Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 15 MAGNIN, JUHASZ UND GAZARETH Teilhabemöglichkeiten (vgl. Kronauer 2002). Exklusion bezeichnet eine neue soziale Frage, die sich laut Kronauer auf zugespitzte Weise neu als „Problem der Teilhabe an (bzw. des Ausschlusses von) den gesellschaftlich realisierten Möglichkeiten des Lebensstandards, der politischen Einflussnahme und der sozialen Anerkennung“ stellt (Kronauer 2002: 11) und damit zur Metapher der aktuellen sozialen Transformationen wird (ebd.: 32). Die Verwendung des Exklusions-Begriffs stellt den Versuch dar, klassische Themen der Soziologie wie Armut und Arbeitslosigkeit unter einem neuen gesellschaftstheoretischen Blickwinkel zu betrachten, der den aktuellen Entwicklungen gerecht zu werden vermag und damit auf neue gesellschaftliche Problemlagen verweist (vgl. Kronauer und Schnapper in diesem Band und als Überblick zur Diskussion auch Bude, Willisch 2006). Inwiefern wird diese neue soziale Frage zum Prüfstein der Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft? Eine Gesellschaft als eine integrierte zu bezeichnen, bedeutet zunächst, dass normative Handlungskonzepte die in ihr stattfindenden Prozesse in geordneten Bahnen verlaufen lassen, weshalb das soziale System nicht auseinander fällt. Durch die Anerkennung der Gültigkeit der Normen bindet sich das Individuum an die gesellschaftliche Ordnung und die in ihr wirksamen Prinzipien. Es handelt sich dabei um Prozesse der Angleichung und Differenzierung, die auf einer dem Einzelnen übergeordneter Ebene verbindlicher Wertvorstellungen und -strukturen bedürfen, damit sich gesellschaftliche Ordnung konstituieren kann. Diese wechselseitigen Prozesse des Ausgleichs, unter den permanenten Bedingungen ihres Wandels, werden in der aktuellen politischen Verwendung des Integrationsbegriffs wie beschrieben verkürzt auf die individuelle Bereitschaft von Betroffenen, sich in das bestehende Ganze einzugliedern, das nicht zuletzt als ein undynamisches starres Gebilde vorgestellt wird. Es ist dieser Integrationsbegriff, der den politischen Diskurs heute prägt, dies insbesondere im Zusammenhang mit der Einführung von Instrumenten aktivierender Sozialpolitik und migrationspolitischen Fragen. Integration bezeichnet soziologisch gesehen nicht nur einen Prozess, sondern verweist zugleich auf normativ-diskursive Bezugspunkte, deren historisch spezifische Ausgestaltung über die Zugehörigkeit und Teilhabe von sozialen Gruppen entscheidet. Inwiefern Ausschlussmechanismen im Einzelnen wirksam sind oder eine Gesellschaft als integrierte bezeichnet werden kann, ist stets in Abhängigkeit zu den jeweiligen gesellschaftlichen Normensystemen zu betrachten, die den Zugang zu Ressourcen und die Partizipationsmöglichkeiten letztlich strukturieren respektive ihrer politischen Regulierung zu Grunde liegen. Letzteres steht im Fokus einer konstruktivistischen und auch diskurstheoretischen Sichtweise, wie sie vielfach die im deutschsprachigen Raum durchgeführten empirischen Arbeiten 16 Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 EINLEITUNG theoretisch anleitet. Hier werden Integrations- und Ausgrenzungsprozesse als solche der Fremd- und Selbstzuschreibung analysiert oder in Anlehnung an die Arbeiten Michel Foucaults als Macht ausübende Diskurse konzeptualisiert, wie dies zum Beispiel bei den von Stephan Lessenich im Buch „Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe“ veröffentlichten Beiträgen der Fall ist (Lessenich 2003: 11ff.). Anders in der französischen Tradition soziologischer Forschung, in der die integrierte Gesellschaft in Anschluss an Emile Durkheim und dessen Studie zur Transformation gesellschaftlicher Arbeitsteilung (Durkheim 1988) selbst normativer Bezugspunkt ist und zwar insofern, als Abweichungen als Anomien und pathologische Formen sozialen Lebens begriffen werden. Ausgehend von dieser französischen Lesart sind es solche Abweichungen, die den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft bedrohen. In diesem Zusammenhang sind auch die im französischen Kontext mit dem Begriff „Exklusion“ bezeichneten Phänomene zu sehen (vgl. Schnapper in diesem Band). Dieser Deutung zufolge ist es letztlich ein Mangel an gesellschaftlicher Solidarität, der die gesellschaftliche Integration gefährdet. Integration und Ausschluss werden als auf realen Erfahrungen gründende Phänomene begriffen, die in ihrer Historizität zu deuten und somit als der Veränderbarkeit unterliegend zu analysieren sind. Die verschiedenen Ausdrucksformen von Exklusionsprozessen werden als maßgeblich bestimmt durch institutionelle Regulierungen einerseits, anderseits die Wahrnehmung und Weltauslegung der Handelnden begriffen, die analytisch je für sich genommen zu betrachten sind: Die Selbstdeutung der Handelnden muss keineswegs dem Phänomen entsprechen und umgekehrt: Ein tatsächlich stattfindender Exklusionsprozess, im Sinne eines Ausschlusses aus Teilhabemöglichkeiten, braucht nicht zwingend ins Bewusstsein der Betroffenen zu gelangen. Mit der Diskussion der erwähnten Aspekte soll dieses Buch einen Beitrag zu einem besseren Verständnis dieser Prozesse leisten, wie sie sich im Bereich von Beschäftigung und Arbeitswelt vollziehen. Mit solchen Prozessen befassen sich sämtliche der in diesem Buch publizierten Beiträge, sowohl die beiden vorangestellten Beiträge von Dominique Schnapper und Martin Kronauer, bei denen es sich um theoretische Erörterungen des Themas handelt, wie auch die Beiträge, in denen auf empirischer Basis gewonnene Forschungsergebnisse präsentiert werden. Übersicht über die Beiträge zum vorliegenden Band Die folgenden theoretischen und empirischen Beiträge beleuchten die Thematik von Integration und Ausschluss in der Arbeitswelt und dadurch herGazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 17 MAGNIN, JUHASZ UND GAZARETH vorgerufene spezifische Entwicklungen in einzelnen europäischen Ländern. Die Beiträge aus Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz beziehen sich dabei auf unterschiedliche Aspekte aktueller Veränderungen: so auf die Prekarisierung von Lohnarbeit, den Zugang zum Recht atypisch Beschäftigter, die gewerkschaftliche Organisation von Solo-Selbstständigen, die selbstständige Erwerbstätigkeit von Migrantinnen und Migranten. Die Idee zu diesem Buch entstand ausgehend von im Rahmen des Schweizer Forschungsprogramms NFP 51 „Integration und Ausschluss“ (www.nfp51.ch) durchgeführten Projekten. Bei denjenigen Beiträgen, die sich auf die Schweiz beziehen, handelt es sich mit Ausnahme von Franz Schultheis’ Beitrag um die Präsentation von Untersuchungsergebnissen, die im Rahmen dieses Forschungsprogramms gewonnen wurden. Die Schweiz ist in Bezug auf die zu diskutierende Entwicklung insofern ein interessantes Beispiel, als es sich um ein früh industrialisiertes Land mit einer von Beginn weg am internationalen Markt ausgerichteten Industrie (Textil, Uhren, Maschinen) handelt, das heute über einen besonderen, das heißt sich von den Internationalisierungstendenzen abhebenden institutionellen Kontext verfügt. Obwohl die Schweiz nicht Mitglied der Europäischen Union ist, ist die Ausrichtung der Wirtschaft, insbesondere auch des florierenden Bankensektors, weiterhin sehr international ausgerichtet. Und auch in der Schweiz gibt es zunehmend mehr Verlierer, werden desintegrierende Tendenzen aufgrund wirtschaftlicher Entwicklungen sichtbar. Gerade weil in der Schweiz so lange Zeit Vollbeschäftigung und Arbeitsfrieden zur Normalität gehörten, ist es interessant und wichtig, diese neuen Desintegrationstendenzen zu untersuchen. Die ersten beiden Beiträge nähern sich der Thematik von Integration und Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt aus theoretischer Perspektive an. Im Beitrag von Dominique Schnapper wird in der Tradition der französischen Soziologie ausgeführt, dass mit der Thematik der sozialen Integration und der Exklusion eine genuin soziologische Fragestellung angesprochen ist, nämlich jene, wie soziale Beziehungen aufrechterhalten oder gestärkt werden können in Gesellschaften, die auf der Souveränität des Individuums gründen. Ob es sich bei den beobachteten sozialen Phänomenen um die Problematik der Integration der Kinder von Migrantinnen und Migranten handelt oder um Armut und Prekarisierung aufgrund des Ausschlusses von der Arbeitswelt – bei beiden Problemen stellt sich, so Schnapper, die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, nach der Integration von Individuen in die Gesellschaft und der Integration der Gesellschaft. Die Autorin betont, dass jede soziale Organisation, handle es sich nun um die Familie oder die Nation, definitionsgemäß mit der Integration gewisser Personen und der Exklusion 18 Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 EINLEITUNG anderer einhergehe. Zu untersuchen gelte es deshalb nicht die Exklusion als solche, sondern vielmehr die spezifischen Formen, welche die Prozesse von Exklusion und Inklusion in modernen demokratischen Gesellschaften annehmen. Martin Kronauer schließt mit seinen Ausführungen an die französische Diskussion an, ergänzt jedoch im Unterschied zu Schnapper das Konzept der Integration in angelsächsischer Tradition um das Element der Integration im Sinne von citizenship. Integration bedeutet für ihn somit nicht nur Interdependenz, d.h. die Einbindung in die formalisierten Wechselbeziehungen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und in die Reziprozität informeller Nahbeziehungen, sondern auch Partizipation, d.h. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben entsprechend allgemein anerkannter Standards, vermittelt über Bürgerrechte. Kronauer führt aus, wie sich durch den Auf- und Ausbau moderner Wohlfahrtsstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg die institutionelle Einbindung der Bevölkerung und ihre Teilhabemöglichkeiten verändert haben, wobei die Vollbeschäftigung eine der Voraussetzungen bildete, auf deren Hintergrund sich die persönlichen, politischen und sozialen Rechte ausbilden konnten. Angesichts dessen, dass die zentrale Säule der Erwerbsarbeit brüchig wird, stellt sich die Frage, wie sich die soziale Eingliederung in Bezug auf die Partizipation über den Bürgerstatus, die Interdependenzen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und die Reziprozitätsverhältnisse sozialer Verwandtschaftsbeziehungen und Bekanntschaften verändern und welche Zusammenhänge zwischen diesen Ebenen bestehen. Kronauer plädiert dafür, Exklusion und Ausgrenzung sowohl als Prozess- wie als Zustandskategorien zu verstehen und den Blick nicht auf Randgruppen, sondern auf das gesellschaftliche Zentrum zu lenken, wo über Integration und Exklusion entschieden wird. Die Analyse von Exklusion ist nach Kronauer zudem eine Gesellschaftsanalyse, denn die gegenwärtigen Veränderungen durchdringen das gesellschaftliche Leben insgesamt. Der Umstand, dass sich die Folgen der Exklusion auf verschiedene Weise und sozialstrukturell ungleich bemerkbar machen, kann die Exklusionsgefahr verschärfen, da aus dem Kampf um Ressourcen neue Ausgrenzungen und Ungleichheiten resultieren. Gerade deshalb muss, so kann nach Kronauer gefolgert werden, Ausgrenzung als Ausgrenzung in der Gesellschaft und damit als besonderes Ungleichheitsverhältnis verstanden werden. In den darauf folgenden Beiträgen werden empirische Untersuchungen über verschiedene Aspekte von Integration und Ausschluss vom und auf dem Arbeitsmarkt dargestellt. Ausgangspunkt des Beitrags von Franz Schultheis bildet die Diagnose, wonach wir heute in einer Zeit massiver wirtschaftlicher, sozialer und kultuGazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 19 MAGNIN, JUHASZ UND GAZARETH reller Umbrüche leben, die mit grundlegenden Veränderungen der normativen Veränderungen an den Arbeitnehmer einhergehen. Diesen gesellschaftlichen Wandel und seine Folgen für die betroffenen Menschen beleuchtet der Autor anhand einer empirischen Untersuchung der Veränderungen in einem weltbekannten Schweizer Unternehmen, das im Gefolge einer zweifachen Fusion rund 4.000 Mitarbeiter „freigestellt hat“. Wie Schultheis ausführt, erweisen sich das Geschlecht, die Familiensituation, das Alter, aber auch das kulturelle Kapital in Form von schulischen und universitären Diplomen als entscheidende Selektionskriterien. Gefragt ist zudem nicht mehr, sich treu an ein Unternehmen zu binden und sesshaft zu sein. Die idealtypische Verkörperung des employable man repräsentiert vielmehr der höchst flexible und mobile Unternehmer seiner selbst, der „Homo McKinnseyanus“, der genug Selbstvertrauen in den eigenen Marktwert hat, „um auch bei kurzfristigen Anstellungen keine Existenzangst zu bekommen“. Der Umstand, dass der „employable man“ sein ganzes Leben dem Diktat des Arbeitsmarktes unterwirft, lässt allerdings die Frage aufkommen, inwiefern dadurch seine Integration in andere Teilsysteme der Gesellschaft gefährdet wird und inwiefern er beispielsweise noch Bürgerpflichten nachkommt. Die „unemployable men“, deren Möglichkeitsräume viel geringer sind, bilden laut Schultheis die Negativfolie zum „employable man“. Zwischen deren verinnerlichten Erwartungen und im Sozialisationsprozess angeeigneten Dispositionen und den objektiven gesellschaftlichen Strukturen diagnostiziert Schultheis ein Auseinanderklaffen, das zu einer Quelle gesellschaftlichen Unbehagens und Leidens der betroffenen Individuen werde. Schultheis zufolge drängt sich Durkheims Konzept der Anomie auf, um die Konsequenzen dieser Dissonanzen zu beschreiben. Dass Prekarisierung sich allerdings nicht nur bei ökonomischer Unsicherheit findet, sondern auch dann, wenn die eigene Arbeit nicht als befriedigend und sinnvoll erlebt wird, bildet den Ausgangspunkt des Beitrags von Serge Paugam. Er beschäftigt sich mit dem Konzept der sozialen Disqualifikation und fragt danach, inwiefern es angewendet werden kann, um die Lebensbedingungen prekär Beschäftigter zu analysieren. Auf der Basis einer empirischen Untersuchung in französischen Unternehmen beschreibt der Autor zunächst die strukturellen Faktoren der doppelten Prekarisierung der Lohnabhängigen. Zwar habe, so Paugam, die Autonomie der Beschäftigten zugenommen und der Anspruch an eine Selbstverwirklichung durch die Arbeit sei gestiegen, gerade deshalb seien aber auch die Risiken gewachsen, dass man diesen Anforderungen nicht mehr genügen könne und innerhalb eines Unternehmens oder auf dem Arbeitsmarkt zurückgestuft werde. Wie Paugam weiter ausführt, ergeben sich verschiedene negative Effekte der prekären Formen 20 Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 EINLEITUNG beruflicher Integration, die sich in ähnlicher Form auch bei Arbeitslosen beobachten lassen. Entscheidend ist aber, dass die prekär Beschäftigten den Eindruck haben, nicht mehr als Teil der „normal Beschäftigten“ anerkannt zu werden, womit sie eine grundlegende Disqualifizierung ihrer Fähigkeiten erleben. Darin erkennt Paugam den gleichen Prozess der Disqualifizierung wie bei Arbeitslosen, was wiederum auf neue Ungleichheiten unter den Beschäftigten verweist. Pascale Gazareth, Malika Wyss und Katia Iglesias knüpfen an Paugams Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen von Integration bei der Arbeit bzw. prekärer Beschäftigung an und untersuchen anhand einer quantitativ-empirischen Analyse die Faktoren, die das Risiko der Armut trotz Beschäftigung in der Schweiz beeinflussen. In ihrem Beitrag geht es ihnen somit darum, die Zusammenhänge zwischen neuen Formen von Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt und Armut zu beleuchten. Die Autorinnen berücksichtigen dabei auch qualitative Aspekte der prekären Beschäftigung und verfolgen eine dynamische, prozessorientierte Perspektive. Die Auswertungen zeigen, dass die Qualität der beruflichen Integration das Armutsrisiko der Betroffenen tatsächlich beeinflusst, wobei eine „Hierarchie der Risiken“ beobachtet werden kann. In Einklang mit Befunden von Paugam oder auch Kraemer ist das Ergebnis der Autorinnen, dass Unzufriedenheit bei der Arbeit das Armutsrisiko auch dann beeinflusst, wenn keine Instabilität bzw. Unsicherheit der Beschäftigung vorliegt. Überraschend ist, dass zwischen Männern und Frauen keine Unterschiede in Bezug auf den Zusammenhang zwischen prekärer Beschäftigung und Armut bestehen, sondern nur in Bezug auf die Art und Weise, wie sich die prekäre Beschäftigung auf das Leben der Betroffenen auswirkt und mit welchen weiteren Faktoren sie korreliert. Die Ergebnisse zeigen schließlich auch, dass von prekärer Beschäftigung jene Gruppen am meisten betroffen sind, die auch unter den Arbeitslosen überproportional vertreten sind: Junge, Ausländerinnen und Ausländer, Personen mit geringer Ausbildung und Alleinerziehende. Dies verweist nach Ansicht der Autorinnen darauf, dass neue Ungleichheiten und neue Polarisierungen innerhalb der Beschäftigten entstehen, was die soziale Kohäsion der Gesellschaft bedroht, die nach wie vor um den Wert der Arbeit zentriert ist. Zu hinterfragen sei daher, inwiefern die Arbeit heute noch ihre integrative Funktion zu erfüllen imstande sei und welche Lösungen die Gesellschaft für jene bieten könne, die heute zu den „Überzähligen“ gehören. Ob und inwiefern allerdings der Zusammenhang von Prekarisierung der Arbeit und sozialer Desintegration tatsächlich plausibel begründet ist – dieser Frage geht Klaus Kraemer in seinem Beitrag nach. Auf der Grundlage einer eigenen Untersuchung beschreibt er zunächst zwei Typen von Beschäftigten, Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 21 MAGNIN, JUHASZ UND GAZARETH bei denen die Sicherheitserwartungen bezüglich ihrer Erwerbsarbeit prekär geworden sind: die Verunsicherten und die Gefährdeten. Die Beschreibung dieser beiden Typen macht deutlich, dass eine trennscharfe Unterscheidung von prekären und nicht-prekären Arbeitsverhältnissen dadurch erschwert wird, dass instabile Erwerbslagen sowohl verunsichernd als auch disziplinierend auf noch geschützte Normalarbeitsverhältnisse zurückwirken. Zudem, so Kraemer, ist eine eindeutige Zuordnung von Integrations- und Desintegrationsprozessen zu unterschiedlichen Zonen, wie es Castel postuliert, wenig sinnvoll, wenn die subjektiven Deutungsmuster unterschiedlicher Beschäftigtengruppen berücksichtigt werden. Kraemer schlägt vor, von einem Integrations-Desintegrationsparadoxon zu sprechen, wenn ein und derselbe Prozess mit gegenläufigen Tendenzen innerhalb einer Zone oder zwischen den Zonen der Arbeitsgesellschaft einhergeht. Vor diesem Hintergrund postuliert Kraemer, dass mit der Zurückdrängung regulärer und der Ausbreitung prekärer Beschäftigungsformen nicht einfach desintegrative Effekte verbunden sind, sondern vielmehr ein grundlegender Wandel des arbeitsweltlichen Integrationsmodus verbunden ist, der als eine Umstellung des Integrationsmodus von Teilhabe und Partizipation auf Disziplinierung und Folgebereitschaft beschrieben werden kann. Prekarisierung kann daher, so Kraemer, nicht mit sozialer Desintegration gleichgesetzt werden. Umgekehrt können sowohl Desintegrationserfahrungen als auch Anpassungsleistungen spezifische Integrationsnormen hervorrufen. Kraemer plädiert daher dafür, die Prekarisierungsproblematik nicht auf eine bestimmte Gruppe von „Prekarisierten“ zu beschränken, sondern die Aufmerksamkeit auf den Wandel sozialer Integrationsmodi zu richten, der gerade durch die Prekarisierung von Erwerbsarbeit hervorgerufen werde. Der Artikel von Peter Böhringer, Sandra Contzen, Michael Nollert und Alessandro Pelizzari kann im Anschluss daran gelesen werden als ein Beitrag zur Frage, inwiefern die zunehmend fehlende integrative Funktion der Arbeit durch Absicherungen durch das Recht kompensiert oder abgefedert werden kann. Im Zentrum ihres Artikel steht nämlich die Problematik des Gebrauchs von und des Zugangs zum Recht atypisch Beschäftigter in der Schweiz. Die Autoren und die Autorin fokussieren dabei auf drei atypische Arbeitsverhältnisse: auf Heimarbeit, internationale Arbeitsverhältnisse und auf Schwarzarbeit. In einem ersten Teil ihres Beitrags beschreiben Böhringer et al. auf der Grundlage einer von ihnen durchgeführten Online-Befragung, dass der allgemeine arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Schutz von Expertinnen und Experten auf diesem Gebiet für ungenügend erachtet wird, wobei die Situation atypisch Beschäftigter als deutlich unsicherer eingeschätzt wird als jene der Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnissen. Im 22 Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 EINLEITUNG zweiten Teil ihres Beitrags untersuchen Böhringer et al. anhand von Tiefeninterviews, welche Faktoren die Zugangschancen zum Arbeits- und Sozialversicherungsrecht prägen und wie sich die unterschiedlichen Chancen in individuellen Erwerbsoptionen niederschlagen. Die ausgewählten Fallbeispiele machen deutlich, dass bei einer Kumulation von strukturellen und individuellen Defiziten sowie institutionellen Barrieren der Zugang zum Recht erschwert ist. Die Folgen sind ein hohes Prekaritätsrisiko, starke Ausbeutung und im Extremfall der Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt. Der Beitrag von Böhringer et al. zeigt auf, dass ein Ausbau des gesetzlichen Schutzes atypisch Beschäftigter zur Überwindung von Ausgrenzungsrisiken nicht ausreichend ist, da die größte Hürde im Rechtszugang die Wahrnehmung des Rechts als Ressource darstellt. Nötig wären nach Meinung der Autoren und der Autorin daher nicht neue Rechtsnormen, sondern die Behebung struktureller Barrieren beim Zugang zum Recht und individueller Defizite. Auch Georg Adam und Susanne Pernicka beschäftigen sich in ihrem Beitrag in einem gewissen Sinn mit der Absicherung atypisch Beschäftigter, nämlich mit der spezifischen Situation Solo-Selbstständiger und deren kollektiver Interessenvertretung am Beispiel der Erwachsenenbildung in Österreich. Der Autor und die Autorin gehen von der Tatsache aus, dass die Förderung des „lebenslanges Lernens“ in Österreich zwar einen Beschäftigungsboom bei den Dozentinnen und Dozenten herbeigeführt hat, deren Integration in den ersten Arbeitsmarkt als überwiegend Solo-Selbstständige oder Scheinselbstständige aber prekär ist. Adam und Pernicka fragen angesichts dessen in ihrem Beitrag danach, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen die überwiegend solo-selbstständig Beschäftigten in der berufsbezogenen Erwachsenenbildung eine gewerkschaftliche Organisationsbereitschaft aufweisen. Es zeigt sich, dass diese Organisationsbereitschaft relativ klein ist, wofür verschiedene Faktoren auf der Makro-, Meso- und Mikroebene verantwortlich sind. Aufschlussreich ist das Ergebnis, wonach neben fehlender berufsfachlicher Regulierung der Erwachsenenbildung und der Konkurrenz unter den Dozentinnen und Dozenten auch die Konkurrenz zwischen Stammbelegschaft und Solo-Selbstständigen sowie eine Fehldeutung der Bedarfe vieler Solo-Selbstständiger ein Hindernis zur gewerkschaftlichen Organisierung und Mitgliedschaft darstellen. Letztlich führt, so kann gefolgert werden, die nach wie vor bestehende Orientierung an unselbständiger Arbeit als Normalarbeitsverhältnis dazu, dass der prekären Situation Solo-Selbstständiger durch ihre fehlende gewerkschaftliche Organisierung nichts entgegengehalten werden kann und sich die Individualisierung struktureller Veränderungen auch auf dieser Ebene reproduziert. Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 23 MAGNIN, JUHASZ UND GAZARETH Die individuelle Bearbeitung struktureller Veränderungen und deren Folgen steht denn auch im Zentrum des Beitrags von Chantal Magnin und Simone Suter. Sie beschäftigen sich mit der Frage, wie angesichts der Flexibilisierung von Arbeitsbeziehungen und der Auflösung standardisierter Erwerbs- und Karrieremuster die damit einhergehenden Unsicherheiten und davon verursachten Probleme bewältigt werden. Den Autorinnen ist es dabei ein Anliegen, nicht nur die subjektiv verfolgten Handlungsabsichten zu untersuchen, sondern auch die daraus resultierenden Konsequenzen, um deutlich zu machen, was sich prekär Beschäftigte vom angestrebten Gelingen einer Integration in den Arbeitsmarkten erhoffen und was es für die Gesellschaft bedeutet, wenn diesen Erwartungen nicht entsprochen wird. Auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung rekonstruieren die Autorinnen zwei unterschiedliche Gruppen von prekär Beschäftigten in der Schweiz: Für die erste Gruppe ist typisch, dass sie sich zwar zur Bewältigung der Unsicherheit Flexibilisierungsanforderungen anzueignen versuchen, sich aber weiterhin an traditionellen Arrangements von Arbeitsverhältnissen orientieren. Bei der zweiten Gruppe, den „Unflexiblen“, lässt sich dagegen ein Bedeutungsgewinn moralischer Wertvorstellungen im Sinne eines Anspruchs auf ein sozial integriertes Leben mittels Lohnarbeit als Reaktion auf ein verletztes Gerechtigkeitsempfinden beobachten. Die Fallbeispiele zeigen auf, dass heute individuelle Merkmale auf dem Arbeitsmarkt an Bedeutung gewinnen, während berufliche Kompetenzen ihre Bedeutung einbüßen. In Bezug auf die zukünftige Entwicklung bedeutet dies nach Magnin und Suter, dass im Bereich der Dienstleistungen zunehmend die Voraussetzungen für eine Regulierung von Arbeitsbedingungen qua Beruf fehlen und Beschäftigte ihre kollektive Lage kaum mehr als solche erkennen können. Eine Individualisierung sozialer Ungleichheit stellt gewissermaßen auch die selbstständige Erwerbstätigkeit dar, sofern sie dazu dient, sich „selbstständig“ auf dem Arbeitsmarkt wieder zu integrieren, von dem man ausgeschlossen wurde. Inwiefern die selbstständige Erwerbstätigkeit tatsächlich als Ausdruck von Ausschluss vom Arbeitsmarkt oder nicht viel eher als Ausdruck von Etablierung und Emanzipation und in diesem Sinne von Integration zu interpretieren ist, dieser Frage gehen Anne Juhasz, Raphaela Hettlage und Christian Suter am Beispiel der selbstständigen Erwerbstätigkeit von Migrantinnen und Migranten in der Schweiz nach. Anhand einer empirischen Untersuchung rekonstruieren sie einerseits die Wege und Motive, die zum Schritt in die Selbstständigkeit führen und andererseits die Folgen, die sich aus der selbstständigen Erwerbstätigkeit für die Unternehmerinnen und Unternehmer ergeben. Die Analysen zeigen, dass sich in den einzelnen Biografien Phasen von Integration und Phasen von Ausschluss ablösen und sich 24 Gazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 EINLEITUNG oft auch eine Gleichzeitigkeit von Integrations- und Ausschlussprozessen finden lässt. Dies zeigt, dass die Rolle der selbstständigen Erwerbstätigkeit von Migrantinnen und Migranten in Integrations- und Ausschlussprozessen nicht losgelöst vom jeweiligen Kontext und der einzelnen Biografie untersucht werden kann. Die Autorinnen und der Autor ziehen aus ihren Analysen zudem den Schluss, dass für den ökonomischen Erfolg des Unternehmens und für die Abwendung von Ausschlussprozessen soziale, kulturelle und biografische Ressourcen von entscheidender Bedeutung sind. Dies verweist darauf, dass sich in der Selbstständigkeit soziale Ungleichheiten verstärken. Wer bereits über wichtige Ressourcen verfügt, weist die größeren Chancen auf, mit der Selbstständigkeit wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Dagegen besteht bei Personen, die über geringe Ressourcen verfügen und womöglich unbeabsichtigt in die Selbstständigkeit geraten sind, die Gefahr, dass die Selbstständigkeit sie in die Prekarisierung führt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass alle Beiträge neue Spaltungen und eine Verschärfung der sozialen Ungleichheiten diagnostizieren. Ein mehrfach dokumentiertes Ergebnis betrifft auch den Umstand, dass Arbeit keine individuelle soziale Integration mehr garantiert, sondern neue Formen von Ausschluss gerade aufgrund der arbeitsmarktlichen Integration und damit verbundenen Belastungen entstehen. Beispielsweise zeigt sich, dass prekäre Verhältnisse nicht „nur“ bei Personen in gefährdeten Positionen und ökonomischer Unsicherheit zu beobachten sind, sondern auch bei jenen, deren Arbeitssituation unbefriedigend ist oder die aus Sorge um die zukünftige Sicherheit ihres Arbeitsplatzes verunsichert sind. Prekäre Verhältnisse finden sich demnach längst nicht nur an den Rändern der Gesellschaft. Dies weist darauf hin, dass die Zone der Vulnerabilität bereits tief in die Zone der Integration vorgedrungen ist. Diese Analyse setzt eine Perspektive voraus, die den Blick primär auf Prozesse und nicht auf einzelne Randgruppen richtet. Dass dieser Blick auf die Prozesse und Modalitäten von Integration und Ausschluss einer Untersuchung einzelner Gruppen vorzuziehen ist, ist ebenfalls ein Fazit, das aus den hier versammelten Beiträgen gezogen werden kann. Angesichts der genannten Befunde stellt sich zudem die Frage, ob es auch Anzeichen dafür gibt, dass diesen Tendenzen etwas entgegengehalten wird. Wie gut funktionieren die bestehenden Sicherungssysteme und lassen sich neue Formen sozialer Absicherungen beobachten? Die vorliegenden Beiträge deuten darauf hin, dass neue Absicherungen weder auf der Ebene der Gesetzgebung, in gewerkschaftlichen Organisation noch in der öffentlichen Diskussion im Sinne einer Bewusstwerdung für kollektiv prekäre Lagen sichtbar werden oder dass es zumindest Anzeichen dafür gibt, dass sie im Entstehen begriffen sind. Es sind also keine neuen Integrationsmodi auszuGazareth/Juhasz/Magnin (Hg.), Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt Copyright by UVK 2007 25 MAGNIN, JUHASZ UND GAZARETH machen. Einzig wer über persönliche Ressourcen wie kulturelles, soziales oder ökonomisches Kapital verfügt, kann heute den drohenden Ausschlussprozessen vom und auf dem Arbeitsmarkt Gegensteuer bieten. Diese genannten Ressourcen sind allerdings ungleich verteilt, was wiederum auf neue Spaltungen und neue Ungleichheiten verweist, die in den verschiedenen Beiträgen zahlreich dokumentiert wurden. Sofern Migrantinnen und Migranten als „Seismograph“ der Gesellschaft bezeichnet werden können und sich an ihrer Lage zukünftige Entwicklungen schon früh aufzeigen lassen, ist zu vermuten, dass in Zukunft auch andere vermehrt versuchen werden, ihr Glück in der wirtschaftlichen Selbstständigkeit zu suchen und damit im eigentlichen Sinn „autonom“ zu werden. Inwiefern die individuelle Bearbeitung struktureller Ausschlussprozesse gelingen kann, ist abhängig von institutionellen und kulturellen Faktoren. Möglicherweise nimmt deren Bedeutung aber angesichts von Globalisierungsprozessen heute ab; zumindest zeigen die vorliegenden Beiträge, dass in Deutschland, in Österreich, in Frankreich und in der Schweiz, trotz unterschiedlicher institutioneller und kultureller Rahmenbedingungen, ähnliche Entwicklungen zu beobachten sind. Differenzen lassen sich allenfalls in der Geschwindigkeit der Entwicklungen, in der Art und Weise wie sich die Probleme artikulieren, in ihrer Intensität und auch in ihrer öffentlichen Thematisierung beobachten – dass aber in all diesen Ländern die herkömmlichen Verteilungsmechanismen nicht mehr genug gut greifen und sich deshalb neue soziale Ungleichheiten herausbilden, davon handeln die Beiträge dieses Sammelbandes. Literatur Arendt, Hannah (1999, 1958), Vita activa oder Vom tätigen Leben. München, Piper Verlag. 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