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Albert Mühlum (Hrsg.)
Sozialarbeitswissenschaft
Wissenschaft der Sozialen Arbeit
Albert Mühlum (Hrsg.)
Sozialarbeitswissenschaft
Wissenschaft der Sozialen Arbeit
Lambertus
Band 9 der Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft
für Sozialarbeit e.V.
ISBN 3-7841-1498-9
Alle Rechte vorbehalten
© 2004, Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau
Umschlag, Gestaltung, Satz: Ursi Aeschbacher, Biel-Bienne (Schweiz)
Herstellung: Jungbluth Digital+Print, Freiburg
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Zur Entstehungsgeschichte und Entwicklungsdynamik der Sozialarbeitswissenschaft. Einleitung
Albert Mühlum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Wissen und Können – Handlungstheorien und
Handlungskompetenz in der Sozialen Arbeit
Silvia Staub-Bernasconi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Soziale Arbeit als Wissenschaft. Eine Orientierung
Ernst Engelke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Entwicklung der Sozialarbeit/Sozialpädagogik
zur Profession und zur wissenschaftlichen
und hochschulischen Disziplin
Hans Pfaffenberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Wo stehen wir in Sachen Sozialarbeitswissenschaft?
Erkundungen im Gelände
Wolf Rainer Wendt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Zur Notwendigkeit und Programmatik
einer Sozialarbeitswissenschaft
Albert Mühlum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Einige Thesen zur Begründung und Anlage
einer Sozialarbeitswissenschaft
Peter Erath und Hans-Jürgen Göppner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Soziale Arbeit – Grundlagen und Perspektiven
einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin
Peter Sommerfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
INHALT
Auf dem Weg zu „Humanwissenschaften zweiter Ordnung“:
Sozialarbeitswissenschaft – Pflegewissenschaft –
Gesundheitswissenschaft
Albert Mühlum, Sabine Bartholomeyczik, Eberhard Göpel . . . . . 204
Sozialarbeitswissenschaft.
Eine Sozialwissenschaft neuer Prägung –
Ansätze einer inhaltlichen Konturierung
Reiner Feth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
Ein Stück weitergedacht …
Wilhelm Klüsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Soziale Systeme, Individuen,
soziale Probleme und Soziale Arbeit
Werner Obrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
Paradigmen der Sozialen Arbeit – Ein Vergleich
Rita Sahle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Fundstellen der Quellentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
Quellentexte Sozialarbeitswissenschaft
Vorwort zur Online-Version im PDF-Format
Die Debatte um Sozialarbeitswissenschaft beziehungsweise Wissenschaft der Sozialen Arbeit ist im Ton moderater, in der Sache aber noch wichtiger geworden. So hat
auch das Vorwort zur vergriffenen Erstauflage der vorliegenden Textsammlung
kaum an Aktualität verloren. Und der einleitende Überblick „Zur Entstehungsgeschichte und Entwicklungsdynamik der Sozialarbeitswissenschaft“ ist für das Verständnis der jungen Disziplin nach wie vor konkurrenzlos. Deren Breite und Facettenreichtum werden jedoch erst in den Einzelbeiträgen nachvollziehbar, von denen
einige mittlerweile paradigmatische Bedeutung erlangt haben.
Den Anstoß für diese Online-Version gaben die Doktorandenkolloquien der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) und das wachsende Interesse des wissenschaftlichen Nachwuchses an Quellen und Schulrichtungen der jungen Disziplin.
Die Kenntnis der Quellentexte gilt schließlich als Voraussetzung jeder theoriebewussten Beschäftigung mit der Profession und Wissenschaft Soziale Arbeit. Sie ist
zudem ein wesentliches Element der Identitätsbildung. Dem Lambertus-Verlag ist es
daher hoch anzurechnen, diese Quellensammlung ohne finanziellen Eigennutz wieder allgemein zugänglich zu machen. Das kommt auch den Studierenden in Masterstudiengängen zugute, die zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Wissenschaftsgeschichte aufgefordert sind, − die dazu aber auch befähigt werden müssen.
Die Betonung der Quellen mindert nicht die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft, ist vielmehr eine Voraussetzung für deren kompetente (Mit-) Gestaltung. Dies
veranschaulichen die jüngeren Beiträge zur Sozialarbeitswissenschaft und forschung, die im Anhang zum Literaturverzeichnis aufgelistet sind. Sie verändern
mit der Qualität von Lehre und Forschung auch die Berufspraxis und machen die
Soziale Arbeit endlich international anschlussfähig − als Profession und als Disziplin.
Bensheim, im Juni 2012
Albert Mühlum
Ergänzende Literaturhinweise (2003−2012)
Bango, Jenö (2008): Studien zur transmodernen und transdisziplinären Sozialarbeit.
Berlin
Beer, Daniela (2003): Burnout als Berufsziel? Konstruktivistische Sozialarbeitswissenschaft als Anregung für eine Neuorientierung in der Ausbildung. Heidelberg
Brandstetter, Manuela/Vyslouzil, Monika (Hg.) (2010): Soziale Arbeit im Wissenschaftssystem. Wiesbaden
Birgmeier, Bernd/Mührel, Eric ( Hg.) (2009): Die Sozialarbeitswissenschaft und ihre
Theorie(n). Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Wiesbaden
Bock, Karin/Miethe, Ingrid (Hg.) (2010): Handbuch Qualitative Methoden in der
Sozialen Arbeit. Opladen/Farmington Hills
Büchner, Stefanie (2012): Soziale Arbeit als transdiziplinäre Wissenschaft. Zwischen Verknüpfung und Integration. Wiesbaden
DGSA – Fachgruppe Theorieentwicklung (2005): Kerncurriculum Soziale Arbeit /
Sozialarbeitswissenschaft. In: DGSA Mitteilungen 1/2005
Engelke, Ernst/Borrmann, Stefan/Spatscheck, Christian (2009): Theorien der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. 5. Aufl. Freiburg
Engelke, Ernst/Maier, Konrad/Steinert, Erika/Borrmann, Stefan/Spatscheck, Christian (Hg.) (2007): Forschung für die Praxis. Zum gegenwärtigen Stand der Sozialarbeitsforschung. Freiburg
Engelke, Ernst/Spatscheck, Christian/Borrmann, Stefan (2009): Die Wissenschaft
Soziale Arbeit. Werdegang und Grundlagen. 3. Aufl. Freiburg
Erath, Peter (2006): Sozialarbeitswissenschaft. Eine Einführung. Stuttgart
Fredersdorf, Frederic/Himmer, Michael (Hg.) (2010): Junge Sozialarbeitswissenschaft. Diplomarbeiten zu relevanten Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Wiesbaden
Gahleitner, Silke B. (Hg.) (2008): Sozialarbeitswissenschaftliche Forschung: Einblicke in aktuelle Themen
Gahleitner, Silke Birgitta/Gerull, Susanne/Lange, Chris (Hg.) (2008): Sozialarbeitswissenschaftliche Forschung. Einblicke in aktuelle Themen. Opladen/Farmington
Hills
Gahleitner, Silke B. et al. (Hg.) (2010): Disziplin und Profession Sozialer Arbeit.
Entwicklungen und Perspektiven. Opladen/Farmington Hills
Göppner, Hans-Jürgen (2009): Die Debatte um Sozialarbeitswissenschaft - eine unendliche Geschichte? In: Mühlum, A./Rieger, G. (Hg.), Lage,
S. 23−35
Göppner, Hans-Jürgen/Bartosch, Ulrich (Hg.) (2009): Warum und zu welchem Ende
betreiben wir Sozialarbeitswissenschaft? Eichstätt
Göppner, Hans-Jürgen/Hämäläinen, Juha (2004): Die Debatte um Sozialarbeitswissenschaft. Freiburg
Jungbauer, J. (2009): Auf Augenhöhe mit der scientific community. Notwendigkeit
und Erfordernisse einer empirischen Sozialarbeitsforschung. In: sozialmagazin
1/2009, S. 43−47
Kleve, Heiko (2007): Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretischkonstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. 2. Aufl. Wiesbaden
Kleve, Heiko/Wirth, Jan (2009): Die Praxis der Sozialarbeitswissenschaft. Eine Einführung. Baltmannsweiler
Klie, Thomas/Roß, Paul-Stefan (Hg.) (2007): Sozialarbeitswissenschaft und angewandte Forschung in der Sozialen Arbeit. Festschrift für Konrad Maier. Freiburg
Kraus, Björn/Krieger, Wolfgang (Hg.) (2011): Macht in der Sozialen Arbeit. Interaktionsverhältnisse zwischen Kontrolle, Partizipation und Freisetzung. 2. Aufl., Lage
May, Michael (2008): Aktuelle Theoriediskurse der Sozialen Arbeit. Wiesbaden
Miethe, Ingrid et al. (Hg.) (2007): Rekonstruktion und Intervention. Interdisziplinäre
Beiträge zur rekonstruktiven Sozialarbeitsforschung. Leverkusen
Mühlum, Albert (2005): Sozialarbeitswissenschaft im Diskurs. Perspektiven einer
transdisziplinären multiparadigmatischen Disziplin. In: Hansen, K./Riege,
M./Verleysdonk, A. (Hg.): Resignation ist der Egoismus der Schwachen. Mönchengladbach, S. 81−96
Mühlum, Albert (2009): Sozialarbeitswissenschaft – Science in Progress. In: Mühlum, A./Rieger G. (Hg.): Soziale Arbeit in Wissenschaft und Praxis. Lage, S. 36−46
Mühlum, Albert (2011): Sozialarbeitswissenschaft. In: Fachlexikon der Sozialen
Arbeit. 7. Aufl. Baden-Baden, S. 777−778
Mühlum, Albert/Rieger, Günther (Hg.) (2009): Soziale Arbeit in Wissenschaft und
Praxis. Festschrift für Wolf Rainer Wendt. Lage
Mührel, Eric/Birgmeier, Bernd ( Hg.) (2012): Theoriebildung in der Sozialen Arbeit:
Entwicklungen in der Sozialpädagogik und der Sozialarbeitswissenschaft. Wiesbaden
Scherr, Albert (2010): Sozialarbeitswissenschaft. In: Thole, W. (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Wiesbaden, S. 284 ff.
Schneider, Armin (2009). Forschungsperspektiven in der Sozialen Arbeit. Schwalbach/Ts.
Schumacher, Thomas (2007): Soziale Arbeit als ethische Wissenschaft. Topologie
einer Profession. Stuttgart
Sommerfeld, Peter (2010): Entwicklung und Perspektiven der Sozialen Arbeit als
Disziplin. In: Gahleitner, S.B. et al. (Hg.): Disziplin und Profession Sozialer Arbeit.
Entwicklungen und Perspektiven. Opladen/Farmington Hills,
S. 29−44
Sommerfeld, Peter/Hüttemann, Matthias (Hg.) (2007): Evidenzbasierte Soziale Arbeit. Nutzung von Forschung in der Praxis. Baltmannsweiler
Staub-Bernasconi, Silvia (2010): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Systemtheoretische Grundlagen und professionelle Praxis − Ein Lehrbuch. 2. Aufl. Bern
Tillmann, Jan: Trajektivität (2007): Anstöße für eine Metatheorie der Sozialarbeitswissenschaft. Hannover
Wöhrle, Armin (Hg.) (2003): Profession und Wissenschaft Sozialer Arbeit. 2. Aufl.
Herbolzheim
Vorwort
An der Sozialarbeitswissenschaft scheiden sich noch immer die Geister.
Für die einen ist sie notwendig und eine bare Selbstverständlichkeit, für
die anderen ist sie überflüssig und schon begrifflich eine Provokation. Mit
diesem Sammelband wird Position für die Wissenschaft der Sozialen Arbeit bezogen. Zum einen wurden Autorinnen und Autoren ausgewählt,
die sie grundsätzlich befürworten, zum anderen sind die ausgewählten
Texte selbst prominente Beispiele sozialarbeitswissenschaftlicher Erkenntnisbemühungen und damit Elemente einer solchen Wissenschaft.
Die langjährige Kontroverse darüber, ob sie sein kann, darf oder soll ist
damit entschieden. Auch wenn viele der hier vorgelegten Texte im Zusammenhang jener aufregenden (und manchmal aufgeregten) Debatte
der 90er Jahre um Sozialpädagogik- und Sozialarbeitswissenschaft entstanden sind, belegen sie in der Summe den Fortschritt einer Disziplin,
die weder in erziehungswissenschaftlicher noch in fürsorgetheoretischer
Beschränktheit verharren darf.
Wie überfällig sie war, zeigt ein Vergleich der zögerlichen Entwicklung
in Deutschland mit der Wissenschaftsdynamik des Social Work. Um so
erfreulicher ist es, dass sich in der letzten Dekade eine Sozialwissenschaft entwickelt, die international anschlussfähig wird und für Ausbildung und Berufspraxis an Bedeutung gewinnt. Ihre Vorgeschichte ist
eingebettet in die großen gesellschaftlichen Umbrüche des 20. Jahrhunderts und darin eng an die Geschichte der Sozialen Arbeit und ihrer Ausbildungsgänge gekoppelt. Es sollte daher möglich sein, alle dort Lehrenden in die Scientific Community der Sozialarbeitswissenschaft zu integrieren, – sofern sie sich auf den Untersuchungsgegenstand Soziale
Arbeit konzentrieren.
Wenn es noch eines Existenzbeweises bedurft hätte, ist dieser mit der
offiziellen Anerkennung einer Fachwissenschaft Soziale Arbeit durch
die Gremien der HRK und KMK erbracht: Von der Konferenz der Rektoren und Präsidenten der Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland am 3. Juli 2001 beschlossen und von der Ständigen Konferenz der
Kultusminister der Länder am 11. Oktober 2001 abgesegnet, ist die Rahmenprüfungsordnung für den Studiengang Soziale Arbeit, die diese
Wissenschaft ins Zentrum rückt, inzwischen in Kraft getreten. Sie muss
7
VORWORT
nicht als klassische Einzelwissenschaft organisiert sein, sondern wird
der Breite und Eigenart des Untersuchungsgegenstandes gerade dadurch gerecht, dass sie als Querschnittsdisziplin relevante Theorien und
Wissensbestände integriert und professionelles Handeln begründet. Als
Handlungswissenschaft wird sie sich – auch – am Nutzen für die Praxis
messen lassen müssen.
Die vorliegende Quellensammlung gibt – vor allem zu Ausbildungszwecken – einen Überblick über die jüngste Entwicklung. Sie erleichtert
den Zugang zu unterschiedlichen Positionen und ist gleichzeitig eine
Aufforderung zur kritischen Auseinandersetzung und zur Intensivierung des Wissenschaftsdiskurses. Diese Aufforderung richtet sich nicht
nur an die Wissenschaftliche Gemeinschaft i.e.S., sondern auch an die
beruflich tätigen Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen, die im Berufskodex ausdrücklich zur Mitwirkung an der Weiterentwicklung der
Sozialen Arbeit in Theorie und Praxis aufgerufen sind.
Heidelberg, im Januar 2004
8
Albert Mühlum
Zur Entstehungsgeschichte und Entwicklungsdynamik der Sozialarbeitswissenschaft. Einleitung
Albert Mühlum
1. SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT ODER
WISSENSCHAFT DER SOZIALEN ARBEIT
Seit es berufliche Sozialarbeit gibt wird deren wissenschaftliche Fundierung gefordert. Auch an Bemühungen zur Theoriebildung herrscht
kein Mangel, da führende Vertreter – Frauen und Männer – immer wieder um eine systematische Reflexion der beruflichen Wirklichkeit besorgt waren. Dennoch ließ die Wissenschaftsentwicklung der – deutschen – Sozialarbeit lange zu wünschen übrig. Gegen manche Widerstände entwickelte sich erst in den letzten Jahren eine eigenständige
Disziplin für dieses Handlungsfeld, die Wissenschaft der Sozialen Arbeit oder Sozialarbeitswissenschaft (SAW). Das gilt zumindest im modernen Wissenschaftsverständnis, das Wissenschaft als problemlösenden Prozess versteht und nicht auf bestimmte institutionelle Ausformungen oder wissenschaftstheoretische Präskriptionen festlegt, sondern in
der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Forschenden und Lehrenden
die Auctoritas sieht, die über Zuschnitt, Vorgehensweise und Inhalte des
Untersuchungsbereiches befindet, also zum Beispiel darüber, wie Erkenntnisgewinnung organisiert und neues Wissen generiert oder welche
Wissensbestände dem „Body of Knowledge“ zugerechnet werden sollen.
Begrifflich und systematisch steht hinter dem Streit um den wissenschaftlichen Ort und Status die – historisch begründete – Trennung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik und deren disziplinäre Repräsentanz. Die
funktionale Unterscheidung wurde mit den wechselseitigen Grenzüberschreitungen der 70er Jahre obsolet, nachdem sich die Bundeskonferenzen der Höheren Fachschulen für Sozialarbeit und für Sozialpädagogik
1971 zugunsten der neu gegründeten Fachhochschulen aufgelöst hatten.
Dies führte zu Begriffs- und Abgrenzungsproblemen und der anhaltenden disziplinären Irritation um Sozialpädagogik und Sozialarbeitswissenschaft:
9
ALBERT MÜHLUM
• Befürworter der Sozialarbeitswissenschaft fordern die wissenschaftliche Anerkennung und disziplinäre Eigenständigkeit, die der Sozialarbeit lange zu Unrecht vorenthalten wurde. Vertreten wird dies
vor allem von der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit und HochschullehrerInnen (zum Beispiel Staub-Bernasconi, Klüsche und
Wendt in diesem Band), die sich auf eigene Praxisforschung und auf
die wissenschaftliche Tradition des internationalen Social Work berufen.
• Im Gegensatz dazu sehen einige Erziehungswissenschaftler die Anliegen der Sozialarbeit in der wissenschaftlichen Sozialpädagogik
aufgehoben und bestreiten die Notwendigkeit einer weiteren Disziplin. Diese Position findet sich vor allem in der Sektion Sozialpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (zum
Beispiel Merten, Thole, Hamburger). Sie stützt sich u.a. auf die Exklusivität universitärer Lehrstühle und den sozialwissenschaftlichen
Paradigmenwechsel der Pädagogik.
Zur Überwindung der Gegensätze wird gefordert, die legitimen Interessen beider Seiten anzuerkennen und beide Theoriestränge zu einer übergreifenden Wissenschaft der Sozialen Arbeit (Engelke 1992) oder Wissenschaft des Sozialwesens (Pfaffenberger/Scherr/Sorg 2000) zusammen zu führen, – entsprechend der Konvergenz praktischer Sozialarbeit
und Sozialpädagogik. Während sich jedoch für die gemeinsame Berufspraxis der übergreifende Begriff Soziale Arbeit durchsetzen konnte,
wird genau dies auf der Wissenschaftsebene (noch) verweigert. Die
SAW kann daher i.e.S. als Ergänzung der wissenschaftlichen Sozialpädagogik und i.w.S. als Integrationswissenschaft für Sozialarbeit und Sozialpädagogik verstanden werden. Immerhin wächst die Bereitschaft bei
prominenten Vertretern der universitären Sozialpädagogik, von „Theorien der Sozialen Arbeit“ zu sprechen (zum Beispiel Th. Rauschenbach/
I. Züchner 2002; C. Füssenhäusser/H. Thiersch 2001) und sich damit
der gleichnamigen Wissenschaft anzunähern.
Ganz offensichtlich ist die Disziplinwerdung nicht allein von Erkenntnisleistungen abhängig, sondern auch von gesellschaftlichen Interessen,
von Macht und Durchsetzungsvermögen, wie die gescheiterten fürsorgewissenschaftlichen Anläufe zeigen, das heißt es sind nicht wissenschaftstheoretische sondern wissenschaftspolitische Gründe, die der
Kontroverse zugrunde liegen. So suchte zum Beispiel die Sozialpäda10
ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT.
gogik ihrer prekären Situation innerhalb der Erziehungswissenschaft
mit der Ausweitung des Gegenstandsbereiches zu begegnen, während
umgekehrt die Sozialarbeit im Interesse der Selbstbehauptung und
Selbstrekrutierung der Lehrenden ihre Disziplinbildung voran treibt (P.
Erath/H.J. Göppner in diesem Band).
Um Missverständnissen vorzubeugen: Für SozialarbeitswissenschaftlerInnen handelt es sich dabei keineswegs nur um ein semantisches Problem oder um Statusfragen. Vielmehr gibt es fachliche und wissenschaftssystematische Gründe, den Sozialarbeitsfokus zu betonen. So ist
zum Beispiel die Funktionslogik des Hilfesystems nicht pädagogisch
sondern sozialpolitisch bestimmt, und in globaler Perspektive sind sozialpädagogische Aspekte und Handlungsfelder stets Teil des umfassenden Social Work und nicht umgekehrt. Deshalb ist Sozialpädagogik
international kaum vermittelbar, begrifflich unzutreffend und wissenschaftssystematisch der falsche Ort für eine Wissenschaft, die der Sozialen Arbeit in ihrer ganzen Breite gerecht werden soll. Als Subdisziplin
der Erziehungswissenschaft wäre sie immer in Gefahr, das Pädagogische zu überbetonen und genuin sozialarbeiterische Aspekte – von der
Sozialadministration bis zur klinischen Sozialarbeit – zu vernachlässigen. Der innerhalb der Erziehungswissenschaft immer wieder ausbrechende Streit um die Sozialpädagogik ist bezeichnend genug (zum Beispiel aktuell Winkler 2002 und Müller 2002 versus Reyer 2002).
Die SAW ist insofern auch eine Chance, sich aus der erziehungswissenschaftlichen Subordination zu lösen und dennoch (sozial-)pädagogische
Aspekte zu integrieren. Als Fachwissenschaft Soziale Arbeit bildet sie
– von HRK und KMK formell anerkannt – den Kern des Studiums. Sie
soll das Aufgabenfeld in seiner ganzen Breite abdecken, der Profession
dienen und dabei international anschlussfähig sein, damit die Soziale
Arbeit anderen Professionen „auf gleicher Augenhöhe“ begegnen kann.
Wie jede Wissenschaft will sie systematisch Wissen über ihren Erkenntnisbereich gewinnen. Als Handlungswissenschaft bearbeitet sie jenen
Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit, der mit ihrer Berufspraxis
korrespondiert. Dazu muss sie unterschiedliche Typen von Wissen bereitstellen: „Faktenwissen“, darauf gestützte „Theorien“ und daraus gewonnenes „Interventionswissen“, und sie muss die eigene Perspektive
und das erzeugte Wissen benennen und kommunizieren (P. Sommerfeld
in diesem Band). Als Disziplin gewinnt sie in dem Maße an Bedeutung,
in dem sie Forschung und Theoriebildung auf den Fokus Soziale Arbeit
konzentriert.
11
ALBERT MÜHLUM
• Sozialwissenschaft ist sie wegen des Untersuchungsgebiets des sozialen Lebens;
• Wirklichkeitswissenschaft weil sie von empirischen Sachverhalten
ausgeht;
• Handlungswissenschaft da sie auf Beeinflussung und Veränderung
zielt;
• Querschnittswissenschaft weil sie ohne einzelwissenschaftliche Beschränktheit die Verknüpfung eigener Theorien mit den Erkenntnissen der Nachbardisziplinen anstrebt (R. Feth in diesem Band).
Sie basiert darüber hinaus auf Wertvorstellungen und Veränderungsabsichten, ist also notwendigerweise normative Wissenschaft. Dieser Wissenschaftstypus muss dann nicht in Widerspruch zu einer kritisch-emanzipatorischen Wissenschaft treten, wenn Wertsetzungen, Machtverhältnisse und Entscheidungsprozesse offen gelegt beziehungsweise selbst
zum Gegenstand der Untersuchung werden. Ihre Bedeutung ist offenkundig: Für die Berufspraxis als verlässliche Selbstkontrolle und theoretisch fundierte Anleitung; für die Ausbildung als wissenschaftliche
Grundlegung und zur Integration der Beiträge aus den Bezugswissenschaften; für Profil und Identität schließlich zur Vergewisserung der eigenen, unverwechselbaren Theoriebasis und zur Selbstrekrutierung der
Lehrenden. In Ermanglung vollakademischer Sozialarbeitsabschlüsse
werden die Forschenden und Lehrenden in Deutschland noch überwiegend aus anderen Disziplinen rekrutiert – mit fatalen Folgen für Identität
und Professionalität. Einer Selbstrekrutierungsrate der Lehrenden von
etwa 5% stehen internationale Raten von 60% bis 100% gegenüber, was
das Nachhinken der deutschen Sozialarbeit zumindest teilweise erklärt.
Grundsätzlich setzt eine Profession eine wissenschaftliche Ausbildung
voraus. Umgekehrt haben Wissenschaftsdisziplinen i.d.R. eine Profession als Praxisäquivalent: Profession als ein Beruf besonderer Dignität,
Disziplin als Fachwissenschaft für einen definierten Erkenntnisbereich.
Sie repräsentieren unterschiedliche Ausschnitte gesellschaftlichen Handelns, denen auf einer voraus liegenden Ebene der Dualismus von Praxis
und Theorie entspricht, welcher wiederum dem des Handelns und Erkennens nachgebildet ist. Die getrennte Institutionalisierung in Berufssystem und Wissenschaftssystem hat gute Gründe, zum Beispiel der
Spezialisierung, des Settings, der relativen Unabhängigkeit, um zum
Beispiel die Wissenschaft vom Handlungs- und Entscheidungsdruck der
12
ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT.
Praxis und Praktiker von aufwendigen Verfahren der Theoriebildung zu
entlasten. Beide müssen jedoch auch im Kontext handlungsbezogener
Problemlösung bestehen: Theorien sollen an Praxisphänomene anschließbar sein um bedeutungsvoll werden und professionelles Handeln
wissenschaftlich begründen zu können, umgekehrt muss professionelles
Handeln „theoretisch“ reflektiert werden um „praktisch“ möglichst wirkungsvoll zu sein (Wendt in diesem Band).
Im globalen Vergleich wird der Zusammenhang von professionellem
und wissenschaftlichem Status besonders deutlich. Eine Fülle von wissenschaftlichen Zeitschriften, Lehrstühlen und Forschungsprojekten
des Social Work belegt eindrucksvoll den internationalen Standard der
Disziplin. Er spiegelt sich auch in den postgradualen Studiengängen und
Masterabschlüssen, Forschungseinrichtungen und Social Work Promotionsstudiengängen, von denen es allein in den USA mindestens 70 und
auch in Europa eine wachsende Anzahl gibt (Laot 2001). Für die Entwicklung der SAW ist daher die Professions- und Wissenschaftsgeschichte gleichermaßen bedeutsam.
2. VON DER ZWISCHENMENSCHLICHEN HILFE
ZUR PROFESSIONELLEN HUMANDIENSTLEISTUNG
Die Entwicklung der Sozialarbeit ist eng mit der Sozialgeschichte und
den zeitgenössischen Antworten auf soziale Probleme verflochten. Trotz
wechselnder Begriffe lässt sie sich als soziale Hilfe weit zurückverfolgen: Almosenwesen, Armenpflege, Armenfürsorge, Wohlfahrtspflege,
Sozialarbeit bezeichnen in chronologischer Folge das Bemühen um
Menschen in Not, ursprünglich fast ausschließlich in wirtschaftlicher
und gesundheitlicher Not, bis die Konzentration auf psychosoziale Probleme zum Signum moderner Sozialarbeit wurde. Die unterschiedlichen
Faktoren und Entwicklungsstränge, die zur Berufsbildung beitrugen,
sind aber auch Hinweise auf die Motive der gesellschaftlichen Organisation sozialer Hilfen. So lassen die Kontroversen um Pädagogisierung,
Moralisierung, Ökonomisierung und Politisierung sozialer Anliegen
den Konflikthorizont von Diskriminierung, Sozialdisziplinierung und
Emanzipationsbestrebung erkennen, der dahinter liegt. Allen Widerständen zum Trotz setzten sich Formen „öffentlicher“ Regelung und beruflicher Organisation dann durch, wenn es sich um Grundanliegen han13
ALBERT MÜHLUM
delt, die nicht länger „privat“, also intrafamilial oder caritativ reguliert
werden konnten, – ein „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, der zu einem
prägenden Merkmal moderner Gesellschaften wurde. Die Berufsentwicklung selbst folgt unterschiedlichen Stadien: Am Anfang steht die
berufliche Verselbständigung und das Bemühen, die Anliegen des Berufs zu transportieren und staatliche Legitimation zu sichern, dann entwickeln sich berufstypische Organisationen und eine berufsspezifische
Lehre mit Tendenzen zur Monopolisierung in der nur anerkannte Abschlüsse zur Ausübung berechtigen. Das Berufsbild des „spezialisierten
Generalisten“ bildet sich heraus (Staub-Bernasconi in diesem Band).
Der Beruf trifft von Beginn an auf eine Gemengelage von Armut, Arbeitslosigkeit und Benachteiligung in Verbindung mit unzureichend erfüllten Grundbedürfnissen und Mängeln – der Erziehung, der Gesundheit, der sozialen Integration, – denen sich schon in den 20er Jahren
zahllose Sonderfürsorgebereiche widmen (Dünner 1929). Die Multiproblemperspektive wird so zum Kennzeichen aller Sozialarbeit. Die Konsolidierung des Berufs nach dem 2. Weltkrieg und Anleihen beim Social
Work modifizierten die Aufgaben und das Selbstverständnis. Nach der
gesellschaftskritischen Diskussion der 70er und der Professionsdebatte
der 80er Jahre konzentriert sich das Interesse in den 90er Jahren auf die
Schärfung des Profils und die Sicherung der Qualität. Die enorme Ausweitung der Sozial- und Gesundheitsberufe stellt die Sozialarbeit dabei
ebenso vor neue Herausforderungen wie die anhaltende Binnendifferenzierung und Veränderung der Zielgruppen, – mit Konsequenzen für die
Ausbildung und die Theoriearbeit: Mit der Verberuflichung an der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jh. wuchs der Bedarf an Ausbildung,
mit der Ausbildung der Bedarf an theoriegestützter Lehre, mit der Theorie der Bedarf an wissenschaftlicher Fundierung, mit der wissenschaftlichen Grundlegung der Anspruch auf Professionalität, mit der Profession das Verlangen nach einer eigenständigen Wissenschaft, die inzwischen international etabliert ist und auch hierzulande an Bedeutung
gewinnt. Eine – stärker internationalisierte – Sozialarbeit präsentiert
sich nun entschiedener als Profession und als Disziplin. Ihr spezifischer
Beitrag zielt auf eine Verbesserung der Lebensführung und der prekären
Lebensumstände von Klienten, ihre Leitidee ist die soziale Gerechtigkeit. Dabei handelt es sich im Kern um personenbezogene Dienste mit
allen Besonderheiten der Dienstleistungsproduktion, das heißt Sozialarbeit wandelt sich zur professionellen Humandienstleistung. Als gesell14
ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT.
schaftlich organisierte Hilfe ist sie dem Sozialen Sicherungssystem und
der Sozialpolitik zuzuordnen, – mit disziplinärer Affinität zur Fürsorgetheorie und Sozialpolitikwissenschaft. Zusammen mit der Sozialpädagogik entwickelt sie sich zur Sozialen Arbeit als einem „Projekt der
Postmoderne“, das seinen eigenen Wissenschaftstypus entwickelt (Kleve 1999).
Insgesamt bleibt festzuhalten: Zum Handlungsfeld der Sozialen Arbeit
gehören komplexe Lebensverhältnisse und konfliktreiche Situationen,
in denen Menschen – zumeist unter erschwerten Bedingungen – ihr Leben führen, Alltag organisieren, Probleme bewältigen müssen und dafür
professionelle Hilfe benötigen. Sozialarbeit versucht darauf in einer
ganzheitlichen Sicht zu antworten. Eine solche Praxis, die die Lebenswirklichkeit von Menschen als Leidende oder Hilfesuchende und als
Helfende oder sozialberuflich Tätige umfasst, benötigt eine reflexive
Instanz, die das Leben und Arbeiten dort kritisch analysiert, Erkenntnisse gewinnt und Theorien formuliert, die für eine rational begründete und
wissenschaftlich kontrollierte Vorgehensweise notwendig sind (Sahle
in diesem Band).
Dabei kann die Entwicklung vom Alltagshandeln und Ehrenamt zur
professionellen Dienstleistung über unterschiedliche Zugänge verfolgt
und vertieft werden, die im disziplinären Dreieck von Praxis, Ausbildung und Theorie mit der sozialstaatlichen Entwicklung rückgekoppelt
sind. Eine offensive Weiterentwicklung dieser Trias ist am ehesten mit
Bezug auf die weltweite Scientific and Professional Community zu erwarten. Immerhin gibt es einen von den internationalen Organisationen
des Social Work and Social Welfare ausgehandelten Fundus gemeinsamer Vorstellungen, die im UNO-Manual (1994) festgeschrieben sind,
sowie definitorische und berufsethische Grundlagen, die sich wegen ihrer handlungs- und erkenntnisleitenden Bedeutung für die Profession
und die Disziplin durchzusetzen beginnen.
3. ETAPPEN DER THEORIE- UND WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
Alltagserfahrung und „praktische Vernunft“ gelten schon in den beruflichen Anfängen als notwendige aber keinesfalls hinreichende Bedingung für eine qualifizierte Sozialarbeit. Die Pionierleistung der Gründergeneration besteht daher vor allem in einer Systematisierung des Ex15
ALBERT MÜHLUM
pertenwissens, in theoriebewusster Reflexion und Umsetzung in planvolles Handeln. Schon davor aber gab es philosophisch-theologische Erkenntnisbemühungen hinsichtlich Armut und Benachteiligung, die
Ernst Engelke (1998) als „vorwissenschaftliche Theorien und Programme“ bezeichnet, zum Beispiel die Almosenlehre Thomas von Aquins,
die Armenpflegetheorie Juan L. Vives und die Armenkinderpädagogik
Johann H. Pestalozzis. Die Geschichte der Sozialarbeit als Handlungswissenschaft beginnt dann erst mit der Herausbildung des Berufs im 20.
Jh. (zu den folgenden Typologien und Autoren vgl. Mühlum 2001/
1982).
Erste Theoriephase (ca. 1910– 1935)
Die frühen „Berufstheorien“ stehen gewiss nicht für umfassende Theorien aber für eine leidenschaftliche Suche nach Erklärungswissen, das
den Beginn jeder Wissenschaft markiert. Der Erkenntnisgewinn dieser
Arbeiten wird teils unterschätzt, teils erst neuerdings rezipiert, obwohl
zum Beispiel auf den theoretischen Beiträgen der 20er Jahre von Jane
Addams (Stadtsoziologie und Ecological Approach), Mary Richmond
(Organisationssoziologie und Case Work) und Ilse Arlt (Armutssoziologie und Fürsorgewissenschaft) aufzubauen wäre. Die Bemühungen
um theoretische Klärung und Durchdringung des Problemfeldes ziehen
sich jedenfalls wie ein roter Faden durch die gut 100jährige Geschichte.
Dabei stand entweder das analytische Interesse (auf der Suche nach Erklärungswissen) oder das Handlungsinteresse (auf der Suche nach Veränderungswissen) im Vordergrund. Daneben gab es wechselnde Anleihen bei den etablierten Human- und Sozialwissenschaften: In analytischer Hinsicht dominierten je nach Blickrichtung psychologische,
soziologische oder sozialpolitische Konzepte beziehungsweise „Schulen“; hinsichtlich der Arbeitsweise überwog lange Zeit die Einzelfallhilfe, obwohl die Arbeit mit Familien und Gruppen sowie größeren Gemeinwesen ebenso Teil einer methodenbewussten Sozialarbeit war
(Staub-Bernasconi in diesem Band). Sowohl für die „analytischen“ als
auch für die „methodischen“ Aufgaben wurden theoretische Erkenntnisse gesucht, – teils selbst gewonnen, teils den Nachbardisziplinen entliehen und adaptiert – um sie in der Ausbildung weiter geben zu können.
Dabei wurde von Beginn an die eigenständige Position behauptet: als
soziale Diagnose und soziale Therapie (Mary Richmond), als ganzheit16
ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT.
liche Perspektive (Jane Addams), als Person-in-der-Situation Konfiguration (Gordon Hamilton). Selbst die moderne Ressourcenorientierung
kann aus diesen frühen Arbeiten abgeleitet werden (Bünder 2002).
Für die deutsche Sozialarbeit beispielhaft ist Alice Salomons „Soziale
Diagnose“ von 1926, die neben einer Einführung in die „methodische“
Vorgehensweise auch eine knappe „Theorie des Helfens“ enthält. Hilfe
als eine zentrale Aufgabe und als Schlüssel zum Selbstverständnis der
Sozialarbeit wurde in dieser ersten Theoriephase konsequent thematisiert, u.a. von D. Peyser und E. Wex, und prägte nicht nur die Fürsorgewissenschaft (Ch.J. Klumker, H. Achinger, H. Scherpner) sondern auch
die spätere Sozialarbeitswissenschaft, – dann allerdings systemtheoretisch gewendet unter Bezug auf Niklas Luhmann und Dirk Baecker. Die
Affinität zu Fürsorgewissenschaft und Wohlfahrtspflegetheorie lag
nicht nur an deren Problemfokus, sondern gründet auch in der akademischen Sozialisation der Pionierinnen, die von Nationalökonomie und
Staatswissenschaften geprägt waren. Während die Fürsorgewissenschaft relativ breit rezipiert und von Ilse Arlt als Bedürfnistheorie mit
entwickelt wurde, gibt es zur Caritas- und Diakoniewissenschaft kaum
Querverbindungen (Mühlum/Walter 1998). Allerdings steht eine systematische Erforschung des Verhältnisses der Fürsorge und Wohlfahrtspflege zu den Nachbardisziplinen ohnehin noch aus. Selbst die Bedeutung Ilse Arlts wurde erst in jüngster Zeit wieder erkannt, wobei auch
ihrer theoriebewussten Sozialarbeit der Durchbruch zur anerkannten
Fachdisziplin versagt blieb. Für das mühsame Vorankommen in der ersten Hälfte des 20. Jhs. können zwei Faktorenbündel identifiziert werden:
(1) Die männliche Gegnerschaft gegenüber der Frauenbewegung; die
bürgerliche Distanz gegenüber einer zumeist proletarischen und weiblichen Armut; die Kluft zwischen akademischem Erkenntnisinteresse
und dem Handlungs- und Entscheidungsdruck der Praxis;
(2) die Zäsur der sozialfürsorgerischen Entwicklung durch die Inhumanität des nationalsozialistischen Regimes, die sich in einer systematischen Diskriminierung der Schwächeren, einer Abwertung des Fürsorglichen und der „Gleichschaltung“ sozialer Einrichtungen im Sinne der
NS-Ideologie („Volkswohlfahrt“) niederschlug.
So verständlich es war, dass Alice Salomon die Ausbildung der angehenden Fürsorgerinnen in soziale Frauenschulen verlegte, statt sie der
17
ALBERT MÜHLUM
damaligen universitären Männerwelt anzuvertrauen, so bedauerlich ist
aus heutiger Sicht die damit verbundene Abkoppelung der deutschen
Sozialarbeit vom akademischen Diskurs. Die Repression der NS-Zeit
verschärfte den Niedergang der Sozialen Arbeit, zwang führende Vertreterinnen des Fürsorgewesens ins Exil und endete im fast kompletten
Zusammenbruch ihrer Theorie- und Methodenentwicklung.
Zweite Theoriephase (ca. 1950– 1972)
Nach der Zäsur durch Nationalsozialismus und Kriegsfolgen kam die
zweite Theoriephase nur mühsam in Gang. Der Anschluss an die internationale Entwicklung erfolgte zögernd, und trotz vereinzelter Anleihen
zum Beispiel beim Social Work und der Agogik blieb die erhoffte Theorierenaissance zunächst aus. Die Fixierung der Ausbildung an Fachschulen beziehungsweise ab 1958 an Höheren Fachschulen und die fast
durchgängig fehlende universitäre Repräsentanz der Sozialarbeit (Ausnahme: Hans Pfaffenberger) trug dazu bei. Die Klage über eine verbreitete Theorieignoranz der Praxis und Praxisirrelevanz der Theorie reicht
bis weit in die 60er Jahre, – mit teils heftiger Kritik an der Theorie- und
Methodenbasis (Peters 1968). Dennoch sind die damaligen Beiträge ein
wichtiger Teil der Wissenschaftsentwicklung, fokussiert auf die Arbeitsformen und die Funktion der Sozialarbeit. Hervorzuheben ist zum
Beispiel das Lehrbuch „Grundbegriffe und Methoden der Sozialarbeit“
(Friedländer/Pfaffenberger 1966) und der Import der „Methodentrias“:
Einzelfallhilfe beziehungsweise Helfende Beziehung (Bang 1963, Perlman 1973), Soziale Gruppenarbeit (Konopka 1968) und Gemeinwesenarbeit (Ross 1968). Sie prägten die Sozialarbeit jener Zeit ebenso wie
die Ansätze einer Handlungstheorie und gesellschaftlichen Verortung
(Bartlett 1970), ergänzt durch empirische Untersuchungen zur Berufssituation (Lingesleben 1968), zum sozialen Fremdbild (Skiba 1969) und
zu den Berufsvollzügen der Sozialarbeiter (Helfer 1971). Erstaunlicher
Weise werden diese Arbeiten weitgehend ignoriert, obwohl sie zumindest in Teilen eigenständige Sozialarbeitsforschung repräsentieren und
der Praxis eine Theoriebasis gaben. Breit rezipiert wurde dagegen Hans
Scherpners „Theorie der Fürsorge“ (posthum 1962), mit den Hauptteilen „Fürsorgetheorien der Geschichte“ und „Theorie der modernen Fürsorge“. Sie entsprach – trotz mancher Kritik – dem zeitgenössischen
Verständnis einer „praktischen Theorie“ in anthropologischer Sicht mit
18
ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT.
sozialethischem Anspruch. Moderne Sozialarbeit aber verlangte nach
einer kritischeren Reflexion, die schon ab 1955 von Herbert Lattke als
Sozialarbeitswissenschaft eingefordert wurde (Pfaffenberger in diesem
Band). Spiegelten die Theoriebeiträge bis dahin meist den engen Zusammenhang von sozialen Problemen und beruflichem Handeln, verlor
die Methodenlehre nun ihre prägende, identitätsstiftende Kraft, da sich
die Aufgaben erweiterten und konkurrierende Berufe und Konzepte auftraten, die psychologisierend, therapeutisierend oder soziologisierend
einen Attraktivitätsvorsprung versprachen. Eine kritische Methodenreflexion förderte neue Handlungsstrategien und bahnte pluralen Arbeitsformen den Weg. Jenseits individualtherapeutischer Ansätze ist zum
Beispiel an Case Management und Task Strategies, an milieuorientierte,
soziotherapeutische und ökosoziale Konzepte zu erinnern, die ab den
80er Jahren an Bedeutung gewinnen und eigene theoretische Grundlagen entwickeln. Mit bezeichnender Verzögerung wird die „Methodenorientierung“ auf diese Weise von einer sozialwissenschaftlichen Theoriebildung abgelöst, die auf der Suche nach ganzheitlichen Erklärungen als „Holistic Conception“, später als „General Systems Approach“
und als „Ecological Approach“ international Verbreitung finden und
auch die deutsche Sozialarbeit im Bemühen um eine „praxisorientierte
Theorie der Sozialarbeit“ (Pincus/Minahan) beeinflussen (zum Beispiel
Hearn 1969, Smalley 1974).
Dritte Theoriephase (ca. 1973– 1991)
In Deutschland fällt die dritte Theoriephase mit der Reformbewegung
nach 1968 zusammen. „Zwischen Anpassung und Systemveränderung“
(Plant 1974) ist ein bezeichnender Titel, der den Aufbruch und die Ambivalenz einer gesellschaftskritischen Sozialarbeit markiert. Ein weites
Spektrum von Sozialarbeitstheorien spiegelt die wissenschaftstheoretische Kontroverse jener Zeit, – vorrangig auf der Suche nach einer Funktionsbestimmung beziehungsweise „gesellschaftlichen Perspektive“
(Otto/Schneider 1973). Obwohl die Zahl der Beiträge seitdem ständig
wächst, ist das Theorie- und Wissenschaftsverständnis der Sozialarbeit
und Sozialpädagogik damals wie heute unzureichend geklärt, das heißt
ihre systematische Aufarbeitung bedarf weiterer Anstrengungen (Rauschenbach/Züchner 2002, Staub-Bernasconi 2000).
Nach ausgewiesenem Erkenntnisinteresse und wissenschaftstheoretischer Position können die Ansätze der 70er Jahre vereinfachend als so19
ALBERT MÜHLUM
zialintegrative, das heißt auf Anpassung und Eingliederung bedachte,
oder als kritisch-emanzipatorische, das heißt auf Befreiung und Veränderung zielende Konzepte unterschieden werden. Für das integrative
Verständnis stehen die erwähnte Methodenlehre und die „Agogik“ (van
Beugen 1973); für das gesellschaftskritische Verständnis stehen neomarxistische Ansätze wie „Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen“ (Hollstein/Meinhold 1973) und „Krise und Sozialarbeit“ (Buer 1976). Da es sich kaum um ausformulierte Theorien handelt,
sondern eher um Konzepte und Denkmodelle, werden sie treffender als
theoretische Ansätze bezeichnet. Auf die Fragwürdigkeit des theoretischen Anspruchs geht zum Beispiel Helmut Lukas (1979) ein, der der
Sozialarbeitswissenschaft zwar einen vorparadigmatischen Status bescheinigt aber gleichwohl ihren wissenschaftlichen Anspruch untermauert (Rita Sahle in diesem Band).
Die nächsten Entwicklungsschritte sind danach eng mit der Professionalisierung verbunden. Da zu den Professionskriterien eine akademische Ausbildung auf wissenschaftlicher Grundlage gehört, war schon
dies Grund genug, die Theoriearbeit zu forcieren. Berufstheorien als reflexive Instanz für berufliche Praxis spiegeln neben dem jeweiligen
Stand der Theoriebildung auch die historischen Perspektivenwechsel,
zum Beispiel von der Für-Sorge zur Befähigungshilfe, von der Intervention zum Empowerment. Ungeachtet der sozialarbeitswissenschaftlichen Bemühungen blieb das Berufswissen noch stark von den „Bezugswissenschaften“ abhängig. Dazu trug der unterentwickelte disziplinäre
Status ebenso bei, wie das heikle Thema Armut und Benachteiligung,
das die Gesellschaft unvermeidlich mit Schuld und Versagen konfrontiert. Da sich unter dem Problemdruck des gesellschaftlichen Wandels
die personalen Dienste dennoch stetig ausweiten und verändern, verstärken sich auch die Bemühungen um eine theorie- und forschungsgestützte Lehre und damit der Anspruch auf wissenschaftliche Emanzipation. Die Hochschulen erkannten, dass ihre Nähe zur Praxis Chance und
Verpflichtung zugleich ist, zum Beispiel per Forschung Nutzen zu stiften, Profil zu gewinnen und Theorie zu schärfen, – und damit der Sozialen Arbeit als Disziplin den Weg zu bahnen (Maier 1999). Zwar wird
eine praktikable Berufstheorie und Sozialarbeitslehre oft als vorrangig
erachtet (Lüssi 1991), die fachliche Autonomie und wissenschaftliche
Emanzipation ist aber von Forschung und forschungsgestützter Lehre
abhängig, die deshalb in der Folgezeit ins Zentrum rückt. Ein systema20
ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT.
tischer Überblick über den damaligen Stand der Theoriebildung (Mühlum 1982), der Nachweis des wissenschaftlichen Status (Lowy 1983),
praxeologische Beiträge zu Theorie und Praxis ökosozialer Arbeit
(Mühlum/Olschowy/Oppl/Wendt 1986), Fallstudien zur SozialarbeiterKlient-Beziehung (Sahle 1987) und eine handlungstheoretische Grundlegung (Staub-Bernasconi 1986) leiten schließlich über zur vierten Theoriephase.
Vierte Theoriephase (ab 1992)
Können die 70er Jahre rückblickend mit dem programmatischen Buchtitel „Theorie der Sozialarbeit“ (Rössner 1973), die 80er Jahre mit „Praxisforschung in der Sozialen Arbeit“ (Heiner 1988) umschrieben werden, ist „Soziale Arbeit als Wissenschaft“ (Engelke 1992) beziehungsweise „Sozialarbeitswissenschaft“ (Wendt 1994) der Leitbegriff, der
sich seit den 90er Jahren an den Hochschulen für Soziale Arbeit durchsetzt. Professuren für SAW und das Zentralfach „Fachwissenschaft Soziale Arbeit“ sollen zur Integration des aufgesplitterten Wissens beitragen. In der Verständigung der Scientific Community über die Erkenntnisgewinnung mit sozialarbeiterischem Fokus versucht die SAW als
transdisziplinäre beziehungsweise multireferentielle „Querschnittsdisziplin“ der geforderten Multiproblemperspektive und Ganzheitlichkeit
gerecht zu werden (Pfaffenberger und Erath/Göppner in diesem Band).
Dabei dominiert die Systemtheorie als theoretischer Ansatz, muss allerdings hinsichtlich der Implikationen (und Variationen) kritisch reflektiert werden (W. Obrecht in diesem Band).
Ohne diesen Theoriediskurs zu vertiefen bleibt fest zu halten: Die SAW
beinhaltet – wie alle Sozialwissenschaften – eine Stufenfolge. Ausgehend
von einer spezifischen gesellschaftlichen Praxis (Praxis der Sozialen Arbeit), ist systematisch gewonnenes Erklärungs- und Interventionswissen
notwendig (Theorien der Sozialen Arbeit), das eine Handlungslehre begründet. Hinzu kommen Reflexionen über dieses theoretische Bemühen
(Metatheorie) und Grundsätze der Erkenntnisgewinnung (Methodologie), die zusammen die Disziplin begründen. Sie muss nicht als Einzelwissenschaft organisiert sein, sondern mag im Sinne eines summativen
Wissenschaftskonzeptes auch als die Gesamtheit des – wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden – Wissens über Soziale Arbeit verstanden
werden (Klüsche sowie Mühlum/Bartholomeyczik/Göpel in diesem
21
ALBERT MÜHLUM
Band). Für die 4. Theoriephase kann die Entwicklung in den folgenden
Quellentexten von 1987 bis 2002 schrittweise nachvollzogen werden
4. QUELLENTEXTE SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Der sozialarbeitswissenschaftliche Diskurs der letzten Dekaden (Hey
2000) ist in den Quellentexten dieses Bandes abgebildet. Dabei sei noch
einmal in Erinnerung gerufen, dass mit dem Projekt SAW buchstäblich
der eigensinnige Zugang und die eigenständige Reflexionsinstanz für
das Handlungsfeld Soziale Arbeit gesucht wird, ohne damit die sozialpädagogische Theorielinie auszuschließen oder gar abzuwerten. Deren
Theorietradition und Repräsentanz ist jedoch stark – und eigenwillig –
genug (Thole 2002, Otto/Thiersch 2001), als dass sie hier mitvertreten
werden müsste. Die ausgewählten Texte bilden einen repräsentativen
Teil des Wissenschaftsdiskurses ab, der seit Ende der 80er Jahre auf
Fachtagungen und in der Fachliteratur geführt wird. Hintergrund sind
gesellschaftliche Herausforderungen – nicht zuletzt eine sich zuspitzende Krise des Sozialstaats bei zunehmender Ausweitung der Sozialen Arbeit – und ein wachsendes Selbstbewusstsein der Lehrenden und Forschenden. Dadurch gewinnt die Entwicklung im letzten Jahrzehnt eine
eigene Dynamik.
Chronologie der Quellentexte
Die für diesen Sammelband ausgewählten Quellentexte repräsentieren
Entwicklungsschritte und Perspektiven der Disziplin in der Chronologie
von 1987-2002:
(1) Sie beginnen mit dem Beitrag von Silvia Staub-Bernasconi (1987):
„Wissen und Können – Handlungstheorien und Handlungskompetenz
in der Sozialen Arbeit“, einer Kurzfassung ihres wegweisenden Beitrags „Soziale Arbeit als eine besondere Art des Umganges mit Menschen, Dingen und Ideen – zur Entwicklung einer handlungstheoretischen Wissensbasis Sozialer Arbeit“ von 1986. Es ist die Skizze einer
Wissensbasis, die der komplexen Realität und der problembezogenen
Arbeitsweise Sozialer Arbeit gerecht wird und insofern eine Handlungswissenschaft begründet. Beide Aufsätze sind in der Schweiz erschienen und es dauerte einige Zeit, bis die Forderung nach disziplinärer Selbstbestimmung sich in Deutschland durchsetzte.
22
ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT.
(2) Dies fand mit Ernst Engelke (1992): „Soziale Arbeit als Wissenschaft“ einen adäquaten Ausdruck. Für die deutsche Theoriediskussion
und den Wissenschaftsanspruch hat sein Werk – dem hier ein Kapitel
aus Teil 2 entnommen ist – epochale Bedeutung, weil die Möglichkeit
und Notwendigkeit einer eigenständigen Disziplin offensiv vertreten
und mit Hinweis auf die Theorietradition plausibel begründet wird.
Kaum ein Beitrag im Wissenschaftsdiskurs kam in der Folgezeit ohne
Hinweis auf diese Studie aus. Sie gilt als Initialzündung für die Debatte
um Sozialarbeitswissenschaft.
(3) Dazu passt Hans Pfaffenbergers Aufsatz (1993) „Entwicklung der
Sozialarbeit/Sozialpädagogik zur Profession und zur wissenschaftlichen und hochschulischen Disziplin“, in dem er seine schon früher vorgebrachte Forderung nach einer eigenständigen Disziplin Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft bekräftigt und auf die aktuelle professions- und hochschulpolitische Situation bezieht, – im Sinne einer
„Lösung aus der falschen Subsumierung als Subdisziplin der Erziehungswissenschaft“.
(4) Die nächste Wegmarke folgte schon ein Jahr später mit dem von
Wolf Rainer Wendt (1994) herausgegebenen Sammelband „Sozial und
wissenschaftlich arbeiten. Status und Positionen der Sozialarbeitswissenschaft“. Sein eigener Aufsatz darin „Wo stehen wir in Sachen Sozialarbeitswissenschaft?“ führt die Grundsatzdebatte weiter. Er mahnt
eine eigene Reflexionskultur an und referiert u.a. den Stand der Wissenschaftsentwicklung im Hinblick auf die Praxisrelevanz und die Ausbildungserfordernisse auf der Grundlage einer empirischen Erhebung an
Fachhochschulen.
(5) Im gleichen Band erläutert Albert Mühlum (1994) die „Notwendigkeit und Programmatik einer Sozialarbeitswissenschaft“ und skizziert
in Ansätzen ein „klassisches“ Wissenschaftsprogramm für diese Disziplin, von der Gegenstandsbestimmung über Begriffsbildung (Kategoriensystem) und Methoden der Erkenntnisgewinnung bis zur Metatheorie.
(6) Wenig später beschleunigt sich der Diskurs mit diversen Zeitschriftenaufsätzen und weiteren Sammelbänden. In Ria Puhls Sammelband
„Sozialarbeitswissenschaft“ formulieren Peter Erath und Hans-Jürgen
Göppner (1996) „Thesen zur Begründung und Anlage einer Sozialarbeitswissenschaft“ und fordern dazu auf, die Dominanz des sozialpäda23
ALBERT MÜHLUM
gogischen Paradigmas zu beenden und sich der Sozialarbeitswissenschaft zu stellen. Dazu gehöre insbesondere die Berücksichtigung des
erweiterten Bezugssystems (Stichwort: Multireferentialität) und der Interventionsvielfalt (Stichwort: Multifunktionalität), die sozialarbeitswissenschaftlich integriert werden müssen.
(7) Zeitgleich (in: Merten/Sommerfeld/Koditek 1996) entwirft Peter
Sommerfeld die „Grundlagen und Perspektiven einer eigenständigen
wissenschaftlichen Disziplin“. Ausgehend von den Handlungssystemen
Wissenschaft und Praxis und der zwischen ihnen bestehenden Beziehung skizziert er eine Konzeption der Wissenschaft der Sozialen Arbeit
als integrative Handlungswissenschaft innerhalb der Sozialwissenschaften, die er als enorme Herausforderung begreift.
(8) Im darauf folgenden Jahr legen Mühlum/Bartholomeyczik/Göpel
(1997) mit „Sozialarbeitswissenschaft – Pflegewissenschaft – Gesundheitswissenschaft“ eine erste Monographie zur SAW vor, aus der hier
das Schlusskapitel präsentiert wird. Es reflektiert die Notwendigkeit einer professionellen Selbstklärung und die Chancen und Probleme einer
wissenschaftlichen Metakommunikation der beteiligten Disziplinen
„auf dem Weg zu Humanwissenschaften zweiter Ordnung“.
(9) Wiederum in einem Sammelband (Wöhrle (Hrsg.) 1998) entwirft
Reiner Feth den Rahmen einer „Sozialarbeitswissenschaft“ als Sozialwissenschaft neuer Prägung und curriculare Leitwissenschaft. Er stellt
die Grundzüge einer disziplinären Fachsystematik von Allgemeiner
und Spezieller SAW vor – mit dem Konzept der Lebensführung als Fokus beziehungsweise Gegenstandsbereich der Disziplin, das mit den
Strukturen seines Professionsmodells kompatibel ist.
(10) Danach legt ein Fachausschuss des Fachbereichstages Soziale Arbeit seine Ergebnisse vor: Wilhelm Klüsche (Hrsg.) (1999): „Ein Stück
weitergedacht … Beiträge zur Theorie- und Wissenschaftsentwicklung
der Sozialen Arbeit“. Vorwort und Einleitung, die hier wiedergegeben
sind, begründen den Wissenschaftsanspruch und rekurrieren auf ein
Wissenschaftsprogramm mit Definition, Gegenstandsbestimmung und
Bezugskategorien, das die Begriffe „Sozialarbeitswissenschaft“ und
„Wissenschaft der Sozialen Arbeit“ synonym verwendet.
(11) Im darauf folgenden Jahr erscheint der Artikel von Werner Obrecht
(2000): „Soziale Systeme, Individuen, soziale Probleme und Soziale Ar24
ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT.
beit“. Der Untertitel verweist auf die meta- und handlungstheoretischen
Grundlagen des „systemistischen“ oder systemtheoretischen Paradigmas der Sozialen Arbeit, das sich als elementare Systemkonzeption von
anderen Systemvorstellungen unterscheidet. Sie wird als integrative
Handlungswissenschaft verstanden, die professionelles Wissen integriert und dafür geeignete Metatheorien braucht („transdiziplinäre Integration von Wissen“).
(12) Den Abschluss bildet der Zeitschriftenartikel von Rita Sahle
(2002): „Paradigmen der Sozialen Arbeit – Ein Vergleich“. Ausgehend
von der Diagnose einer „nichtparadigmatischen Wissenschaft“ (Lukas
1979) referiert sie die zwischenzeitlichen Fortschritte und beurteilt den
aktuellen Wissenschaftsstatus. Ausgehend von vier Komponenten der
modernen Paradigmatheorie – theoretisch, empirisch, methodologisch
und programmatisch – unterzieht sie die fünf wichtigsten Schulrichtungen beziehungsweise Paradigmen der Sozialen Arbeit einer kritischen
Prüfung und belegt, dass sie theoretisch gereift und auf dem Weg zur
multi-paradigmatischen Wissenschaft ist.
Leseempfehlung Quellentexte
Die ausgewählten Quellentexte (12) sind chronologisch geordnet. Sie
können als umfassende Einführung fortlaufend gelesen oder nach folgenden Auswahlgesichtspunkten systematisch bearbeitet werden:
1. Entwicklungsgeschichte der SAW
Dazu empfiehlt es sich, mit dem Überblicksartikel von Hans Pfaffenberger (3) zu beginnen und dann die schrittweise Entwicklung des Diskurses zu verfolgen – von Silvia Staub-Bernasconi (1), Ernst Engelke (2)
und Wolf Rainer Wendt (4) bis zu Wilhelm Klüsche (10).
2. Notwendigkeit und Gegenstand der SAW
Hier tritt schon ein Teil der Grundsatzdebatte um Sozialarbeitswissenschaft in den Blick. Die einführenden Beiträge Staub-Bernasconi (1),
Wendt (4) und Mühlum (5) vermitteln dazu eine Grundlage, ergänzt
durch Erath/Göppner (6), Reiner Feth (9) und die Arbeitsgruppe um
Wilhelm Klüsche (10).
25
ALBERT MÜHLUM
3. Handlungswissenschaft und wissenschaftliche Fundierung
Die wissenschaftstheoretischen Ansätze sind etwas sperriger, für die
Entwicklung der SAW aber besonders bedeutsam. Als Einführungen
eignen sich Silvia Staub-Bernasconi (1), Peter Sommerfeld (7) und Rita
Sahle (12). Andere Ansätze verfolgen Mühlum et al. (8) und Werner
Obrecht (11), wobei vor allem die differenzierte Betrachtung systemtheoretischer Konzepte von Bedeutung ist.
4. Konzepte und Paradigmen der SAW
Unterschiedliche Konzepte und Zugangsweisen zu einer Disziplin gehören zum Wissenschaftspluralismus. Einen Einstieg bieten Engelke
(2), Wendt (4) und Sommerfeld (7), die durch den systematischen Paradigmenvergleich von Rita Sahle (12) vortrefflich ergänzt werden. Werner Obrecht (11) liefert dazu implizit eine kritische Betrachtung des
Luhmannschen Systemansatzes.
5. SAW kontrovers
Der Disput um Sozialarbeitswissenschaft im doppelten Spannungsbogen von Universität vs. Fachhochschule und Sozialarbeit vs. Sozialpädagogik wurde in der Textauswahl bewusst ausgespart. Dennoch lassen
die befürwortenden Texte auch das Grundmuster der Gegenargumentation erkennen, zum Beispiel bei Staub-Bernasconi (1), Erath/Göppner
(6), Feth (9) und Klüsche (10).
(Literaturnachweis der Quellentexte in den Fundstellen am Ende des
Bandes).
26
Wissen und Können – Handlungstheorien und
Handlungskompetenz in der Sozialen Arbeit
Silvia Staub-Bernasconi
1. EINLEITUNG
Mit diesem Thema stellen sich zwei Probleme der Wissensproduktion
in der Sozialen Arbeit: Das erste ist die vielbeklagte Diffusität der Theoriebildung; sie wird auf den unklaren, zu umfassenden Objektbereich
zurückgeführt, was die Zuordnung zu irgendeiner Disziplin verunmögliche. Das zweite ist die unselige Arbeitsteilung bei der Produktion von
sogenannten Basis- und Praxiswissen, wodurch ein Auseinanderfallen
der beiden Wissensformen vorprogrammiert ist.
Ich selber begrüße diese Widerspenstigkeit; beide Probleme sind nämlich ein typisches Produkt der heutigen, mehrheitlich monodisziplinären
Mechanismen der Wissensproduktion. Versuche, Soziale Arbeit theoriewürdig zu machen, sollen uns damit konfrontieren, dass sich der Umgang mit menschlichem Leiden, mit Leiden in und an der Gesellschaft,
keiner einzeldisziplinären Zwangsjacke zu- oder gar unterordnen lässt.
Ebenso sollen sie uns zeigen können, wie sich die Frage nach menschenund gesellschaftsgerechtem Wissen in reflektiertes soziales Engagement übersetzen lässt. Leiden, Empörung darüber und der Wunsch, einen Beitrag zu seiner Behebung zu leisten, bilden bei aller Vielfalt sozialarbeiterischer Probleme und Praxis den Ausgangspunkt der hier dargestellten Suche nach Methoden beziehungsweise Handlungstheorien.
Als Handlungstheorie bezeichne ich die Zusammenschau und systematische Verknüpfung verschiedener Wissensformen beziehungsweise
der damit verbundenen Aussagen.
Handlungswissen, das Grundlagen- und Praxiswissen nicht isoliert nebeneinander entwickelt, hat folgende Komponenten:
• Gegenstands-Wissen: Es erfasst ein Problem in raum-zeitlicher Hinsicht und beantwortet damit die Frage nach seiner Beschaffenheit,
seiner Ereignisgeschichte sowie seiner geographischen und kulturellen Variationsbreite;
• Erklärungs-Wissen: Es erhellt die Entstehung eines problematischen
Sachverhaltes sowie die Bedingungen seines Fortbestandes oder
27
SILVIA STAUB-BERNASCONI
Wandels. Darin eingeschlossen ist auch das Wissen über die Politiken der Akteure, welche den problematischen Sachverhalt produzieren oder verändern;
• Wert- oder Kriterien-Wissen: Dieses – philosophisch-ethische –
Wissen ermöglicht die Be- und Verurteilung problematischer Sachverhalte wie den Entwurf wünschbarer Zustände und Prozesse, die in
Zielformulierungen eingehen;
• Verfahrens- oder Veränderungs-Wissen als theoretisch und wertmäßig begründete Pläne und konkrete Handlungsanweisungen: Sie geben an, wie problematische Sachverhalte womöglich in erwünschte
verwandelt werden können;
• Funktions-Wissen: Es ist das Produkt einer systematischen empirischen Auswertung der durch bestimmte Arbeitsweisen erzielten
Haupt- und Nebeneffekte in bezug auf die von der Intervention betroffenen und benachbarten Teil-Systeme. Im besonderen ist es das
Wissen darüber, welche Prozesse beziehungsweise Interventionen
zur Stabilisierung oder Veränderung von sozialen Systemen beitragen.
Die folgenden Erläuterungen beschreiben die wichtigsten Marksteine
der Methodengeschichte und zeigen mithin, wie in jeder Entwicklungsphase diese Elemente unterschiedlich gewichtet wurden.
2. METHODEN DER SOZIALEN ARBEIT ALS PRODUKT
DER EMPÖRUNG VON FRAUEN (1875– 1930)
Dass die vom Frühkapitalismus produzierte Massenarmut am Anfang
professioneller Sozialer Arbeit steht, ist nachgerade unbestritten. Dass
nicht nur das Leiden, sondern der staatliche wie religiös-karitative, politische, schulpädagogische und gewerkschaftliche Umgang mit diesem
Massenelend und den davon am schwersten Betroffenen bei gebildeten
Frauen Empörung hervorrief und sich diese Empörung in eine Forderung
nach wissenschaftlicher Reflexion wie nach lokal, national und international engagierter Praxis umsetzte, ist schon eher hervorhebenswürdig.
Alice Salomon (1872 – 1948) charakterisiert diese Distanznahme am
besten, wenn sie in ihren Lebenserinnerungen festhält: „Wir mussten uns
auseinandersetzen mit Liberalen, die Freiheit für die Starken wollten, um
28
WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
die Schwachen auszubeuten; mit Sozialisten, die entweder eine neue
Ordnung oder gar nichts wollten; mit Konservativen, die zu Zugeständnissen bereit waren, soweit dies ihren eigenen Interessen nützte. Wenn
ich nicht von Anfang an in der Frauenbewegung gewesen wäre, würden
schon meine Erfahrungen in der sozialen Arbeit allein mich geradezu gezwungen haben, mich jenen Frauen anzuschließen, die wussten, dass es
keinen anderen Reichtum als das Leben selbst gibt und dass das Leben
gewürdigt und geschützt werden muss.“
Die Pionierinnen der Sozialarbeit wehrten sich gegen den bisherigen kontrollierend-repressiven Umgang mit Armen, der das Umfeld des Klienten
nur im Hinblick auf Unterstützungs- oder Rückerstattungspflichten berücksichtigte. So setzte vor allem Mary Richmond (1861 –1928) dem diagnostischen Verständnis ihrer Umwelt, das mit der Grundvorstellung
ausfallender Moral oder Produktivkraft arbeitete, die Forderung nach
umfassender Sozialer Diagnose gegenüber, nämlich nach der möglichst
exakten Definition der Situation und der Persönlichkeit eines Menschen
mit bestimmten sozialen Bedürfnissen, und zwar im Zusammenhang mit
andern Menschen und den sozialen Institutionen seiner Umgebung.
Hauptanliegen war, die richtigen Fragen zu stellen und die richtigen Daten zu sammeln im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der Auskunftgeber
wie Familienmitglieder, Nachbarn, Verwandte, Gesundheitspersonal,
Lehrer, Arbeitgeber usw. und weniger im Hinblick auf die Unterstützungswürdigkeit der Armen (Einwanderer, verlassene oder verwitwete
Frauen, verwahrloste Kinder, unverheiratete Mütter, Obdachlose, Geisteskranke und Schwachsinnige). Diese Auskunftgeber waren es, die man
in bezug auf eine zuverlässige, unverzerrte, überprüfbare, sich auf Fakten
und nicht auf Gerüchte, kirchliche Moralvorstellungen und bürgerliche
Ressentiments abstützende Beurteilung des Problems hin durchleuchten
sollte. Damit waren auch Armut, ihre Bestimmungskriterien und Folgen
neu definiert. Sie wurde dadurch der Unvermeidbarkeit entrissen und so
zum Produkt kumulativer biographischer, kontextueller wie gesellschaftlich-geschichtlicher Lebensumstände, die wissenschaftlich und damit
möglichst ohne die von den gesellschaftlichen Machtträgern vorgeschriebenen Wertungen zu ergründen waren.
Obwohl Jane Addams (1860 –1935), die Mitbegründerin des Nachbarschaftshauses „Hull House“ in Chicago, die Arbeiterbewegung aufgrund der Befürchtung kritisierte, dass der Klassenkampf neue gewalttätige Herrscher an die Macht bringen könnte, war sie davon überzeugt,
29
SILVIA STAUB-BERNASCONI
dass es keine Soziale Arbeit unabhängig von der Arbeitssituation der
Armen geben konnte. So setzte sie sich nicht nur für Bildungs-, Freizeitund Kulturaktivitäten, sondern auch für Reformen der industriellen Arbeit, die Verbesserung des Arbeitsschutzes insbesondere für Frauen und
Kinder, die Begrenzung der Arbeitszeit und die Einführung des Frauenwahlrechts ein, welches sie als eigentliche Voraussetzung für die Verbesserung der Lebensverhältnisse ansah. Deshalb unterstützte sie aktiv
die Organisationstätigkeit der Gewerkschaften und half bei der Gründung der Gewerkschaft der Textilarbeiterinnen wie der Toilettenfrauen
von Chicago mit. Als der erste Weltkrieg ausbrach und sie sich nach der
internationalen Frauenkonferenz in Den Haag von 1915 – zusammen
mit anderen Frauen der von ihr präsidierten Women’s International League for Peace and Freedom – öffentlich bei den kriegführenden wie
„neutralen“ Regierungen für die Beendigung des Krieges durch Verhandlungen anstelle der Sieg-oder-Niederlage-Logik einsetzte, wurde
sie in ihrer Heimat als die gefährlichste Frau Amerikas öffentlich geächtet, mit Redeverbot belegt und zusammen mit ihrem Kollegen W.I. Thomas von der Universität gewiesen (Deegan 1989). Erst nach über zehn
Jahren Beschattung durch die CIA und sozialer Isolation erinnerte man
sich ihres Beitrages über „Newer Ideals of Peace“ (1907), der ihrem
Denken und Handeln während des Weltkrieges zugrunde lag und würdigte beides 1931 mit dem Friedensnobelpreis. Ihre methodische Konzeption lässt sich wie folgt charakterisieren: Einzel- und Gruppenarbeit
war der reformerische Innenaspekt der Arbeit in den Settlements; Nachbarschafts- und Gemeinwesenarbeit, Einmischung in die Sozial- und
Friedenspolitik war der reformpolitische Außenaspekt. Individuumwie gesellschaftsbezogenes Arbeiten vollzog sich nicht arbeitsteilig,
sondern vereinigte sich in derselben Person und handlungstheoretischen
Konzeption.
Interessant ist nun aber, dass zunächst nicht dieses weite Methodenverständnis in die Ausbildungsdiskussion Eingang fand, sondern dessen
Verengung auf den Umgang mit Individuen und Familien, vornehmlich
im Rahmen von Wohlfahrtsorganisationen – dies obwohl um 1915 allein in New York 2200 Einzelhelfer, 1200 Gruppenarbeiter und 500 Gemeinwesenarbeiter beschäftigt waren. Die Verengung schlug sich auch
an der ersten Konferenz zu Ausbildungsfragen in Sozialer Arbeit im
Jahre 1929 nieder, wo es vor allem um die Festlegung eines Kataloges
von Einzelaktivitäten und -techniken ging wie Analyse. Diagnose, Pro30
WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
gnose, Vertrag; Beobachtung, Interview, Ermittlung, Überweisung; Adoption, Heimerziehung; Planen, Organisation, Partizipation etc. Die
Anlehnung an etablierte akademische Disziplinen wie Medizin und Jurisprudenz ist unverkennbar. Sie konnten offenbar viel präziser auf die
Bedürfnisse nach wissenschaftlicher Klärung des Handlungsvollzuges
eingehen als die damals ebenfalls um universitäre Anerkennung ringenden sozialwissenschaftlichen Disziplinen.
3. DIE KLASSISCHEN AMERIKANISCHEN METHODEN: EINZELHILFE,
GRUPPEN- UND GEMEINWESENARBEIT (1930– 1970)
Obwohl Amerika zu Beginn der 30er Jahre eine große wirtschaftliche
Depression erlebte, die eindrücklich zeigte, dass nicht alle Arbeit finden, die arbeiten wollen, tat dies dem Optimismus der Gründerjahre nur
vorübergehend Abbruch. Parallel zur Einführung der großen sozialen
Existenzsicherungssysteme (Social Security Act) kam es zu einer alle
westlichen Industrienationen erfassenden ökonomischen Aufschwungsund Expansionsphase. Kulturell gestützt wurde diese Entwicklung in
den USA durch drei große Wertorientierungen, die auch in der Methodenlehre ihren Niederschlag fanden, nämlich die Anerkennung menschlicher Grundbedürfnisse und Existenzsicherungsrechte durch die Deklaration der Menschenrechte, ein liberaldemokratisches Gesellschaftsbild und das jüdisch-christliche Gedankengut.
Soziale Arbeit wurde inzwischen an verschiedensten Universitäten gelehrt. Größtes übergreifendes Anliegen der Ausbildner wurde, im Rahmen immer wieder neuer Standortbestimmungen – in Arbeitsdefinitionen (Working Definitions) – festzuhalten, dass Soziale Arbeit eine
Kombination von Werten, Zwecken, Wissen, Methoden und Können
mit der entsprechenden professionellen und gesellschaftlichen Legitimation sein und bleiben muss. Aber in keiner Arbeitsdefinition ist mehr
von Not, Leiden, entwürdigenden Arbeits-, Wohn- und Bildungsverhältnissen – also vom Ausgangspunkt und Gegenstand Sozialer Arbeit
– die Rede. Die blasse Formulierung, dass es um die Anpassung zwischen Mensch und Umwelt, um soziales Funktionieren gehe, hat die anfängliche Empörung über Menschenunwürdiges ersetzt. Dafür legte
man um so mehr Gewicht auf die Auslegung der obgenannten Wertvorstellungen; sie fanden in folgenden, allgemeinen Maximen ihren handlungsnormierenden Niederschlag:
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SILVIA STAUB-BERNASCONI
• Die Maxime der Individualisierung und damit des Eingehens auf die
besondere Situation des jeweiligen Klientensystems („Dort anfangen, wo der Klient/die Klientin steht!“).
• Die Maxime der nicht-richtenden Haltung – und damit auch der verstehenden beziehungsweise erklärenden Haltung: Die Tat, aber nicht
der Täter sollte verurteilt werden.
• Die Maxime der möglichst weitgehenden Selbstbestimmung des Klientensystems.
• Die Maxime der Setzung konstruktiver Grenzen im Hinblick auf
Mitmensch und Realität.
Der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der Methoden wurde wie folgt
begründet: Es ging um planmäßiges Vorgehen – meist nach einem handlungstheoretischen Drei- oder Mehrphasenkonzept gegliedert – das eine
Diagnose, Behandlungsschritte, Zielbestimmung, Vertrag, Intervention
oder Prozessbegleitung, Stabilisierung, Abschluss und systematische
Auswertung vorsah. Die normative Verurteilung von Klienten sollte
durch ein Fragen nach den Ursachen von Armut, Suchtverhalten, Erziehungs-, Schul- und Leistungsversagen ersetzt werden. Die später vielkritisierte Freud-Rezeption, u.a. die Vorstellung des Unbewussten, entlastete das Individuum vor Schuldzuschreibungen. Aber auch die übrigens etwa zur gleichen Zeit einsetzende, doch viel weniger beachtete
Soziologie-Rezeption im Zusammenhang mit der „Chicago-Schule“
zeichnete sich dadurch aus, dass sie benachteiligte Gemeinwesen soziodemographisch, sozio-ökologisch und -ökonomisch beschrieb und die
entsprechenden Sachverhalte zur Erklärung des Verhaltens von Jugendbanden, Slum-Familien, von weitverbreitetem Alkoholismus, von Kriminalität und Frauenhandel usw. einführte. Zugleich verwies sie in ihren
Schriften auf das auch in großer Not feststellbare Solidarverhalten, die
gegenseitige Hilfe nicht nur innerhalb der eingewanderten ethnischen
Gruppen, sondern auch zwischen den Mitgliedern verschiedener ethnischer Herkunft. Die Frauen von Hull House führten unter der Leitung
von Jane Addams nicht nur Sozialenquêten durch, sie benutzten auch
Studien über Fabrikarbeit, Jugendgangs, Bordelle usw., um damit sozial-, auch jugendpolitische Forderungen zu begründen und durchzusetzen. Parallel dazu entstand an den Universitäten die Methodenliteratur
des „Case-, Group- und Community-Work“, aufbauend auf einer mehrsemestrigen Vorlesung über „Human Behavior and Environment“. Al32
WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
lerdings fanden zu Beginn oft nur ausgewählte theoretische Begriffe aus
den Human- und Sozialwissenschaften Eingang in diese Methodenkonzeptionen: In der Einzelhilfe (case-work) stützte man sich zum Beispiel
auf die Begriffe soziales Funktionieren, Motivation, emotionale Grundbedürfnisse, Ich-Stärke etc.; in der Gruppenarbeit (group-work) auf solche wie Gruppen-Zusammenhalt, -rollen, -struktur und -prozess etc. und
schließlich in der Gemeinwesenarbeit (community-work) auf Begriffe
wie soziale Organisation, Ressourcen, soziokulturelle Wertmuster, Teilnahme und Führerschaft etc. All diese Begriffe wurden multifunktional
eingesetzt, das heißt sie dienten ebenso der Beschreibung, der (Er)Klärung und der Beurteilung von Situationen und Personen als auch zur Motivierung und Befähigung zu nichtrichtender Hilfe und zum Ausprobieren neuer Verhaltensweisen. Dies machte sie für den Praktiker so
brauchbar, für den theoretisch geschulten, der gelernt hat, all dies denkerisch zu trennen, so anfechtbar.
Die in der Schweiz wie in Deutschland starke Verbreitung der „klassischen amerikanischen Methoden“ in den Jahren 1945 bis etwa 1970 hat
mit dem besonderen Verhältnis dieser Nationen zu den USA nach dem
2. Weltkrieg zu tun. Für Deutschlands Lehrkräfte und Praktiker vermittelten sie im Rahmen der demokratischen Edukationsprogramme die
Hoffnung auf einen Beitrag zur Lösung der sozialen und psychischen
Probleme im Nachkriegsdeutschland; die Selbsthilfekräfte und ein neu
erwachender Individualismus sollten gegenüber dem erlebten Kollektivzwang des Nationalsozialismus gestärkt und zugleich an einem partnerschaftlichen demokratischen Umgang mit Klienten konkret erprobt
werden. Was die schweizerischen Lehrkräfte am damaligen „Social
Work“ faszinierte, war die Innovations-, Experimentier- und Risikofreudigkeit seiner Vertreterinnen, die fortgeschrittene Professionalisierung und die früh angestrebte human- und sozialwissenschaftliche
Grundlegung der Sozialen Arbeit.
4. METHODENKRITIK HÜBEN UND DRÜBEN (1960– 1975)
Slums und Ghettos in den Großstädten waren für die dort niedergelassenen Minderheiten wie für die neu hinzukommenden Immigranten keine
Durchgangs-, sondern trostlose Endstationen. Es waren die Praktiker und
Sozialarbeits-Studenten, die den Ausbildnern in hitzigen Debatten und
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SILVIA STAUB-BERNASCONI
Gegen-Kongressen vorwarfen, nichts zu den gesellschaftlichen Problemen der Armut, der Rassendiskriminierung, zu menschenunwürdigen
Gefängnisbedingungen, miserablen Wohnverhältnissen in Großstädten
wie zu den ungleichen Bildungs- und Beschäftigungschancen etc. zu sagen zu haben. In den Lehrplänen dominierte die Einzelhilfe. Dabei setzte
die Kritik nicht primär an der gesellschaftlichen Machtstruktur, sondern
bei der Diskrepanz zwischen national proklamierten Werten, den verfassungsrechtlich jedem Bürger/jeder Bürgerin zustehenden (zivilen) Rechten und sozialer Wirklichkeit an. Die Theorie, die in dieser Konstellation
von Anklage und Ratlosigkeit an Boden gewann, konnte somit keine
Klassentheorie sein; es war eine Theorie der je nach sozial-ökologischer
Umwelt ungleich verteilten gesellschaftlichen Startchancen. Sie war gemeinsames Produkt eines Sozialarbeiters und eines Soziologen (Cloward
& Ohlin 1960) und stand Pate für das Riesenprojekt „Mobilization for
Youth“ in der Lower East Side von New York. Man sprach von einem
35-Millionen-Test der Theorie der strukturellen Chancen. Die bisher isolierte Entwicklung der drei Methoden hat den Boden für die wichtigste
handlungstheoretische Innovation dieser Jahre wie dieses Projektes vorbereitet, nämlich der bewussten Konzertierung von Hilfe für gesellschaftliche Randgruppen auf allen sozialen Ebenen (Individuum, Familie, Gruppe, Organisation, Stadtteil bis zum nationalen Niveau). Zum ersten Mal arbeiteten SozialarbeiterInnen, Stadt- und Bundesregierung, private Institutionen und eine Universität (die Columbia University School
of Social Work) im Rahmen einer Mehrebenenstrategie im ganz großen
Maßstab zusammen. Es gab aber auch Neuerungen in den verschiedenen
Methoden: Das „Casework“ wurde durch spezifische Formen der Kurzund Krisenintervention, der Arbeit mit Multi-Problem-Familien, des Einbezuges der Nachbarschaft, Schule und Polizei erweitert. Techniken der
Anwaltsplanung wurden entwickelt. Die Gruppenarbeit erweiterte ihren
Wirkungskreis auf Gewerkschaften, Schulen, Gefängnisse, öffentliche
Spitäler und Kliniken, Slum-Hotels; Gemeinwesenarbeit, die sich die Integration von Minoritäten mittels Konsensbildungsprozessen zum Ziel
gemacht hatte, wurde durch konfliktive Strategien ergänzt. Interessanterweise hatte diese Politisierung keine Distanzierung von (wissenschaftlichen) Professionalitätskriterien zur Folge. Eine namhafte Anzahl SozialarbeiterInnen bemühte sich vielmehr um die Integration des politischen
Rollen- und Kompetenzverständnisses in ein fachpolitisches Professionalitätsverständnis.
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WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
Der Geburtsort der europäischen Kritik an den drei klassischen Methoden war nicht das Engagement in sozialer Praxis, sondern das Bildungssystem, das immer mehr Sozialwissenschaftler produzierte, die u.a. die
Soziale Arbeit als Analyse-, Lehr- und Berufsfeld entdeckten, um gesellschaftliche Veränderungen einzuleiten. Ihr besonderes Interesse
richtete sich auf die Entlarvung der Unwissenschaftlichkeit der Methoden, die einseitige psychoanalytische Orientierung und schließlich die
Uneinlösbarkeit des nicht-direktiven beziehungsweise partnrschaftlichen Anspruchs angesichts der Interessen der herrschenden Klasse und
ihrer sozialen Kontrollagenturen (Hollstein/Meinhold 1973, Autorenkollektiv 1976). Hintergründig galt die Kritik der mit weltmissionarischem Eifer betriebenen theoretischen Kolonialisierung Europas durch
Vertreter der Weltmacht USA, deren positives Befreiungs-Image ab
1968 (Vietnam-Krieg) stark ins Wanken geriet. Methodisch ging es um
eine – u.a. von Marcuse inspirierte – Randgruppenstrategie; vereinzelt
wurde auch von einer zu fördernden Verelendung als Voraussetzung für
eine mögliche Revolution ausgegangen. Vordergründig nahm sich die
Kritik ausgerechnet das von Frauen gelehrte „Casework“ zur Zielscheibe, um Forderungen nach kritischer Gesellschaftstheorie zu erheben. Die
Hilfe an den einzelnen Menschen, Fürsorglichkeit hatten keinen Eigenwert mehr, sondern mussten auf dem Altar des Gesamtinteresses geopfert werden. Hauptschauplätze der konfliktiven Auseinandersetzungen
waren meistens nicht die Lebensorte der Klienten, sondern die Ausbildungsstätten und sozialen Institutionen; diese reagierten auf die Angriffe
mit Kontrolle und Repression. Diese Aktivitäten wurden wiederum den
Kritikern zum Beweis für deren Interessengebundenheit und Handlangertum im Dienste des kapitalistischen Systems. Verlierer waren nicht
nur die Praxis, die Praktiker und Klienten, sondern auch die MethodikDozentinnen, die, zu bloßen Anhängseln degradiert, ihre Stellen zum
Teil frühzeitig aufgaben beziehungsweise in Deutschland nicht in den
Professorenstatus befördert wurden.
Versucht man, eine vorläufige Bilanz dieser kritischen Phase zu ziehen,
dann besteht ihr Hauptgewinn darin, unüberhörbar das Verhältnis von
Sozialer Arbeit und Gesellschaft neu thematisiert zu haben, ein Thema,
das an die Epoche der Settlement-Bewegung erinnert. Das Problem der
Wissenschaftlichkeit blieb ungelöst, sofern man darunter die empirische
Überprüfung (handlungs)theoretischer Aussagen in ihrer Erklärungskraft für Soziale Probleme, ihrer Brauchbarkeit für die Begründung von
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SILVIA STAUB-BERNASCONI
Strategien und Handlungsleitlinien sowie ihrer Wirksamkeit versteht.
Etwas pointiert ließe sich zusammenfassen, dass die ursprünglich jüdisch-christlichen und liberal-demokratischen Wertvorstellungen sowie
die entsprechenden Handlungs-Maximen durch humanistische und/
oder marxistisch-staatskapitalistische ersetzt wurden. Für die Weiterentwicklung einer handlungstheoretischen Basis zeigten sich folgende
Probleme (vgl. auch Wagner 1976):
• Menschliches Leiden lässt sich nicht so ohne weiteres, zum Beispiel
über die Vermittlung des gesellschaftlichen Lageerlebnisses oder des
„richtigen“ Bewusstseins, in Empörung, Wut, sozialen Protest und
Wandel umsetzen;
• Weder die Interaktion zwischen Menschen, die aufgrund von Umweltanforderungen soziales Funktionieren lernen müssen, noch der
fundamentale Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital sind ausreichende Gegenstandsbestimmungen Sozialer Arbeit;
• Gesellschaft ist kein monolithisches Gebilde, das sich durch einen
einzigen Widerspruch quasi monokausal oder mittels eines harmonischen Gleichgewichtsmodells erklären lässt;
• Vor Interessendurchsetzung auf Kosten anderer, und dies im Namen
höchster Werte, sind auch Ausbildner beziehungsweise Theoretiker
des Sozialwesens nicht gefeit;
• Soziale Arbeit kommt nicht ohne Reflexion ihres besonderen gesellschaftlichen Standortes und damit des sehr unterschiedlichen Zugangs ihrer Akteure (Praktiker und Ausbildner) zu den gesellschaftlichen Sektoren wie Bildung, Wirtschaft, Kultur, Familie und Politik
aus; will sie an ihrem Anspruch festhalten, Leiden in und an der Gesellschaft und Kultur mitzubeheben, so wird die methodische Leitvorstellung der „konzertierten Aktion“ weiterverfolgt werden müssen.
In einem interessanten Beitrag – „Verelendungstheorie – die hilflose
Kapitalismuskritik“ – hat Wolf Wagner (1976) herausgearbeitet, dass,
empirisch betrachtet, in Deutschland als ökonomisch hoch entwickelte
Nation die Bedingungen für eine Revolution keineswegs vorlagen.
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WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
5. METHODEN ALS BERATERISCH-THERAPEUTISCHE UND
FACHPOLITISCHE VERFAHREN – BEKENNTNIS ZUM PLURALISMUS
(CA. AB 1975)
Die pauschale Vermiesung der klassischen Methoden hinterließ hilflos
gemachte Helfer und schuf gleichzeitig einen neuen Markt für die Angebote renommierter Psychiater, Therapeuten, Psychologen, Organisationsberater etc. Während man sich in den öffentlichen Diskursen immer
noch mit der Frage „Gesellschaft oder/anstatt Individuum“ auseinander
setzte, hielten an den Ausbildungsstätten still und leise die „wissenschaftlichen Methoden“ Einzug: Das „Casework“ wurde zuerst durch
die wissenschaftliche Gesprächsführung, dann durch die System- und
Kommunikations- und/oder Verhaltenstherapie ersetzt, das „Groupwork“ durch Gruppenpsychologie und Gruppendynamik, das „Community Work“ teilweise durch Sozial-, Aktionsforschung oder Sozialplanung etc. Ebenso still und leise wurde in der Schweiz ein mehr als 5jähriges Lehrplanprojekt aller Ausbildungsstätten 1978 beerdigt, nachdem es weder einer therapeutischen noch einer politischen Richtung gelang, die Oberhand zu bekommen. Einigkeit bestand allein in einem Bekenntnis zum Pluralismus: Soziale Arbeit sollte fortan das sein, was mittlerweile jede einzelne Schule und ihre Ausbildner als Soziale Arbeit
definierten. Ob implizit oder explizit, verbindlich für die Methodenentwicklung blieb laut Ausbildungsrichtlinien 1981 der Schweizerischen
Arbeitsgemeinschaft der Schulen für Soziale Arbeit (SASSA) nur noch
die Vorstellung, dass es praxisleitende Ausbildungselemente brauche
für die Arbeit auf verschiedenen sozialen Ebenen oder mit verschiedenen sozialen Systemen (Individuen, Familien, Gruppen, Organisationen
und Gemeinwesen oder im Zusammenhang mit gesellschaftlichen
Randgruppen wie Arbeitslosen, Ausländern, Behinderten). Damit war
der Grundstein für die weitere Entwicklung gelegt: Ursprünglich mit
Vorstellungen über den Zusammenhang zwischen „Problemanalyse und
Problembehandlung“ verknüpft, wurden diese sozialen Ebenen oder
Systeme immer mehr zu handlichen „Black Boxes“, in die sich jede beraterische wie therapeutische Methode, aber auch jedes (sozial-) politische Aktivitätsprogramm einfüllen ließ. Da Einzelhilfe oder Gruppenarbeit allein noch keine Methoden bezeichnen, sondern auf Hilfeleistungssysteme hinweisen, in deren Rahmen eine Vielzahl von Methoden
denkbar sind (Brack 1981), wurde die Soziale Arbeit zum großen me37
SILVIA STAUB-BERNASCONI
thodentheoretischen Abfalleimer. Es folgt eine knappe Übersicht über
das Ergebnis dieser Phase:
Die Übersicht zählt die Methoden nicht nur zusammenhangslos auf (für
ein heutiges Beispiel vgl. Galuske 1998), sondern folgt einer dreidimensionalen Logik von Problemdefinition, sozialer Ebene der Intervention
und problembezogenem Verfahren, die später genauer erläutert wird. Sie
geht also zum einen davon aus, dass Soziale Arbeit auf verschiedenen sozialen Ebenen stattfand und nach wie vor stattfindet. Zum andern berücksichtigt sie die Tatsache, dass es Soziale Arbeit aufgrund von Armut,
Krankheit, Erwerbslosigkeit sowie miserablen Lebensbedingungen historisch und aktuell auf allen Ebenen zunächst mit individueller wie gesellschaftlicher Ressourcenerschließung im weitesten Sinn zu tun hatte
und hat (Staub-Bernasconi 2001). Dabei hat sich in historischer Abfolge
jeweils eine kooperative (Ressourcenerschliessung I) und eine konfliktive methodische Variante (Ressourcenerschliessung II) herausgebildet,
was sich dadurch erklären lässt, dass es sich um die Erschließung von
knappen, durch gesellschaftliche Machtträger kontrollierte Güter handelt, die man ihnen zuweilen abtrotzen muss. Diejenigen Methoden, die
im Verlaufe der Auseinandersetzung mit disziplinärem Grundlagenwissen hinzukamen und meist im Kontext von Therapien für MittelschichtklientInnen, aber auch StudentInnen entwickelt wurden, lassen sich weiteren Problemdimensionen wie zum Beispiel fehlende beziehungsweise
gesellschaftlich beeinträchtigte Erkenntnis- und Handlungskompetenzen, soziale Isolation, problematische Selbst-, Fremd- und Gesellschafts/Weltbilder zuordnen.
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WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
Übersicht 1:
Methodenpluralismus und Methodenimport in der Sozialen
Arbeit
Explizit oder implizit importiertes
• Ressourcenerschließung I: „Tra- Problemverständnis
• Probleme der sozio-ökonomiditionelle“ Sachhilfe
schen bzw. ökologischen Aus• Ressourcenerschließung II: Anstattung
waltsplanung
Arbeit mit Individuen
• Psychosoziale Diagnose und Be•
handlung
Klientenzentrierte Beratung
Wissenschaftliche Gesprächsführung
Transaktionale Analyse
Gestalttherapie
•
• Logo-Therapie (Frankl)
Neurolinguistisches Programmieren
• Verhaltenstherapie
• Psychodrama und Rollenspiel
• Körperbezogene Methoden
Probleme des Psychischen, der
Informationserarbeitungskompetenz im emotionalen, normativen und kognitiven Sinn
Probleme der Sinnlosigkeit, der
unangemessenen Selbst-, Menschen-, Gesellschaftsbilder, der
unangemessenen Codierung von
Situationen etc.
• Probleme unangepassten, dysfunktionalen Verhaltens oder
fehlender Handlungskmpetenz
• Probleme der körperlichen Ausstattung ihres Zusammenhanges
mit Psychisch-Sozialem
Arbeit mit Familien
• Probleme der sozio-ökonomi• II: Anwaltsplanung für Familien schen Ausstattung von Multiproblem-Familien in Slums, Ob• Psychoanalytisch orientiertes
dachlosensiedlungen etc.
Familienbehandlungs- (Konflikt- und Versöhnungs-)Modell • Probleme der emotionalen, normativen, kognitiven Erkenntnis• Kommunikationstherapie
kompetenz von FamilienmitglieKollusionstherapie
dern
• I: „Traditionelle“ Sachhilfe
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SILVIA STAUB-BERNASCONI
• Verhaltenstherapeutisches
• Probleme der paradoxen Kom(strukturalistisches) Familienbe- munikation, der unbewussten
handlungsmodell
Bedeutungen von „Liebe“
• Probleme des familiären Funktionierens, dysfunktionaler Rollen-Sets bzw. Hanldungs-Kompetenzen/Strategien
Arbeit in und mit Gruppen
• I: Gruppenarbeit in Settlement- • Probleme der bildungs-, wohn-,
Häusern, Nachbarschaftsheimen freizeitmäßigen Ausstattung (kooperatives Grundverständnis)
• II: Streetwork mit Jugendbanden, Drogenabhängigen, Klein- • Probleme der sozio-ökonomidealern, Obdachlosen etc.
schen und kulturellen Ausstattung (konfliktives Grundverständnis)
• Pschoanalytische, gestalttheoretisch beeinflusste Gruppen- und
Resozialisationsarbeit
• Gruppendynamik
Themenzentrierte Interaktion
• Probleme der emotionalen, normativen und kognitiven Ausstattung im Zusammenhang mit Beziehungsproblemen
• Probleme der Verständigung über
Bedürfnisse, Selbst- und Fremdbilder, Vorurteile, etc.
• Lernen/Einüben demokratisch- • Probleme der (demokratischen)
partizipativer Normen und VerEntscheidungs- und Handlungshaltensweisen; Verhaltens-, Rol- kompetenz
len-, Konfliktlösungstraining
• Soziodrama, Soziale Beziehungen
• Probleme der Qualität sozialer
Beziehungen
Arbeit in und mit territorialen Gemeinwesen (lokal/regional)
• Ressourcenerschließung I: auf • Probleme der sozio-ökonomiGemeinwesenebene
sche, ökologischen, rassischen
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WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
• Ressourcenerschließung II: Radikale bzw. konfliktorientierte
Gemeinwesenarbeit
• Bewusstseinsbildung (Paolo
Freire u.a.)
• Aktionsforschung
• Sozio-kulturelle Arbeit
Zukunftswerkstätten (Jungk
u.a.)
Interkulturelle Verständigung
ethnischen, soziokulturellen
Ausstattung von Nachbarschaften, Quartieren, Gemeinden –
gleiche Probleme im Zusammenhang mit Macht-Problematiken
• Probleme der Wirklichkeitsinterpretation im Zusammenhang
mit der Motivation zum Handeln
zur Veränderung
• Probleme der Ausstattung mit
beschädigten Bedeutungsstrukturen, kollektiven Identitäten etc.
– im Zusammenhang mit Herrschaftsstrukturen
• Probleme der gesellschaftlichen
und politischen Teilnahmslosig• Gemeinwesenarbeit als kritikeit – im Zusammenhang mit
sches, befreiendes AlltagshanHerrschaftsstrukturen
deln
• Probleme der überforderten, isolierten Kleinfamilie bzw. ausfal• Aufrechterhaltung wie Bildung
sozialer Netze – Netzwerkarbeit lender staatlicher Leistungen
Arbeit in und mit territorialen
Gemeinwesen (nationale Ebene)
• I: Sozialpolitische Programme
im Hinblick auf die verschiedenen Existenzrisiken; strukturelle
Reintegration der „Ausgeschlossenen“
• Existenzielle Risiken im Bereich
Gesundheit/Schwangerschaft,
Einkommen, Bildung, Arbeit,
Wohnung etc. Mangelnde Teilhabe an diesen Gütern inkl. Kulturgüter
• II: Initiative zur Neuverteilung • Ungerechte Verteilung von Resbestimmter Ressourcen (Bilsourcen-Macht; institutionalidung, Arbeit, Einkommen, inkl. sierte soziale Ausschlussmechazur Änderung der Sozialgesetznismen und Gesetzgebung für
gebung)
Randgruppen
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SILVIA STAUB-BERNASCONI
Arbeit auf der internationalen
Ebene
• I: Entwicklungs-Zusammenarbeit; Asylgewährung
• Probleme der Grundausstattung
mit lebensnotwendigen Gütern
(dauernde Unterversorgung, Katastrophen etc.)
• Probleme der sozio-ökonomischen Ausstattung (Benachteiligung) von gesellschaftlichen
Gruppen, territorialen GemeinArbeit in und mit Organisationen
wesen etc.
• I: Partizipative Sozialplanung,
Programmplanung und
• Probleme der Ressourcenalloka-evaluation
tion, der Erstarrung berufsstän• II: Einmischungsstrategien „von discher Interessen, der Departeoben“ im Zusammenhang mit
mentalisierung und Immobilisie(Aus)-Bildungs-, Wohnraumrung von Sozialbürokratien etc.
planung, Arbeitsplätzen, Heim- • Macht-Problematiken: Arbeitsund Anstaltplanung
teilung, Eigentum an Produkti• Gewerkschaftliche Sozialarbeit/
Gemeinwesenarbeit
• Institutionenanalyse/Dezentralisierungstrategien
onsmitteln, Produktionsbedingungen, Mitbestimmung
• Macht-Problematiken: arbeitsteiliges Funktionieren, Herrschaft, Legitimation, Innovation
und Entwicklung von Organisationen
• Entinstitutionalisierungs-Strate- • Probleme der Herrschaft von Ingien (Basaglia, Illich u.a.)
stitutionen der Psychiatrie, Medizin, Erziehung und Nacherziehung wie des Strafvollzugs („totale Institution“)
• Koordinations- und Kooperati- •
onsstrategien zwischen Organisationen (Departementen, Abteilungen, Spezialisierungen etc.)
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Probleme des Austausches wie
der Verknüpfung von Organisationen etc., z.B. im Zusammenhang mit knappen Ressourcen,
WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
zu großer Spezialisierung und
damit Fragmentierung von Klienten-/Gemeinwesen-Problemen etc.
Arbeit in und mit gesellschaftlichen Randgruppen
beziehungsweise deren Bewegungen
Es handelt sich hier vorwiegend um Projektberichte, die unter dem Nenner „Randgruppenarbeit“ zusammengefasst werden können. Sie sind
meistens eine Kombination von allgemein-gesellschaftlichen Überlegungen zur Funktion Sozialer Arbeit der Adressatengruppe und konkretem Erfahrungsbericht über das Erreichte. Es fehlt hingegen oft eine explizite handlungstheoretische Reflexion und Evaluation des Vorgehens.
Zudem gibt es Berichte über die Teilnahme von SozialarbeiterInnen an
verschiedenen sozialen Bewegungen, u.a. die Sozialhilfeempfängerund Obdachlosenbewegung, die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen, die Frauenbewegung u.a.m. In der Regel bezieht sich diese Arbeit
auf verschiedene der genannten oder gar alle bisher genannten Teil-Problematiken.
Anrufung von Kriterien, Werten – Öffentlichkeitsarbeit
Artikulation, Anrufung von Menschen-, Sozialrechten, politischen,
religiösen Werten,
Gesetzgebungen etc.
Probleme des Fehlens von Kriterien, der Diskrepanz zwischen Kriterien/Werten und Realitäten sowie
der Willkürlichkeit ihrer Anwendung.
Ausgangspunkt dieser Entwicklung bleibt, wie wir feststellen können,
auf allen Ebenen die Ressourcenerschließung (Sachhilfe) als Vermittlung existenznotwendiger Güter und Leistungen. Auch wenn hier versucht wurde, die in die Soziale Arbeit importierten Methoden in einen
problem- und ebenenbezogenen (Hilfeleistungssystem-) Zusammenhang zu bringen, kann man sich über das Unbefriedigende dieser Situation nicht hinwegtäuschen. Eine wichtige Dimension von Professionalität als Entwicklung und Verfügung über professions- und vor allem
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SILVIA STAUB-BERNASCONI
klienten- und kontextspezifisches Veränderungswissen wurde und wird
dadurch nicht nur fremdbestimmt, sondern geradezu verhindert. Unlösbare Zuständigkeits- und Teamkonflikte unter sich als therapeutisch
oder klinisch definierenden Professionen oder/und sich (fach)politisch
engagierenden Professionellen waren und sind ebenfalls vorprogrammiert.
6. PRAGMATISCHE WENDE ZUM ALLTAG ALS ANTWORT AUF EINE ALLGEMEINE RATLOSIGKEIT UND DEN METHODENIMPORT (AB CA. 1978)
Die vorhin beschriebene Zersplitterung und Fremddefinition der Sozialarbeitspraxis und die damit einhergehende Bedrängnis im Hinblick
auf Ausbildungsinhalte rief anfangs der 80er Jahre Gegenbewegungen
auf den Plan. In der Uneinigkeit darüber, wie die disparate, kaum mehr
überschaubare Methodenentwicklung weitergehen soll, schien eine Kategorie an Attraktivität zu gewinnen, von der man hoffte, damit zum
Zentrum Sozialer Arbeit vorzustoßen: Der Alltag beziehungsweise die
Lebenswelt. So wird der Praktiker auf das Aushalten wie die befreiende
Veränderung eines diffusen Alltags verpflichtet; Ausbildung wird zur
Aneignung von Alltagskompetenz, die sich wiederum auf den aufgeklärten und selbstkritisch gewordenen Alltagsverstand beruft (Thiersch
1978).
Als Gegenbewegung zur Pluralisierung, ja Atomisierung der Methodenfrage ist die Alltags-Kategorie – gewissermaßen als Sammelkategorie
für die unterschiedlichsten Arbeits- und Handlungsfelder – gewiss ernst
zu nehmen. Sie erinnert daran, dass Menschen höchstens als „soziale
Atome“ gedacht werden können, real aber keine sind; ihr Leiden muss
vielmehr in einem zu hinterfragenden kontextuellen, ja gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gesehen werden. Die Forderung nach einem an Nähe orientierten, pragmatischen Umgang mit Alltagssituationen führt allerdings nur sehr beschränkt zur Weiterentwicklung des professionellen Könnens, sofern nicht geklärt wird, für welche Alltags- und
kontextuellen (strukturellen) Probleme ausgebildet werden soll. So
könnte die Alltags-Kategorie zur größten aller schwarzen Schachteln
werden – vor allem dann, wenn die weitere Entwicklung dahin geht,
dass man die Methoden der Sozialen Arbeit vom hohen Anspruch entlasten würde, die Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft,
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WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
zwischen dem Sich-Einlassen-auf-den Alltag und dem kritischen Bewusstsein über diesen Alltag zu leisten. Die Institutionalisierung einer
diffusen Alltagspraxis in den Sozialarbeits-Methoden-Lehrplänen satter
Industrienationen – ab und zu begleitet von einer metatheoretisch-kritischen gesellschaftsbezogenen Feierstunde – das kann doch wohl nicht
das letzte Wort der Sozialen Antwort zum maßlosen Elend im internationalen Maßstab und Alltag sein.
7. KOMPLEXE HANDLUNGSTHEORIEN – PROBLEMBEZOGENE ARBEITSWEISEN: ÄLTERE UND NEUERE VORSCHLÄGE (AB CA. 1970)
Die hier gemachten Überlegungen basieren auf der Annahme, dass die
Sozialarbeitsmethoden nicht um einen neuen Ansatz bereichert werden
müssen, dessen theoretische Richtigkeit wie Praxistauglichkeit davon
abhängt, dass alles bisher Gedachte falsch oder nicht mehr „à la mode“
ist. Zu Beginn meiner Ausführungen habe ich vielmehr ein handlungstheoretisches konzeptuelles Instrument skizziert, mit dessen Hilfe sich
vorhandenes wie neues Wissen integrieren ließe. Die minimalste Forderung, die eine Handlungstheorie im Bereich der Sozialen Arbeit erfüllen
sollte, ist die systematische Verknüpfung von Problem, Interventionsebene und Methode. Nach langen Jahren des Bekenntnisses zum Allgemeinheitsanspruch der „Social-Work“-Methoden beginnt sich in der internationalen Diskussion langsam die Erkenntnis anzubahnen, dass Methoden nicht an sich existieren, sondern – ob bewusst oder nicht – für
die Lösung bestimmbarer psychischer wie sozialer Probleme entwickelt
wurden und entsprechend eingesetzt werden können. Hierzu vier Beispiele:
Erstes Beispiel: Methodische Mehrdimensionalität und unerwünschte
Schwangerschaft
Verknüpfung von Problem, traditionellem Hilfeleistungssystem und
klassischen Methoden
Der erste mir bekannte, systematisch ausgearbeitete Beitrag zu dieser
Frage geht auf Monika (Stocker-)Meier zurück; sie versucht – angeregt
durch eine Forderung von Pfaffenberger im Jahre 1966 (1971: 28, 29) –
aufzuzeigen, dass alle „klassischen Methoden“ von einem – wenn auch
sehr allgemeinen – Problembegriff ausgehen, dem sich, wie sie vor45
SILVIA STAUB-BERNASCONI
schlägt, entsprechende Methoden zuordnen lassen. So wäre es sinnvoll,
beim Problem einer unerwünschten Schwangerschaft die individuellpsychische Problemseite durch Einzelhilfe, den frauensolidarischen Aspekt des Problems durch Gruppenarbeit, die individuell-gesellschaftliche Problemkonstellation durch Gemeinwesenarbeit und schließlich die
kollektivierbar-objektive Problemlage durch Sozial-, insbesondere Geburtenpolitik wie durch Gemeinwesenarbeit anzugehen.
Zweites Beispiel: „Ökologische beziehungsweise umweltbezogene Methodenkonzeption“ (Germain & Gitterman)
Verknüpfung von neuer Gegenstandsbestimmung, Klientensystemen
und neuen Arbeitsformen
Dieser Versuch wurde unter dem Namen „Ökologisches Lebensvollzugsmodell“ bekannt (Germain & Gitterman 1983, 1980). „Ökologie“
und „ökologisches Paradigma“ werden hier – wie die Autoren selber
festhalten – nur als zur Zeit allgegenwärtige modische Metapher für
Umweltbezogenheit eingeführt. Dabei vergeben sie sich die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, dass es gerade die theoretische Stärke der Sozialen Arbeit seit ihren Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert war,
den Klienten immer zusammen mit seiner human-sozialökologischen,
wie ökonomischen und kulturellen Umwelt zu denken und entsprechend
zu handeln. Dies führte übrigens auch zur frühen Rezeption und Verarbeitung systemtheoretischen Denkens, ohne dass es der Sozialen Arbeit
je vergönnt war, als Mit-Begründerin und -Gestalterin solchen Denkens
gewürdigt zu werden. Die Autoren gehen von der Überlegung aus, dass
die Art und Weise, wie die Bedürfnisse oder die Problemlage eines
Menschen definiert werden, in hohem Masse bestimmt, was in bezug
darauf getan wird. Der funktionalistischen Theorietradition des amerikanischen „Social Work“ verhaftet, die von der Aufgabe der Anpassung
zwischen Mensch und Umwelt ausgeht und die damit verbundenen individuellen Probleme als Stress bezeichnet, werden die folgenden Problembereiche näher betrachtet:
• lebensverändernde Ereignisse (Entwicklungsstufen, Rollen- und
Statusveränderungen, Lebenskrisen),
• Situationen mit besonderem Umweltdruck (zum Beispiel Wohnverhältnisse, nicht an den individuellen Bedürfnissen orientierte bürokratische Organisationen) und schließlich
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WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
• Probleme im Bereich interpersonaler, insbesondere familiärer Prozesse (zum Beispiel Kommunikationsprobleme).
Für alle drei problembezogenen Vorgehensweisen wurden besondere
Rollenverhaltensmuster entwickelt, die auf die Funktion und Techniken
bekannter Berufe zurückgreifen wie zum Beispiel Animator, Lehrer, therapeutischer Berater bei lebensverändernden Ereignissen, ferner Anwalt,
Vermittler und Organisator bei Problemen des Umweltdrucks. Über weite Strecken werden aber auch bekannte Prinzipien und Techniken des
„Casework“ wie der Familien-Arbeit dargestellt. Leider bleibt auch hier
die Theoriebildung auf der konzeptuellen Ebene stecken, das heißt es fehlen Vorstellungen über Zusammenhänge zwischen Wahrnehmung, Sozialisation, kognitivem Stil, Rolle, Status, physischer Umwelt, Organisation etc. und der Dynamik, die sie produzieren; es fehlen aber auch Vorstellungen über die Wechselwirkungen zwischen Individuum, Familie,
Kleingruppe und komplexeren gesellschaftlichen (Teil-)Systemen und
Ebenen, ferner zwischen Problem und gewählter Methode. Und schließlich besteht die Methodenkonzeption vornehmlich aus Anleihen aus anderen sozialen Berufen, was wiederum auf eine handlungstheoretische
Verlegenheit hinweist.
Drittes Beispiel: Sozialer Ausschluss – Bewusstseinsbildung, Gesellschaftskritik und soziale Integration über Sozial- und Demokratiepolitik
Verknüpfung von theoretisch abgeleiteter Gegenstandsbestimmung,
(makro)gesellschaftlichen Ebenen und politischen Arbeitsformen:
Es handelt sich hier um den Beitrag „Un autre Travail Social“, das gemeinsame Werk einer Gruppe von Praktikern und Ausbildnern (Bridel,
Collaud, Fragniere e.a., 1981) aus der französischen Schweiz. Gleich zu
Beginn wird die funktionalistische Vorstellung einer gegenseitigen Anpassung zwischen Individuum und Umwelt mit dem Hinweis kritisiert,
dass die Bedürfnisse von Individuen nur sehr begrenzt und bisweilen
überhaupt nicht mit den Anpassungs-Anforderungen der vorherrschenden industriell-kapitalistischen Produktionsweise vereinbar sind. So ergeben sich folgende soziale Problematiken:
• sozioökonomische Marginalisierung von Individuen mit psychischen
und physischen Eigenschaften, die sich nicht für die starren Anforderungen des ökonomischen Produktionssektors eignen;
47
SILVIA STAUB-BERNASCONI
• soziokulturelle Marginalisierung von Individuen, die im Bereich Familie, Haushalt, Erziehung und Bildung, Konsum, Freizeit nicht die
für den Produktionsbereich erforderlichen Denk- und Verhaltensmuster reproduzieren;
• die Produktion von kleineren oder größeren Arbeitslosenkontingenten (Frauen, Ausländer) als Manövriergut des Unternehmertums. Die
Betroffenen gehören je nach Konjunkturlage zum Arbeitslosenheer
oder zum Heer der Sozialhilfeempfänger, der Armen.
Die Ausschlussmechanismen aus dem Arbeitsmarkt werden nun aber
von den helfenden, sozio-medizinischen Berufen wie den freien und
staatlichen Wohlfahrtsorganisationen noch durch sozial kategorisierende und stigmatisierende Spezialeinrichtungen verstärkt: So gibt es Spezialdienstleistungen und Spezialisten für Alte, Junge, Waisen, Behinderte, Verhaltensgestörte, ledige Mütter usw. Die bisher sektoriell getrennt
diagnostizierten und behandelten Probleme von Armut, Krankheit und
psychischen Leiden werden gemäss diesem theoretischen Bezugsrahmen als Resultat von Konflikten zwischen den Bedürfnissen des Individuums und den Imperativen der auf Herrschaft, ideologische und soziale
Kontrolle ausgerichteten Allianz zwischen Unternehmer- und Bürgertum interpretiert. Die daraus ableitbaren politischen Arbeitsformen
gründen u.a. auf folgenden Handlungs-Maximen:
• Die Maxime der kritischen Analyse von gesellschaftlichen und sozialen Institutionen im Sinne der Bewusstseinsbildung;
• Die Maxime der Ersetzung der Sozialhilfe durch Soziale Sicherheit
mit demokratischer Selbstverwaltung, gefolgt von der Maxime der
(Re)Integration der Ausgeschlossenen in die verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren (Bildung, Arbeit, Kultur, Politik) durch individualisierende Maßnahmen;
• Die Maxime der Dezentralisierung und Partizipation auf möglichst
allen gesellschaftlichen Ebenen (Staat, Organisationen des Sozialwesens, Professionelle Helfer und Klienten).
Hiervon abgeleitete Aufgaben sind das Ringen um Artikulation und
Durchsetzung der Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung in staatlich
unterstützten Aktionsprogrammen, die Leerung der Kliniken, Anstalten
und Altersasyle, die Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen Spezialisten, die Neudefinition ihrer Funktion und Berufsrolle – dies alles unter
48
WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
Berücksichtigung der Handlungs-Maxime: die Probleme im primären,
territorialen Lebenszusammenhang anzugehen.
Das Selbstverständnis der Autoren verbot es, sich als neutrale Professionelle – ein in ihren Augen mystifizierender Begriff – zu betrachten.
Man bleibt hin- und hergerissen zwischen normativ geforderter Solidarisierung, die methodische Überlegungen überflüssig erscheinen lässt,
und dem Eingeständnis, dass es an Technikern fehle, welche dieses neue
Sozialarbeitsmodell umzusetzen verstünden.
Im ersten Fall wäre die Weiterentwicklung einer Handlungstheorie blockiert; sie bliebe – analog zum amerikanischen „Social Work“ – auf allgemeine Wertsetzungen, Maximen und Aufgaben beschränkt. Im zweiten Fall könnten die in den beschriebenen Projekten aufgetauchten Probleme und Krisen als auch die partiellen Erfolge Ausgangspunkt für die
differenzierte Reflexion handlungstheoretischer Fragen des Umgangs
mit Macht bilden. Allerdings wäre es dabei unerlässlich, die Unterdrückungsgeschichte weiterer gesellschaftlicher Gruppen (so zwischen
Mann und Frau, Weiß und Schwarz, Stadt und Land, Einheimischen und
Ausländern, ethnischen wie religiösen Mehr- und Minderheiten, Industrie- und Entwicklungsländern etc.) ebenfalls zu berücksichtigen, auch
oder erst recht dann, wenn sie nicht in direkter Verbindung mit kapitalistischen Produktionsstrukturen, sondern beispielsweise pro-feudalen
Strukturen stehen.
Die handlungstheoretischen Vorschläge des „Lebensvollzugsmodells“
und des „Autre Travail Social“ ergänzen sich in verschiedener Hinsicht:
So betont das erstere die soziale Mikro- und Mesoebene, die BedürfnisProblematiken der individuellen Klienten, ferner Motivation und Kooperation als Arbeitsmittel; das zweite Modell legt Gewicht auf die soziale Makroebene, die sozialen Stigmatisierungs- und Ausschluss-Problematiken im Hinblick auf gesellschaftliche Gruppen, die damit verbindbaren Machtproblematiken und eher konfliktiven Aushandlungsstrategien. Das erste greift wiederum auf ein bereits weitverbreitetes handlungsbezogenes Wissen und Können zurück, während die Vertreter des
andern – und da liegt wohl der wichtigste Unterschied – sich noch nicht
schlüssig sind, ob und welches Wissen und Können sie über die Kritik
an der Sozialen Arbeit und Gesellschaft hinaus weiterentwickeln wollen.
Den einen Vorschlag mit der Vorstellung von Methode und Technik in
Verbindung zu bringen, die nichts mit Politik zu tun haben sollen, betrachte ich als ebenso verfehlt wie das Bestreben, den andern Vorschlag
49
SILVIA STAUB-BERNASCONI
als politische Aktion ausgeben zu wollen, die nichts mit methodischfachlichen Überlegungen gemeinsam haben soll. Um diese unselige, innerberufliche Arbeitsteilung – wenigstens terminologisch! – aufzuweichen, habe ich den Begriff Arbeitsweisen der Sozialen Arbeit vorgeschlagen (Staub-Bernasconi 1983 b).
Viertes Beispiel: Gegenstandsbezogene Arbeitsweisen auf systemtheoretischer Grundlage
Verknüpfung von Problemen, Klientensystemen, Arbeitsweisen und
Grundlagenwissen
Eine Weiterdiskussion der bis hierher aufgeworfenen Probleme müsste
der Frage nachgehen, auf welchem professionstheoretischen Hintergrund – das heißt mit welchem Beschreibungs-, Erklärungs-, Wert-,
Funktions- und Verfahrens-Wissens – problem- und methodenintegrative Handlungstheorien zu entwickeln wären. Ich beschränke mich hier
auf die Skizzierung des Problem- oder Gegenstands-Wissens und der
damit zusammenhängenden Theorieelemente.
Zur Bestimmung von sozialen Problemkonfigurationen:
Ausgehend von der Grundannahme „prozessual-systemischer Beschaffenheit“ der Realität lässt sich folgendes skizzieren: Individuen bilden soziale Systeme und zwar indem sie auf der Basis ihrer Ausstattung untereinander Verbindungen eingehen, die als wechselseitige, horizontale
Austauschbeziehungen oder/und als vertikale, asymmetrische Abhängigkeits- und damit Machtbeziehungen charakterisiert werden können. Im
Rahmen von Austauschbeziehungen werden die Ausstattungsdimensionen zu potenziellen Tauschmedien. Im Rahmen von Machtbeziehungen
werden die Ausstattungsmerkmale und Tauschmedien zu potenziellen
Machtquellen, die für den Machtaufbau wie -abbau eingesetzt werden
können. Gesellschaftliche Differenzierung im Zusammenhang mit sozioökonomischen Ressourcen (zum Beispiel Schichtung), gesellschaftlichen Aufgaben (funktionale Differenzierung) usw. sind das Resultat solcher Interaktionsprozesse. Soziale Probleme ergeben sich aufgrund dieser
Sichtweise dann, wenn menschliche Bedürfnisse aus sozial hergestellten
Gründen unbefriedigt bleiben, was heißt, dass kleine wie große soziale
Systeme ihre Sozialisations-, Produktions-, Steuerungs- und Verteilungsaufgaben so lösen, dass die Ausstattungsqualität und -quantität und damit
das Wohlbefinden der Individuen beeinträchtigt wird, ohne dass diese In50
WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
dividuen die Möglichkeit haben, ihre Situation aufgrund eigener Anstrengungen zu verbessern.
Von welchen (Teil)Systemen – also zum Beispiel das familiäre, politische oder ökonomische Teilsystem – soziale Probleme verursacht werden, muss aufgrund empirischer Analyse – im Unterschied zu ideologischer Setzung – entschieden werden (für die Weiterentwicklung des
systemtheoretischen Bezugsrahmens vgl. u.a. Staub-Bernasconi 1995/
1998, Obrecht 2001 sowie die Beiträge in diesem Band). Die weitere
Differenzierung dieses Theorierahmens erlaubt es, folgende soziale
Grundproblematiken zu bestimmen:
• Soziale Ausstattungs-Probleme sozialer Einheiten (Individuen, Familien, Organisationen. Gemeinwesen): Die Problematik kann bei
der mangelhaften Ausstattung mit sozio-materiellen Gütern, einer
bestimmten sozio- und humanökologischen Umgebung liegen, sie
kann sich auf eine bestimmte körperliche Beschaffenheit (Krankheit,
Un/Versehrtheit), auf beschädigte Erkenntnis-Kompetenzen im Sinne von Fühlen, Denken, Urteilen, auf Bedeutungssystemen (unangemessene Bilder, Theorien, Pläne), auf Handlungs-Kompetenzen oder
fehlende wie asymmetrische soziale Austauschbeziehungen beziehen. Was in diesem Zusammenhang zu problematisieren ist, sind
nicht nur qualitative und quantitative Defizite, sondern auch entsprechende Überschüsse, also zum Beispiel Armut und Reichtum, soziale Isolation und Beziehungsinflation etc.
• Soziale Austausch-Probleme zwischen sozialen Einheiten im Hinblick auf Güter, Umwelt-Ressourcen, Körperlichkeit, Erkenntnisund Handlungs-Kompetenzen wie Bedeutungsinhalte. Als problematisch werden hier – ausgehend von einer Vorstellung von TauschGerechtigkeit (Reziprozitätsnorm) – Asymmetrien definiert. Sie beziehen sich auf Transaktionen, bei denen der eine Partner über immer
mehr, der andere über immer weniger verfügt respektive der eine
zum Subjekt, der andere zum Objekt gemacht wird.
• Soziale Machtproblematiken, genauer Behinderungs-Macht zwischen über- und untergeordneten Einheiten (wiederum Individuen,
Familien, Organisationen, Nationen, Regionen etc.): Macht wird hier
nicht an sich, sondern als Behinderungs-Macht problematisiert. Dies
ist sie dann, wenn sie dazu dient, individuelle oder soziale Einheiten
(lebenslänglich) auf niedrigem bis tiefstem Ausstattungs-Niveau zu
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SILVIA STAUB-BERNASCONI
fixieren, sie (allen) Existenzrisiken auszusetzen, sie aus Gründen der
Herrschaftssicherung physisch zu vernichten, psychisch und verhaltensmäßig zu manipulieren, mental zu kolonialisieren, sozio-ökonomisch auszubeuten, Empörung und Ausbruchsversuche zu verhindern und dies alles zum Beispiel als gott-, natur- oder geschichtlich
gewollt zu legitimieren.
Behindernde, institutionalisierte asymmetrische Strukturen sind in
bestimmten Typen sozialer Schichtung (zum Beispiel aufgrund zugeschriebener Merkmale wie Geschlecht, Rasse, Alter, familiäre Herkunft) wie auch in bestimmten Herrschaftsstrukturen zu finden, die
nur dank bestimmter Formen der Arbeitsteilung und Kontrolle zwischen Habenden und Habenichtsen, Gebildeten und Ungebildeten,
Sinnstiftern und Sinn-Empfängern, Planern und Ausführenden,
Mensch und Natur aufrechterhalten werden können.
• Kriterien- oder Wert-Probleme: Sie beziehen sich auf die Entwicklung oder das Vorhandensein menschen- beziehungsweise gesellschaftsgerechter Werte oder Sollzustände. Problematisch ist somit
ihr Fehlen, ihre Nicht- oder ihre willkürliche Anwendung (zum Beispiel Menschen- und Sozialrechte, Verfassungen, Gesetze und Verordnungen etc. und ihre Missachtung).
Das Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit ist – historisch und aktuell – in jenem
Segment der Gesellschaft zu finden, in dem all diese Problematiken kumulativ auftreten. Basis der theoretischen Konstruktion konzertierter
Aktion sind problembezogene Arbeitsweisen. Darunter verstehe ich bestimmte Handlungsmuster im Sinne von Plänen, die sich theoretisch-hypothetisch oder nachgewiesenermaßen für die Veränderung eines spezifizierbaren Problems in Richtung eines gewünschten, wertbezogenen
Zustandes eignen. Der Nachweis kann pragmatisch sein. das heißt es
klappte, ohne dass man genau weiß warum; oder er kann wissenschaftlich sein, zum Beispiel aufgrund von Handlungs- und Evaluationsforschung.
Wie verschiedentlich festgestellt, lassen sich die Probleme auf unterschiedlichen sozialen Ebenen – vom Individuum bis zur Weltgesellschaft – lokalisieren. Mit diesen potentiellen, funktional wie machtmäßig ausdifferenzierten Problemebenen befasst sich Soziale Arbeit seit ihren Anfängen. Dabei gab es immer wieder Phasen, wo die Gesellschaft
dem Individuum oder das Individuum der Gesellschaft geopfert wurde.
52
WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
Dennoch blieben all diese Problemniveaus mögliche Hilfeleistungssysteme beziehungsweise Interventionsebenen Sozialer Arbeit (vgl. auch
Übersicht 1). Art und Anzahl der zu berücksichtigenden Niveaus muss
von der Definition der Problem-Konfiguration her bestimmt werden.
Erst die Bestimmung des konkreten, zu konzertierenden Akteur-Systems
als Problemlösungssystem wird Einschränkungen mit sich bringen, die
auf den gesellschaftlichen Ort der Sozialen Arbeit, die unterschiedliche
Zugänglichkeit zu Akteuren auf höheren Niveaus wie zu gesellschaftlichen Teil-Systemen und schließlich auf die Macht-Quellen der SozialarbeiterInnen Rücksicht nehmen. Ein problemlösendes Akteur-System
müsste im Minimum die Problem-Betroffenen, ausgewählte Problemverursacher und -nutznießer als auch ausgewählte Träger von Ressourcen im weitesten Sinn miteinbeziehen. Die Bestimmung dieses AkteurSystems wird zudem den Beizug oder die Produktion von Spezialwissen
über Adressatengruppen wie über Institutionen des Sozialwesens erfordern. Was die Verfahrensweisen i. e. S. als Kombination von Zielen, Mitteln sowie situations- und prozessgestaltenden Handlungsvorschriften
betrifft, so ginge es darum, bewährtes „Praxis-Wissen“ wissenschaftlich
wie wertmäßig zu begründen als auch neues Veränderungs- beziehungsweise Verfahrenswissen über theoretisch-wissenschaftliche wie wertbezogene Begründungen zu entwickeln.
Je komplexer und machthaltiger das sich aufdrängende Interventionsund Akteur-System, umso eher wird aufgrund der knappen Ressourcenbasis der Sozialen Arbeit entschieden werden müssen, ob Kooperation
und Allianzen mit anderen Akteuren (zum Beispiel anderen sozialen
Berufen, Professionen, Experten, Parteien, Behörden, kirchlichen Kreisen, sozialen Bewegungen etc.) gesucht, ob Polarisierung oder Konflikt
gewagt werden muss oder ob innovative Alternativen versucht werden,
die auf Selbstversorgung und/oder Markt-Mechanismen rekurrieren
oder vom Staat mitgetragen werden.
Im folgenden ein Konkretisierungsversuch, dessen Angelpunkt das vorhin skizzierte Gegenstands-Wissen ist, dem – hypothetisch – bestimmte
Arbeitsweisen zugeordnet werden (vgl. Übersicht 2).
53
SILVIA STAUB-BERNASCONI
Übersicht 2:
54
Konstruktions-Elemente einer Handlungstheorie
WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
Der gewählte theoretische Bezugsrahmen ermöglicht es also, die folgenden Arbeitsweisen vorzuschlagen, die sich auf eine Problem- und
damit Gegenstandsbestimmung Sozialer Arbeit beziehen. Vieles, was
bisher (vgl. Übersicht 1) als „Methode“ bezeichnet wurde, hat in diesem
Zusammenhang seine Verwendung als „Technik“ im Sinne ganz konkreter Handlungsanweisungen:
• Ressourcenerschließung (Sachhilfe) im Hinblick auf Probleme der
körperlichen und sozio-ökonomischen Ausstattung in der kooperativen und konfliktiven Variante;
• Bewusstseinsbildung bezogen auf Probleme der Erkenntniskompetenz;
• Modellveränderung oder Innovation bezogen auf Probleme unangemessener Bedeutungssysteme;
• Handlungstraining für Probleme mangelhafter Handlungskompetenz;
• Sozialkompetenztraining im Hinblick auf Probleme der Empathie-,
Kommunikations-, Partizipations- und Kooperationsfähigkeit;
• Soziale Vernetzung in Bezug auf Probleme asymmetrischer Austausch-Beziehungen und Isolation;
• Neuorganisation der sozialen Anordnung von Menschen und TeilSystemen im Hinblick auf Machtproblematiken beziehungsweise auf
die sozialen Regeln der Machtstruktur;
• Öffentlichkeits- und Kriterienarbeit.
Der Gesamtraster hat den Zweck, die systematische Suche nach problemrelevantem Handlungswissen anzuleiten und die Konkretisierung
folgender handlungstheoretischer Arbeits-Hypothesen durch Praxis und
Forschung zu ermöglichen: Wenn das Problem P vorliegt und aufgrund
der Problem-Erklärungen E und dem Wert W die Arbeitsweise(n) A gewählt wird/werden, die aus den Verfahren V bestehen, dann ergibt sich
eine hohe Wahrscheinlichkeit, das Ziel Z zu erreichen – und allenfalls
weitere Nebeneffekte herbeizuführen, die auf das Problem P und weitere Konstellationen positiv, negativ oder neutral zurückwirken. Methodisches Wissen besteht dann aus Sätzen, welche die sich aus dem Handlungswissen ergebenden Imperative festhalten; so zum Beispiel: „Unter
den und den Bedingungen … tue, vermeide, verhindere das und das …!“
Eine besondere Aufgabe wird es sein, die Frage nach der Kombination
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SILVIA STAUB-BERNASCONI
von Arbeitsweisen zu stellen, welche die optimalsten Wirkungen herbeiführt. (Für eine Weiterentwicklung dieser Grundgedanken vgl. StaubBernasconi 1995, 1998, 2002.)
Es ist nicht von ungefähr, dass ich zuletzt auf das allgemeine ErklärungsWissen zu sprechen komme. Ich vollziehe hier eine bewusste Umkehrung: Anstatt die Basisdisziplinen Psychologie, Sozialpsychologie, Soziologie und Ökonomie, ferner Philosophie, Ethik und Recht etc. an den
Anfang aller Überlegungen zu stellen und sie daraufhin zu befragen, ob
und was aus dem allgemeinen Fundus an Wissen für die Soziale Arbeit
abfällt – und damit die theoretische Fremdbestimmung fortzusetzen –,
schlage ich folgendes Vorgehen vor: Der Gegenstand, das heißt die von
der Sozialen Arbeit anzugehenden Sozialen Probleme bilden den Ausgangspunkt für die Befragung der vorhin erwähnten Disziplinen, aber
auch für die in diesen Disziplinen entwickelten Teil-Theorien (Ansätze).
Um es noch klarer zu sagen: All diese Wissenschaften sind nur insofern
relevant, als sie Erklärungs-, Bewertungs- wie Veränderungs-Wissen im
Hinblick auf den Gegenstand Sozialer Arbeit produziert haben oder entwickeln möchten. Das „Problem“ wird dadurch zur kleinsten Einheit individuellen wie gesellschaftlichen Wandels, das Betroffene, Praktiker,
Ausbildner und WissenschaftlerInnen miteinander verbindet. Gleichzeitig werden die handlungstheoretischen Hypothesen zu Scharnieren, die
Fragen an die human- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie an
praktische Handlungsvollzüge erlauben, wie sie sich auf dem Beratungs, Therapie-. Strategie- und Politiksektor niedergeschlagen haben.
Die hier diskutierte Methodenkonzeption ist weder monistisch, das
heißt auf einen einzigen Ansatz, eine bestimmte theoretische Schule
oder Richtung festgelegt, noch ist sie ad-hoc-pluralistisch, das heißt
sich auf die mehr oder weniger zufälligen Vorlieben und Moden des Angebots- oder Nachfragemarktes abstützend, was oft in einem Plädoyer
für Ekklektizismus endet. Das Methoden-Pluralismus-Programm führt
– implizit oder explizit – eine Wirklichkeitsvorstellung ein, die von untereinander unverbundenen Einheiten ausgeht, so dass es ganz und gar
dem Entscheid des jeweiligen Subjektes überlassen ist, bei welchem
Sachverhalt der Problemlösungsprozess eingeleitet werden soll. Zum
Fächersalat gesellt sich so ein Methodensalat. Der Methoden-Monismus, wie er einem zum Beispiel in der Forderung – und damit Überforderung – nach globaler Institutionen- und Gesellschaftsveränderung
entgegentritt, setzt wiederum reale Totalitäten mit einem global-integralen Wirkungsmechanismus über alle Ebenen und Teil-Systeme hinweg
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WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
voraus. Zudem nimmt er oft – versteckt oder offen – an, dass die Totalität besser, ja mehr wert ist als seine Teile, was dem Autoritarismus und
Dogmatismus Tür und Tor öffnet.
Eine – im Unterschied dazu – prozessual-systemische Vorstellung von
Wirklichkeit geht lediglich davon aus, dass sich Elemente zu (Teil-)Systemen organisieren, die andere (Teil-)Systeme umfassen oder selber
umfasst sein können, sich aber auch über die Zeit hinweg wieder auflösen oder umorganisieren können. Bei diesen Prozessen entstehen neue
– aber nicht per Definition bessere – Eigenschaften; bisherige können
aber auch wieder verschwinden. Das Ganze hebt die „Teile“ nicht auf,
wie vielfach fälschlicherweise angenommen wird. Bevor vom „Ganzen“ gesprochen werden kann, muss man sich vielmehr über die „Teile“
und die vielfältigen Verbindungen, die sie eingehen, im Klaren sein. Es
ist diese Art von metatheoretischer Realitätsauffassung, welche der hier
skizzierten Methodenkonzeption zugrunde liegt. Sofern es unbedingt
eine Bezeichnung hierfür braucht, könnte man sie als integriert-pluralistisch bezeichnen. Eine solche Sicht schließt – vielleicht muss dies, um
Missverständnissen vorzubeugen, betont werden – reale Gegensätze,
Widersprüche, Strukturbrüche, Krisen und Konflikte nicht aus!
Diese Überlegungen sind darum wichtig, weil Soziale Arbeit seit jeher
mit einem Anspruch auf Ganzheitlichkeit verknüpft wurde. In den neueren Expertisen wurde dieser Anspruch nicht nur mild belächelt, sondern
auch als mystisch verklärend oder praktisch überfordernd bezeichnet.
Beides kann m.E. mittels der hier angedeuteten systemtheroretischen Realitäts- und entsprechenden Methodenvorstellung vermieden werden.
Zusammenfassend seien nochmals explizit die Denkrichtungen genannt, mittels deren sich die eingangs erwähnten Hauptmängel bei der
Theoriebildung Sozialer Arbeit angehen ließen:
• systemtheoretische Wirklichkeitstheorie würde der Komplexität des
Gegenstandes, der Notwendigkeit transdisziplinären Erklärungswissens sowie des Problems des Eklektizismus bei der Theoriebildung
gerecht,
• die Verknüpfung verschiedenster Wissensformen zu problembezogenen Handlungstheorien müsste die akademisch institutionalisierte
Fragmentierung von Basis-, Wert- und Handlungs- oder Verfahrens/Veränderungswissen ersetzen (vgl. Übersicht 2).
Ersteres begründet die Disziplin, letzteres die Profession Sozialer Arbeit.
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SILVIA STAUB-BERNASCONI
8. NACHTRAG: VON DER LOKALEN ZUR GLOBALEN PRAXIS –
BEITRÄGE FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT
Für die Zeit von 1987 bis 2003 kann man sowohl von Stagnation, Differenzierung wie Weiterentwicklung der „Methodenfrage“ sprechen.
Beispiel für ersteres ist das von Galuske (1998) dargestellte Inventar.
Mit Recht fordert er einen (handlungs-)theoretischen Bezugsrahmen, allerdings ohne einen diesbezüglichen Vorschlag zur Diskussion zu stellen. Die in meinem Beitrag noch nicht erwähnten, seit 1990 hinzugekommenen Methoden sind Casemanagement, Mediation, Empowerment und Erlebnispädagogik. „Empowerment“ ist allerdings – völlig
losgelöst von seiner Herkunft aus den Befreiungsbewegungen der dritten Welt und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung – zu einem allzeit griffbereiten, gedankenlos benutzten Mode-Schlagwort verkommen – und dies nicht zufällig in einer Zeit, in welcher die Forderungen
des Neoliberalismus nach Selbstmanagement, Selbstverantwortung,
Selbstoptimierung ohne Bezug zur Sozialstruktur auch in der Sozialen
Arbeit laut geworden sind. Beispiel für eine weitere methodentheoretische Differenzierung – schwergewichtig im Rahmen des Umgangs mit
Individuen und Gruppen/Familien – findet sich bei Stimmer (2000). Die
vertieft behandelten methodischen Schwerpunkte beziehen sich auf die
Klientenzentrierte Gesprächsführung, das Psychodrama und die Themenzentrierte Interaktion.
Von Weiterentwicklungen spreche ich im Fall von Versuchen, das
(trans-)disziplinäre Grundlagenwissen – miteingeschlossen allgemeintheoretisches Handlungswissen – entlang des Gegenstandes Sozialer Arbeit – Soziale Probleme im Zusammenhang mit verschiedenen sozialen
Ebenen und Systemen, bis hin zur Weltgesellschaft – auszuweiten und
zu integrieren (Staub-Bernasconi 2000, 2001, 2002, 2003; Obrecht
2001). So heißt es beispielsweise bei Kirst-Ashman/Hull (1994:xvii):
„The Generalist Intervention Model, as a unifying framework, is intended to help students make sense of the breadth and depth of the social
work profession.“ Zur Breite und Tiefe Sozialer Arbeit gehört zunächst,
dass sich Soziale Arbeit auf der sozialen Mikro-, Meso- und Makroebene
zu bewegen hat, dass sie – auch wenn sie mit Individuen und Familien
arbeitet – immer auch die soziale/gesellschaftliche und kulturelle Umwelt mitberücksichtigen muss, und zwar sowohl bei der Situations- und
Problemerhebung als auch bei der Zielformulierung. Das führt im Fall
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WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
einer diskriminierenden, rassistischen, sexistischen oder klassistischen
System- oder Umweltkonfiguration (vgl. hierzu das PIE-Manual von
Karls/Wandrei 1994) auch zu einem vom Berufskodex legitimierten,
fachpolitischen Mandat, soziale Einrichtungen, politische Gemeinwesen oder Organisationen der Wirtschaft, des Gesundheitswesens, der
Justiz usw. anwaltschaftlich unter Druck zu setzen (Kirst-Ashman/Hull
1994:8, 464-491; Mattaini et al. 1998, 20-42). Ein vergleichbares Anliegen einer, den heutigen Stand der Methodendiskussion „zusammenführenden Darstellung“ auf systemischer Grundlage verfolgt Ritscher
(2002, 12f). Sein Anliegen geht noch weiter, indem er „Sozialpädagogik,
Therapie, Beratung und materielle Unterstützung“ unter dem Dachbegriff „Systemische Arbeit“ zusammenbringt.
Die Notwendigkeit, das disziplinäre und professionelle Blickfeld auszuweiten, erfährt in den genannten Beiträgen eine unterschiedliche Behandlung. Eine dezidierte Aufforderung dazu stammt bereits von Jane
Addams in ihrem 1930 erschienenen Buch Second Twenty Years at Hull
House. Report about a Growing World Consciousness. Ein aktuelles Dokument stammt vom Council of Social Work Education aus dem Jahr
2001, der die zukünftige Bildungspolitik und Akkreditierungsstandards
(Educational Policy and Accreditation Standards (EPAS) verabschiedet
hat (in: Healy 2002:190): Ab 2003 sollen alle Bachelor- und Masterausbildungen in den USA so konzipiert sein, dass die Studierenden „den
globalen Kontext der Sozialarbeitspraxis anerkennen“ (S. 6). Zudem
müssen die Studienpläne Wissen und Können vermitteln, um „internationale Themen sozialer Wohlfahrtspolitik und sozialer Dienstleistungen“ zu analysieren. Des weitern müssen die Curricula Wissen über „soziale und ökonomische Gerechtigkeit integrieren, das auf ein Wissen
und Verstehen von weltweiter Verteilungsgerechtigkeit, von Menschenrechten und den globalen Zusammenhängen (interconnectedness) von
Unterdrückung beruht“ (CSWE, 2001, S. 10). Man hofft, diese Ziele bis
zum Jahr 2020 erreicht zu haben, ohne dass man sie per Diktat durchsetzen muss!
Der weltgesellschaftliche, politische und rechtliche Bezugsrahmen oder
die Randbedingung, unter denen sich diese Praxis- und Ausbildungsrichtlinien entfalten können, ist Art. 28 der UNO-Menschenrechtskonvention; er lautet: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung aufgelisteten Rechte voll verwirklicht werden können.“
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SILVIA STAUB-BERNASCONI
Der europäische politische und rechtliche Bezugsrahmen, unter welchem sich die europäische Soziale Arbeit entwickeln kann, ist zum einen die Grundrechtscharta, zum andern die Definition von Exklusion
durch den Europarat: „die Ausgeschlossenen sind Gruppen von Menschen, die sich teilweise oder vollständig außerhalb des Anwendungsbereiches der Menschenrechte befinden … Exklusion kann in Begriffen
der Verneinung oder der Nicht-Respektierung der Sozialrechte analysiert werden, … von denen gesagt wird, dass sie prinzipiell für die gesamte Bevölkerung eines geographischen Territoriums gelten“ (zit. in
Join-Lambert 1995, S. 216).
Sowohl im zitierten UNO-Artikel 28 als auch in den Vorstellungen des
Europarates liegt zweifellos ein großes Gestaltungspotential für die Zukunft, auf das sich die künftige Soziale Arbeit für die Konzipierung ihres Wissens wie ihres Könnens als Disziplin und Profession berufen
kann und – sofern man die Akkreditierungsvorstellungen des Council
ernst nimmt – auch muss (vgl. hierzu Ife 2001, Staub-Bernasconi 2003).
9. FOLGEN FÜR BERUFSBILD UND AUSBILDUNGSKONZEPTION
Das Berufsbild müsste sich in Richtung eines spezialisierten Generalisten bewegen; man könnte von einer Spezialisierung auf Unspezialisiertheit sprechen. Dabei kann es sich niemals darum handeln, alles zu wissen
und zu können – eine in der heutigen Zeit der Wissensexplosion völlig
naive Forderung. Hingegen besteht die Vorstellung, dass es dank des
hier skizzierten handlungstheoretischen Bezugsrahmens möglich sein
sollte, an alte wie neue Probleme Fragen zu stellen, altem wie neuem
Wissen und Können einen bestimmten Stellenwert zu geben und damit
seine Bedeutung für die Lösung bestimmter Probleme einzuschätzen.
Dank systemtheoretisch angeleiteten Denkens wären die PraktikerInnen
in der Lage, mit den hier erörterten Theorie-Elementen Problemlösungsfelder als Lernfelder mit allen bedeutsamen Akteuren zu konstruieren.
Das besondere Wissen der Sozialpraktiker bestünde im „Wissen Wie“
soziale Problemlagen, Ressourcen, Interventionsebenen, Akteur-Systeme und Arbeitweisen zusammenhängen und – unter Beachtung realer
Behinderungen wie realer Handlungsspielräume – auf immer wieder
neue Weise untereinander kombiniert werden können. SozialpraktikerInnen wären diejenigen, die ihr Wissen teilen – und nicht einfach an60
WISSEN UND KÖNNEN – HANDLUNGSTHEORIEN UND HANDLUNGSKOMPETENZ
wenden – selber Teil eines komplexen Interaktions- und Kräftefeldes.
Ihre Funktion wäre Gegenstand eines fortwährenden Aushandlungs-,
Auswertungs- und Reflexionsprozesses und nicht von vorneherein festgelegt, sei es in Richtung Anpassung oder Widerstand. Dieses Berufsleitbild könnte sich auch nicht mehr an der Vorstellung eines verhinderten Therapeuten oder Politikers messen, wie dies im letzten Jahrzehnt
professioneller Entwicklung üblich geworden ist und alle Expertisen
und Auseinandersetzungen mitbestimmt hat. Positiv formuliert bestünde Funktion und Aufgabe der Sozialen Arbeit darin, soziale Problemlösungen unter schwierigen bis schwierigsten individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen zu (er)finden und zwar auch oder erst recht
dann, wenn Therapie und Politik keine Hilfe mehr leisten. Das ist wohl
bescheidener als das, was man sich noch in den 68er Jahren von einem
großen öffentlichen Aufbruch erhoffte; und doch ist es viel mehr als der
Rückzug in den Privatbereich der Therapie mit einer kleinen, geschlossenen Dachluke zur großen Welt.
Das Ausbildungsmodell müsste die Möglichkeit bieten, die Konstruktion solcher Problemlösungsfelder zu lernen und zwar als gemeinsame
Aufgabe zwischen Ausbildungsteilnehmern, das heißt Praktikern, Studierenden, Ausbildnern und Problembetroffenen. Die einen könnten dabei entdecken, dass sie den engagierten Praktiker, die Menschen- und
Problemnähe, die andern den kreativen wie disziplinierten Umgang mit
Ideen, die letzteren vielleicht die Empörung über ihr Leiden in sich verschüttet haben. Die Auszubildenden könnten so die Erfahrung machen,
dass sich Distanzierung und Engagement nicht ausschließen. Dabei
müsste geklärt werden, wann und wo spontanes Lernen im Alltag und
wo verdichtetes, wissenschaftlich begründetes Lernen sinnvoll ist. Bei
einer solchen Konzeption von professioneller Sozialer Arbeit wäre zu
hoffen, dass die Durchlässigkeit wie Zusammenarbeit zwischen sozialen Professionen erhöht und verbessert werden könnte.
Die LeserInnen haben vielleicht mittlerweile gemerkt, dass ich in der
Sozialen Arbeit durchaus ein Potential sehe, die gesellschaftlich wie
akademisch vorgeschriebene, ja erzwungene Atomisierung des Wissens
und Könnens exemplarisch zu überwinden. Ihre Praktiker- wie AusbildnerInnen müssten sich zur Vorstellung durchringen, dass die sogenannte Komplexität und Diffusität ihres Gegenstandes als auch die fast unübersehbare Aufgabenfülle – so wie sie in jedem Handbuch oder Lexikon
wieder neu belegt wird – keine Schwäche und Verlegenheit, sondern
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SILVIA STAUB-BERNASCONI
Stärke der Sozialen Arbeit ist. Sie könnte nämlich zur Herausforderung
werden, das, wovon heute alle reden, nämlich die Notwendigkeit systemischen, transdisziplinären Denkens und konzertierten Arbeitens nicht
nur für ökologische, sondern auch für soziale Problematiken im hier
skizzierten Verständnis ernsthaft auszuprobieren. – Ob sich dieses Potential in der Sozialen Arbeit wirklich entfaltet und durchsetzt, hängt
keineswegs nur von einer problemangemessenen Handlungstheorie,
sondern eben so sehr von der heutigen Interessenkonstellation im Sozial- und Ausbildungswesen ab. Vielleicht hängt aber noch viel mehr davon ab, dass SozialarbeiterInnen sich an die Anfänge der Sozialen Arbeit und ihrer Ausbildung erinnern und entsprechend die Theorie-Praxis-Kluft nicht mehr nur als Schimpfwort, sondern als ein Ansporn zur
Entdeckung neuer Arbeits-, Denk-, Kooperations-, ja Lebensformen benutzen.
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Soziale Arbeit als Wissenschaft. Eine Orientierung
Ernst Engelke
Die Rückbesinnung auf die wissenschaftstheoretischen Fragen und Positionen (Teil 1) hat deutlich gemacht, wie vielfältig wissenschaftliches
Denken und Handeln in einer Disziplin von vornherein angelegt sind.
Eine Wissenschaftsdisziplin läßt sich nicht auf eine oder auf die Theorie
reduzieren wie das bisweilen auch für Soziale Arbeit gefordert oder versucht wird.1 Selbst wenn ein gemeinsamer Erkenntnisgegenstand gefunden und allgemein akzeptiert worden ist, ergeben sich immer noch viele
verschiedene Möglichkeiten, wissenschaftlich damit umzugehen. Unterschiedliche Vorentscheidungen (zum Beispiel bei den Paradigmen, Wertsetzungen und Methoden) führen zu unterschiedlichen Theorien. Und
verschiedene Theorien führen wiederum zu verschiedenen Forschungsansätzen (und Ausbildungsmodellen). Soziale Arbeit als Wissenschaft hat
ihre philosophischen und wissenschaftstheoretischen Vorentscheidungen
mit ihren Auswirkungen auf die Theoriebildung darzulegen und zu reflektieren. In diesem Teil werden – für die Soziale Arbeit als Wissenschaft
– die kontroversen Vorentscheidungen aufgrund philosophisch-weltanschaulicher Vorannahmen, die Gegenstandsdiskussion, die Methodenbestimmungen, die Theorieentwicklung und die Forschung als Ordnungskategorien benutzt, um das „weitläufige Gelände“ der Sozialen Arbeit als
Wissenschaft auszuleuchten, überschaubar und begehbar zu machen.2
Der Aufbau dieses Teils folgt dem Aufbau von Teil 1. Am Anfang steht
die mehr als 100 Jahre alte Forderung nach einer Wissenschaft Soziale Arbeit. Diese Forderung kommt wie bei den anderen wissenschaftlichen
Disziplinen auch aus der Ausbildung zum Beruf. Auf dem Weg, diese
Forderung zu verwirklichen, liegen viele Stolpersteine und stehen viele
Sperrzäune, die in der Sache selbst gründen oder aber von außen hingestellt worden sind. Die Wert- und Normenfrage und die gesellschaftliche
Funktion von Sozialer Arbeit sind sehr umstritten und verursachen tiefe
Gräben zwischen den verschiedenen Parteien. Diese Zerstrittenheit wirkt
1 Vgl. zum Beispiel Eyferth/Otto/Thiersch 1987.
2 Das Bild für die Situation der Theoriediskusssion habe ich von Thiersch/
Rauschenbach 1987, 986 übernommen.
63
ERNST ENGELKE
sich auf die Bestimmung des Gegenstands von Sozialer Arbeit als Praxis
und Wissenschaft aus. Die wichtigen Positionen in diesem Streit werden
dargestellt und eine Perspektive für eine Einigung aufgezeigt. Im Verlauf
der Wissenschaftsgeschichte haben sich verschiedene wissenschaftstheoretische „Schulen“ herausgebildet, die sich aufgrund ihrer philosophischen Vorannahmen für bestimmte Erkenntnismethoden entschieden haben. Diese „Schulen“ gibt es auch in der Sozialen Arbeit als Wissenschaft
und nach ihnen lassen sich die darauf aufbauenden Theorien unterscheiden und einteilen. Nach dem breiten Methodenspektrum wird eine Übersicht über die Theorien Sozialer Arbeit mit ihren unterschiedlichen Niveaus und Inhalten gegeben. Dieser Teil schließt mit der Frage nach dem
Verhältnis von Wissenschaft und Forschung sowie dem Verhältnis von
Wissenschaft und Ausbildung in der Sozialen Arbeit.
Die Ausbildung für die Praxis (und den Beruf) in den verschiedenen
Handlungsfeldern führte in der Regel zum Entstehen der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen. Je komplexer die Handlungsfelder in der Praxis
waren, desto anspruchsvoller waren die Ausbildungsinhalte und umso
notwendiger wurde eine differenzierte und reflexive Aufbereitung der
Ausbildungsinhalte. Aus den Ausbildungsinstituten entwickelten sich
auf diese Weise Wissenschaftsinstitute für die einzelnen Fächer; diese
Entwicklung trifft für die Medizin, das Recht und die Theologie genauso zu wie für die Pädagogik. Nicht anders verläuft die Entwicklung bei
der Sozialen Arbeit. Daher hängt die Entwicklung der Sozialen Arbeit
als Wissenschaftsdisziplin sehr eng mit der Entwicklung des Berufs
„Sozialarbeiterln“ und der Ausbildung zu diesem Beruf zusammen. Insofern spielen beim jetzigen Entwicklungsstand der Sozialen Arbeit als
Wissenschaft die Bereiche Praxis und Ausbildung in der Sozialen Arbeit noch so kräftig in die Soziale Arbeit als Wissenschaft hinein, daß
Grenzen mitunter verschwimmen. Das zeigt sich insbesondere bei der
Gegenstandsbestimmung, bei den Zielen und Aufgaben sowie den Methoden.
1. SOZIALE ARBEIT ALS WISSENSCHAFT – EINE ALTE FORDERUNG
Bereits seit mehr als 100 Jahren wird gefordert soziale Probleme und
ihre Lösungen nicht nur praktisch, sondern auch wissenschaftlich anzugehen. Engagierte und über das Leiden der Armen empörte SozialarbeiterInnen wie Jane Addams, Octavia Hill, Henrietta Barnett und Mary
64
SOZIALE ARBEIT ALS WISSENSCHAFT. EINE ORIENTIERUNG
Richmond forderten eine wissenschaftliche Reflexion des Massenelends und seine Beseitigung in den Slums der Großstädte. Für sie reichte
angesichts des Ausmaßes der sozialen Probleme eine Almosen gebende
Sozialarbeit nicht mehr aus. Die Empörung der Frauen verband sich mit
sehr konkreten wissenschaftlichen Anliegen, vor allem im Hinblick auf
die Problemerfassung. Als Vorbild, die richtigen Fragen zu stellen und
die richtigen Daten zu sammeln, diente ihnen die Arbeitsweise der Ärzte
und Rechtsanwälte. Das Instrumentarium, die Mittel hierzu waren eine
zuverlässige, unverzerrte, überprüfbare, sich auf Fakten und nicht auf
Gerüchte, kirchliche Moralvorstellungen und bürgerliche Ressentiments verlassende Ermittlung, Analyse und Diagnostizierung der vorhandenen Probleme.3 Mary Richmond forderte 1897 eine Ausbildung
der Sozialarbeiter mit dem Hauptziel, „den professionellen Helfern
(Charity workers) bessere kognitive Gewohnheiten und höhere Ideale ...
im Umgang mit Individuen und Familien zu vermitteln.“4 Es kam ihr bei
der Ausbildung der SozialarbeiterInnen darauf an, Theorie und Praxis
in der richtigen Weise zu kombinieren. Auf den guten Charakter der Sozialarbeiterinnen allein war für sie kein Verlaß, wenn nicht die Ausbildung und Erfahrung hinzutritt.5
Die Diskussion in Deutschland über die Soziale Berufsausbildung zu
Beginn unseres Jahrhunderts bezeugt, daß bereits damals zwischen Sozialer Arbeit als Wissenschaft, Praxis und Ausbildung unterschieden
wurde.6 So verlangten Alice Salomon (1872 – 1948), Heinrich Weber
(1888 –1946) und andere, daß an den deutschen Universitäten Lehrstühle für Wohlfahrtspflege eingerichtet werden, die einen Lehrauftrag mit
der Möglichkeit der Forschung verbinden. Der Caritas-Direktor Weber
aus Münster setzte sich für die Wohlfahrtspflege als selbständige Wissenschaft ein. Er wollte, daß eine Wissenschaft, die sich aus den verschiedenen Fakultäten speist, und ein einheitlicher Lehrstuhl, dessen
Träger mit den Dozenten aller Fakultäten und den Praktikern eng zusammenarbeiten würde, entstehen. Der Lehrstuhl sollte der staatswissenschaftlichen Fakultät zugeordnet werden.7 Dagegen sprach sich
3
4
5
6
7
Staub-Bernasconi 1986, 12.
Staub-Bernasconi 1986, 13.
Wendt 1990a, 171f.
Vgl. Salomon 1927, 172-192; Orthbandt 1980, 267-275.
Vgl. Salomon 1927, 178.
65
ERNST ENGELKE
Christian-Jasper Klumker (1868 –1942), selbst Inhaber des Lehrstuhls
für soziale Fürsorge und Statistik an der Universität in Frankfurt/M.,
aus. Für ihn war das Gesamtgebiet der Sozialen Arbeit aus so verschiedenartigen Dingen zusammengesetzt, daß er sich eine wissenschaftliche
Disziplin dafür nicht denken konnte. Ab 1910 gab es an einzelnen deutschen Universitäten Lehrstühle, die sich mit der sozialen Fürsorge
(Frankfurt/M.), der allgemeinen Wohlfahrtspflege (Münster i.W.) oder
der Caritaswissenschaft (Freiburg i.Br.) befaßten. Es gelang jedoch
nicht, über einzelne Ansätze, die stark von den Persönlichkeiten lebten,
die diese Lehrstühle inne hatten, hinauszukommen.8 Soziale Arbeit als
Wissenschaft konnte sich bis heute nicht an den deutschen Universitäten
etablieren.
Mit der Konferenz Sozialer Frauenschulen stellte Salomon als Grundsatz für die Ausbildung sozialer Berufe heraus, daß „die theoretische
Ausbildung eine allgemein sozialwissenschaftliche sein soll.“9 Wenn es
um die Randständigsten der Gesellschaft ging, erhoffte sie sich Antworten von der Wissenschaft auf die Fragen, warum, wozu und wie am besten was zu tun ist, um ihnen nachhaltig zu helfen. Die Ausbildung zu sozialen Berufen sollte nach Salomon allerdings nicht an den Universitäten stattfinden; skeptisch meinte sie:
„Die deutschen Universitäten dienen der reinen Wissenschaft: der Vermittlung intellektueller Inhalte und Methoden der Forschung, …; nicht unmittelbar der Vorbereitung zum Handeln … Die Soziale Arbeit braucht (aber) eine
auf das praktische Handeln bezügliche Theorie, und zwar auf ein Handeln,
das sich um das Wohl des Menschen in seiner Totalität bemüht. Das können
die deutschen Universitäten nicht geben.“10
Als Leiterin der Sozialen Frauenschule in Berlin plädierte sie für eine
enge Verbindung von Theorie und Praxis Sozialer Arbeit und für eine
Ausbildung an Sozialen Schulen, die die auszubildenden Mädchen und
Frauen theoretisch und praktisch auf ihre pädagogischen und sozialen
Rollen als Sozialarbeiterinnen vorbereiten.11
Nach dem Zweiten Weltkrieg forderten einige in der Sozialen Arbeit
Engagierte erneut die wissenschaftliche Reflexion Sozialer Arbeit und
8 Salomon 1927, 172-192.
9 Salomon 1927, 62.
10 Zitiert nach Staub-Bernasconi 1986, 14.
11 Wendt 1990a, 173.
66
SOZIALE ARBEIT ALS WISSENSCHAFT. EINE ORIENTIERUNG
damit Soziale Arbeit als Wissenschaft, zum Beispiel Herbert Lattke
(1968).12 Der Begriff „Sozialarbeitswissenschaft“ tauchte auf. Helmut
Lukas systematisierte 1979 in seiner Publikation „Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft“ die Vielfalt von theoretischen Ansätzen und
Theorien der Sozialarbeit/Sozialpädagogik nach wissenschaftstheoretischen Kriterien und trug dadurch wertvolle Bausteine zum Fundament
der Sozialarbeitswissenschaft bei.13
Seit 1970 gibt es nun in der Bundesrepublik Deutschland an Universitäten den Diplomstudiengang „Pädagogik“ mit der Studienrichtung
„Sozialpädagogik“ und an Fachhochschulen die Diplomstudiengänge
„Sozialpädagogik/Sozialarbeit/Sozialwesen.“14 Damit wurden die Ausbildung von Sozialarbeiterinnen und Soziale Arbeit als Fach im Hochschulbereich institutionalisiert. Viele Absolventlnnen dieser Studiengänge sind inzwischen in der Praxis tätig. Wie wirkt sich die „praxisorientierte Ausbildung auf wissenschaftlicher Grundlage“ aus? Wie
bewerten die AbsolventInnen ihre Ausbildung aufgrund ihrer Praxiserfahrung? Wie bewerten die Anstellungsträger die Ausbildungsergebnisse? Wie bewerten die Lehrenden das Resultat ihres Unterrichts? Welches Verhältnis haben PraktikerInnen Sozialer Arbeit zur Theorie Sozialer Arbeit nach ihrer Ausbildung an einer Hochschule? Wie gelingt
heute die von Richmond, Salomon und anderen gewünschte und doch
skeptisch betrachtete Partnerschaft von Sozialer Arbeit und Wissenschaft?
AbsolventInnen einer Fachhochschule kritisieren, daß ihre Ausbildung
unzureichend berufs- und praxisbezogen war, außerdem wurde sie als
eher oberflächlich erlebt:
„Die Fachhochschule vermittelt in zusammenhanglos nebeneinander stehenden Fächern nur Halbwissen. Quantität auf Kosten der Qualität. Der Sozialarbeiter hat Pädagogik, ist aber kein Pädagoge, er hat Recht, ist aber kein
Jurist usw. Er hat von allem gehört, aber nur ein bisschen und nicht so gründlich.“15
Die Autoren der Befragung fassen als Ergebnis ihrer Untersuchung zusammen:
12 Vgl. Lattke 1968.
13 Lukas 1979.
14 Vgl. die Untersuchung von Rohde 1989.
15 Goll u.a. 1989, 108.
67
ERNST ENGELKE
„Die geäußerte Kritik … deutet daraufhin, daß die Studierenden ganz offenkundig in der Ausbildung auf eine andere Rolle vorbereitet werden, als sie
ihnen in der Berufspraxis abverlangt wird.“16
Diese Kritik an der Hochschulausbildung der SozialarbeiterInnen ist unter den AbsolventInnen der Fachhochschulen weit verbreitet.17 In abgewandelter Form gilt sie auch für die universitäre Ausbildung der SozialpädagogInnen.18
Viele Anstellungsträger kritisieren – wie die AbsolventInnen – an der SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen-Ausbildung pauschal eine Theorielastigkeit und mangelnden Praxisbezug19 So hat das Präsidium des
Deutschen Städtetages an die Fachhochschule appelliert, „die Ausbildung von Sozialarbeitern/Sozialpädagogen konsequenter an den Anforderungen der Praxis zu orientieren.“20 Generell wird von allen Anstellungsträgern beklagt, daß es bislang noch nicht gelungen sei, das Problem
des Theorie-Praxis-Bezugs in der Ausbildung der SozialarbeiterInnen/
SozialpädagogInnen zufriedenstellend zu lösen.21 HochschullehrerInnen fragen ebenfalls nach dem Erfolg der Ausbildung. Stellvertretend für
viele HochschullehrerInnen zitiere ich die Einschätzung des Tübinger
Sozialpädagogen Hans Thiersch. Als Ziel der Einrichtung des Diplomstudiums Sozialpädagogik nennt er „eine Professionalität, die im Horizont von – sozialwissenschaftlich orientierter – Wissenschaft, vor allem
Erziehungswissenschaft, Handlungskompetenz vermittelt.“ Und er behauptet, daß „dies Ziel von den Studierenden nur bedingt übernommen
und in der Praxis repräsentiert wird.“22
Viele Hochschullehrerinnen wehren sich heftig gegen die Kritik aus der
Praxis und beklagen ihrerseits eine Theoriemüdigkeit der Praktikerlnnen.23 Andere meinen: „Die pragmatische Theoriefeindlichkeit und die
16 Goll u.a. 1989, 111.
17 Vgl. Bayer u.a. 1984, Gehrmann u.a. 1985.
18 Vgl. Lüders 1987.
19 Zum Beispiel die Stellungnahme der Bundesvereinigung der kommunalen
Spitzenverbände von 1976.
20 Zitiert nach Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge 1983, l f.
21 Vgl. Stellungnahme des Deutschen Vereins in: Deutscher Verein für öf fentliche und private Fürsorge 1983.
22 Thiersch 1985, 480.
23 Brunkhorst/Otto 1989, 373.
68
SOZIALE ARBEIT ALS WISSENSCHAFT. EINE ORIENTIERUNG
Blindheit der Praxis geben der Sozialarbeit deshalb etwas Scheinhaftes,
einen Hauch von Donquijoterie.“24
Die Auseinandersetzung um die Ausbildung in der Sozialen Arbeit ist
Gegenstand zahlreicher Publikationen; sie zeigt die allseitige Verwirrung und spiegelt zwei zentrale Probleme der Sozialen Arbeit wider:
(a) Soziale Arbeit als Wissenschaft wird nicht oder nicht ausreichend
gegen Soziale Arbeit als Praxis und Ausbildung abgegrenzt.
(b) Eine Konzentrierung der Sozialen Arbeit als Wissenschaft auf eigene Fragen und Antworten fehlt.
Die Ausbildung zu Sozialarbeiterlnnen ist zu unterscheiden von Sozialer Arbeit als Wissenschaft.25 Die Diskussion von Desideraten und Defiziten in der Ausbildung möchte ich in diesem Zusammenhang nicht
weiter verfolgen.26 Beide haben zwar miteinander zu tun, unterscheiden
sich aber in den Aufgaben, Zielen, Inhalten und Methoden beträchtlich
voneinander. Obgleich eine Verbindung von Sozialer Arbeit als Wissenschaft zur Ausbildung in Sozialer Arbeit besteht, möchte ich hier allein bei der Sozialen Arbeit als Wissenschaft bleiben. Das Verhalten
„der Theoretikerlnnen“ auf der einen Seite und das „der PraktikerInnen“
auf der anderen Seite erinnert mitunter an die Szenen zerstrittener Ehepartner. Beide Partner sind durch dieselbe schwierige Lebensaufgabe
miteinander verbunden, sind aber darüber enttäuscht, daß es dem anderen nicht gelingt, die gemeinsame Aufgabe zufriedenstellend zu lösen.
So schlagen sie einander ihre Ansprüche und Enttäuschungen um die
Ohren und schieben sich gegenseitig die Schuld an der Misere zu, nach
dem Motto „praxisferne Theorie gegen theorielose Praxis“.27 Über das
Streiten werden leicht die naheliegenden und verbindenden Aufgaben
vergessen. Eine Rückbesinnung auf die gemeinsamen Grundlagen und
eine Bescheidung auf die je eigene Aufgabe könnte eine bessere Verständigung ermöglichen.
Einig sind sich die an der Ausbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoglnnen Beteiligten darin, daß die prinzipiell neue Stufe des
24 Weller 1986, 174.
25 Vgl. Pfaffenberger 1990; Rohde 1990.
26 Vgl. zum Beispiel Rohde 1990; Pfaffenberger 1990.
27 Vgl. hierzu Thiersch 1985, 1987; Späth 1985; Weller 1986; Lüders 1987
u.a.
69
ERNST ENGELKE
wachsenden wissenschaftlichen Selbstbewußtseins von Sozialer Arbeit
– einhergehend mit der Einsicht, daß Ausbildung nur im Horizont von
Wissenschaft geschehen kann – nicht einfach wieder zurückgenommen
werden kann.28 Zurück kann man auch nicht mehr hinter die Tatsache,
daß es in der und für die Soziale Arbeit inzwischen eine große Fülle von
Ansätzen, Konzepten, Modellen und Theorien gibt.29 Das von der Sozialen Arbeit als Wissenschaft hervorgebrachte Theorie-Ensemble ist
bunt, vielgestaltig und mehrschichtig wie das Handlungsfeld der Sozialen Arbeit selbst. Das gewachsene Selbstbewußtsein und die vorhandenen wissenschaftlichen Arbeiten bilden eine große und kraftvolle Ressource für die Soziale Arbeit als Wissenschaft. Eine Analyse der gegenwärtigen Situation von Sozialer Arbeit als Wissenschaft ergibt allerdings einige Schwächen:
(1) Die Auffassungen über Wissenschaft sind höchst kontrovers. Selten
nur reflektieren oder klären AutorInnen von Publikationen zur Theorie
Sozialer Arbeit das, was sie jeweils unter Sozialer Arbeit als Wissenschaft verstehen. Wenn zu dieser Frage überhaupt Stellung genommen
wird, dann werden die in der Wissenschaftstheorie erarbeiteten Begriffe
und zu beachtenden Aspekte kaum berücksichtigt. Die Bereitschaft, sich
mit traditionellen bewährten Wissenschaftsauffassungen zu befassen
oder sich ihnen gar anzuschließen, ist recht gering. Die Bereitschaft ist
groß, neue Begriffe zu prägen, eigene Bilder und Sprachspiele zu kreieren und andere Denkansätze als den eigenen schnell als „traditionell“
oder Ideologie abzuwerten. So existieren viele eigenwillige Wissenschaftsauffassungen ohne eine angemessene Rückbindung in die Wissenschaftsgeschichte und ohne plausible wissenschaftstheoretische Aufbereitung.
(2) Eine Einigung auf einen konkreten, präzise definierten Gegenstand
steht aus. Das andauernde Gezerre, Sozialpädagogik und Sozialarbeit
voneinander abzugrenzen oder doch zu verbinden und das verlegene
Ausweichen auf den Kunstbegriff „Sozialwesen“ kennzeichnen die Problematik treffend. Die Begriffe können in einem weiten Verständnis als
28 Thiersch 1985, 480.
29 Vgl. die Zusammenstellungen bei Vahsen 1975; Lukas 1979; Schmidt 1981;
Marburger 1981; Lowy 1983; Wollenweber 1983; Thiersch/Rauschenbach
1987.
70
SOZIALE ARBEIT ALS WISSENSCHAFT. EINE ORIENTIERUNG
stellvertretend für Gegenstandsbereiche der Sozialen Arbeit als Wissenschaft angesehen werden. Immer wieder wird die enge verbindliche Bestimmung eines gemeinsamen Gegenstands gefordert, doch bisher ist
sie ausgeblieben.30 Auch hier wird das einsame Vergnügen gepflegt,
möglichst eigene Vorschläge zu präsentieren, ohne die Vorschläge und
Arbeiten anderer zur Kenntnis zu nehmen oder sich gar mit ihnen zu befassen. Damit ist die verbindende und verbindliche Ausgangsbasis der
Sozialen Arbeit als Wissenschaft noch zu bestimmen.
(3) Keines der anerkennungsfähigen Paradigmen wird allgemein anerkannt. Wenn nach Paradigmen für Soziale Arbeit gefragt wird, dann
wird häufig auf Paradigmen benachbarter Fachdisziplinen wie Psychologie, Soziologie, Medizin oder Recht zurückgegriffen, beziehungsweise diese werden von dort entlehnt. Unberücksichtigt bleibt dabei oft,
daß die anderen Disziplinen ihren Gegenstand unter einem eigenen
Blickwinkel anschauen. Deshalb taugen entliehene Paradigmen als Erklärungsmuster für Soziale Arbeit in der Regel wenig. Unter diesen Paradigmen sind das Devianz-Paradigma, das marxistische Paradigma der
Verelendung, das Prozeß- und Systemparadigma, das Alltags-Paradigma und das ökosoziale Paradigma zur Zeit am weitesten verbreitet. Es
kann eine gewisse Leichtigkeit, unbekümmert irgendwelche Begriffe
als „neue“ Paradigmen für Soziale Arbeit (zum Beispiel Regionalität
oder Gesellschaftsgeschichte) anzubieten, nicht übersehen werden.
(4) Die gesellschaftliche Funktion und Bedeutung Sozialer Arbeit als
Praxis und als Wissenschaft ist umstritten. Auf die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion Sozialer Arbeit als Wissenschaft und Praxis
stehen sich unversöhnliche Antworten gegenüber: Eine Auffassung ist:
Soziale Arbeit hat sich den Werten und Zielen, die die jetzige Gesellschaft ihr vorgibt, unterzuordnen. Sie hat ihre Klientinnen in diese Gesellschaft zu integrieren. Die andere Position heißt: Soziale Arbeit hat
eigene Ziele aufgrund eigener Werte zu entwickeln und zu verfolgen.
Sie hat eine kritische Funktion der Gesellschaft gegenüber wahrzunehmen. Dieser Streit verhindert notwendige Zusammenarbeit.
(5) Die Zuordnung im Rahmen einer Wissenssystematik ist offen. Wo
soll sich die Soziale Arbeit als Wissenschaft im System der Wissen30 Zum Beispiel aus der Sicht der Fachhochschule durch Zink 1988,45-49; aus
der Sicht der Universität durch Thiersch/Rauschenbach 1987, 986.
71
ERNST ENGELKE
schaften zuordnen? Soll sie sich als Subdisziplin der Pädagogik oder
der Soziologie, als Integrationsdisziplin über allem frei schwebend oder
als eigenständige Disziplin – also Soziale Arbeit als Wissenschaft –
gleichrangig neben Pädagogik, Soziologie, Medizin, Psychologie usw.
verstehen und ausgeben?31 Die Entscheidung bei der Beantwortung
dieser Frage hängt fast immer mit der Herkunftsdisziplin zusammen,
aus der die AutorInnen jeweils stammen. ErziehungswissenschaftlerInnen plädieren für eine Zuordnung zu den Erziehungswissenschaften,
Soziologinnen und Psychologinnen für eine Zuordnung zu den Sozialwissenschaften.
(6) Eine Gemeinschaft der Sozialarbeitswissenschaftlerinnen existiert
nicht. Bei den SozialarbeitswissenschaftlerInnen gibt es – salopp formuliert – eine Dreiklassengesellschaft: Die erste Klasse bilden die Universitätshochschullehrerlnnen, das sind habilitierte PädagogInnen, PolitologInnen, SoziologInnen usw. Sie kennen in der Regel das Handlungsfeld Sozialer Arbeit lediglich aus der Literatur oder aus Feldstudien. Die
zweite Klasse bilden die Fachhochschullehrerinnen, promovierte Juristlnnen, Medizinerlnnen, Pädagoginnen, Politologinnen usw. mit mindestens fünfjähriger Praxis in ihrem Beruf. Sie kennen in der Regel das
Praxisfeld der Sozialen Arbeit aus der Fragestellung und Berufsperspektive ihrer jeweiligen akademischen Ausbildung. Durch die Praxisorientierung der Fachhochschulausbildung können sie – je nach Engagement
– das Praxisfeld Sozialer Arbeit intensiv berühren und gut kennenlernen.
Die dritte Klasse bilden diplomierte Sozialarbeiterinnen, die in der Sozialen Arbeit ausgebildet worden sind und Praxiserfahrung haben. Sie
sind entweder als Lehrkräfte für besondere Aufgaben an Fachhochschulen angestellt oder arbeiten im Rahmen ihrer praktischen Tätigkeit wissenschaftlich. Es gibt viele gemeinsame Aufgaben für die Mitglieder der
drei Klassen, jedoch wenig fruchtbare Zusammenarbeit.32
31 Vgl. Pfaffenberger 1985, 495.
32 Vgl. Landeskonferenz der lehrenden Sozialarbeiter und Sozialpädagogen
1986.
72
Entwicklung der Sozialarbeit /Sozialpädagogik
zur Profession und zur wissenschaftlichen
und hochschulischen Disziplin
Hans Pfaffenberger
Bei diesem Thema geht es um Entwicklungs- und Veränderungsprozesse von Sozialarbeit/Sozialpädagogik
• als beruflich organisiertes Segment gesellschaftlicher Praxis (mit
dem Sondermerkmal „Profession“ nach vorhergegangener Verberuflichung),
• als Ausbildungs- und Studiengang (bis hin zum hochschulischen
Ausbildungsfach und zur hochschulischen Ausbildungsdisziplin),
• als wissenschaftliche Disziplin (im weiteren Sinne: Disziplin vom
Typ „Handlungswissenschaft“).33
Wenn von Profession und Disziplin die Rede ist, dann nicht als statischer Zustand und Gegenstand, sondern (im Sinne des Thema-Begriffes
„Entwicklung“) als Prozess. Geläufig, aber auch sehr vieldeutig und unscharf sind die Prozessbegriffe Professionalisierung und Verwissenschaftlichung, weniger gebräuchlich die von mir in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe „Disziplinwerdung“, verstanden als Genese
einer Disziplin und Professionswerdung. Entwicklung und Veränderung spielen sich ab zwischen den Begriffen und gesellschaftlichen Subsystemen des professions- und disziplintheoretischen Dreiecks und ihren Zusammenhängen.
33 Das Theorem der zwei Wissenschaftstypen (Einzelwissenschaft – Handlungswissenschaft: E-H-Typ) und das Wissenschaftsprogramm vom Typ Handlungswissenschaft wurden abgehandelt in: H. Pfaffenberger, Sozialpädagogik/
Sozialarbeitswissenschaft in: M. Timmermann (Hrsg.): Sozialwissenschaften.
Eine multidisziplinäre Einführung, Konstanz o.J. (1976), (bes. Abschn. IV-VI,
S. 102-108); H. Pfaffenberger, Sozialpolitik und Sozialpädagogik in Klages/
Merten (Hrsg.): Sozialpolitik durch soziale Dienste, Berlin 1981 (bes. S. 36-40).
73
HANS PFAFFENBERGER
Beschäftigungssystem
Beruf/Profession
Bildungssystem
Ausbildung/Studium/Lehre
Wissenschaftssystem
wissenschaftliche Disziplin
Hochschule
Die Eckpunkte des Dreiecks haben unterschiedliche Funktionen:
• die Profession Sozialarbeit/Sozialpädagogik die Funktion der Produktion von sozialen Dienstleistungen,
• das (sozialberufliche) Bildungssystem die Funktion der Produktion
von (sozialberuflichen) Qualifikationen,
• das Wissenschaftssystem die Funktion der Produktion von wissenschaftlichem Wissen (durch Forschung, Theoriebildung und Empirie).
Zu beachten ist, dass die Hochschule als Institution eine Doppelzugehörigkeit zum Bildungssystem (als Lehre und Ausbildung) und zum Wissenschaftssystem (als Produzent von wissenschaftlichem Wissen) hat.34
Diese dreifachen Entwicklungsprozesse der Profession, der Wissenschaft und der Ausbildung sind in dreifacher Perspektive, das heißt in 3
Zeithorizonten zu untersuchen:
• rückblickend, die historische Bewegung rekonstruierend,
• im heutigen Entwicklungspunkt und aktuellen Entwicklungsstand,
• im Hinblick auf Zukunft, auf mögliche sich abzeichnende Trends,
also projektiv, aber auch auf Handlungs- und aktive Gestaltungs34 Nach einem Hinweis von Luhmann/Schorr.
74
ENTWICKLUNG DER SOZIALARBEIT/SOZIALPÄDAGOGIK ZUR PROFESSION
möglichkeiten gesellschaftlicher und politischer Akteure; das sind
vor allem die Berufs- und Fachvertreter, ihre Ausbilder und andere
Repräsentanten von Praxis, Ausbildung und Wissenschaft. Entwicklung im gesellschaftlichen Raum ist eben nicht nur naturwüchsiger
Verlauf, sondern auch Resultat und Resultante der Aktivitäten gesellschaftlicher und politischer Akteure, sie ist auch gewollt, geplant,
gezielt. Hier wird dann eher die Rede sein von Entwicklungszielen
und -programmen und von Strategien, um diese durchzusetzen und
zu erreichen.
Angesichts des Umfanges und der Komplexität dieser Matrix gesellschaftlicher Subsysteme und der einzubeziehenden 3 Zeitdimensionen
können hier nur große Linien und Trends zu einzelnen Komponenten
und Zusammenhängen aufgezeigt werden, nicht vollständig und nicht
detailliert untersucht, sondern nur in verschiedenen, ausgewählten Auswirkungen, Voraussetzungen und Zusammenhängen.
Zunächst ist von Professionswerdung (statt: Professionalisierung) die
Rede, da sich dieser Terminus bezüglich der Veränderung von Qualitätsmerkmalen und des Standortes in der Berufshierarchie eindeutig nur
auf die Entwicklung oder Karriere eines Berufes mit einer bestimmten
Berufsaufgabe oder Berufsrolle bezieht, während Professionalisierung
auch einen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungstrend (im Beschäftigungs- und Bildungssystem und im Arbeitsmarkt) oder auch die quantitative Durchdringung eines Tätigkeits- und Arbeitsfeldes mit professionellen Berufsträgern sowie individuelle Bildungsprozesse in Aus- und
Fortbildung von aktuellen und künftigen Berufsträgern bezeichnen
kann. Es handelt sich dabei um (nach Bezugsrahmen, Referenzsystem
und Veränderungsmerkmalen usw.) unterschiedliche Prozesse. Der Begriff „Professionswerdung“ unterscheidet klar zwischen den alten „klassischen“ Professionen und den neuen: Er bezieht sich nur auf die neuen,
da die alten, sogenannten „klassischen“ Professionen – Medizin, Jurisprudenz, Theologie – seit der Entstehung europäischer Universitäten im
Mittelalter die drei „Oberen Fakultäten“ bilden, also keinen für uns verfolgbaren und nachvollziehbaren Werdeprozess erkennen lassen. Beachtlich ist hier auch die Identität beziehungsweise Gleichbenennung
von Profession und Fakultät vom Auftreten bis heute. Dadurch unterscheiden sie sich von der einen unteren Fakultät, auch „Artisten-Fakultät“ genannt, die allgemeine und propädeutische Funktionen hatte, und
aus der sich über die Jahrhunderte hinweg die heutigen Natur-, Geistes75
HANS PFAFFENBERGER
und Sozialwissenschaften ausdifferenzierten und entwickelten und entsprechende Disziplinen und eigene Fakultäten bildeten („Disziplinwerdung“), die nie diese Identität von Beruf/Profession und Disziplin aufwiesen.
Die „neuen Professionen“ haben sich über die „Verberuflichung“ von
Tätigkeiten und Arbeiten nach und nach Merkmale der alten „Professionen“ angeeignet und sich ihnen dadurch angeglichen, so dass nur hier
von Professionswerdung durch Aneignung und Angleichung gesprochen werden kann. Dies geschah allmählich und mit unterschiedlichem
Ausmaß, so dass etwa von Semiprofessionen gesprochen wird: Ich will
mich bei der Sozialarbeit/Sozialpädagogik aber nicht damit aufhalten,
ihren Entwicklungsstand nach Semi- oder gar Viertel-, Halb-, Dreiviertel- oder Fastprofession zu klassifizieren, sondern sehe sie auf dem
Wege zur (vollen) Profession (wobei die Kriterien nach Geltung, Relevanz und Anzahl beziehungsweise Vollständigkeit ohnehin höchst umstritten sind und daher eingehend zu explizieren wären).
Die Professionswerdung ist als aktueller Prozess darauf gerichtet, Kongruenz von Berufsfeld und wissenschaftlicher Disziplin (im weiteren Sinne von Ausbildungsfach und Forschungsdisziplin) analog zur ursprünglichen Einheit und Deckungsgleichheit bei den klassischen Professionen
herzustellen. Dem würde im Endergebnis eine Kongruenz beziehungsweise Deckungsgleichheit Profession/Disziplin entsprechen. Dieser Prozess – was häufig übersehen oder falsch dargestellt wird – ist aber nicht
linear und unidimensional, sondern hat zwei verschiedene Ausgangspunkte, zwei verschiedene kollektive Akteure und zwei verschiedene
Entwicklungsrichtungen: Ich habe sie zur Kennzeichnung als „Professionalisierung35 von unten“ und „Professionalisierung von oben“ bezeichnet.
Die (von mir so benannte) Professionalisierung von unten wird oft auch
„Akademisierung“ genannt. Um die im „Oben/Unten“ eventuell implizierte Hierarchiestruktur zu vermeiden, könnte man auch vom „Weg einer Praxis beziehungsweise eines Berufes über die Wissenschaft zur Profession“ sprechen. Hier suchen Berufe beziehungsweise Berufsvertreter
wissenschaftliche Fundierung ihrer Berufspraxis, hochschulische Aus35 Hier verwende ich den Begriff Professionalisierung, weil es sich um einen
aktiven Gestaltungs- und Handlungsprozess beteiligter Akteure, nicht nur um
einen (passiven, naturwüchsigen) Werde-Prozess handelt.
76
ENTWICKLUNG DER SOZIALARBEIT/SOZIALPÄDAGOGIK ZUR PROFESSION
bildung (Einrücken in die Ränge der akademischen Berufe) und den gesellschaftlich damit verbundenen Status (Prestige, materielle und immaterielle Anerkennung usw.). Typisch dafür war und ist die Entwicklung
der Lehrerbildung, die mit vielen Zwischenstufen (Lehrerbildungsanstalt, Akademie usw.) den letzten entscheidenden Schritt zur Verwissenschaftlichung und Akademisierung mit der Integration der Pädagogischen Hochschulen in die Universitäten getan hat. Die heftige Diskussion
um diese Akademisierung der Lehrer und der Lehrerbildung zeigt die Widersprüchlichkeit und Ambivalenz dieses Entwicklungsprozesses,36 auf
die noch einzugehen sein wird.
Ein weiteres jüngeres Beispiel für diese Entwicklungsrichtung „Professionalisierung von unten“ ist die Sozialarbeit/Sozialpädagogik, deren
Ausbildung sich ausgehend von Ausbildungskursen um die Jahrhundertwende auf dem Weg der Verberuflichung, das heißt der Verknüpfung von Ausbildung, Qualifikation und Lohnarbeit, über den Status der
Fachschule, der Höheren Fachschule zur Fachhochschule und damit in
den tertiären Sektor 1971 verlagert hat.37
Bei der „Professionalisierung von oben“ sucht nicht – wie bei der „Professionalisierung von unten“ – ein außerhochschulisch existierender Beruf wissenschaftliche Grundlagen und hochschulische Ausbildung für
die Praxis, sondern hier sucht eine etablierte wissenschaftliche Disziplin
im engeren Sinne – die aus der Differenzierung der propädeutischen,
36 Seit der ersten Befassung mit Fragen der Professionalisierung und Verwissenschaftlichung habe ich auf die Widersprüchlichkeit und Ambivalenz dieser
Prozesse hingewiesen und erforderliche (Gegen-)Strategien benannt, aber auch
die Interdependenz mit anderen Entwicklungsprozessen und -strategien wie
Demokratisierung, Politisierung (der Sozialarbeit/Sozialpädagogik) und deren
Relevanz in der antagonistischen Auseinandersetzung betont; vgl. H. Pfaffenberger, Sozialpädagogen/Sozialarbeiter – auf dem Wege zu einem modernen
Dienstleistungsberuf? in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit 12/78, S. 442445. Die Ambivalenz des Professionalisierungsprozesses erfordert eine
bewusste Entscheidung für professionelle Handlungsziele und -maximen: für
technokratische oder reflexive „Verwendung“ (= Verwertung = Transformation
von wissenschaftlichem und professionellem Wissen in Hanldungskompetenz);
vgl. Keupp/Strauß/Gmür, Verwissenschaftlichung und Professionalisierung.
Zum Verhältnis von technokratischer und reflexiver Verwendung am Beispiel
psychosozialer Praxis in: Beck/Bonß (Hrsg.): Weder Sozialtechnologie noch
Aufklärung?, Opladen 1989.
77
HANS PFAFFENBERGER
nichtprofessionellen unteren Artisten-Fakultät zu den modernen naturund sozialwissenschaftlichen Disziplinen hervorgegangen ist – ein potentielles Berufsfeld in der gesellschaftlichen Praxis und am Arbeitsmarkt. Dieser Vorgang als gezielte und geförderte Verstärkung des Expansionspotentials einer wissenschaftlichen Disziplin zeigt sich zum
Beispiel bei den monodisziplinären Diplomstudiengängen Psychologie
und Soziologie (mit Rückwirkungen auf die Entwicklung der universitären Disziplin selbst38), aber eben auch in der Einrichtung von Diplomstudiengängen der Erziehungswissenschaft ab 1969, deren Studienschwerpunkte beziehungsweise Studienrichtungen an potentiellen Berufsfeldern orientiert sind, von denen eines seit der Rahmenordnung von
1969 Sozialarbeit/Sozialpädagogik ist.
Dabei sind Anteil und Ein- beziehungsweise Ausgliederung der Sozialpädagogik/Sozialarbeit und ihr Verhältnis zum umfassenderen erziehungswissenschaftlichen Studiengang durchaus unterschiedlich: Während die Rahmenordnung (1969) und viele universitäre Studien- und
Prüfungsordnungen die Studienrichtung und damit die Sozialarbeit/Sozialpädagogik erst im Hauptstudium (als Spezielle Pädagogik) vorsehen,
führen eine Reihe von Studien- und Prüfungsordnungen sie als Spezielle
Pädagogik I schon ins Grundstudium ein,39 noch andere haben nur eine
37 Zur bildungspolitischen Argumentation für die Beseitigung der „bereichsspezifischen Disparität“ der Sozialarbeit/Sozialpädagogik durch Überführung
der Ausbildung in den tertiären Bildungsbereich 1969; vgl. H. Pfaffenberger,
Bildungspolitische Aspekte der sozialpädagogisch/sozialen Berufsbildung S.
124-145 in: Aurin (Hrsg.): Bildungspolitische Probleme in psychologischer
Sicht, Frankfurt 1969; Bestandsaufnahmen und Evaluationen der Reform von
1969/71 wurden u.a. vorgelegt in: H. Pfaffenberger, Zur Situation der Ausbildungsstätten in: Projektgruppe Soziale Berufe (Hrsg.): Sozialarbeit. Ausbildung
und Qualifikation, Expertisen 1, München 1981, S. 89-119; H. Pfaffenberger,
Zur Situation der Ausbildung für das Praxisfeld (Sozialwesen) in: Kerkhoff
(Hrsg.): Handbuch Praxis der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Bd. 1, Düsseldorf 1981, S. 61-103.
38 Aus der Sicht der entsprechenden akademischen Disziplin selbst stellt sich
dies leicht dar als eine Spaltung in grundlagenorientierte und anwendungsorientierte Subdisziplinen, die Einheit, Wissenschaftlichkeit und Disziplincharakter
gefährdet und unter Umständen zu einer Ablösung des als nichtidentisch empfundenen professionalisierten Berufes von der akademischen Mutter-Disziplin
führt.
78
ENTWICKLUNG DER SOZIALARBEIT/SOZIALPÄDAGOGIK ZUR PROFESSION
Studienrichtung, eben Sozialarbeit/Sozialpädagogik, und verleihen zum
Teil konsequent auch den Abschlussgrad und die Berufsbezeichnung
„Diplom-Sozialpädagoge“. Wo die Studienrichtung „Sozialarbeit/Sozialpädagogik“ eine neben andern (Schulpädagogik, außerschulische Bildung, Erwachsenenbildung usw.) ist, ist sie häufig die quantitativ dominierende.
Bei der Durchsetzung des Diplompädagogen im Arbeitsmarkt gegen die
Unbekanntheit und relative Neuheit dieser Berufsqualifikation – von
heute rund 20-jähriger Existenz – hat sich ergeben, dass die Stellenbesetzungen oft unabhängig von der Studienrichtung des Absolventen
vorgenommen werden, so dass in der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als
aufnahmefähigstem Arbeitsfeld auch viele Absolventen anderer Studienrichtungen Zugang fanden. Ob bei der Breite und dem Umfang der für
Diplompädagogen zugänglichen Arbeitsfelder diese (vorübergehende?)
Entwicklung am Arbeitsmarkt der Professionalisierung zuträglich ist,
erscheint fraglich. Auf die Arbeitsmarktprobleme des neu entstandenen
(berufsqualifizierenden) Abschlusses „Diplompädagoge“ hat sie sich
sicher günstig ausgewirkt. Nach der (in etwa abgeschlossenen) Einführungsphase wären eine deutlichere Profilierung der Studienrichtung Sozialarbeit/Sozialpädagogik oder die Ausprägung als eigener Studiengang für die Professions- und vor allem auch Disziplinwerdung vorteilhaft.
Es ist eine Besonderheit der Sozialarbeit/Sozialpädagogik in ihrer Entwicklung zur Profession und zur wissenschaftlichen Disziplin, dass sie
im Unterschied zu allen anderen „neuen“ Professionen und Disziplinen
in beiden Professionalisierungsrichtungen etwa gleichzeitig – 1969/
1971 – Veränderungen erreicht hat. Daraus ergibt sich die heutige Situation der Zwei-Ebenen- beziehungsweise Drei-Institutionen-Struktur
der Sozialarbeit/Sozialpädagogik (in den zwei Ebenen Fachhochschule
– Wissenschaftliche Hochschule40 und den drei Institutionen Fachhochschule – Wissenschaftliche Hochschule – Gesamthochschule). Sie ma39 Die Rahmenordnung für Diplompädagogen 1989 geht (gegenüber der von
1969) einen ersten Schritt in diese Richtung, indem sie „einen Leistungsnachweis in der gewählten Studienrichtung“, ohne nähere Spezifikation, aber keine
Fachprüfung oder andere Prüfungsleistungen für die Diplomvorführung vorsieht, § 17, (1), 3. Sie wendet sich aber gegen die Tendenz, Studienrichtungen zu
eigenständigen Studiengängen weiterzuentwickeln.
79
HANS PFAFFENBERGER
chen die Einzigartigkeit dieses Prozesses und der heutigen Struktur von
Sozialarbeit/Sozialpädagogik aus. Auch die Ausbildungsstätten für Ingenieure und Betriebswirte erfuhren zwar gleichzeitig 1971 eine Umwandlung von Höheren Fachschulen zu Fachhochschulen ja sie waren
eigentlich die Vorreiter, Sozialarbeit und Sozialpädagogik nur Trittbrettfahrer dieser Entwicklung –, aber Wirtschafts- und Ingenieurwissenschaften waren ja vorher schon hochschulische Ausbildungs- und Fachdisziplinen, so dass man von einer Angleichung und Annäherung der unteren Ausbildungsebene an eine im tertiären Bildungsbereich (als
Technische Hochschule oder als Technische Universität) schon existierende sprechen kann. Die Zwei-Ebenen-Struktur der Ausbildung war ihnen nicht neu, sondern wurde nur in Form und Abstand etwas verändert.
Bei der Sozialarbeit/Sozialpädagogik dagegen waren beide Ausbildungsebenen zum ersten Mal und neu im tertiären Bereich vorhanden:
• Diplom mit Studienrichtung Sozialarbeit/Sozialpädagogik an Universitäten,
• Graduierung Sozialarbeit/Sozialpädagogik an Fachhochschulen.
Deshalb traten und treten hier besondere Schwierigkeiten in Zuordnung
und Abgrenzung, Charakterisierung der Theorie-Praxis-Orientierung
und des Praxisbezugs auf, die bis heute nicht erledigt und nicht aufgehoben sind, und die manche Beobachter und Beurteiler veranlassen, die
durchgängige Präsenz der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Ausbildungsgang, als Profession und als wissenschaftliche Disziplin an Fachhochschulen/Gesamthochschulen/Universitäten in Frage zu stellen. Ge40 Struktur und Organisation sind tatsächlich noch differenzierter, als es die
Termini Zwei-Ebenen-Struktur und Drei-Institutionen-Struktur aussagen, da
Studiengänge nicht – wie hier zunächst einfachheitshalber unterstellt – durch
den Ort der Ansiedlung im Hochschulsystem bei einer bestimmten Institution
bestimmt sind: Fachhochschulstudiengänge – als solche bezeichnet und als 6semestrige Kurzstudiengänge definiert – gibt es an allen drei Institutionen
(Fachhochschule, Gesamthochschule, Universität). Wissenschaftliche Studiengänge, definiert als 8-semestrige Langzeitstudiengänge, gibt es an Universitäten
und Gesamthochschulen, integrierte (d.h. aus einem 6- und einem 8-semestrigen Studiengang in einem Y- oder 1-Typus verbundene) Studiengänge gibt es
nur an Gesamthochschulen und Universitäten, hier aber auch daneben Fachhochschul- und wissenschaftliche Studiengänge, also drei verschiedene Studiengangstypen an der gleichen Institution.
80
ENTWICKLUNG DER SOZIALARBEIT/SOZIALPÄDAGOGIK ZUR PROFESSION
meinsam und ebenen- und institutionenübergreifend ist als zentrales
Problem für sie die (Noch-)Nichtexistenz einer eigenständigen, vollentwickelten und etablierten Disziplin Sozialpädagogik. Beide Ebenen und
alle drei Institutionen ringen noch um:
(a) Anerkennung und Status in ihren jeweiligen Institutionen,
(b) Abgrenzung und Profilierung der einen gegen die andere Ebene beziehungsweise Institution (mit manchmal grotesken Auswüchsen des
Konkurrenzverhaltens: Absprechung der Existenzberechtigung der anderen Ausbildungsebene, Vorschläge zum Überführen der einen in die
andere Ebene, Leugnung gemeinsamer Identität usw.),
(c) Berufsidentität und Identifikation einer berufs- beziehungsweise professionsspezifischen gesellschaftlichen Aufgabe und Auftrag. Statt
Konvergenz und Kooperation bestimmen vielfach Spaltungen und Divergenzen, die von Kontrahenten und Konkurrenten leicht als „Divideet-impera“-Strategie verwendet werden können, das Erscheinungsbild
und die weitere Entwicklung von Profession und Disziplin. Solche Divergenzen, die zum Teil zu Dichotomien hochstilisiert werden, sind zum
Beispiel: Fachhochschule – Wissenschaftliche Hochschule, Sozialpädagogik – Sozialarbeit (statt des Einheitsbegriffes Sozialwesen oder Sozialpädagogik/Sozialarbeit). Auch das ungeklärte und ungeordnete Verhältnis der Erziehungswissenschaft zur Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft – Subdisziplin oder eigenständige Disziplin – belastet die
Disziplin- und Professionswerdung. Erschwert wird die Situation durch
den Tatbestand, dass Sozialarbeiter/Sozialpädagogen oft, manchmal sogar überwiegend berufs- und fachfremde Lehrende und später berufsund fachfremde Vorgesetzte haben. Es ist ein Hauptkennzeichen von
Professionen, dass sie (fast) ausschließlich von Vertretern der eigenen
Profession/Disziplin ausgebildet und angeleitet werden und (fast) nie berufs- und fachfremde Vorgesetzte haben. Es handelt sich hier um die professionelle Autonomie als Charakteristikum von Professionen, die nur
begrenzte Dienstaufsicht, statt einer berufsfremden Fachaufsicht aber
Selbstkontrolle und Selbstorganisation bedeutet.
Voraussetzung für eine positive Veränderung dieser Situation ist die Etablierung der Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft als eigenständige, auf die Profession und ihre notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen und Voraussetzungen und ihre Ausbildungserfordernisse zentrierte
wissenschaftliche Disziplin (als Ausbildungsfach, eigener Studiengang
81
HANS PFAFFENBERGER
und Forschungsdisziplin). Nur sie kann die Produktion von Qualifikationen für potentielle Vorgesetzte und für Lehrende der Disziplin in den Studiengängen der Profession sichern. Das (Noch-)Nichtvorhandensein einer etablierten eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft hat Folgen für die Profession und die
Ausbildung für diese Profession. Die Folgen sind in der Zwei-Ebenenund Drei-Institutionen-Struktur inhaltlich unterschiedlich, aber von vergleichbarem Gewicht:
(1) An den Fachhochschulen hat das heterogene, disziplinorientierte
und nichtintegrierte Lehrangebot von 10 bis 12 „Fächern“ (= wissenschaftlichen Disziplinen sui generis) oft keinen oder nur wenig Bezug
zu Sozialarbeit/Sozialpädagogik-Bedingungen, -Voraussetzungen und
-Problemen. Die Praxisanteile sind zeitlich umfangreich, aber häufig
ohne direkten Bezug zu Studium und Lehrinhalten. Die so oft wahrgenommene Theorie-Praxis-Diskrepanz ist etwas geringer im Falle von
Projekten und integrierten Praxissemestern, obwohl diese nicht immer
bedeuten, dass der zeitlichen auch eine inhaltliche und didaktische Integration entspricht. Der Lehrkörper besteht überwiegend aus fach- und
berufsfremden Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen. Die lehrenden Vertreter des Berufs Sozialarbeit/Sozialpädagogik selbst sind als
„lehrende Sozialarbeiter“, „Fachlehrer für besondere Aufgaben“ usw.
nur Dozenten zweiter Klasse.
(2) An Wissenschaftlichen Hochschulen ist das Lehrangebot der DreiFächer-Struktur (1 Hauptfach, 2 Nebenfächer) unverbunden und kaum
koordiniert. Die Nebenfächer werden als externe Service-Leistung geliefert – ohne Bezug zur Sozialarbeit/Sozialpädagogik und zuweilen
ohne große Motivation. Ergänzt wird dieses Drei-Fächer-Angebot durch
Lehraufträge juristischer und administrativer Experten oder Praktiker.
Zeitlich und umfangmäßig ist die Erziehungswissenschaft als MutterDisziplin dominierend, aber in ihrem Lehrangebot nicht sozialarbeit-/sozialpädagogik-zentriert. Die Praxisanteile sind inhaltlich oft beliebig,
ohne Bezug zum laufenden Studium, unintegriert und unzureichend.
Hier helfen sich die Studenten oft selbst, indem sie über das obligatorische Maß hinausgehende Praktika und sozialpädagogische Teilzeitarbeit wahrnehmen. Auch haben Projekte, wo sie Bestandteil des Studiums
sind, mehr Theorie-Praxis-Bezug und unmittelbare Verknüpfung mit
dem theoretischen Studium, soweit sie von Dozenten der Hochschule in82
ENTWICKLUNG DER SOZIALARBEIT/SOZIALPÄDAGOGIK ZUR PROFESSION
itiiert und begleitet werden. Auch hier sind die Lehrenden als Vertreter
einer wissenschaftlichen Disziplin Erziehungswissenschaft, Soziologie
oder Psychologie usw. meist berufsfremd und berufsunerfahren. Bei beiden Studiengängen und in beiden Ausbildungsinstitutionen ist diese unbefriedigende Situation auf lange Sicht nur überwindbar durch Disziplinwerdung der Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft und nur
durch sie; nur durch sie sind 2 Hauptmerkmale einer Profession erreichbar:
• professionelle Autonomie, die Fach- und Berufsfremde als Lehrende
(und Supervisoren, Fortbildner usw.) und als Vorgesetzte ausschließt,
• professionelle Identität, die Deckungsgleichheit von Profession, wissenschaftlicher Disziplin (im weiteren Sinne) und Studiengang voraussetzt, da nur durch eine eigenständige, der Profession kongruente
wissenschaftliche Disziplin das Ausgeliefertsein an andere Disziplinen überwindbar ist.
Beide Entwicklungsrichtungen und -formen der Professionalisierung
(„von unten“ – „von oben“) treffen auch auf unterschiedliche beziehungsweise unterschiedlich gewichtete Probleme und Hindernisse in
der Begegnung Berufspraxis Wissenschaftspraxis.
Professionalisierung von oben: Hier ist Ausgangspunkt und kollektiver
Akteur eine einzelwissenschaftliche Disziplin im engeren Sinne beziehungsweise ihre scientific community:
(a) Deshalb wird in ihr die Einschätzung der Notwendigkeit, Dringlichkeit und Gewichtung einer aktiven Professionalisierung sehr unterschiedlich und kontrovers diskutiert, wie sich am Beispiel der Psychologie in den USA und in der BRD und der Soziologie in der BRD zeigt;
sie führt möglicherweise zur Spaltung der scientific community und ihrer Identität und zur Trennung in eine Wissenschaftliche Gesellschaft
und eine Berufsorganisation („Berufsverband“).
(b) Das Angebot an Wissenschaft beziehungsweise wissenschaftlicher
Serviceleistung wird oft von der Praxis und der Politik nicht nachgefragt,
häufig als nicht brauchbar erachtet und zwingt deshalb oft zu der Wissenschaft nicht adäquatem Marketing, das Bedarfsweckung statt Bedarfsdeckung bedeutet. Manche Vertreter der Disziplin sehen die Anwendungsorientierung, das „Praktischwerden“ als Gefahr für die „Wissenschaftlichkeit“.
83
HANS PFAFFENBERGER
(c) Alle diese Tendenzen und Schwierigkeiten haben Rückwirkung auf
die wissenschaftliche Disziplin: Das Aufgreifen lebensweltlicher Probleme führt zur Spaltung in Grundlagenforschung oder reine Wissenschaft versus angewandte Wissenschaft und auch zur Diffusion, das
heißt Auflösung vorher klarer disziplinärer Grenzen und Inhaltsstrukturen.
Professionalisierung von unten: Akteure sind engagierte Berufsvertreter und Lehrende und Studierende der Ausbildungsstätten. Probleme
und Gefahren dieser Form sind:
(a) Materielle und legitimatorische Interessen der Akteure können über
Sachgründe und Sachnotwendigkeiten und die Interessen und Bedürfnisse der Klienten dominieren,
(b) Probleme werden auch durch unterschiedliche Auffassungen von
Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit erzeugt: Wissenschaft wird einmal als Rezept- und Handlungsanweisungs-Produzent und -Lieferant
verstanden, statt das Verhältnis Praxis – Wissenschaft als dialektisches
zu verstehen und in einem dialogischen Verfahren von Wissenschaftlern und Praktikern herzustellen. Zum anderen werden oft auch szientistische und sozialtechnologische Irrwege begangen. Die Entwicklung
tendiert oft auch zu einer affirmativen statt kritischen und selbstkritischen Wechselbeziehung von Wissenschaft und Praxis. Veränderung
ist auch auf Seiten der Wissenschaft gefragt, die zur Produktion relevanter, transformationsfähiger Wissenschaft und zu einer dialektischen
Beziehung von Wissenschaft und Praxis, Berufspraxis und Ausbildung
kommen muss und nur so in weiteren Schritten zur Professions- und
Disziplinwerdung beitragen kann.
Die heutige Situation der Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft
als Disziplin zeigt vor allem Schwächen und Defizite, deren Ursachen
und Gründe mit Blick auf die potentielle und prospektive Disziplinwerdung aufzusuchen und aufzuklären sind.
Die Disziplinwerdung fordert vor allem eine Lösung aus der falschen
Subsumierung als Subdisziplin der Erziehungswissenschaft: Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft ist zwar auch Pädagogik (vor allem
im umfassenden Sinne einschließlich Andragogik und Andragologie),
aber bei weitem nicht nur. Viele andere, nichterziehungswissenschaftliche Komponenten, die heute als Versatzstücke und Mosaiksteinchen
ohne übergreifende zusammenfassende Struktur aus anderen Diszipli84
ENTWICKLUNG DER SOZIALARBEIT/SOZIALPÄDAGOGIK ZUR PROFESSION
nen bezogen, das heißt importiert und unbearbeitet als Rohstoff vermittelt werden, müssen bodenständig und innerdisziplinär ver- und erarbeitet werden. Das setzt voraus, sich von der Vorstellung der einzelwissenschaftlichen Disziplin (im engeren Sinne, wie Psychologie und
Soziologie als Prototyp) zu lösen und die Entwicklung einer „multidisziplinären“ Disziplin, einer „interdisziplinären“ Disziplin vom Typ
Handlungswissenschaft41 anzugehen. Es gibt diesen Wissenschaftstyp
schon und es gibt dafür historische wie rezente Beispiele: die alten Professions- und Fakultätswissenschaften Medizin und Jurisprudenz und
als neuere Beispiele die Wirtschaftswissenschaft und die Verwaltungswissenschaft, die den Typ Handlungswissenschaft mindestens implizieren. Hier ist die Sicht auf den Gegenstand der Disziplin holistisch und
problemorientiert und nicht auf alte traditionelle Disziplingrenzen beschränkt: Gegenstand ist immer ein Segment gesellschaftlicher Praxis
im Kontext der Gesellschaft.
Wissenschaft als Ganzes und in ihren einzelnen Disziplinen ist nicht
ausreichend bestimmt als Aussagensystem mit interner Entwicklungslogik, sondern sie ist immer auch Produkt sozialer und gesellschaftlicher Prozesse mit eigener Sozio-Logik. Das bedeutet, dass Disziplinwerdung retrospektiv und prospektiv nicht nur einer disziplininternen
Produktionslogik folgt, sondern auch von Bedarf und Nachfrage an gesellschaftlichen Problemlösungen, Veränderungen von Rationalitätsvorstellungen und Rationalitätsspielen (vergleiche „Wertewandel“) in
der Gesellschaft, von den auch soziologischen Faktoren der Genese und
Entwicklung einer scientific community bestimmt ist. Deshalb ist die
Disziplinwerdung einer Handlungswissenschaft Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft nicht nur vorstellbar, sondern auch realisierbar
(obwohl sie nicht den Kriterien und Merkmalen einer Disziplin i.e.S.
entspricht). Eine auf die eigene Disziplin/Profession gerichtete Wissenschafts- und Professionsforschung hat drei Gesichtspunkte zu untersuchen:
41 Ich folge hier einem Gedankengang und teilweise auch den Formulierungen
von G. Ziebura über „eine Art Identitätskrise“ „in einem Moment der Entwicklung“ der Politikwissenschaft, die die Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft offenbar, wenn auch mit einigem Entwicklungsrückstand gegenüber der
Politikwissenschaft, weithin teilt; vgl. G. Ziebura, Politische Wissenschaft in:
M. Timmermann (Hrsg.): Sozialwissenschaften, Konstanz o.J. (1976), S. 63-81,
hier bes. S. 65f.
85
HANS PFAFFENBERGER
(1) Die Genese, ihre Bedingungen und Prozesse,
(2) das faktische Bestehen beziehungsweise den realen Bestand der Disziplin/Profession heute,
(3) „ihre vernünftige Veränderung (sofern sich dafür Gründe angeben
lassen)“ (Mittelstrass).
Ich möchte auf Punkt 3 eingehen und dazu Überlegungen zur Programmatik einer empirisch-hermeneutisch-kritischen Sozialwissenschaft von
Mittelstrass42 vorausschicken. Danach befinden wir uns gegenwärtig in
einer historischen Situation in gemischten Verhältnissen, das heißt in partiell quasi naturhaft ablaufenden gesellschaftlichen Prozessen, partiell
bewusst geplanten Handlungszusammenhängen. Damit ist es „Aufgabe
einer empirischen Sozialwissenschaft, nicht nur unser Wissen von den
(nur eingriffsfrei gültigen) Gesetzen sozialen Naturwuchses zu vergrößern, sondern auch gesellschaftlich relevante Handlungsweisen auf die
in ihnen faktisch wirksamen handlungsleitenden Orientierungen hin zu
analysieren. Die Idee einer Erfahrungswissenschaft wird hier um die Idee
einer kritisch verstehenden Soziologie erweitert“. Wer, wie Mittelstrass,
von einer Doppelaufgabe der Sozialwissenschaften ausgeht, nämlich
(a) Analyse empirischer Verhältnisse,
(b) Ausarbeitung begründeter Handlungssysteme,
braucht die von mir vorgeschlagene Unterscheidung in die zwei Wissenschaftstypen der Sozialwissenschaften – Einzelwissenschaften und
Handlungswissenschaften nicht zu machen, sondern wird den E-Typ als
defizitären Zustand der Sozialwissenschaften einschätzen, die dann insgesamt und prinzipiell als Handlungswissenschaften aufgefasst werden.
Er steht dafür vor dem anderen Problem, wie er seine Position gegenü42 J. Mittelstrass, Sozialwissenschaften im System der Wissenschaft in: M.
Timmermann (Hrsg.): Sozialwissenschaften, Konstanz o.J. (1976), S. 173-189,
hier S. 185f. Er meint: „Der Verzicht auf die Ausarbeitung begründeter Handlungsregeln ist der Preis, den die Sozialwissenschaften im Unterschied zur älteren Idee der moralisch-praktischen Handlungswissenschaften gezahlt haben,
um den Status einer Erfahrungswissenschaft zu erreichen“ (S. 179), und deshalb
müsse man – um diese Vereinseitigung und Verzichtleistung wieder gut zu
machen – heute „die Idee einer Erfahrungswissenschaft um die Idee einer kritischen Soziologie erweitern“.
86
ENTWICKLUNG DER SOZIALARBEIT/SOZIALPÄDAGOGIK ZUR PROFESSION
ber dem faktisch pluralistischen Zustand der Wissenschaften erklärt und
rechtfertigt und vom Vorwurf der Ideologie „reinigt“. Ich dagegen setze
anstelle des Alleinvertretungsanspruches von Mittelstrass die Dualität
von zwei wissenschaftlichen Typen der Sozialwissenschaften, den herkömmlichen einzelwissenschaftlichen und grundlagenorientierten und
den bisher so noch nicht konzipierten und präzisierten Typ der Handlungswissenschaften, der das Programm von Mittelstrass voll und ganz
aufnimmt, darüber hinaus aber in einem Punkte eingrenzt, so dass er als
Sonderfall der Mittelstrassschen empirisch-hermeneutisch-kritischen
Sozialwissenschaft aufgefasst werden kann:
Handlungswissenschaft im Sinne von Pfaffenberger bezieht sich auf ein
Segment gesellschaftlicher Praxis, das beruflich organisiert ist und
durch Professionalisierung und Verwissenschaftlichung, durch Konvergenz zur Identität von Disziplin und Profession entwickelt wird, während das Programm von Mittelstrass „nur“ auf Verfahrensweisen und
wissenschaftstheoretische Grundlagenausrichtung einer existierenden
Disziplin bezogen ist.
Beide Programme beziehen sich also auf Disziplinwerdung, wobei das
eine stärker auf eine innere (wissenschaftstheoretische) Umgestaltung
einer sozialwissenschaftlichen Disziplin, das andere auf die Formierung
und Emergenz einer neuen sozialwissenschaftlichen Disziplin (allerdings unter den gleichen wissenschaftstheoretischen Prämissen wie das
Programm Mittelstrass’) sich bezieht. Welche Probleme und darauf bezogene Disziplinwerdungsprozesse sieht der außenstehende Beobachter
oder der disziplinäre Beurteiler und Berichterstatter selbst und in welchem Zusammenhang stehen diese Sichtweisen mit den beiden Programmen? (Über-) Spezialisierung, Abschottung und Isolierung sozialwissenschaftlicher Disziplinen gegeneinander werden immer wieder als
Beeinträchtigung beziehungsweise Verunmöglichung praktischer und
theoretischer Lösungsversuche beklagt. Sie manifestieren sich als Barrieren von Verstehen und Erklären und damit auch von Problemlösungen eines komplexen lebensweltlichen Sachverhaltes, wie zum Beispiel
der theoretischen und praktischen Probleme von Entwicklung und Unterentwicklung. Ausdrücklich und deutlich gemacht wird das zum Beispiel an der Kritik von Elsenhans43 an der herkömmlichen disziplinären
(wirtschaftswissenschaftlichen oder politikwissenschaftlichen) Befassung mit Problemen der 3. Welt: Er meint, dass eine adäquate Erfassung
der Problematik und damit auch ein Zugang zu Lösungsmöglichkeiten
87
HANS PFAFFENBERGER
nur über die Zusammenführung wirtschaftswissenschaftlicher und politikwissenschaftlicher Theoreme erreichbar sei. Tatsächlich werden
dann bei ihm die herangezogenen (mehr als 2) Disziplinen zu Dimensionen beziehungsweise Faktorengruppen eines transdisziplinären Erklärungs- und Handlungs- beziehungsweise Interventions-Modells: nämlich ökonomische, politische, historische und sozialstrukturelle. So bedient sich dieses Modell der Erklärung und Handlungsorientierung der
zentralen Theoreme und Termini aus verschiedenen Disziplinen und
fügt sie in neuer Weise konstruktiv zusammen. Für mich ist das ein Beispiel von „Transdisziplinarität“, wie sie jede emergente Handlungswissenschaft sich zu eigen machen muss. Um den besonderen Charakter
und die Merkmale von „Transdisziplinarität“ zu verdeutlichen, sind die
verschiedenen Prozesse, die bei der Disziplinwerdung, Disziplinemergenz, Disziplingenese zu beobachten sind, zu vergleichen:
(a) Ausdifferenzierung, Ausgliederung aus einer Mutter-Disziplin (Psychologie und Pädagogik aus Philosophie im vorigen Jahrhundert): Disziplin (im engeren Sinne) = Einzelwissenschaft.
(b) Verselbständigung einer Subdisziplin zu einer eigenständigen Disziplin durch ausdifferenzierende Spezialisierung. Auf diesem Wege
kann aus einer Disziplin eine Fächergruppe mit kategorisierenden Untergruppen werden (vergleiche die Entwicklung der Philologie, die ja
heute noch als Fach- und Berufsbezeichnung Einheit markiert, aber
längst zur Fächergruppe der Literatur- und Sprachwissenschaften mit
vielen einzelnen Disziplinen sich entwickelte).
(c) Zusammenfassung von gegenstands- und problembezogenen und
gegenstands- und problemverwandten Theorien, Paradigmen, Modellen usw. verschiedener Disziplinen zu einer neuen, eigenständigen Disziplin (im weiteren Sinne).
Diese Prozesse bedeuten u.a.:
43 H. Elsenhans, Probleme der politischen Ökonomie in unterentwickelten
Gesellschaften. Von der begrenzten Aussagekraft rein wirtschaftswissenschaftlicher und rein politikwissenschaftlicher Modelle in: Mäding (Hrsg.): Grenzen
der Sozialwissenschaften, Konstanz 1988, S. 88-112. Ich würde die These des
Untertitels ergänzen: Von der begrenzten gesellschaftlichen Relevanz und
Handlungs- und Praxisorientierung einzelwissenschaftlicher Theorien und
Modelle vom E-Typus.
88
ENTWICKLUNG DER SOZIALARBEIT/SOZIALPÄDAGOGIK ZUR PROFESSION
(1) Reorganisation durch Aufhebung und Neubildung von Disziplingrenzen (zum Beispiel Sozio-Linguistik, Frauenforschung und ähnliches),
(2) Bündelung von lebenspraktischen, nach gesellschaftlichen Relevanzbereichen ausgerichteten und ausgewählten Theorien, Paradigmen
usw. und ihre Integration und die Produktion bereichsspezifischer (das
heißt nicht einzelwissenschaftlich disziplinärer) Wissenssysteme.
Die Entwicklung läuft in jedem Fall über eine Phase der Interdisziplinarität, der Selektion, Integration und Transformation unterschiedlicher disziplinärer Theorien- und Wissensbestände zur Aufhebung in der Form
der Transdisziplinarität. Die Frage ist, ob man die letztere Alternativmöglichkeit als Genese einer neuen Disziplin, als Disziplinwerdung auffasst
oder „die wissenschaftshistorisch entstandene Systematik der Sozialwissenschaften“ „unreflektiert (und als unveränderlich) akzeptiert“ und nur
die in ihr bereits etablierten Einzelwissenschaften als Disziplin in dem eigentlichen Sinne anerkennt. Dann bleibt für die neue emergente Disziplin
nur „die Funktion einer 'Residualwissenschaft', einer Wissenschaft ohne
eigenen Objektbereich und ohne eigene Methode“ übrig oder die Rolle
als „lntegrationswissenschaft, die die Ergebnisse der anderen Sozial- und
Geisteswissenschaften unter einer übergreifenden Fragestellung verarbeitet“; will sie das nicht – und es hätte Gefahren der Formalisierung und
Beschränkung beziehungsweise Beschränktheit –, bleibt als Alternative
nur „die Aufgabe, für eine Sprengung einzelwissenschaftlicher Abgrenzungen und Abkapselungen als lebensnotwendige Voraussetzung ihres
(disziplinären) Selbstverständnisses zu kämpfen: Interdisziplinarität als
zweite Natur“.44
In gleicher Weise verstehe ich die Disziplinwerdung der Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft als Notwendigkeit, Alternative und
Kampfziel, nur stellt für mich nicht die Interdisziplinarität, sondern der
transdisziplinäre Disziplincharakter das Hauptmerkmal einer Handlungswissenschaft als Disziplin im weiteren Sinne dar. Dabei sind Residualwissenschaft, Integrationswissenschaft, der interdisziplinäre Kooperationskontext, der Disziplinen-Mix und die Handlungswissenschaft
(Disziplin im weiteren Sinne) nicht nur Programmalternativen, sondern
auch reale faktische Stadien im Disziplinwerdungsprozess, der als Pro44 Ziebura, a.a.O., s. Anm. 9, S. 66.
89
HANS PFAFFENBERGER
zess offen für alle möglichen Schicksale des Programms und Karrieren
der Disziplin und unabgeschlossen den Einwirkungen der beteiligten
Faktoren und Akteure ausgesetzt ist. Sind diese Zustände von Zwischendisziplinen zugleich potentiell Stadien im Prozess der Disziplinwerdung, also Vorformen einer Disziplin in statu nascendi (scientia ferenda), dann dürfen bei Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nicht nur
wegen des unterschiedlichen Entwicklungsstandes, sondern auch wegen des besonderen Charakters und Typus der emergenten Handlungswissenschaft (Disziplin im weiteren Sinne) an sie (noch) nicht die gleichen Standards und Definitionen von Wissenschaftlichkeit angelegt
werden, wie für etablierte Disziplinen vom E-Typ, da diese für einen anderen alternativen Wissenschaftstyp erst als Alternative entwickelt und
erarbeitet werden müssen.
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Wo stehen wir in Sachen Sozialarbeitswissenschaft? Erkundungen im Gelände
Wolf Rainer Wendt
Die Konstruktion von Wissen und Können beginnt nicht erst mit dem
Denken, das sich als ein wissenschaftliches darzustellen versteht. Bereits die gewöhnliche Lebenspraxis hält sich an ein Gerüst von Annahmen und Behauptungen und setzt Fertigkeiten ein, die sich in ihrer Ausübung bewährt haben. Der wissenschaftliche Stand der Dinge in der sozialen Arbeit kann deshalb zuerst mit Hinweisen auf die immer schon
theoriegeleitete Praxis und auf die Berufsgeschichte belegt werden. Einblick in die gegenwärtige Situation geben sodann die Ergebnisse einer
Umfrage an Ausbildungsstätten. In den Studienplänen ist die Sozialarbeitswissenschaft erst ansatzweise vertreten und in der Rolle, die sie
spielen soll, selten schon festgelegt. Darum erörtert dieser Beitrag verschiedene Aspekte der Beziehung von Wissenschaft auf die Theoriebildung innerhalb und außerhalb von ihr, auf Berufs- und Alltagspraxis
und auf die Polikik, in der soziale Positionen durch wissenschaftliche
gestützt und gestärkt werden. Daß die Soziale Arbeit mit einer Wissenschaft verbunden sein müsse, die sich der Sache und des Handelns im
Berufsfeld theoriebildend und forschend annimmt, diese Forderung
wird in der Ausbildung und in ihrer Praxis lauter, seitdem sich ihr Gebiet
verbreitert, ihre Aufgabenstellung differenziert und ihr Selbstverständnis verwirrt hat. Der gemeinsame Horizont, in dem wir uns beruflich bewegen, will geklärt sein. Aktuelle Gründe für den Ruf nach Wissenschaft und für die Beschäftigung mit ihr kommen hinzu: Die gesellschaftlichen Reformen, für die man seinerzeit sozialwissenschaftlich
gerüstet war, sind steckengeblieben und für neue fehlt es nicht nur materiell, sondern auch konzeptionell an. Rüstzeug. Die ideologische Fundierung von sozialer Arbeit in einer Gesellschaftstheorie (die viele für
die einzig progressive und wissenschaftliche hielten) ist weggebrochen.
Mit einer wohlfahrtsstaatlichen beziehungsweise sozialpolitischen
Wegleitung (die vorgibt, was Sozialarbeit zu leisten hat) läßt sich weniger rechnen. Die ausgetretenen Pfade sozialer Fürsorge haben sich als
Holzwege herausgestellt. Welche Fährten aber führen zum Ziel? Die
Profession droht ihr raison d’être, wenn sie nicht konstruktiv an ihr ar91
WOLF RAINER WENDT
beitet, zu verlieren. Viele Berufstätige haben sich schon seitwärts vom
Weg in die Büsche der Psychotherapie geschlagen. Spezifika deutscher
akademischer Bildung machen es der Profession nicht eben leichter: Die
Sozialpädagogik, die sich in ihrem universitären Überbau in den 20 Jahren auch als geistige Vorhut sozialer Arbeit gerierte, muß in ihrem erziehungswissenschaftlichen Haus sehen, daß sie anerkannt bleibt. Und
sie ist draußen im Feld kaum in der Lage, die dort vorkommenden Aufgaben und Tätigkeiten konzeptuell zu umgreifen. Sozialpädagogik bietet in der Theorie keinen zureichenden Bezugsrahmen für Soziale Arbeit.
Um nicht von ihrem Weg abzukommen und um das schwierige Gelände
zu erkunden, in dem sie sich bewegt, zur Klärung im Denken und Handeln also, braucht unsere Profession ihre eigene Wissenschaft und Forschung. Sie gestattet Aussagen über soziales Geschehen und berufliches
Handeln, die als wissenschaftliche Aussagen nicht dessen Ordnung angehören, sie somit objektiv beleuchten und in eine von der Kontingenz
des Geschehens und Handelns unabhängige Ordnung überführen können. Sozialarbeitswissenschaft hat beispielsweise das Verhältnis sozialer Arbeit zur Psychotherapie zu klären und zur Pädagogik, zur Verwaltung, zur Wirtschaft und zur Politik. Das sind praktische Verhältnisse,
in denen der Beruf sich bewegt und sich begreift. Und soziale Arbeit
muß öffentlich darstellen und möglichst wissenschaftlich belegen können, wozu die Unmenge Geld wirklich gut ist, die in sozialen Diensten
und Einrichtungen ausgegeben wird. Sie haften für diese Ausgaben nur
begrenzt, sollten aber wenigstens wissen wofür.
Wie die Praxis einen Zuständigkeitsbereich hat, so hat die Wissenschaft
einen Gegenstandsbereich: Sie befaßt sich in ihrem spezifischen Erkenntnisinteresse und in ihrem Entwurf von Realität mit dem alltäglichen, sozial wie ökonomisch und politisch bedingten Zurechtkommen
von Menschen – mit sich, mit anderen, in Gemeinschaft und allein – und
mit den strukturellen Bedingungen dieses Auskommens in unserer Gesellschaft. Kurzgefaßt: Menschen in in ihren konkreten sozialen Situationen sind das Materialobjekt unserer Wissenschaft. Sie studiert
menschliches Handeln und soziale Verhältnisse aber nicht in jeder Hinsicht, sondern aus einem bestimmten Blickwinkel: Das Formalobjekt
der Sozialarbeitswissenschaft sind Bewältigungs- und Unterstützungsmöglichkeiten. Sie nimmt Vorgänge und Umstände zu ihrem Gegenstand, die zu Hilfebedürftigkeit führen, und solche, die ein selbstbe92
WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
stimmtes und unabhängiges Leben zu führen gestatten. Sie befaßt sich
mit den Ressourcen, welche die einzelnen Menschen, Familien und
Gruppen nutzen und aus denen sie Kraft schöpfen. Das Zurechtkommen
schließt Probleme und Krisen, Befriedigung und Leiden ein. Menschen
erfahren in den modernen Lebensverhältnissen ihr sozialen Wohl und
Wehe – materiell, physisch, psychisch und geistig-kulturell. Sie geraten
in Schwierigkeiten und in Not. Arme Familien „managen“ ihren Alltag,
und es gilt zu studieren, wie man sie dabei wirksam unterstützen und
ihre Verhältnisse bessern kann (siehe Walker 1993). Empirisch finden
sich verschiedene Bewältigungsweisen, Dispositionen des Gelingens
und Möglichkeiten des Scheiterns, Situationen des Mangels, Prozesse
der Marginalisierung und der Verelendung. Diese Vorgänge und ihre
Umstände sind Beispiele für Erkenntnisobjekte im formalen und materialen Gegenstandsbereich. Sie alle müssen uns in Theorie und Forschung beschäftigen, wenn die Wissenschaft zur Kompetenz sozialer
Arbeit beitragen soll.
Von den Weisen des Zurechtkommens und seiner Problematik gibt es
ein Alltagswissen. Menschen reflektieren für sich und in sozialer Kommunikation gewöhnliche Lebenssituationen, die Realitäten heutzutage,
Wege des Gelingens und die Umstände des Scheiterns. Von diesem
Wissen und dieser Reflexion zu unterscheiden ist das professionelle
Wissen derjenigen, die beruflich bei der Bewältigung des Alltags von
Menschen, in Krisensituationen und bei Problemlösungen helfen. Es erlaubt stellvertretende Deutungen und ein sachwaltendes Eintreten für
die Belange von Hilfebedürftigen. Das berufliche Erfahrungs- und
Handlungswissen ist theorievermittelt und technologisch zweckdienlich aufbereitet. Mit seinem instrumentellen oder funktionalen Wert
verschafft dieses Wissen den Berufstätigen aber noch keine Selbständigkeit in der Begründung dessen, was sie tun, und in der Wegleitung,
wohin es über kontingente einzelne Zwecke hinaus führen soll. Hier
mag ein Glaube angebracht sein, unabhängig von Beweisen, im übrigen
aber ist wissenschaftliches Wissen gefragt, das in einem eigenständigen
Erkenntnisprozeß gewonnen wurde und überprüfbar ist (zur Unterscheidung der Wissensarten: Engelke 1992, 21 ff.). Soll sich die Kompetenz
beruflicher sozialer Arbeit nicht in einer aus Erfahrung und durch wiederholte Übung gewonnenen Kunstfertigkeit erschöpfen, hält sie sich an
eine wissenschaftliche Erkundung ihrer Zuständigkeit und Erschließung ihres Feldes.
93
WOLF RAINER WENDT
Was sich in ihm finden läßt, organisiert die Wissenschaft in Theorien.
Sie haben unterschiedliche Reichweiten, enthalten Prinzipien und Konzepte und sind auf einem bestimmten Abstraktionsniveau formuliert.
Theorien sind in mehrfacher Hinsicht nützlich für das Denken und Handeln. Diesen Nutzen hat kürzlich in der Soziologie (alle Sozialwissenschaften müssen ihren „state of the art“ immer wieder einer Revision
unterziehen) Neil Smelser in einigen auch für unsere Wissenschaft gültigen Sätzen zusammengefaßt:
(a)Theorie bezieht verstreute Ergebnisse empirischer Forschung aufeinander und kodifiziert sie in einem begrifflichen Rahmen.
(b)Theorie generalisiert Aussagen über den Bereich hinaus, in dem etwas gefunden und begriffen worden ist.
(c) Theoretische Formulierungen sensibilisieren für Themen und Fragen, die sich bei Betrachtung der Phänomene selber nicht stellen, aber
für ihre Erklärung und Interpretation gebraucht werden.
(d) Theorie birgt ein Potential für Anwendungen in verschiedenen Bereichen der Praxis.
(e) Theorie ist ein (durchaus ideologisches) Angebot für den allgemeinen öffentlichen Diskurs; sie gibt ihm eine Richtung (Smelser 1994,
2f.).
In einem vorhandenen Praxisfeld muß theoretisch einige Vorarbeit geleistet werden, um einen wissenschaftlichen Standpunkt einnehmen zu
können. Der Erkenntnisgegenstand unserer Wissenschaft liegt nicht fix
und fertig als ein Objekt vor, das der Entdeckung harrt und dem man
sich nur zuzuwenden und unter Zurückstellung subjektiven Meinens zu
widmen braucht. Der Gegenstandsbereich behält den Charakter eines
Entwurfs. Wissenschaften konstruieren ein Gerüst, in dem sie dann ihre
Empirie unterbringen. Konstrukte einer Wissenschaft ersetzen (im
Blickfeld von Theorie und Forschung) das Alltagsverständnis, mit dem
sich denkende und handelnde Menschen behelfen, wenn sie sich ohne
wissenschaftlichen Anspruch in ihrem Erfahrungsfeld bewegen. Praktiker der sozialen Arbeit greifen bisher meist auf Konstruktionselemente
der Psychologie, der Medizin, der Soziologie und der Pädagogik zurück, lassen sich diese Elemente in der Aus- und Fortbildung besorgen
und legen sie sich in ihrem beruflichen Alltagsverständnis nach Gutdünken zurecht: Für ihr Handlungsfeld fehlt ein ordnendes System von Sät94
WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
zen, in dem die professionelle Tätigkeit „soziale Arbeit“ eigenständig
begriffen und ausgelegt wird. Damit ist die konstruktive Aufgabe der
Gegenstandbestimmung einer Wissenschaft der sozialen Arbeit bezeichnet.
Wenn wir uns paradigmatisch entscheiden, das persönliche und soziale
Zurechtkommen von Menschen heutzutage in den Focus der Sozialarbeitswissenschaft zu rücken, entscheiden wir uns gegen eine Reduktion
auf Notlagen und Randständigkeit. Kein Studium von Schwäche ohne
Erforschung von Stärken. In welcher Weise in sozialen Diensten und
Einrichtungen personale und strukturierte Unterstützung erfolgen und
sonstwie geholfen werden kann, läßt sich auch im konkreten Fall nicht
ausmachen ohne Kenntnis von den Weisen und von den Bedingungen
des Gelingens – in all ihrer empirischen Differenziertheit. Wir haben die
Lebensführung, die Verhältnisse und die Lebenswelt einzelner Menschen und sozialer Gruppen im Gemeinwesen generell zu studieren, um
für unterstützendes, beratendes, sozialpflegerisches, sozialpädagogisches, rehabilitierendes, normalisierendes und resozialisierendes Handeln Orientierung zu schaffen. Uns beschäftigt die Frage, was zur
„Wohlfahrt“ gehört und wie sie individuell und familial zustandekommt. Was tun Menschen für ihr Wohlergehen, welche Umstände begünstigen oder beeinträchtigen es, und wie geschieht das in persönlicher
und sozialer Lebensführung? Die Entscheidung, die wir hier in der Abgrenzung des Gebietes unserer Wissenschaft treffen, ist eine gegen das
primäre Augenmerk auf Defizite und für eine Erkundung der Ressourcen, über welche die Menschen verfügen und die im Gemeinwesen vorhanden sind. Soziale Arbeit ist, historisch betrachtet, erst nötig geworden nach Auflösung vormoderner Haushalte. Soziale Arbeit gehört zum
„Projekt der Moderne“. Im offenen Raum sozialen Zusammenlebens
ein ökonomisches Verhalten zu fördern und für wirtliche und zivile Lebensverhältnisse zu sorgen, war das Vorhaben bürgerlicher Gesellschaften im 18. Jahrhundert und die Veranlassung sozialwissenschaftlicher
Erkundungen im 19. Jahrhundert. Sie standen in enger Verbindung mit
den frühen Formen sozialer Arbeit. Es sei an die Vielzahl von Pauperismus-Studien erinnert, an Thomas Chalmers’ „On the Christian and Civic Economy of Large Towns“ (1819), an William Booth’ großangelegter Untersuchung in London von „Life and Labour of the People“
(1889), an die „scientific charity“ der „Charity Organisation Societies“,
an das „friendly research“ der Frauen um Jane Addams im Chicagoer
95
WOLF RAINER WENDT
Hull House (auf deren Initiative in der sozial-ökologischen Forschung
uns neuerlich Silvia Staub-Bernasconi [1993] hingewiesen hat). Das
sind, historisch gesehen, die Wurzeln der Sozialarbeitswissenschaft. Es
ist kein plötzlicher Einfall, eine solche einrichten zu wollen; insbesondere die Pädagogik hat keine älteren Rechte auf den fraglichen Gegenstandsbereich. Aber die frühen Verheißungen sind nicht erfüllt worden.
Die SozialarbeiterInnen selber haben in ihrem Bemühen um Professionalität seit Beginn unseres Jahrhunderts auf Technologien der Menschenbehandlung gesetzt und auf das nötige Expertenwissen von Techniken der Diagnostik, Beratung und Therapie. Die Psychoanalyse bot
sich in den zwanziger Jahren dafür an, später der Behaviorismus mit seiner Lerntheorie, die Gruppendynamik, die Systemtheorie der fünfziger
und sechziger Jahre als Rahmenkonzept für geplanten sozialen Wandel.
Dieses Angebot an wissenschaftlicher Fertigware hat der eigenständigen Theoriebildung insbesondere in der sozialen Arbeit wenig Raum
gelassen. Man denke nur an die verschiedenen Schulrichtungen von Casework und sozialer Gruppenarbeit in ihrer Beeinflussung durch jeweils
modische Richtungen in der Psychotherapie. Der gesellschaftliche, zivile Charakter von sozialer Arbeit blieb in den genannten wissenschaftlich-technologischen Orientierungen außen vor – und der Ideologie
überlassen. In den sozial bewegten sechziger und siebziger Jahren hatte
man guten Grund, nur noch in der Gemeinwesenarbeit das berufliche
Proprium vertreten zu sehen. Parallel dazu gab es angloamerikanische
Versuche, eine umfassende und integrative, einheitliche Theorie des social work zu schaffen. Sie trägt für die Profession zusammen, was ihr an
Wissen, Werten, Zwekken und Methoden und Fertigkeiten eigen ist
(Bartlett 1970; Pincus/Minahan 1973; siehe auch: Lowy 1983). Sie bezieht Beiträge aus verschiedenen Sozial- und Verhaltenswissenschaften
ein, die sich für das Funktionieren von sozialer Arbeit nutzen lassen
(Middleman/Goldberg 1974). Sie wählt das Paradigma „Person-in-ihrer-Umgebung“, um darin das Wissen, die Forschung und die Praxis der
sozialen Behandlung zu konstellieren (Whittaker/Tracy 1989). Indes,
die einheitliche Theorie blieb Stückwerk, paradoxerweise vor allem darum, weil sie die Differenziertheit der Praxis nicht zu fassen vermochte
und sich also zu sehr von ihr abhob (siehe die Kritik von: Roberts 1990).
Jüngst haben Harry Specht und Mark Courtney unter dem Titel „Treulose Engel. Wie soziale Arbeit ihrer Mission abtrünnig wurde“ beklagt,
daß ein großer Teil der amerikanischen Sozialarbeiterschaft ihr berufli96
WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
ches Heil inzwischen in privater psychotherapeutischer Praxis sucht und
somit den Auftrag preisgegeben hat, armen und notleidenden Menschen
zu helfen. Therapie leiste diese Hilfe nicht wirklich. Um so mehr müsse
auf Zielklärung und Präzisierung der Berufsaufgabe Wert gelegt werden. Sache der sozialen Arbeit sei es, „to help people make use of social
resources – family members, friends, neighbors, community organizations, social service agencies, and so forth – to solve their problems. ...
And just as important is the social worker’s function of developing and
strengthening these resources by bringing people together in groups and
organizations, by communiy education, and by organizational development“ (Specht/Courtney 1994, 23). Aber daran zu arbeiten, ist kaum attraktiv, wenn die Praxis wenig fundiert und im gesellschaftlichen Kontext unverbunden neben anderem zivilen Engagement stehen bleibt.
Die Entwicklung der Berufstätigkeit und die Theoriegeschichte ermuntern nach allem kaum zu großen Hoffnungen auf eine eigenständige und
in sich konsistente Sozialarbeitswissenschaft. Sie wächst nicht als
Frucht langer Erfahrung und fällt der Profession nicht in den Schoß. Indes kann die Motivation zu sozialer Arbeit – und eine veränderte Motivation – auch der Beweggrund sein, sich um wissenschaftliche Erkenntnis zu bemühen. Der Bedarf an Theorie, an Konzepten, an Wissen ist
eine gesellschaftliche Frage. Auf sie läßt sich im Rahmen unserer Berufstätigkeit antworten. In ihr ist der Anspruch auf eine Einzelwissenschaft der sozialen Arbeit gegeben und nachzuweisen, wie Ernst Engelke betont hat. Am besten, so seine Empfehlung, wenn die soziale Arbeit
„sich faktisch wie eine Einzelwissenschaft verhält und nicht jammernd
oder polemisierend um ihre Anerkennung als Wissenschaft bei jedermann buhlt“ (Engelke 1992, 306). Nach einer Sozialarbeitswissenschaft
wird heute entschiedener als zuvor verlangt, weil im Objektbereich von
sozialer Arbeit, in ihrem Handlungsfeld mit dem bisherigen Instrumentarium, dem Sammelsurium aus der Psychologie, der Soziologie, der
Pädagogik nicht mehr gut auszukommen ist. Gesucht sind Wirksamkeit,
Sinn und Zweckmäßigkeit des beruflichen Einsatzes. Wozu soziale Arbeit da ist und was sie erreicht, hat sie mit ihrer eigenen ratio zu vertreten, und um diese zu gewinnen, ist Wissenschaft und ist Forschung vonnöten.
Allen Unkenrufen zum Trotz sind von deutschsprachigen Fachvertreterinnen und Fachvertretern bereits respektable Schritte getan. Wir sollten
sie nicht gering schätzen und erkennen, daß mit ihnen ein Stück Weg zu97
WOLF RAINER WENDT
rückgelegt ist, mit dem nicht immer wieder neu angefangen werden
muß. Ich nenne – unter Ausklammerung derjenigen, die im Pädagogenhaus Quartier beziehen, – Hans Pfaffenberger, der seit 1974 zu einer eigenständigen Sozialarbeitswissenschaft ermutigt hat. Helmut Lukas
(1979) mit seiner Analyse der Wissenschaftsentwicklung und kritischen
Beurteilung des Diskussionsstandes. Peter Lüssis Sozialarbeitslehre
(1991) als Entwurf einer zentralen sozialarbeitseigenen Berufstheorie.
Ernst Engelkes (1992) Positionsbeschreibung. Zu schweigen von den
achtbaren Beiträgen und der konzeptuellen Kompetenz der im vorliegenden Band vertretenen Autoren (siehe Literatur).
1. DIE SITUATION IN DER AUSBILDUNG: ERGEBNISSE EINER UMFRAGE
Der Hinweis auf die Anfänge und auf die Literaturlage führt uns zur
Diskussion des begrifflichen Rahmens und des Inhalts der Sozialarbeitswissenschaft. Beider Beziehung aufeinander ist bisher nur skizzenhaft ausgeführt. Grundsätzlich läßt sie sich entweder freischaffend im
Kopf (beziehungsweise auf dem Papier) oder institutionell in den für
Wissenschaft und Forschung ausgewiesenen Räumen und strukturell
vorhandenen Gelegenheiten klären. Da nun zuzugeben ist, daß auch der
Theoretiker nicht ohne einen Raum zum Arbeiten und nicht ohne ein
Netzwerk auskommt, in dem Meinungen gebildet, vertreten und durchgesetzt werden, sind wir auf ihren Betrieb, das heißt vorzüglich auf den
Lehrbetrieb, verwiesen. In Blick auf ihn ist festzustellen: Gegenwärtig
wird an einigen deutschen Fachhochschulen quasi die Horizonteröffnung für angehende Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mit dem
Terminus „Sozialarbeitswissenschaft“ belegt, also: die Ideengeschichte
des Berufes, die Beschreibung seines Aufgabenfeldes, die Methodik
professionellen Handelns, das Verhältnis zu anderen Disziplinen. Man
steckt das Einsatzgebiet ab und reklamiert eine Domäne der Reflexion
für soziale Arbeit, worin ihr Selbstverständnis und ihre Kompetenz erörtert werden kann. Dieses Abstecken und Besichtigen des Feldes hat
gegenüber barocker Theoriebildung (Roberts 1990, 246) den Vorteil
konzeptioneller Schmucklosigkeit. Inhaltlich gibt die summarische Bestandsaufnahme aber noch keinen Aufschluß über die Existenz einer
Systematik unserer Wissenschaft oder wenigstens über ihre Grundannahmen. Wenn Wissenschaft ein System von Aussagen über Realität ist,
98
WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
muß die Konstruktion dieses Systems von der Wissenschaft selber besorgt werden. Sie legitimiert ihre Selbständigkeit in der Hervorbringung
systematisierten eigenen Wissens. Die Ansätze dazu sind vorhanden.
Teils in einer kategorialen Gliederung des Erfahrungs- und Forschungsfeldes, teils in Theoremen, die den Gegenstandsbereich von der Zielsetzung und Aufgabenstellung sozialer Arbeit her aufrollen oder sie in einem Metadiskurs generell begründen.
Man kann in der für soziale Arbeit bezeichnenden „Alltagswende“ mit
der Feststellung beginnen: Empirisch liegen Lebensverhältnisse und das
Handeln von Menschen in ihnen vor; berufliche soziale Arbeit interveniert in problematischen Situationen, in die Weisen, wie sie bewältigt
werden, und mischt sich darin ein. Somit läßt sich wissenschaftlich etwas aussagen und es werden Aussagen gebraucht zu
(a) der Lebenswelt sozialer Gruppen und einzelner Menschen und ihren
Alltagserfahrungen,
(b) den Lebenslagen, in denen sie sich objektiv und subjektiv befinden,
(c) den Umständen und Bedingungen, unter denen die konkreten sozialen Probleme und Beeinträchtigungen entstehen, derer sich die soziale
Arbeit annimmt,
(d) den Bedingungen und den Verfahren, die zur Bewältigung von Problemen und Beeinträchtigungen führen,
(e) den Systemen des Handelns, in denen in der Gesellschaft die Bearbeitung sozialer Aufgaben formell und informell organisiert ist.
Diese Gebiete stellen Bereiche der Sozialarbeitsforschung dar und nötigen zu konzeptuellen Diskursen („Was heißt Lebenswelt, was System,
wie wird interveniert?“). In der Literatur der letzten Jahre sind die genannten Ansätze behandelt und als Beiträge zur wissenschaftlichen
Fundierung von sozialer Arbeit vertreten worden (Thiersch 1992; Rauschenbach/Ortmann/Karsten 1993).
Die Deutsche Gesellschaft für Sozialarbeit hat nun im Sommer 1993 bei
den Fachbereichen „Sozialwesen“ der Fachhochschulen – und ergänzend bei den entsprechenden Studiengängen an Universitäten – nach
solchen Ansätzen und nach vorhandenen Angeboten zur Sozialarbeitswissenschaft gefragt. Es wurde um schriftliche Auskunft gebeten,
(a) ob und gegebenenfalls welche Lehrangebote expressis verbis zur
Sozialarbeitswissenschaft an der Fachhochschule (planmäßig oder fakultativ) vorhanden sind,
99
WOLF RAINER WENDT
(b) welche Inhalte in der Lehre an der Fachhochschule der Sozialarbeitswissenschaft zugerechnet werden (zum Beispiel Grundlegung des
Berufsverständnisses, ideengeschichtlich, zur Erforschung und zur Deskription von Lebensverhältnissen und von Weisen sozialer beziehungsweise individueller Problembewältigung, zur Institutionenlehre,
zur Handlungstheorie),
(c) welche Positionen die Sozialarbeitswissenschaft im Stundenplan
einnimmt beziehungsweise künftig einnehmen soll (etwa in metatheoretischer und fächerübergreifender Funktion, als Bezugsrahmen des Faches „Sozialarbeit/Sozialpädagogik“, als Lehrgebiet innerhalb des Faches beziehungsweise der Theorie sozialer Arbeit),
(d) welche theoretischen Ansätze in der Lehre – als orientierende Konzepte in der Sozialarbeitswissenschaft – gegenwärtig bevorzugt werden
(aus der Systemtheorie, der ökosozialen Theorie, der empirischen/qualitativen Sozialforschung, der Erziehungswissenschaft, der Managementlehre usw.).
Auf die Umfrage geantwortet haben im Herbst 1993, mehr oder minder
ausführlich, 34 Ausbildungsstätten von 56 angeschriebenen. Alle bekunden ihr Interesse an der Entwicklung der Sozialarbeitswissenschaft.
Nur von universitärer Seite kommen hier und da Einwände: Es gebe
doch die Sozialpädagogik im Rahmen der Erziehungswissenschaft, und
damit solle es genug sein. Dagegen sind aber auch gewichtige Stimmen
an den Universitäten zu hören, die für eine universitäre Sozialarbeitswissenschaft plädieren. An der Universität Bremen beispielsweise ist im
Studiengang „Sozialpädagogik“ beabsichtigt, zwei Schwerpunkte neu
zu setzen, nämlich „Sozialarbeitswissenschaft: Lebenskrisen und Bewältigungsformen“ und „Sozialarbeitswissenschaft: Soziale Dienstleistungen und Management“. Solche Lehrangebote könnten Ansatzpunkte
bieten für die in unserer Profession dringend gewünschten Aufbau- und
Promotionsstudiengänge im Anschluß an die grundständige Ausbildung. Die meisten Fachhochschulen, die auf unsere Umfrage antworteten, verweisen auf ihr Lehrprogramm und fügen ein Vorlesungsverzeichnis und eine Studien- und Prüfungsordnung bei. Es wird betont, daß
man im Rahmen einer anstehenden oder schon begonnenen Reform des
Studienganges an die Sozialarbeitswissenschaft denke, ihr auch im Programm der Ausbildung bereits einen Platz zugewiesen habe. Die erfolgte
oder beabsichtigte Revision der Studieninhalte führt zu einer neuen An100
WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
ordnung der Stoffe, und dabei bekommt im Lehrplan die Sozialarbeitswissenschaft ihren Teil ab. Man trägt mit ihr also einem Bedürfnis Rechnung, das nicht aus den Inhalten selber herrührt und keine primär wissenschaftlichen Gründe hat. Das Motiv, zu einem neuen Arrangement
in der Lehre zu kommen, ist aber nicht weniger wert. Schließlich kennzeichnet die Systematik, in der das vorhandene Wissen untergebracht
und „diszipliniert“ wird, eine Wissenschaft, und die Systematik, mit der
sie Daten sammelt, analysiert und deren Zusammenhänge erklärt, ist ein
ebenso unerläßliches Merkmal. Die Profession hat sich diese Systematik
allerdings selber zuzulegen und sollte sie sich nicht länger von anderen
Disziplinen bloß ausborgen.
Nach unserer Umfrage müssen wir feststellen: Die Mehrheit der Fachhochschulen mit Ausbildungsgängen im Sozialwesen bietet weiterhin
nur ein Fächerstudium an, in dem die Sozialarbeit/Sozialpädagogik
fachlich nicht dominiert. Hierher zählen wohl durchweg diejenigen Ausbildungsstätten, von denen wir keine Antwort erhielten. An einer Reihe
von Fachhochschulen ist offenbar kein Ansprechpartner für unser Thema vorhanden. Die Professoren vertreten ihr angestammtes Fachgebiet,
und ein eigenständiges Fach für die soziale Arbeit gibt es nicht. An einigen Fachhochschulen schreibt man neuerdings den Namen Sozialarbeitswissenschaft (wie vordem „Sozialarbeitslehre“) über „Theorien der
sozialen Arbeit“ und Methodenlehre, an anderen Ausbildungsstätten
werden Lehrangebote wie „Sozialarbeit in der Gesellschaft“, „Berufsbild und Berufsfelder“ und die, „Geschichte der Sozialarbeit“ darunter
gefaßt. Studiensystematisch sind solche Lehrangebote vor allem Einführungsveranstaltungen zugeordnet. Sie haben orientierenden Charakter;
sie eröffnen den Blick für Sachverhalte und Tatbestände der sozialen Arbeit. In dieser Funktion verortet die Bezeichnung „Sozialarbeitswissenschaft“ die Sachverhalte noch nicht; das Etikett läßt sich an jeder Stelle
anbringen, wo man die Sichtweise der sozialen Arbeit betonen will. An
einzelnen Fachhochschulen rechnet man die Sozialarbeitswissenschaft
zum Vertiefungsangebot, insbesondere dann, wenn engagierte Fachvertreter und Fachvertreterinnen die Sache in einem Seminar voranbringen
wollen. Das Problem der Identität der Disziplin und des Berufes finden
wir in den Lehrveranstaltungen, die summarisch der Sozialarbeitswissenschaft zugerechnet werden, durchweg angesprochen.
Eine besondere Lösung des Problems, den systematischen Ort der Sozialarbeitswissenschaft in der Ausbildung zu bestimmen, besteht in ihrer
Zuordnung zunächst zu den Grundlagen, auf denen das Studium aufbaut,
101
WOLF RAINER WENDT
und dann zum Anwendungsfeld, in dem die Saat aufgeht und die „Sozialarbeitswissenschaft“ dann gewissermaßen als Ernte eingefahren werden kann. So ist in dem von Hermann Heitkamp für den Fachbereich „Sozialwesen“ der Hochschule Zittau/Görlitz erarbeiteten Curriculum eine
Grundqualifikation in den drei Lernfeldern „Grundlagenfächer sozialer
Arbeit“ (Gesellschafts-, Human- und Rechtswissenschaften), „Allgemeine Grundlagen der Sozialarbeitswissenschaft“ und „Wertorientierte
Grundlagen sozialer Arbeit“ vorgesehen. Zu dem zweiten genannten
Lernfeld sollen gehören: Theorien der Sozialarbeit, Methodenlehre sozialer Arbeit, Interventionslehre sozialer Arbeit und Organisationslehre sozialer Arbeit. Im anschließenden Hauptstudium wird dann, wie es in der
Ausarbeitung heißt, „das additive Nebeneinander der Grundlagenfächer
weitgehend zugunsten einer integrativen und interdisziplinären Sozialarbeitswissenschaft überwunden“.
Was den Lehrstoff betrifft, dürfte für die gegenwärtige Situation an den
meisten Fachhochschulen aber immer noch folgende vorsichtige Antwort eines Kollegen aus Bayern charakteristisch sein:
„Der Bitte um Auskunft, welche Inhalte der Lehre in unserem Fachbereich
der Sozialarbeitswissenschaft zugeordnet werden, ist nicht leicht nachzukommen, da wir ein sehr großes Kollegium sind, das sich wiederum in einzelne Fachgruppen aufteilt. Es hat sich in Diskussionen der letzten Zeit insbesondere zur Studienreform herauskristallisiert, daß ein großer Teil der
KollegInnen bereit ist, die Theorie, die Geschichte, die Grundlegung des
beruflichen Handelns, aber auch Überlegungen zu einzelnen Arbeitsformen
mit einer möglichen Sozialarbeitswissenschaft in Verbindung zu bringen
oder aus diesen Bereichen heraus eine originäre Sozialarbeitsforschung
wachsen zu lassen. Hier gibt es jedoch von einigen Fachgruppen außerhalb
des sogenannten Zentralfaches` wissenschaftstheoretische Einwendungen.“
Zur Vorsicht dieser Stellungnahme paßt, daß eine Reihe von Kollegen
und Kolleginnen um vertrauliche Behandlung ihrer Mitteilungen bittet.
Sie sind vom Kollegium nicht abgesegnet. Natürlich stört ein Wissenschaftsanspruch der sozialen Arbeit die gewohnten Kreise, und ein eigener Forschungsanspruch hergebrachte oder auch bloß angemaßte Zuständigkeiten von Soziologie, Psychologie, Pädagogik usw. Der Fachvertreter bleibt reserviert; aufgeschlossen kann er sein in Fragen des
sozialen Berufsverständnisses und der Berufsausübung, die den eigenen
fachlichen Anspruch nicht weiter berühren, in der Ökonomie der Ausbildung jedoch ihren Platz haben und behandelt werden sollten.
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WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
Im Aufbau der Lehre wird der Sozialarbeitswissenschaft also am ehesten dort Raum gegeben, wo es um die Sammlung und Ordnung von Erkenntnis für die Praxis und für einzelne Arbeitsfelder geht. Gebraucht
wird Wissen für den Umgang mit Menschen, Einblick in ihre Verhältnisse, juristischer Sachverstand, Institutionenkunde. Man mag nehmen,
was die anderen Sozialwissenschaften anbieten, eklektisch und polypragmatisch vorgehen oder von speziellen Problemstellungen in der Sozialarbeit her einen Theoriebestand aufbauen, stets wird eine Art Portefeuille gefüllt in der Erwartung, damit für Praxisanforderungen gerüstet
zu sein. Die spezielle sozialarbeitswissenschaftliche Reflexion besteht
darin, die gesammelten Theorien und Begriffe auf ihre Brauchbarkeit
und Funktion in der sozialen Arbeit hin zu prüfen und ihnen danach einen Stellenwert für die Praxis zuzuschreiben. Die Disziplin „Sozialarbeitswissenschaft“ bezeichnet sozusagen das Programm-Menü, in dem
die für die Profession relevanten Inhalte arrangiert sind. Dermaßen hat
die Katholische Hochschule für Soziale Arbeit Saarbrücken in ihrem um
1990 reformierten Studienplan der Sozialarbeitswissenschaft systematisch zugeordnet: Theorien der Sozialen Arbeit, Sozialarbeitsforschung,
Interventionslehre Sozialer Arbeit, Organisationslehre Sozialer Arbeit,
Philosophie und Ethik der Sozialen Arbeit, Zielgruppenspezifische Soziale Arbeit (Feth 1991, 241). Die Profession nimmt sich mit der Disziplin „Sozialarbeitswissenschaft“ das Recht zu einem eigenen wissenschaftlichen „Trichter“ als Sortierinstanz.
Mit seinem Einsatz müssen erst einmal Erfahrungen gesammelt werden.
Die wissenschaftliche Systematik und die Kategorienbildung sind als
vorläufig anzusehen. Zu ihrer Entwicklung könnte eine vergleichende
Lehre und Forschung beitragen, welche den internationalen Stand der
Dinge vermittelt. Theorieansätze wie der systemische und der ökologische beziehungsweise ökosoziale Ansatz sind über Länder- und Sprachgrenzen hinweg verbreitet. Leider wird im Studium an deutschen Fachhochschulen aus Mangel an Zeit und Kapazitäten kaum komparativ gearbeitet. In der Methodendiskussion der sechziger Jahre war das noch
anders, als man die amerikanische Sozialarbeitslehre, aber auch Beiträge aus den Niederlanden und aus Skandinavien, rezipierte. Für die komparative Theoriebildung ist bis heute musterhaft Louis Lowy (1983) zu
nennen, für die Forschung derzeit die Tätigkeit des „Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung“ in Wien.
Auf die Frage nach leitenden Theorieansätzen geht nur ein Teil der Ausbildungsstätten ein, die auf unsere Umfrage antworteten. Gleich häufig
103
WOLF RAINER WENDT
werden der systemische Ansatz und der ökosoziale Ansatz genannt. Sie
schließen sich bekanntlich nicht gegenseitig aus. Ergänzend wird auf
die zunehmende Bedeutung der Management-Lehre für angehende Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen verwiesen, womit aber der metatheoretische Bezugsrahmen schon in Richtung auf eine Technologie, zu einer Verfahrenslehre hin verlassen ist. Man muß ökologisch zunächst
wissen, was zum Haus gehört, und begreifen, was „haushalten“ heißt,
um danach den Haushalt richtig (effektiv und effizient) führen, den Betrieb also managen zu können.
2. THEORIE DER PRAXIS ODER ANGEWANDTE WISSENSCHAFT?
Bei einer Fraktionierung verfügbaren Wissens bevorzugt man in der
Ausbildung traditionell Praxiswissen beziehungsweise Praxistheorien.
Sie konzentrieren sich auf die Frage, wie gehandelt wird, wo und unter
welchen Umständen. Praxistheorien sind, wie Louis Lowy (1983) für
die Sozialarbeit betont hat, kein Ersatz für wissenschaftliche Erkenntnis- und Erklärungstheorien (Lowy 1983, 10). Sie machen eine weitere
Art von Wissen aus, das Lowy „Basiswissen“ nennt. Es wird in der Ausbildung herkömmlich den anderen Human- und Sozialwissenschaften
entnommen. Eine Rangordnung ist hier kaum zu vermeiden, und wir haben uns zu fragen, ob die Sozialarbeitswissenschaft den Status erreichen
kann, den jene Humanwissenschaften für sich reklamieren. Die Gleichrangigkeit ist auch an den Fachhochschulen bestritten worden: Es gebe
„nicht nur keine Sozialarbeit als Fachwissenschaft, sondern dies ist auch
gar nicht denk- oder wünschbar … Wissenschaftlich wird Sozialarbeit
dadurch, daß Sozialarbeiter humanwissenschaftlich Gebildete werden“
(Weißenfels 1980, 402 f.).
Vielleicht liegt für den, der eine solche Ansicht teilt, eine Kompromißlösung darin, sich für die soziale Arbeit mit einer Anwendungswissenschaft zu bescheiden? Dies scheint eine verbreitete Meinung unter den
Lehrenden zu sein, die zwar die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen
Fundierung sehen, aber meinen, daß eine paradigmatisch, in ihren
Grundannahmen selbständige Theorieentwicklung für die soziale Arbeit
nicht zu haben sein wird. In dieser Beschränkung bedient man sich schon
lange hilfsweise der genannten Praxis- oder Handlungstheorie. Der Begriff läßt den wissenschaftlichen Anspruch offen, der mit einer derarti104
WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
gen Theorie erhoben wird. Eine Handlungstheorie erklärt sinnhaftes
Handeln in seinem Bezugssystem. In unserem Falle ist ihr Gegenstand
das berufliche Handeln im dienstlichen Rahmen – und nicht etwa das
Verhalten von Menschen, auf die bezogen die Berufstätigkeit ausgeübt
wird. Geklärt, begriffen und begründet wird in einer Handlungstheorie
sozialer Arbeit der Prozeß, in dem sie vonstatten geht: die Arbeit mit
Menschen als Handlung. Für die Ausbildung kann das heißen, die Elemente der Kunstfertigkeit zu vermitteln, die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in den verschiedenen Praxisfeldern brauchen. In diesem Sinne weist die Katholische Fachhochschule Berlin einen Studienbereich
„Handlungstheorien“ aus und faßt darunter (für die im Hauptstudium
ausgewiesenen drei Studienrichtungen) die Wissensgebiete der Sozialarbeitswissenschaft/Sozialarbeit, der Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik, der Heilpädagogik und der Beziehungen zwischen Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Heilpädagogik in integrativer Absicht. Der
Studienbereich bündelt, wie Teresa Bock in ihrem Rektorbericht über
die Gründungsphase der Katholischen Fachhochschule Berlin schreibt,
Basistheorien, stellt Rahmenmodelle vor und macht mit Fragestellungen
der Sozialarbeitsforschung bekannt. Die Lehrgebiete „bilden eine Brücke zu den Instrumenten sozialarbeiterischen/sozialpädagogischen Handelns“, den Arbeitsweisen und ihnen zugeordneten Arbeitsmethoden,
die im Studienbereich „Handlungskonzepte“ erörtert werden (Bock
1993, 20).
Analog weisen einige Fachbereiche Sozialwesen ein Gebiet „Grundlagen und Methoden sozialarbeiterischen Handelns“ aus (so an der Universität Bamberg) und ordnen es curricular einem Zentral- oder Grundlagenfach „Wissenschaft der Sozialen Arbeit“ zu, das sich, wie öfter betont wird, in der Entwicklung befindet und dem erst einmal – aber
immerhin schon – die Planstelle einer Professorin oder eines Professors
für Sozialarbeitswissenschaft gewidmet wird. (Im Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Zittau/Görlitz sind von 14 Professorenstellen
sechs für die Sozialarbeitswissenschaft ausgewiesen.)
Wer diese Stellen besetzt, tritt in den Reflexionszirkel einer Wissenschaft ein, die in einem von den Akteuren selber initiierten Prozeß behaupten und in Lehrveranstaltungen darstellen muß, daß sie eine Wissenschaft ist. Wie es sich mit ihr verhält, braucht keine interdisziplinäre
Angelegenheit mehr zu sein, in der die Vertreterinnen und Vertreter der
Soziologie, Psychologie und Pädagogik untereinander ausmachen, was
105
WOLF RAINER WENDT
der sozialen Arbeit zukommt. Nein, in der Lehre wird das Verhältnis der
sozialen Arbeit und ihrer Wissenschaft zu den Bezugswissenschaften
Soziologie, Psychologie, Pädagogik usw. dargelegt und definiert – und
auch die Beziehung zu den Nachbargebieten der Pflege(wissenschaft),
der Gesundheitswissenschaften, der Heilpädagogik erörtert. Mindestens darf von den Lehrenden erwartet werden, daß sie künftig auf den
Inhalt der Ausbildung im Sozialwesen bestimmenden, jene Verhältnisse
klärenden Einfluß nehmen. Nichtstaatliche Fachhochschulen können
sich in Sachen Studienreform eher bewegen als staatliche. Deshalb orientieren sich jene auch leichter an einem sozialarbeitswissenschaftlichen Programm. Kommt hinzu, daß konfessionelle Fachhochschulen
den diakonischen Auftrag beziehungsweise ein caritatives Verständnis
in der sozialen Arbeit vermitteln, woraus sich in der Spannung zur Wissenschaft die Notwendigkeit gegenseitiger Legitimation ergibt. Hugo
Maier von der Katholischen Fachhochschule Köln bemerkt in seiner
Antwort auf unsere Umfrage, die
„Logik des Sozialen (lasse sich) schwerlich unter die gängigen Theorien
subsumieren. Notwendigerweise wird deshalb von einem pluralistischen
Theorie-Ansatz ausgegangen, mittels dessen Soziale Arbeit konzeptionell
beschrieben, analysiert und reflektiert werden kann. In der derzeitigen Diskussion kristallisieren sich jedoch zwei Begriffe, nämlich Wirklichkeit und
Verantwortung heraus, die möglicherweise als Orientierungspunkte für ein
Konzept der Sozialarbeitswissenschaft taugen.“
Ich denke, damit sind zwei Kategorien und Ebenen der Betrachtung benannt, denen in ihrer Beziehung aufeinander eine konstitutive Rolle zukommt: Empirie und Normativität. Die Lebensverhältnisse der Menschen sind sozial zu verantwortende; die Gesellschaft und jeder einzelne
Mensch in seinem Lebenskreis verantwortet die Wirklichkeit, welche
sich in der sozialen Praxis ergibt. Sie konstituiert den Prozeß, der sich
den an ihm Beteiligten und auch dem Wissenschaftler als (soziale) Realität darstellt. Was wir empirisch vorfinden, ist bereits normiert. Die
Normativität und Wertorientierung menschlichen Handelns gehört zur
Empirie. Für eine strenge Wissenschaft ist ein solcher zirkulärer Zusammenhang natürlich problematisch; dennoch kann in ihm genügend Wissen gesammelt und als Substanz wissenschaftlicher Arbeit ausgemacht
werden.
Nehmen wir Immanuel Kants Bemerkungen in der Vorrede zu seiner
„Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ als Fingerzeig: Die pragma106
WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
tische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was der
Mensch „als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen
kann und soll“. Gefragt ist „Erkenntnis des Menschen als Weltbürger“.
Dazu gehört „die Welt kennen und Welt haben …; indem der eine nur
das Spiel versteht, dem er zugesehen hat, der andere aber mitgespielt
hat“ (Kant 1977, 399f.). Mögen die Lebenskreise, in denen soziale Problematik behandelt wird, auch eng und in mancherlei Hinsicht abgekapselt sein, in ihnen haben die Spieler ihre Welt, und sozial können wir
nicht zusehen, wie ihnen darin übel „mitgespielt“ wird. Erkenntnis dient
pragmatisch dazu, in einer gemeinsamen Welt uns als Gespielte zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus das Spiel zu gestalten.
3. EIN EIGENSTÄNDIGER THEORIEDISKURS
In der Fachöffentlichkeit werden eine Reihe von Themen behandelt, die
mit dem eigenen „Spiel“ und dem Selbstverständnis der sozialen Arbeit
zu tun haben: die Rolle der Methoden, die Funktion von Management,
die Beziehung des Professionellen zum Klienten, Anwaltschaft, Empowerment, „Erziehung“ oder „Pflege“ als Element oder Rahmen sozialer
Arbeit. Solche Themen werden meist unabhängig voneinander abgehandelt. Man muß schon unterstellen, daß sie in der Reflexion von Praxis, in der Selbstreferenz des Berufes zusammenhängen, um zu finden,
daß sie auch in einen gemeinsamen Diskurs gehören. An ihm hat wohl
kein Interesse, wer sich als Psychologe mit der Beziehungsgestaltung,
als Erziehungswissenschaftlerin mit Bildungsfragen und im Gesundheitswesen mit Fragen der pflegerischen Versorgung befaßt. Auch wer
unter den Lehrenden der sozialen Arbeit meint, sich in den anderen Disziplinen beweisen zu müssen, weil nur in ihnen akademische Anerkennung zu erlangen sei, trägt wenig zur Geistesgegenwart in unserer Profession bei. Sie braucht eine Reflexionskultur, die sich aus sich selber
fortzeugt. Die Eigenständigkeit des diskursiven Unterhalts, der Wissen
organisiert, und die Eigenständigkeit der sozialen Arbeit als Profession,
in der ein Können organisiert ist, bedingen einander. Damit ist nicht die
Forderung nach einer einheitlichen Theorie verbunden. Allerdings begeben wir uns auf eine Plattform oder Metaebene der Orientierung, der
Analyse und der Konzeptentwicklung. Die systemtheoretische Perspektive hat zu ihr in den letzten Jahren viel beigetragen (Staub-Bernasconi
107
WOLF RAINER WENDT
1986). Was geschieht in der sozialen Arbeit? Wie läßt sich das begrifflich fassen? Was gehört infrastrukturell und superstrukturell (politisch
und in der öffentlichen Meinungsbildung) dazu? Wie ordnen wir demnach Methodenfragen, Beziehungsfragen und Managementfragen ein?
In dieser Frage, die den Gegenstandsbereich unserer Wissenschaft betrifft, muß sorgfältig zwischen Deskription und Präskription, also zwischen beschreibender Darstellung und normativen Aussagen, unterschieden werden. Der Zusammenhang des Diskurses über Praxis läßt
sich in der sozialen Arbeit dadurch herstellen, daß man sich von Werten
und Wertorientierungen leiten läßt. Malcolm Payne (1991) vertritt in seiner Darstellung „moderner Sozialarbeitstheorie“ die Meinung, die Theorie gewinne bei unterschiedlicher Kombination von Elementen aus den
verschiedenen Sozialwissenschaften dadurch an Stabilität, daß man sich
im Kontext von sozialer Arbeit in folgenden Gesichtspunkten einig sei:
Die Menschen werden als Individuen betrachtet; sie und ihr Handeln lassen sich mit psychologischen und sozialem Wissen verstehen; soziale
Arbeit geschieht in „Beziehungen“ und erfolgt in einem organisatorischen Rahmen; sie klärt Bedarf (need), ist dazu da, sowohl wichtige soziale Strukturen zu erhalten als auch anwaltlich für die Klienten einzutreten (Payne 1991, 22 ff.). Dies sind durchweg wertbezogene Aussagen
zu Obligationen. Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen handeln verantwortlich, wenn sie der Individualität von Menschen gerecht werden
(wollen), Verständnis suchen, „Beziehungen“ pflegen und sich Anliegen zu eigen machen. Aber Wirklichkeit wird so nicht erfaßt.
In einer Metatheorie sozialer Arbeit kann die berufliche und in freiem
Engagement erfolgende Tätigkeit als partikularer gesellschaftlicher
Prozeß begriffen werden, also in ein Verhältnis zur Ökonomie, zur Politik, zur Kultur und zur rechtlichen Verfassung des Gemeinwesens gebracht werden. Dieses Verhältnis hat deskriptive und präskriptive Seiten: Das Soziale umfaßt Tatsachen: wirtschaftliches, politisches und
kulturelles Geschehen – und Absichten, Handlungsanweisungen in ihm:
Wir wollen „sozial“ sein und erkennen „soziale“ Aufgaben inmitten der
gesellschaftlichen Handlungsfelder. Die Ökotheorie beziehungsweise
der ökosoziale Ansatz stellt einen solchen Versuch der gesellschaftsinternen, auf einen äußeren locus observandi verzichtenden Grundlegung
von sozialer Arbeit dar (Wendt 1982, 1990). In diesem Kontext erscheint Wissenschaft nicht mehr als unabhängige und wertfreie Instanz.
Sie nimmt sich selbst in historischer, kultureller, ethischer und politi108
WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
scher Rücksicht wahr. Beispielsweise reflektiert sie den Zusammenhang ihrer Entstehung mit den sozialen Fragen in der Vergangenheit und
in der Gegenwart, klärt ihre Beziehung zu anderen Wissenschaften vom
Menschen und den Modernismus ihrer eigenen Fragestellungen. Und
sie beleuchtet den Theorie-Praxis-Dissenz in der sozialen Arbeit.
Präskriptionen werden zum Gegenstand der Beschreibung und diskursiven Erörterung. Sie legt aus – und verfährt insoweit hermeneutisch.
Die Praxis von sozialer Arbeit stellt eine Art Text dar, der sich auf seinen sprachlich-intersubjektiv konstituierten Sinn hin lesen läßt, – einen
Text, den man dekonstruieren und rekonstruieren kann (zur „objektiven
Hermeneutik“, die „latente Sinnstrukturen“ aufdeckt, siehe: Oevermann
1983; Garz/Kraimer 1994). Die Gesellschaft ist ein Text, hergestellt, bearbeitet und erzählt von ihren Angehörigen (Brown 1987). Er ist unterschiedlich „formatiert“. Die Berufspraxis läßt sich als eine spezifische
Weise der Handhabung diskreter Textteile auffassen. In der Beschäftigung mit den Programmen und den Einzelheiten ihrer Realisierung sind
wir die Faktenhuberei der sich streng gerierenden Wissenschaften zunächst einmal los und tragen eine andere Art von Wissen zusammen, als
jene gelten lassen wollen. Es verbindet die Praxis der Professionellen
mit der Lebenspraxis, der sie sich widmen, und erlaubt im Feld der Meinungen, also im aristotelischen Sinne topisch, eine Auseinandersetzung
über Praxis schlechthin. Falls jemand einwendet, das zu Meinungen geronnene oder aus ihnen zu gewinnende Wissen bleibe unter dem Niveau
dessen, was von wissenschaftlichen Aussagen zu verlangen sei, kann
ihm geantwortet werden: Die Bearbeitung von Lebenspraxis und der darin verbreiteten Meinungen ergibt nicht wieder Meinungen, sondern
durchaus zweifelsfreie Aussagen. Die topoi bahnen sie. In ihnen ist vorgebildet, was öffentlich, hier: sozial, für bedeutsam gehalten und für
ausgemacht gilt. Dieser Spur will ich ein Stück weit folgen. Sie führt uns
weg von der Gegenüberstellung von Wissenschaft und Alltag und vermeidet die Dichotomie von szientifischem Zugang und pragmatischem
Zugang zur sozialen Realität in Konzentration darauf, was in dieser Realität gemeint sein und ihr „eingeschrieben“ werden kann. Sie erlaubt
eine objektivierende Distanz zwischen Subjekten, die wissen, daß sie
Subjekt sind und objektiv handeln, und sie vermeidet distanzierende
Objektivität, die davon absehen läßt, daß im Gegenstandsbereich von
sozialer Arbeit keine anderen Subjekte agieren als die, welche ihn erforschen. In seinem Buch „Moderne Sozialarbeitstheorie“ nennt Malcolm
109
WOLF RAINER WENDT
Payne als zentrale These seiner Ausführungen: „social work is a socially
constructed activity“ (Payne 1991, 7). Sozialarbeitswissenschaft wäre
somit (Instanz der) Selbstreferenz dieser Aktivität: Die Konstruktion erfolgt im Kontext gesellschaftlicher Prozesse. Darin werden Meinungen
gebildet, getauscht und in topoi arrangiert. Es gibt zum Beispiel eine
Meinungsbildung über Armut, über Sucht, sexuellen Mißbrauch, über
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit, um einige aktuelle Themen zu nennen. Mit dem Ziel, den in gesellschaftlicher Diskussion konstellierten
Problemen beizukommen, setzt soziale Arbeit mit Programmen, Projekten, Einzelmaßnahmen ein – und kommt dabei nicht umhin, sich des
Fundus an Argumenten zu bedienen, der topisch vorliegt. Wissenschaft
findet in der zu erörternden Problematik nicht nur Beweggründe, sondern pragmatisch auch die Spezifikation ihres Gegenstandes. Die als soziale Arbeit konstruierte Tätigkeit und ihre als Wissenschaft zu konstruierende Theorie behalten ihre Referenz auf die gesellschaftlichen Prozesse bei, in denen beide unterhalten werden. Wir dürfen folgern, daß
Sozialarbeitswissenschaft insoweit der Praxis nicht überlegen ist, wie
andere Wissenschaften das gegenüber ihrem Anwendungsfeld behaupten.
4. DIE PRAXISRELEVANZ EINER
TOPISCHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Fehlende Wissenschaftlichkeit in der sozialen Arbeit wird oft damit begründet, daß der berufliche Alltag wenig Gelegenheit für ein derart rational begründetes und geregeltes Handeln bietet, wie es die moderne
Wissenschaft verlangt. Das sozialwissenschaftliche Aussagensystem
allgemein und das besondere Handlungssystem in der beruflichen Praxis stimmen nicht überein. Gemessen an ihr scheint dann, wenn überhaupt, nur eine Wissenschaft minderer Güte für die soziale Arbeit in
Frage zu kommen. Aber die Disjunktion von Theorie und Alltagspraxis
wird nicht dadurch aufgehoben, daß man an der Wissenschaft Abstriche
macht, sondern indem die Praxis kompetenter und dazu von mehr Wissenschaft durchdrungen wird. Gemeint ist die Lebenspraxis, das individuelle und gemeinschaftliche Handeln in Bewältigung von Problemen,
die das moderne Dasein mit sich bringt. In ihm soll soziale Arbeit ihre
Zwecke erfüllen. Der Bezugsrahmen und das Erfahrungsfeld der sozia110
WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
len Arbeit ist weiter gesteckt als das berufliche Handlungsfeld. Sie ist
Teil gesellschaftlicher Prozesse, läßt sich von sozialen Bewegungen bestimmen, ist in ein staatliches Leistungssystem eingebunden und an die
Wahrnehmung von Rechten geknüpft. Dagegen sind in der beruflichen
Praxis von sozialer Arbeit ihre dienstlichen Funktionen beschränkt. In
sozialer Arbeit werden einzelne Menschen und Gruppen unterstützt, beraten, gefördert, begleitet. In dieser Beschränkung auf Interaktionen und
Interventionen definieren manche die professionelle soziale Arbeit privatistisch als „Beziehungsarbeit“. Wie die Tätigkeit aber gleichzeitig
eine gesellschaftliche und im Gemeinwesen notwendige sein kann, zu
dieser weiterreichenden Auslegung ist die Sozialarbeitswissenschaft
aufgerufen.
Ihr Blick richtet sich andererseits auf die Details der Praxis. Wie läßt sich
Unterstützung (social support) auf Bewältigung (coping) abstimmen?
Wie funktioniert innerfamiliale und sonstige informelle Unterstützung
in Einheit mit sozialen Bewältigungsweisen? Da sich eine dienstliche
und formelle Unterstützung in vielen Momenten von der informellen unterscheidet, ist zu fragen, wie sie dennoch zweckmäßig eingerichtet und
auf Personen und Gruppen abgestimmt werden kann? Mit dieser Thematik beschäftigt sich auch die Psychologie und Soziologie, aber ihre
Forschungen und ihre Theoreme sind nicht von vornherein auf das
Handlungsfeld der sozialen Arbeit orientiert. Anwendungsbezogen haben wir die Abläufe und Bedingungen der „Wohlfahrtsproduktion“ in
Diensten und Einrichtungen zu studieren (was kann eine Wohngruppe
leisten und ein Heim nicht?), die realen Perspektiven von Kindern, die
aus ihrem Elternhaus weglaufen (subjektive und objektive Perspektiven,
die abzuwägen sind, um nicht vorschnell einzugreifen), die Lebenswege
und Lebensumstände von Süchtigen, um die Chancen der Prävention zu
bessern. Hier sind sehr spezifische Aussagen vonnöten, weniger die allgemeinen populationsbezogenen der empirischen Sozialforschung. Ihrer „behandelnden“ Arbeit mit Menschen wegen wird die soziale Arbeit
auch als klinische Profession bezeichnet, die wie eine Heilkunde oder
eine Kunstfertigkeit mit reiner Forschung und Theoriebildung wenig im
Sinn habe beziehungsweise sich darauf konzentrieren sollte, ihre zweckdienlichen Verfahren (Methoden und Techniken) zu verbessern, um das
person- und situationsbezogen Richtige tun zu können. In der amerikanischen sozialen Arbeit hat die klinische Ausrichtung zahlreiche Anhänger; ihr korrespondiert eine auf Fallstudien konzentrierte Forschung (Or111
WOLF RAINER WENDT
cutt 1990; LeCroy 1992). Die klinische Ausrichtung der sozialen Arbeit
wird aber von vielen Berufsvertretern und -vertreterinnen auch als einseitig kritisiert. Wer Menschen helfen will, in ihrer individuellen Lage
zurechtzukommen oder ihre Lage zu ändern, kommt nicht umhin, sich
mit der Welt um sie herum zu befassen, in der es sich mit ihnen dermaßen
verhält. „Klinik“ und Fallbezug hindern gar nicht an einer sozialwissenschaftlichen Zuständigkeit (siehe: Holden u.a. 1992.). Auch in der Medizin als klassischer klinischer Disziplin ist längst die strategische Bedeutung medizinwissenschaftlicher und gesundheitswissenschaftlicher
Forschung und Theoriebildung erkannt. Ihre Konstrukte bahnen den
Weg für methodisches Handeln in der Praxis. In der sozialen Arbeit sind
die Entwicklung des Unterstützungsmanagements und des Sozialmanagements in den letzten Jahren ein gutes Beispiel für den zurüstenden
Charakter einer Praxistheorie, hier als Teil sozialarbeitswissenschaftlicher Reflexion. Eine Besonderheit sozialer Arbeit in der Praxis und in
der Theorie ist sicher die mikrologische Sicht der Dinge. Konkrete Unterstützung wird zugeschnitten auf die eigentümlichen Gegebenheiten
einer persönlichen Situation, familialer Verhältnisse und auf spezifische
soziale Umstände. Was man davon wissen kann, hat Anton Hunziker in
Berufung auf Aristoteles der „Topik“ zugerechnet, einer Art situativem
Wissen, auf das soziale Arbeit nach Louis Lowy neben „Basistheorien“
und „Praxistheorien“ zurückgreift (Lowy 1983, 105 f.). Im Blick auf die
Spezifik der gemeinten Gehalte und Formen erscheint soziologisches
Wissen abgehoben und wenig anwendbar. Menschen mögen sich nach
ihrer Schichtzugehörigkeit und in ihrem Rollenverhalten unterscheiden,
eine Strategie im Umgang mit einer bestimmten Person und in den Details ihrer Angelegenheiten läßt sich aus solchen Erkenntnissen nicht ableiten. Die Sozialforschung kennt den „ökologischen Trugschluß“, wenn
auf der Gruppenebene aggregierte Daten und mit ihnen auszumachende
Muster zu der Annahme verführen, sie träfen auch auf der individuellen
Ebene zu. Topisches Wissen haftet nun nicht an der Singularität und Zufälligkeit eigentümlicher Ereignisse und Gegebenheiten. Dann taugte es
außer für die historische für keine andere Wissenschaft. Die Topik hält
sich zwischen idiographischer Anschaulichkeit und nomothetischer Abstraktion auf (im Sinne von Wilhelm Windelbands Gegenüberstellung
der Erkenntnisziele von Geistes- und Naturwissenschaften). Das topische Vorgehen stellt eine „dialektisch“ (in der Kunst der Unterredung)
forschende Problemerörterung und Argumentationsweise dar (Born112
WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
scheuer 1976, 93), wobei Situationen erhellt, Erfahrungen vermittelt und
Geschehnisse beurteilt werden. In der sozialen Arbeit berühren sich wissenschaftliche Anteilnahme und alltägliche Lebensführung, die Geltungsansprüche der Praxis und die Thesen der Theorie. Die Wissenschaft setzt sich mit der Praxis auseinander, ist aber auch von ihr durchdrungen und im sozialen beziehungsweise lebensweltlichen Kontext, in
der Interpretationsgemeinschaft der Zeitgenossen an die Meinungsfiguren und Denk- und Handlungsmuster verwiesen, in denen ihr Gebiet für
die berufspraktische und die forschende Arbeit erschlossen ist (zur Topik siehe: Wendt 1989, 90ff.). Läßt sie sich auf jene ein, nimmt sie „Abschied vom Experten“ (O1k 1986), fällt darum aber nicht in ein vorwissenschaftliches Stadium von Theorie und Praxis zurück.
Die Topik gibt leitende Gesichtspunkte, Denkmuster und „Örter“ an, in
denen oder von denen aus Wirklichkeit, die wir zu verantworten haben,
erfaßt wird. In der sozialen Arbeit beschäftigen wir uns mit dem, was
nach herrschender Meinung und Verabredung Notlagen, Belastungen
und Beeinträchtigungen, Erziehungs- und Verhaltensprobleme, Süchte,
Pflegebedürftigkeit und Betreuungserfordernisse sind. Von all dem ist
keine Objektivität ohne subjektive Beurteilung beziehungsweise intersubjektive Absprache zu haben. Was heißt und wie kommt „sexueller
Mißbrauch“ vor? Welche Rolle spielt „Gewalt“ in einem bestimmten
Milieu, und was fällt unter sie in der jeweiligen Subkultur? Was meinen
und wie verstehen wir, wenn einer sagt, er habe „ein Problem mit Alkohol“, und andere sagen, sie würden sozial benachteiligt? Es bleibt „in
Rede stehend“ wie auch Wohlbefinden und Lebensqualität (wenn wir
uns nicht allein auf fixe Indikatoren verlassen wollen). Der Gegenstand
der Sozialarbeitswissenschaft ist topisch vorstrukturiert, und sie trägt etwas zu ihm bei, kommt in seiner Erkenntnis voran auf den Bahnen und
in den Auszeichnungen des Feldes, so sehr sie selber auch bei seiner Erkundung kritische Aufmerksamkeit verdienen.
Sozialarbeitswissenschaft kann sich ihren Gegenstandsbereich kritischreflektierend sichern, indem sie dessen topische Struktur zur Kenntnis
nimmt. Betrachten wir das in letzter Zeit vielbenutzte Denkmuster „ Lebenswelt und/oder System“. Beider Dichotomie ist topisch insofern, als
sie den Gehalt des Gemeinten gegeneinander abhebt und auszeichnet.
Lebenswelt als auch System gewinnt durch Differenz. In Opposition zueinander verstehen wir Lebenswelt nicht im Sinne von Husserl und System nicht im Sinne der Allgemeinen Systemtheorie. Gleichzeitig läßt
113
WOLF RAINER WENDT
sich Lebenswelt (was das Leben von Menschen ausmacht) aber auch unterscheiden von der Welt, in der wir leben, und Systeme in unserer Umwelt von dem seine Umwelt definierenden System à la Niklas Luhmann.
Bei der Spezifik ihres Gegenstandes müßte Sozialarbeitswissenschaft
auf Begriffe verzichten, akzeptierte sie diese nicht in ihrer topischen Gegebenheit. Sie erlauben eine hinreichende intersubjektive Verbindlichkeit von Aussagen, weil die Geltung, die sie bei den Erkenntnissubjekten genießen, sich funktional mit der Wirklichkeit, sprich: der Praxis,
des Erkenntnisobjekts deckt. Lothar Bornscheuer hat vier Charakteristika topischen Begreifens herausgestellt: Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität (Bornscheuer 1976, 91 ff.):
(1) Ein erstes Leistungsmoment des Topos ist darin zu sehen, daß er das
Denken und Handeln in ein Grundmuster verfügt.
„Ein Topos ist ein Standard des von einer Gesellschaft jeweils internalisierten Bewußtseins-, Sprach- und/oder Verhaltenshabitus, ein Strukturelement
des sprachlich-sozialen Kommunikationsgefüges, eine Determinante des in
einer Gesellschaft jeweils herrschenden Selbstverständnisses und des seine
Traditionen und Konventionen regenerierenden Bildungssystems.“ (Bornscheuer 1976, 96)
In der Sozialen Arbeit haben wir es mit Problemen zu tun, die Bürgern,
Gruppen und der Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade gemein sind
und in dieser kollektiv-habituellen Vorprägung (Habitualität) behandelt
werden.
(2) Ein zweites Charakteristikum der Topik ist die Fülle der Gesichtspunkte, unter denen sich etwas topisch erhellen und auslegen läßt. Unbegrenzt viel ist über Beziehungen zwischen Menschen zu sagen oder
über ihre Bedürftigkeit und ihr Befinden. Das liegt nicht am Wort; wir
können es austauschen. Gemeint ist der Schematismus dessen, was sich
in solchen Vorstellungen und Begriffen verbindet. Ihm ist das Strukturmoment der polyvalenten Interpretierbarkeit oder „Potentialität“ eigen.
„Ein Topos ist ein inhaltlicher oder formaler Gesichtspunkt, der in vielen
konkreten Problemerörterungen verwendbar ist und der die verschiedenartigsten Argumentationen beziehungsweise amplifikatorischen Explikationen ermöglicht.“ (Bornscheuer 1976, 99)
Er eröffnet Zusammenhänge oder führt in ihnen nach der einen oder anderen Seite hin weiter. Der Verweisungszusammenhang liegt objektiv
vor; er besteht auch, wenn er nicht gerade von Interpreten ausgemacht
wird.
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WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
(3) Als drittes Merkmal ist dem Topos „Intentionalität“ in einem Kommunikationsprozeß eigen. Zur allgemeinen Überzeugungskraft eines
Topos, so Bornscheuer, trete
„normalerweise noch eine situationsbezogene, die jedoch immer erst interpretatorisch vermittelt werden muß. Ohne die gesellschaftlich garantierte
Vorausgeltung eines Topos ließe sich ihm auch keine situativ-interpretatorische Geltung abgewinnen, ohne seine permanente und vielsinnige Interpretationsfähigkeit verlöre er umgekehrt seine habituelle Qualität und ohne
argumentatorische Applikation in konkreten Problemsituationen würde er
schließlich zum nutzlosen, nur habituellen Klischee oder zum beliebig verwendbaren, unverbindlichen potentiellen Gesichtspunkt degenerieren.“
(Bornscheuer 1976, 101).
Ein Topos bewährt sich in seinem kommunikativen Gebrauch (nutzt
sich in ihm auch ab); seine Intention und Aussagekraft kommt in ihm
zum Zuge.
(4) In einer Topik konzentrieren sich formelhaft hergebrachte Überzeugungen und herrschende Meinungen. Bornscheuer nennt deshalb als
viertes Funktions- oder Strukturmerkmal eines Topos dessen „Symbolizität“. Er ist „ein elementarer, kategorialer Bedeutungsträger“ für eine
Gruppe, eine Zeit oder eine Kultur, eine Merkform innerhalb einer „gesellschaftlich relevanten Verständigungsstruktur“ (Bornscheuer 1976,
104). Die Angehörigen einer „Szene“ pflegen einen bestimmten Jargon
nicht in erster Linie, um sich abzugrenzen, sondern um ihren spezifischen Erfahrungen Ausdruck zu verleihen. Sollen sie ein Gegenstand
von Wissenschaft werden, kann sie nicht auf die topische Wissensform
verzichten.
Menschen regulieren ihren Alltag und arrangieren sich in ihm aus dem
inneren Zusammenhang ihrer Erfahrung und ihres Subjektseins. Ihre
Zeit teilen sie gewiß nicht danach ein, wie es nach einer REFAStudie
optimal wäre; sie bringen täglich Anforderungen in einer Weise „unter
einen Hut“, die nicht in erster Linie ihnen gerecht wird; sie verhalten
sich nur beschränkt „sachlich“ oder „ökonomisch“ in der Regelung ihrer
Angelegenheiten; sie gebrauchen einander zugleich als Mittel und als
Zweck, was immer rational dagegen zu sagen wäre. Teilnehmer und
Teilnehmerinnen an solcher Praxis sind auch die sozialberuflich Tätigen. Sie müssen sich nicht erst wissenschaftlich aus ihr ausschließen,
um dann einen Zugang zu suchen, mit dem sie ihr wissenschaftlich gerecht werden können.
115
WOLF RAINER WENDT
Um in der beruflichen Praxis beraten zu können, muß ich mich in verfügbarem Rat auskennen und mit den Bedingungen seiner Brauchbarkeit. Ich verlasse nicht den Rahmen kommunen sozialen Sinns und gehe
doch auf die konkrete Situation ein. Die Kunden von Diensten und Einrichtungen nehmen ihr Anrecht auf sie wahr, weil ihre Belange genereller und nicht singulärer Natur sind. Die Helfenden haben gelernt, sich
auf Individualität einzustellen, lassen sich aber auch dazu verführen, soziale mit privaten Ansprüchen zu verwechseln. Die Besonderung der
persönlichen Verhältnisse ist ein Grund für die Neigung vieler Berufsvertreter und -vertreterinnen zum Psychologisieren. Tiefenpsychologische Einsichten täuschen Gerechtigkeit gegenüber dem Individuellen
mehr vor, als daß sie den Anspruch einlösen, die Lage und die realen
Handlungsmöglichkeiten einer Person zu klären. Der psychologische
„Durchblick“ verliert sich nicht weniger im innerlich Allgemeinen als
der soziologische in der äußerlich gesellschaftlichen Natur des Menschen.
Es kommt in der sozialen Arbeit gewiß darauf an, sich in die Situation
von Menschen hineinzudenken und in ihrem lebensweltlichen Horizont
zu handeln. Die Arbeit beginnt in der Praxis und in der Theorie damit,
daß wir uns die Lage einzelner Personen, von Familien und sozialen
Gruppen, die szenische Struktur ihres Lebens direkt angelegen sein lassen. Suchen wir beispielsweise Menschen zu helfen, die „Platte machen“, stoßen wir auf nachhaltig wirksame Brüche in ihrer Biographie:
auf ein Fluchtverhalten, auf Alkoholabhängigkeit, auf Mangel an Mut
und Selbstachtung und auch auf zähen Behauptungswillen gegenüber
den Widrigkeiten des Lebens auf der Straße. Mit den Erklärungsmustern „Arbeits- und Wohnungslosigkeit“ allein kommen wir nicht weiter
und mit der Psychologie erworbener Hilflosigkeit schon gar nicht. Sozialarbeitswissenschaft hat hier ihren Ort und ihre Funktion in der Aufklärung von mikrologischen Verwicklungen, die Menschen aus den Geleisen einer bürgerlichen Existenz werfen und die es ihnen schwer machen, wieder in sie zurückzufinden.
Die Lage von Menschen differenziert zu erörtern, schließt nicht aus, sie
unter Begriffe zu bringen, die das Typische der Situation und des Verhaltens erfassen (etwa in einer Theorie der Lebensführung; siehe Vetter
1991; Voß 1991; Jurczyk/Rerrich 1993) und zu sozial angemessenen
Lösungen hinführen. Es müssen aber nicht soziologische Kategorien
und psychologische Konstrukte sein. Topisches Wissen hilft hier weiter.
116
WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
Die Lage und Handlungsweise von Personen oder Familien zu charakterisieren, die Formen ihres Verkehrs und die Szenen ihrer Interaktion
im Gelingen und Scheitern zu verstehen, ihre sozialpraktische Funktionalität und Dysfunktionalität zu untersuchen, darf als eine der Sozialarbeitswissenschaft eigentümliche Aufgabe betrachtet werden. Dabei
wird auf strukturelle Allgemeinheiten und auf überindividuelle Beweggründe Bezug genommen, Bewertungen nicht ausgeschlossen. Bliebe
es bei einer bloßen Addition psychologischer, medizinischer, soziologischer und juristisch-administrativer Gesichtspunkte, wäre weiter keine
spezifische Theoriearbeit nötig. Die Charakteristik des Ergehens und
Handelns von Menschen korrespondiert aber mit einer Theorie der Lebensführung und der Selbstsorge unter erschwerten Bedingungen. Wie
Menschen im Einzelfall zurechtkommen, interessiert in dieser theoretischen Perspektive (nicht jedoch in gleicher Weise aus der Perspektive
einer anderen Sozialwissenschaft). Bei einem anderen, abgehobenen Interesse an Wissen legt sich die Praxis quer. Peters hat in einem Beitrag
zur „mißlungenen Professionalisierung der Sozialarbeit“ (1971) einen
„Widerspruch von Verwissenschaftlichungsinteresse und Funktionsbehauptung in der Sozialarbeit“ postuliert. Eine wissenschaftliche Fundierung der Methoden der sozialen Arbeit würde die Etablierung der sozialen Arbeit als Profession verhindern.
„Der Sozialarbeiter, der sich wissenschaftlich fundierter Methoden bediente,
würde nämlich bald merken, daß sich die in der Fürsorgeliteratur behauptete
Heterogenität der Fälle strukturieren würde. Unter der Perspektive wissenschaftlicher Begriffe würden die ,verstreuten Situationen‘ in Fallgruppen
geordnet werden können. Die mit Hilfe wissenschaftlicher Begriffe strukturierte Perzeption des Sozialarbeiters würde durch Abstraktion das Gemeinsame verschiedener Fälle erkennen können und sie damit den hinter den
Begriffen stehenden Theorien zugänglich machen Die mit der Verbreitung
jeder wissenschaftlichen Begrifflichkeit verbundene Tendenz, Phänomene
ihrer Individualität zu berauben und zu egalisieren, könnte dazu führen, auch
die auf Veränderung dieser Phänomene zielenden Maßnahmen zu egalisieren.“ (Peters 1971, 108 f.)
Generelle Maßnahmen seien aber sozialpolitische, und die Sozialarbeit
wäre dann ziemlich überflüssig.
„Die behauptete Individualität der cases erweist sich damit ebenso wie die
Forderung nach wissenschaftlicher Fundierung der Methoden der Sozialarbeit als Resultat der Professionalisierungsbestrebungen der Sozialarbeit, die
117
WOLF RAINER WENDT
befürchten muß, in der Strategie genereller Sozialpolitik aufzugehen.“
(a.a.O., 110)
Diese Befürchtung ist in den neunziger Jahren geringer denn je. In der
sozialpolitischen Strategie (wenn denn von einer solchen überhaupt die
Rede sein kann) mangelt es an operativen Konzepten, wie sich mit dem
Einsatz der Mittel in differenzierter Weise Wohlfahrt bewerkstelligen
läßt, und an einer fundierten Reflexion, die an vielen konkreten Einzelfällen festmachen kann, was an Wohlfahrt substantiell erreichbar ist.
Wer politisch „Verteilungsgerechtigkeit“ möchte, weiß noch lange
nicht, auf welche Weise daraus etwas Billiges und Rechtes für junge
Menschen, für Behinderte oder Multiproblemfamilien werden kann.
Hier ist eine wissenschaftlich informierte und reflektierte Professionalität nachgerade unverzichtbar.
5. DER SOZIALWISSENSCHAFTLICHE BLICK UND DIE ALLTAGSPRAXIS
„Die Alltagspraxis ist weiter als die Theorie“, unterstellt Bernd Dewe
(1992, 10) und charakterisiert damit das grundsätzliche Verhältnis zwischen Sozialwissenschaft und der Praxis, auf die sie sich bezieht. Sozialwissenschaften entdecken und erforschen kein unbekanntes Gelände;
es bedarf schon einer ethnomethodologischen „Verstellung“, um gesellschaftliches und persönliches Handeln hinreichend fremd erscheinen zu
lassen. In der gewöhnlichen Praxis ist mehr Erfahrung und mehr Handlungswissen vorhanden als im Sektor der Wissenschaft begriffen. Sie
wird Lebenspraxis nicht ersetzen können; die Wissenschaft ist und
bleibt als solche ihr gegenüber eine Außenseiterin. In dieser Position
wirft sie (beziehungsweise die Forscher und Forscherinnen) ihre Netze
im sozialen Raum und Milieu aus. Ich teile die Meinung vieler Fachkollegen und -kolleginnen, daß ihres Gegenstands wegen die Sozialarbeitswissenschaft in Theoriebildung und Forschung alltags- und erfahrungsbezogen angelegt sein und für einen zivilen Diskurs geeignet bleiben
muß. Es geht ihr primär nicht um ein Spezialwissen für Experten, die
mit ihm besser und anders als der Bürger von der Straße handeln können.
„An die Stelle der Vorstellung, daß sich soziale ebenso wie technische Probleme durch wissenschaftsbasierte soziale Technologien lösen lassen, soll
demnach eine hermeneutisch aufgeklärte Professionalität treten, die ein
118
WO STEHEN WIR IN SACHEN SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT?
rekonstruktives Fallverstehen mit dem Respekt vor der Autonomie und der
Problemlösungskompetenz der Betroffenen verbindet.“ (Dewe u.a. 1993,7)
Für sie und ihre Belange treten die beruflich Handelnden ein; sie deuten
komplementär zum eigenen Rat der Klienten und Klientinnen, und sie
deuten stellvertretend für ihre Praxis eine Lage oder einen Sachverhalt:
Bürger und Bürgerinnen treten für andere ein. Die Deutung schließt an
die Alltagspraxis an. Damit wäre deren Weise aber nur fortgesetzt, verfügten die Professionellen nicht über ein topisches Verständnis und Wissen von Lagen und Sachverhalten jenseits der Verwicklung und Verstrickung eines Einzelfalles und seiner subjektiven Interpretation. Die Differenz in der Perspektive und im Deutungsvermögen (danach auch im
Handlungsvermögen) zwischen den beruflichen Helfern und ihren Klienten gestattet erst eine fruchtbare und zielwirksame Auseinandersetzung. Die Professionellen versichern sich ihrer Perspektive und ihrer
Kompetenz durch Wissenschaft. Sie thematisiert beispielsweise, wie Familien unter verschiedenen Lebensbedingungen ihren Alltag organisieren und Konflikte lösen. Diese Empirie liefert Folien, auf denen Bedarfslagen beschrieben werden können, bei denen im Verfahren der Jugendhilfe begleitende Beratung oder eine Hilfeform wie die Sozialpädagogische Familienhilfe angebracht ist. Sie wiederum kann Gegenstand von
Praxisforschung sein, unter deren Punktlicht auch das gewöhnliche Familienleben in seinen Schwierigkeiten deutlicher hervortritt. Im Ergebnis diskursiver Auseinandersetzung kommt es in der Praxis zu Entscheidungen, was zu tun ist. Sie werden nach Möglichkeit gemeinsam beraten. Der Professionelle kann dem mündigen Klienten Entscheidungen
nicht abnehmen. Es sind auch keine wissenschaftlichen, es bleiben alltagspraktische Entscheidungen. Die Wissenschaft bewahrt ihre Unabhängigkeit in ihrer Art Reflexivität, die sich von den Entscheidungszwängen der täglichen Lebensführung und auch des beruflichen Handelns frei hält.
Eine Wissenschaft beherrscht ihr eigentümliche Verfahren. Die Diskussion um die Sozialarbeitswissenschaft ist nun aber zu der gleichen Zeit
lebhafter geworden, in der viele Fachvertreter und -vertreterinnen meinen, die Vorstellung besonderer Methoden der sozialen Arbeit verabschieden zu müssen. Sie unterscheide sich in ihren spezifischen Handlungsmodalitäten nicht von anderen Berufen (Rauschenbach/Ortmann/
Karsten 1993, 7). Diese These ist keineswegs neu; Abraham Flexner hat
sie der amerikanischen Sozialarbeiterschaft bereits 1915 vorgetragen.
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WOLF RAINER WENDT
Originär verfügten über die Verfahren die Fachleute aus der Medizin,
Psychologie, Soziologie und Juristerei; Professionelle in der sozialen
Arbeit seien nur mittelbar im Geschäft, sowohl was das Wissen als auch
was das Handeln betrifft.
Heuristisch vonnöten ist hier eine klare Unterscheidung von Arbeitsweisen als Methoden der beruflichen Praxis einerseits und Handlungsanweisungen in der Forschung andererseits. Die Methoden des Forschers sind zunächst nicht die des Managers. Der Wissenschaftler hält
sich aus der Zwangslage heraus, in situ abklären, planen, entscheiden,
ausführen, bewerten und Rechenschaft ablegen zu müssen. In dem
Maße allerdings, in dem wir uns in der sozialen Arbeit mit Bürgern und
Bürgerinnen und untereinander die Freiheit der objektiven Einschätzung, eines Entwurfs von Lebensgestaltung, gemeinsamer Entscheidungsfindung, der Überwachung und Steuerung einer Leistungserbringung, der Prozeß- und Ergebnisevaluation und objektiver Prüfung nehmen, geraten Forschungs- und Arbeitsweise in eine engere Beziehung
und Wechselwirkung.
Nehmen wir sie als Vorzug unserer Wissenschaft. In der Beziehung auf
ihren Gegenstand zeichnet sie sich gerade dadurch aus, daß sie nahe an
der Erfahrung und an den sozialen Problemen der Menschen bleibt. Sie
hält sich nicht von ihnen fern und hält sich nicht vornehm heraus. Sozialarbeitswissenschaft kann eine spezifische klärende, um nicht zu sagen: emanzipatorische Funktion für die Gesellschaft übernehmen, nämlich beitragen „toward a liberating discourse for societal self-direction“,
wie es Richard Harvey Brown (1989, 143) formuliert hat: zu dem zivilen Diskurs der internen Selbstbearbeitung gesellschaftlicher Aufgaben.
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Zur Notwendigkeit und Programmatik
einer Sozialarbeitswissenschaft
Albert Mühlum
Wohl das Bemerkenswerteste an meinem Thema ist, daß in unserer wissenschaftsgläubigen Welt eine Begründung verlangt und fast eine Entschuldigung vorgelegt werden muß, weshalb Soziale Arbeit eine eigene
Wissenschaft braucht. Wäre es da nicht ebenso angebracht zu fragen,
weshalb Soziale Arbeit theoretisches Wissen benötigt oder noch grundsätzlicher: Braucht Soziale Arbeit überhaupt Wissen? Schließlich radikal zugespitzt: Bedarf es denn überhaupt der Sozialen Arbeit? Oder die
Wissensfrage anders gestellt: Wäre eine Gesellschaft ohne Soziale Arbeit nicht eo ipso die bessere Gesellschaft? Die Verwirrung hat mit der
Ambivalenz einem Beruf gegenüber zu tun, der notwendigerweise und
aus Überzeugung zwischen vielen Stühlen sitzt. Muß sich Soziale Arbeit mit ihrem Anspruch auf Wissenschaft nun aber auch noch mutwillig
zwischen die Mühlsteine akademischer Interessen und Richtungskämpfe begeben? Ich meine: Ja! Ich halte die Sozialarbeitswissenschaft für
überfällig, wenngleich ich auch enorme praktische und methodische
Probleme und mächtige Widerstände sehe.
Im ersten Teil meiner Ausführungen werde ich mich ein wenig mit Spurensuche und mit Begründungen beschäftigen. Im zweiten Teil stehen
Fragen des Standorts einer Sozialarbeitswissenschaft im Vordergrund
und im dritten Teil will ich einige Ausführungen zum Programm der Sozialarbeitswissenschaft machen.
1. DIE BEDEUTUNG EINER EIGENEN WISSENSCHAFT
FÜR SOZIALE ARBEIT
(1) Spurensuche
Trotz der verbreiteten Klage über fehlende wissenschaftliche Fundierung
der Lehre und der Praxis lassen sich theoretische Bemühungen zur Sozialen Arbeit seit Beginn der Berufsgeschichte nachweisen, spätestens seit
121
ALBERT MÜHLUM
systematisch auf berufliche Anforderungen vorbereitet wird, also mit Beginn des 20. Jahrhunderts. Erinnert sei nur an die Pionierinnen des amerikanischen social work wie Jane Addams und Mary Richmond sowie an
Alice Salomon in der deutschen Sozialarbeit. 1930 wurde in Preußen sogar regierungsamtlich von den „sozialarbeitswissenschaftlichen Grundlagen der Ausbildung“ gesprochen. Der theoretische Anspruch war also
selbstverständlich, jedoch wurde er im wesentlichen in Form einer Berufskunde oder Sozialarbeitslehre vertreten. In Deutschland verstärkten
sich seit den sechziger Jahren die Bemühungen um eine theoretische Fundierung der Sozialen Arbeit; ich habe sie 1982 vergleichend kommentiert
(Mühlum 1982). Der Begriff „Sozialarbeitswissenschaft“ war von Hans
Pfaffenberger 1966 wieder ins Gespräch gebracht und von Helmut Lukas
1979 mit seinem Buch „Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft“ verbreitet worden. In den Empfehlungen der „Studienreformkommission
,Pädagogik/Sozialpädagogik/Sozialarbeit‘“ ist dann 1984 von der „Basis
einer Sozialarbeitswissenschaft“ (Studienreformkommission 1984, 23)
und seit 1988 durchgängig von Sozialarbeitswissenschaft die Rede. Trotz
dieses Impulses blieb die weitere Theorieentwicklung in Deutschland
vom nach wie vor ungeklärten Verhältnis von Sozialarbeit und Sozialpädagogik, von Sozialarbeitswissenschaft und Erziehungswissenschaft bestimmt. Dem entsprechen auch die Theorielinien:
(1) Die Anlehnung der Sozialpädagogik an die Erziehungswissenschaft
als Leitwissenschaft prägt hierzulande fast die gesamte universitäre Lehre und Forschung zum Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit. In die
gleiche Richtung tendieren die Zeitschrift „Neue Praxis“ und die „Kommission ,Sozialpädagogik‘“ der „Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“. Nahezu alle Autoren dieser Richtung sind ausgewiesene Erziehungswissenschaftler und betreiben die Theorie der Sozialarbeit/Sozialpädagogik entsprechend diesem Verständnis. Das reicht
von einer unbedarften Vereinnahmung der Sozialarbeit bei Richard
Münchmeier (in Vahsen 1992, 261: „Als wissenschaftlicher Ort, an dem
die Probleme der Sozialarbeit reflektiert und analysiert werden, hat sich
seit der Jahrhundertwende die wissenschaftliche Sozialpädagogik herausgebildet.“) bis zu durchaus offenen und selbstkritischen Überlegungen bei Hans Thiersch und Thomas Rauschenbach (Thiersch/Rauschenbach 1987; Thiersch 1992, 22): „Die Sozialpädagogik als Wissenschaft
hat sich in verschiedenen Traditionen entwickelt … die Entwicklung
aber ist offen: Wird sich Sozialpädagogik eigenständig, etwa als Sozi122
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
alarbeitswissenschaft etablieren? … oder wird Sozialpädagogik sich im
Kontext der Erziehungswissenschaft konsolidieren?“.
(2) Die zweite Theorielinie in der deutschsprachigen Literatur steht in
der Tradition des social work und beharrt auf der Notwendigkeit einer
eigenständigen Sozialarbeitswissenschaft zwischen den etablierten Human- und Gesellschaftswissenschaften. Sie stimmt mit der internationalen, insbesondere der angloamerikanischen, Entwicklung überein
(Lowy 1983) und wird überwiegend in Fachhochschulen, in den Wohlfahrtsverbänden und von der „Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit“
vertreten. Einen neuen Impuls in dieser Richtung gab Ernst Engelke
1992 mit seinem Buch „Soziale Arbeit als Wissenschaft“, das sowohl
eine zusammenfassende Darstellung der vorliegenden Theoriebeiträge
als auch ein Plädoyer für eine eigenständige Wissenschaft enthält. Seitdem folgen in immer kürzeren Abständen neue Beiträge und Klärungsversuche in Werkstattgesprächen und Konferenzen und in Diskussionen
an Fachhochschulen. Der Begriff „Sozialarbeitswissenschaft“ hat Konjunktur, kein Zweifel. Was aber steht dahinter?
(2) Begründungen
Eine eigenständige Sozialarbeitswissenschaft wird gebraucht in der
Ausbildung, für die Berufspraxis und zur Überwindung der „disziplinären Heimatlosigkeit der Sozialarbeit/Sozialpädagogik“ (Haupert/Kraimer 1991). Die Berufspraxis benötigt eine verläßliche Selbstkontrolle
und theoretisch fundierte Anleitung, die der Komplexität des sozialberuflichen Handlungsfeldes gerecht wird. Für die Ausbildung ist eine adäquate wissenschaftliche Grundlegung und eine integrierende Perspektive für die Beiträge der Nachbardisziplinen erforderlich. Für Profil und
Identität der Sozialen Arbeit schließlich ist die Vergewisserung der eigenen, unverwechselbaren Theoriebasis und – nicht nur beiläufig – auch
die Selbstrekrutierung der Lehrenden einzufordern. Das disziplintheoretische Verhältnis von Beschäftigungssystem (Sozialarbeit als Beruf),
Bildungssystem (Sozialarbeit/Sozialpädagogik-Studium) und Wissenschaftssystem (Sozialarbeitswissenschaft) (siehe hierzu: Engelke 1992,
11; Pfaffenberger 1993, 196) wäre dabei zumindest auf drei Ebenen genauer zu untersuchen: unter historischem Blickwinkel, in ihrer aktuellen
Ausprägung und hinsichtlicher ihrer zukünftigen Entwicklung (siehe
Abbildung 1).
123
ALBERT MÜHLUM
Die Ausbildung im Sozialwesen erfolgt laut Fachhochschulgesetz „auf
wissenschaftlicher Grundlage“. Was dafür notwendig ist, wird bisher
aber von einer Vielzahl von Nachbardisziplinen bestimmt: von Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Politologie, Medizin, Theologie.
Gewiß, es gibt auch „Lehrende Sozialarbeiterinnen“. Aber sie sind bezeichnenderweise als „sonstige Lehrkräfte“ oder „Lehrer für besondere
Aufgaben“ zweit- und drittklassig eingestuft und begleiten die Ausbildung eher, als daß sie ihr Zentrum besetzen. Zu Recht ist deshalb von
Fremdbestimmung und Kolonialisierung gesprochen worden. Kämpferisch-ironisch brachte es Silvia Staub-Bernasconi (1993) zum Ausdruck: Ob Sozialarbeit zu einfach oder zu komplex sei, um selbst theorie- und wissenschaftswürdig zu sein?
Nun kennen wir zahlreiche Theoriebeiträge, die auf diese Diagnose antworten. Aber sie stehen ziemlich unverbunden nebeneinander und sind
nicht in einem Wissenschaftsraum versammelt, in dem sich ihre Argumente austragen, aufbewahren und immer wieder aufgreifen ließen.
Mangels eines solchen Forums bleiben viele Problemstellungen im Berufsfeld unaufgearbeitet. Sammlung und Selbstverständigung wäre
auch angebracht, um sich „gegen die anhaltenden Ermächtigungsversuche durch andere Wissenschaften zur Wehr zu setzen“ (Oppl 1992, 97).
Der kolonialisierende Zugriff und die Okkupationsversuche (Lukas
1979) sind außerdem Ursache für typische Mißverständnisse, zum Beispiel in der pädagogischen Reduktion der Sozialen Arbeit auf Erziehung, in der soziologischen Verortung von Sozialer Arbeit in Gesellschaftsgestaltung oder als Kontrollinstanz, im ökonomischen Mißverständnis, Soziale Arbeit verabfolge im wesentlichen materielle Hilfe.
Deshalb ist im Interesse der Profilierung und der Disziplinwerdung auch
eine Lösung von der Erziehungswissenschaft nötig: Soziale Arbeit enthält zwar Pädagogik, aber eben nicht nur. Aufschlußreich dazu die Kontroverse zwischen Franz-Michael Konrad und Wolf Rainer Wendt in der
Zeitschrift „Soziale Arbeit“ – mit der bemerkenswerten Replik Wendts
unter dem Titel „Mit Pädagogenansprüchen auf soziale Arbeit ist es
nicht weit her“ (Wendt 1993). Wichtige Argumente für die Notwendigkeit einer Sozialarbeitswissenschaft sind mit den Begriffen „Identität“,
„Professionalität“, „Expertensystem“ und „Entwicklungslogik“ genannt. Sie können hier nicht im Detail erläutert werden, aber ihr Sinn ist
leicht verständlich: Oft scheitert die Suche nach beruflicher Identität
schon an der ungeklärten Profession, der Widersprüchlichkeit ihres
Auftrags (Hilfeorientierung versus Kontrolle) und dem unsicheren Sta124
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Abbildung 1: Sozialarbeit als Praxis, Studium und Wissenschaft
Beschäftigungssystem
– SA als Beruf –
Bildungssystem
– SA als Beruf –
–> Sozialarbeitspraxis
–> Sozialarbeitslehre
historische Perspektive
aktuelle Situation
Wissenschaftssystem
– SA als Wissenschaft –
–> Sozialarbeitswissenschaft
künftige Entwicklung
tus. Der Sozialen Arbeit wird viel zugemutet und wenig zugestanden.
Ihre eigene Theorieschwäche trägt zu dieser fehlenden Theorie bei.
Auch die Sprachlosigkeit vieler Sozialarbeiterinnen, wenn sie ihr Handeln erläutern sollen, ist Ausdruck dieses Problems. Verständlich daher,
daß in wissenschaftlicher Hinsicht vorrangig nach theoretischer Fundierung der Praxis, nach einer überzeugenden Berufstheorie oder „Sozialarbeitslehre“ verlangt wird (Egan 1990; Lüssi 1991). Die Forderung
nach fachlicher Autonomie und voller wissenschaftlicher Emanzipation
des Faches wird dagegen mit der Notwendigkeit wissenschaftlicher Forschung im Feld und mit einer durch Forschung abgestützten Lehre begründet (Zacher 1992, 181). Bereits erwähnt habe ich das Handicap der
Ausbildung, daß Soziale Arbeit überwiegend von berufs- und fachfremden Lehrerinnen/Dozentinnen vertreten wird. Kommt hinzu, daß in der
Praxis viele Vorgesetzte einen anderen beruflichen Hintergrund haben.
Anerkannte Professionen zeichnen sich jedoch dadurch aus, daß sie in
erster Linie von VertreterInnen der eigenen Profession ausgebildet und
angeleitet werden. Professionelle Autonomie und professionelle Identität setzen nach Hans Pfaffenberger (1993, 202) „die Deckungsgleichheit von Profession, wissenschaftlicher Disziplin und Studiengang voraus …, da nur durch eine eigenständige, der Profession kongruente wis125
ALBERT MÜHLUM
senschaftliche Disziplin das Ausgeliefertsein an andere Disziplinen
überwindbar ist.“ Auch das im Sozialwesen vielzitierte Theorie-PraxisProblem (Mühlum 1986; Dewe u.a. 1993) kann erst zur Theorie-PraxisChance werden, wenn diese Wechselbeziehung in einer eigenen Wissenschaft der Sozialen Arbeit fruchtbar gemacht wird. Darin ließe sich
die vorherrschende Vielfalt der Fächer überwinden, – von Fächern, die
der angehenden Sozialarbeiterin den inferioren Status als Minisoziologin, Minipädagogin, Minipsychologin vermitteln; von Fächern, deren
VertreterInnen in der Lehre ungeniert ihrer eigenen disziplinären Systematik folgen und von Fächern, die meist unverbunden nebeneinander
stehen und nur sehr bedingt auf die Lebenswelt der Klientinnen bezogen
sind und wenig auf den sozialberuflichen Alltag vorbereiten. Die Folge
ist bisher eine im doppelten Wortsinne disziplinlose Ausbildung. Sie
neigt zur Überfrachtung des Studiums und führt zur Überforderung der
Studierenden, auch zu ihrer Theoriemüdigkeit. Sie greifen dann – das
zeigt sich in Fallseminaren, beim Examen und später in der Praxis –
vielfach wieder auf Alltagstheorien zurück. Die fehlende Hinordnung
der unterschiedlichen Disziplinbeiträge auf genuine Perspektiven der
Sozialen Arbeit entspricht einem Puzzle, dem nicht bloß das gemeinsame Bild fehlt, sondern dessen Teile verschiedenen Spielkästen entnommen sind, so daß sie weder im Inhalt noch in der Form zueinander passen. Bezeichnenderweise verweigern viele Fachhochschullehrerinnen
selbst das Zusammenspiel, sind nicht zu einer Integrationsleistung bereit, die sie aber von den Studierenden täglich erwarten. Das ist ausbildungs- und berufspolitisch ein Skandal, weil die Studierenden in entscheidenden Fragen alleinegelassen werden, weil sie ratlos bleiben, sich
mit Rezepten bescheiden oder auch Theorie überstrapazieren – wie in
jener Schulklasse, in der gefragt wurde, weshalb der Riese Polyphem
mit seinem Felsbrocken das Schiff des Odysseus wohl verfehlt habe?
Der Lehrer griff zu einer naturwissenschaftlichen Erklärung und erläuterte, daß zum räumlichen Sehen zwei Augen erforderlich sind und daß
daher Polyphem mit seinem Zyklopenauge die Entfernung nicht richtig
habe abschätzen können. Daraufhin meldet sich ein aufmüpfiger Schüler mit dem Hinweis, daß Odysseus ihm dieses Auge doch ausgebrannt
habe. Darauf der irritierte Lehrer: „Ja, das kommt noch hinzu!“. Nach
allem ist die Sozialarbeitswissenschaft für die Entwicklung, Anwendung und insbesondere die Fokussierung theoretischer Erkenntnisse für
soziale Arbeit unverzichtbar.
126
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
(3) Theorie und Praxis
Die Diskussion des Verhältnisses von Theorie und Praxis der Sozialen
Arbeit ist fast so alt wie der Beruf, gewann aber mit der Etablierung der
Ausbildung von Sozialarbeiterinnen/Sozialpädagoginnen an Fachhochschulen zu Beginn der siebziger Jahre neue Brisanz. Auf dem Weg zur
Wissenschaftlichkeit ist daher eine Problemskizze dieses Dauerthemas
notwendig, und zwar um so mehr, als von Ignoranz, Theoriemüdigkeit,
ja -feindlichkeit der Praxis gegenüber der Theorie gesprochen und die
Irrelevanz der Theorie für die Praxis beklagt wird.
Die Dichotomie von Reflexion und Handeln reicht offenbar tief und erschwert auch die Klärung des Verhältnisses von wissenschaftlichem,
professionellem und alltäglichem Wissen. Das Konzept des wissenschaftlich ausgebildeten Praktikers bewirkt unter Umständen gerade
jene Spaltung von Theorie und Praxis, zu deren Überwindung es konzipiert wurde (Dewe u.a. 1993, 49). Die Bearbeitung des „Theorie-PraxisSyndroms“ ist daher unaufschiebbar. Ein Praktiker ist offenbar jemand,
der aktiv ist und der handelt (griechisch: práttein = tun, verrichten, vollbringen). Der Theoretiker dagegen denkt, plant und kombiniert. Auch
wenn der Theoretiker nun denkt, ohne zu handeln, so wollen wir gleichwohl nicht hoffen, daß der Praktiker handelt, ohne zu denken: eine Antithese, die sich deshalb aufdrängt, weil Theorie und Praxis meist als
Komplementärbegriffe auftreten. Theorie (griechisch: thea – das Angeschaute, horáein – sehen) kommt dann schnell in ein schiefes Licht (Mephisto: „Grau, mein Freund, ist alle Theorie“) und erinnert an Lehnstuhlwissenschaftler, die den Alltag als Spektakel erleben. Umgekehrt
ist die verbreitete Geringschätzung des Theoretikers bei „Praktikern“
bekannt. Von Thales aus Milet, dem Begründer der griechischen Philosophie, erzählt Platon: „Als Thales die Sterne beobachtete und nach
oben blickte und als er dabei in einen Brunnen fiel, soll eine witzige und
geistreiche thrakische Magd ihn verspottet haben, er wolle wissen, was
am Himmel sei, aber es bleibe ihm verborgen, was vor ihm und zu seinen Füßen liege.“ (zit. nach Weischedel 1984, 13 f.) Ist dies das Los aller Theorie? Trifft es auch für unsere Bemühungen um Sozialarbeitswissenschaft zu? Daß wir über die Fallstricke des Alltags stolpern oder, wie
Platon die Geschichte deutet, aus Unerfahrenheit in Brunnen und jegliche Verlegenheit fallen? Das mag sein. Doch dann kommt für Platon das
Entscheidende: Was aber der Mensch ist und was Gerechtigkeit und Tu127
ALBERT MÜHLUM
gend, danach sucht der Philosoph und dafür wird er dringend gebraucht.
Ersetzen wir Philosoph durch Theoretiker, so wird nun klarer, was erwartet wird: Fragen zu beantworten, die den Praktiker bedrängen. Dazu
einige Thesen:
(1) Das Verhältnis von Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit ist spannungsreich. Es wird vielfach als gestört bezeichnet, zumindest jedoch
als nicht ausbalanciert. Fachhochschulen sollten deshalb ihre besondere
Nähe zur professionellen Praxis konsequenter nutzen (Austauschkriterium).
(2) Theorie und Praxis sind notwendig aufeinander bezogen, das heißt
Theoriebildung in und für Soziale Arbeit sollte an „praktischen“ Problemen orientiert sein (Relevanzkriterium), praktische Soziale Arbeit an
theoretischen Konzepten (Rationalitätskriterium).
(3) Zur Vermeidung einer technokratischen Verengung des TheoriePraxis-Bezugs im Sinne der Nützlichkeit (Effizienzkriterium) ist der
Erkenntnisbereich auszuweiten. Vorgeschlagen wird ein Bezugsrahmen von Wissenschaft, Wertfragen und Gesellschaft.
(4) Theorielieferanten für Soziale Arbeit waren bisher zu einem wesentlichen Teil die sozialwissenschaftlichen Basisdisziplinen. Sie beeinflussen entsprechend auch die Entwicklung der Profession. Vor der Dominanz anderer Disziplinen ist deshalb zu warnen.
(5) Daneben gibt es seit Beginn der Verberuflichung eigene Theorieansätze, die als „Praxistheorien“ der sozialberuflichen Wirklichkeit näher
sind und den Theorie-Praxis-Bezug „partnerschaftlicher“ gestalten. Sie
können Elemente der künftigen Wissenschaftsentwicklung bleiben.
(6) Soziale Arbeit braucht zur Integration der vorliegenden Theorien
und zur Profilierung ihrer Praxis (Professionalitäskriterium) eine eigene
Zentraltheorie oder Leitwissenschaft, die sich vor allem durch ihren genuin sozialarbeiterischen Fokus auszuzeichnen hätte.
Theorie und Praxis bilden im übrigen eine untrennbare dialektische Einheit, da Praxis Grundlage aller Theorie, „Sinn“ der Theorie und Wahrheitskriterium zur Überprüfung von Theorie ist. Umgekehrt wird Praxis
als reflektiertes Handeln durch Theorie geprägt, als professionelles
Handeln durch sie sogar konstituiert, wobei unter „Theorie“ ein System
von Begriffen und Aussagen verstanden wird, das die Erkenntnisse über
einen Bereich von Sachverhalten ordnen, Tatbestände erklären und vor128
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
hersagen soll. Das Theorie-Praxis-Dilemma kann deshalb nicht einfach
nur fortgeschrieben, sondern müßte überwunden werden, zumindest
aber auf eine neue Stufe der Synthese gelangen – eine Zielsetzung, die
am ehesten in der hier geforderten Sozialarbeitswissenschaft gelingen
könnte.
2. VERSUCH EINER STANDORTBESTIMMUNG
DER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
(1) Wissenschaftlichkeit
Unter dem Begriff „Wissenschaft“ kann sowohl eine Institution zur Organisation von Erkenntnisprozessen als auch ein Aussagensystem von
begründbaren und überprüfbaren Erkenntnissen verstanden werden.
(1) Zunächst zum institutionellen Aspekt: Die minimale Ausstattung der
Fachhochschulen und das hohe Lehrdeputat bedeuten faktisch eine Monopolisierung des Wissenschaftsbetriebs an Universitäten. Das ist eine
der Hürden auf dem Weg unserer Wissenschaft. Zur Erinnerung: Fachhochschullehrer haben eine Deputatsverpflichtung von 18 Wochenstunden (im Vergleich zu Universitätsprofessoren mit 8 und Gymnasiallehrern mit 23 Stunden). Vielleicht gibt es zu denken, daß sich damit auf
der Ebene der Theorie die Randständigkeit und Benachteiligung wiederholt, die im sozialberuflichen Alltag erlebt wird, der seinerseits ein Reflex der Deprivation der sozialen Klientel zu sein scheint. Vielleicht muß
ja eine Zunft, die vom Leid ihrer Mitmenschen lebt, auf irgendeine Weise mitleiden. Aber man muß sich entscheiden, ob man resigniert oder ob
man offensiv wird. Der erfolgversprechendste Weg an Fachhochschulen
ist hier – auch mit Blick auf die Berufspraxis – gewiß die Sozialarbeitsforschung, die längst auf eine Vielzahl ergiebiger Untersuchungen verweisen kann (siehe zum Beispiel Salustowicz u.a. 1992). Dennoch, oder
gerade deshalb, darf die Soziale Arbeit nicht auf die „höheren akademischen Weihen“ verzichten. Angesichts der wachsenden Probleme in
Wohlstandsgesellschaften und der damit einhergehenden Ausweitung
Sozialer Arbeit ist die Etablierung einer unabhängigen Sozialarbeitswissenschaft überfällig. Selbst Vertreterinnen der universitären Sozialpädagogik beklagen deren Randständigkeit innerhalb der Erziehungswissenschaft (so Thiersch 1990 mit der Metapher „Aschenputtel und ihre
129
ALBERT MÜHLUM
Schwestern“). Was läge also näher als die Zusammenarbeit in einer „Koalition des Sozialen“, um die Bedeutung und Durchsetzungsfähigkeit sozialer Anliegen im akademischen und im gesellschaftlichen Raum zu erhöhen? Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei ausdrücklich betont,
daß nicht gegen die wissenschaftliche Sozialpädagogik, sondern für eine
eigenständige Sozialarbeitswissenschaft argumentiert wird, die jene Anliegen und die der Profession vertritt.
(2) Zur Wissenschaft als Aussagensystem: Dieses konstituiert sich durch
einen unverwechselbaren Untersuchungsgegenstand (Erkenntnisobjekt), durch Kategorien der Wirklichkeitserfassung (Begriffe) und durch
Verfahren zur Erkenntnisgewinnung (Methoden). Wissenschaftliches
Wissen unterscheidet sich vom Alltagswissen im wesentlichen durch die
methodische Vorgehensweise, durch das Bemühen um Systematisierung von Erkenntnissen und durch die Überprüfbarkeit von Aussagen
beziehungsweise Ergebnissen. Für die Theoriebildung entscheidend ist
die „Methode“ (griech. methodein – entlanggehen eines Weges), also die
Art und Weise, zur Erkenntnis zu gelangen. Regelmäßig sind dafür folgende Schritte erforderlich:
Ein Vorverständnis, vorhandenes Wissen (1), wird auf ein Problem(-feld)
angewandt (2), um aufgrund des erkenntnisleitenden Interesses (3) Fragen zu formulieren (4). Die vorläufige Antwort darauf heißt Hypothese
(5), die wiederum zu überprüfen ist (6). Sofern sie sachlogisch mit anderen (geprüften) Hypothesen und Erkenntnissen verknüpft werden kann,
handelt es sich um eine Theorie (7). Wissenschaft sammelt also Tatsachen (Daten), verarbeitet sie zur Formulierung von Zusammenhängen
und organisiert diese zu Systemen – unter Anwendung anerkannter methodischer Regeln. Das Ziel wissenschaftlichen Bemühens ist die Beschreibung (Deskription), der Vergleich (Komparation), die Erklärung
(Explikation) und – mit Einschränkungen – die Vorhersage (Prognose)
von Sachverhalten. Im Unterschied zu kausalen Erklärungsmodellen der
Naturwissenschaften suchen die Sozialwissenschaften nicht nur empirische Sachverhalte, sondern auch den Sinngehalt sozialer Konstellationen
und sozialen Handelns zu erfassen und deutend zu verstehen. Statt „eindimensionaler“ Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge dominieren hier
multifaktorielle Zusammenhänge, Wirkungsketten, Kreisprozesse. Dennoch gibt es Grundregeln allen wissenschaftlichen Denkens (Theimer
1985, 9f.): Wissenschaft muß
130
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
(a) sich auf ausreichendes Tatsachenmaterial gründen; Wissenschaftliche Aussagen müssen an beobachtbaren Tatsachen nachprüfbar sein;
(b) um Sachlichkeit und Objektivität bemüht sein; (c) zwischen Tatsachen und ihrer Deutung oder Erklärung unterscheiden; erst die Deutung
führt zur Bildung von Theorien und Systemen; (d) sich von der Spekulation, von Ideologie und Glaube unterscheiden, das heißt wiederum
prüfbar und rational begründbar sein; (e) auf der Logik beruhen; das
heißt Aussagen müssen logisch miteinander verknüpft sein und dürfen
sich nicht widersprechen; (f) undogmatisch sein, das heißt bereit sein,
Auffassungen zu revidieren und neue Erkenntnisse zuzulassen, sich jederzeit der Kritik stellen.
Im Wege der wissenschaftlichen Arbeitsteilung bildeten sich im geschichtlichen Ablauf immer dann neue Disziplinen heraus, wenn ein
Problembereich oder Untersuchungsgegenstand neu und bedeutsam genug erschien, um sich damit zu beschäftigen, und wenn die dafür erforderlichen Ressourcen erhältlich waren. Gewiß ließe sich trefflich streiten, warum Soziale Arbeit sich so schwer damit tut, während – fast über
Nacht – für Anliegen zum Beispiel der Gesundheit und Pflege sich Gesundheits- und Pflegewissenschaften etablieren lassen. Trotz der gesellschaftlichen Differenzierung und Komplizierung von Lebensverhältnissen und der damit einhergehenden Ausweitung Sozialer Arbeit zwischen 1970 und 1990 mit der höchsten Zuwachsrate der Berufe – und
bei aller Erwartung an ihre Problemlösungskompetenz – ist Soziale Arbeit unbequem und bedrohend-bedroht geblieben, vermutlich wegen ihrer Sorge um das Soziale, worin eine Vorwarnfunktion, aber auch eine
Skandalisierungs- und Veränderungsfunktion für die Gesellschaft eingeschlossen ist. Soziale Arbeit als „soziales Gewissen“ ist zwangsläufig
unbequem. Sie bekommt es mit individuellen und gesellschaftlichen
Verdrängungsmechanismen zu tun und ist deshalb selber von Entwertung und Abwehr bedroht. Dies färbt auch auf den Wissenschaftsanspruch ab. Aber von der Gegenwehr unbeirrt, greife ich den Anspruch
auf und fordere die wissenschaftliche Arbeitsteilung ein.
(2) Der gesellschaftliche Standort
Funktional betrachtet leistete Soziale Arbeit seit der Armenpflege Ersatz für schwindende familiale Sicherungsleistungen. Daraus resultiert
ihre Affinität zum sozialen Sicherungssystem und zur Sozialpolitik. An131
ALBERT MÜHLUM
ders ausgedrückt: Soziale Arbeit hat sich entwickelt, weil durch die
Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft das Gelingen „normaler“ Lebensentwürfe für viele Menschen schwieriger wird, zugleich
aber die Gesellschaft vermutlich stärker als je zuvor von diesem Gelingen abhängig ist. Wenn es zutrifft, daß gesellschaftlicher Fortschritt und
funktionale Differenzierung steigende Anpassungsleistungen der Gesellschaftsmitglieder erfordern, wächst auch das Risiko der Fehlanpassung, sozialer Abweichung und der Anpassungsverweigerung. Außerdem steigt mit dem Differenzierungsgrad das Niveau der (materiellen
und sozialen) Ausstattung zur Bedürfnisbefriedigung von Individuen
und zur sozialen Befriedung der Gesellschaft. Damit wächst wiederum
das Risiko der Fehlausstattung (soziale Ungleichheit und Deprivation).
Dementsprechend war die Funktion der Sozialen Arbeit stets ambivalent: Hilfe und Kontrolle, am Individuum und an der Gesellschat orientiert, integrierend und segregierend. Zu den „Ausstattungsproblemen“
treten nach Silvia Staub-Bernasconi (1989, 135 f.) noch Austauschprobleme (in horizontaler Interaktion) und Machtprobleme (in vertikaler
Interaktion) und Sinnprobleme hinzu.
Der gesellschaftliche Standort der Sozialen Arbeit liegt deshalb zwischen den großen Funktionsbereichen des sozialen Sicherungssystems,
des Gesundheitssystems, des Erziehungssystems und des (rechtlichen)
Sanktionssystems (siehe Abbildung 2). Er ist damit auf die Politikbereiche „Sozialpolitik“, „Gesundheitspolitik“, „Bildungspolitik“ und
„Rechtspolitik“ verwiesen. Überwölbt werden diese Bereiche vom Gesellschaftssystem, dem kulturellen System, dem Wirtschaftssystem sowie von Natur und Umwelt, also dem ökologischen System.
Soziale Arbeit kann als ein intermediäres Aufgabenfeld an der Schnittfläche der genannten Funktionsbereiche begriffen werden, die sich in
den Handlungsfeldern „Sozialhilfe und Altenhilfe“, „Gesundheitshilfe
und Rehabilitation“, „Jugendhilfe und Familienhilfe“, „Straffälligenhilfe und Resozialisation“ ausdifferenzieren. Da Soziale Arbeit Teilfunktionen aus allen vier Bereichen übernimmt, läßt sich auch von einer
Querschnittsaufgabe sprechen. Schon dies erklärt, weshalb eine Zentraltheorie nicht einfach der Erziehungswissenschaft zugeordnet werden kann, und zwar um so weniger, als die „Pädagogisierung“ Sozialer
Arbeit im Abnehmen begriffen ist und sogar von Erziehungswissenschaftlern eher eine „Sozialpolitisierung“ der Sozialen Arbeit konstatiert wird: „Sozialpolitik statt Sozialisation“ bestimme die Funktionslo132
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
gik des sozialen Sektors. Diese Sozialpolitisierung fordert aber auch
eine andere Professionalität, die sich weniger auf das pädagogisch-therapeutische Setting, mehr auf die Gestaltung sozialer Räume und Infrastrukturen richte (Münchmeier 1992, 42), was recht gut die Perspektive
„person-in-environment“ des social work aufgreift. Die verlangte Herstellung „sozialräumlicher Gelegenheitsstrukturen“ macht eine Verbindung von Sozialerziehung und Sozialpolitik notwendig, die ohne eine
Aktivierung und Kooperationsbereitschaft der jeweiligen Zielgruppen
nicht gelingen kann.
Abbildung 2: Standort der Sozialarbeit
Gesellschaftssystem
Soziales Sicherungssystem
–> Sozialpolitik
unter anderem
Sozialhilfe
kulturelles
System
Gesundheitssystem
–> Gesundheitspolitik
unter anderem
Gesundheitshilfe
Soziale Arbeit
–> Sozialarbeitspolitik
unter anderem
Jugendhilfe
Erziehungssystem
–> Bildungspolitik
ökologisches
System
unter anderem
Straffälligenhilfe
Sanktionssystem
–> Rechtspolitik
Wirtschaftssystem
133
ALBERT MÜHLUM
(3) Der wissenschaftliche Standort
Wenn wir Sozialarbeitswissenschaft zwischen vorhandenen Fachgebieten verorten, dann zwischen Sozialpolitikwissenschaft, Gesundheitswissenschaft, Erziehungswissenschaft und Rechtswissenschaft. Gewissermaßen überwölbende Wissenschaftsbereiche wären solche der Anthropologie, der Philosophie und Ethik, der Politologie, Soziologie und
Sozialpsychologie, der Ökonomie und Ökologie. Die inhaltliche Nähe,
ja Überschneidung einer Sozialarbeitswissenschaft mit den unmittelbaren Nachbardisziplinen ist offenkundig. Allerdings fehlt noch immer
eine Verständigung darüber, ob die neue Disziplin den Status einer vollgültigen Einzelwissenschaft erreicht oder sich eher als Querschnittswissenschaft profilieren sollte. Derzeit sehe ich mit Hans Pfaffenberger
(1993) Entwicklungsschritte von einer „Residualwissenschaft“ zur
transdisziplinären oder multidisziplinären Disziplin (analog zu anderen
Handlungswissenschaften wie zum Beispiel der Verwaltungswissenschaft).
Eine Allgemeine Sozialarbeitswissenschaft als selbständige Disziplin
wäre jedenfalls im Zuge der wissenschaftlichen Arbeitsteilung als neue
Sozialwissenschaft, genauer: als Verhaltenswissenschaft zu verstehen,
da sie menschliches Verhalten, Problembewältigung und soziale Integration zum Gegenstand hat und da dies Teil der gesellschaftlichen Praxis ist. Aufgrund der theoretischen und sozialberuflichen Anforderungen wird sie folgende Kriterien erfüllen und unterschiedliche Wissenschaftsansprüche verknüpfen müssen. Sie soll sein
(a) empirische Wissenschaft: als Erfahrungswissenschaft oder Wirklichkeitswissenschaft Erkenntnisprozesse organisieren und zur Analyse
der Realität beitragen;
(b) angewandte Wissenschaft: als anwendungsbezogene Wissenschaft
handlungsleitende Erkenntnisse für die sozialberufliche Praxis zur Verfügung stellen;
(c) kritische Wissenschaft: als kritisch-reflexive Wissenschaft Problemstrukturen und Bewältigungsprozesse analysieren, deutend verstehen
und kritisch würdigen;
(d) normative Wissenschaft: als wertbezogene und zielbewußte Wissenschaft Bemühungen um individuell und sozial befriedigende Lebensweisen unterstützen;
134
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
(e) Interventionswissenschaft: als Handlungswissenschaft zum Eingreifen bei Gefährdungen und zum Sich-Einmischen in prekäre Lebensverhältnisse befähigen.
Ein besonderer Anspruch liegt darin, daß die Sozialarbeitswissenschaft
in ihrer Sichtweise zugleich ganzheitlich (holistisch), personorientiert
und problemorientiert sein soll, was im systemisch-prozessualen (StaubBernasconi 1991) und im ökosozialen Paradigma (Wendt 1990) zum
Ausdruck kommt. Es läßt sich auch mit einem ökologisch-systemischen
Grundverständnis verbinden. Sozialarbeitswissenschaft bezieht Wertvorstellungen und Veränderungsabsichten ein, ist also notwendigerweise
normative Wissenschaft und in ihrer Anwendung „Interventionswissenschaft“. Das widerspricht nicht einer kritisch-emanzipatorischen Absicht, solange Wertsetzungen, Machtverhältnisse und Entscheidungsprozesse offengelegt und selbst zum Gegenstand der Untersuchung werden.
Präskriptive Aussagen (Wertsetzungen) sind für eine handlungsleitende
Wissenschaft unerläßlich, die von Zielen, Beeinflussungsstrategien und
sozialen Veränderungsprozessen handelt. Eine sachlogische Verbindung
mit Wertfragen (Ethik) und Arbeitsformen (Methodik) ist gegeben, ebenso wie die Querverbindung zur Philosophie (Papenkort/Rath 1994), wenn
als übergreifendes Ziel gilt, einen sinnvollen, selbstbestimmten Alltag zu
ermöglichen und zu einem gelingenden Leben beizutragen.
(4) Raum-, Zeit- und Problemstruktur
Sozialarbeitswissenschaft bewegt sich auf mehreren Ebenen, wenn sie
sich ihres Gegenstandes annimmt. Sie aggregiert ihre Untersuchungsbereiche, die Zeitstruktur der Problementwicklung und ihrer Bearbeitung
unterschiedlich.
(1) Ein sozialer Raum läßt sich untersuchen
(a) in mikrosozialer Hinsicht, also bezogen auf Person und Interaktion,
(b) in mesosozialer Hinsicht, bezogen auf Gruppen und Institutionen im
Gemeinwesen, und
(c) in makrosozialer Hinsicht, bezogen auf Öffentlichkeit, Politik, gesellschaftlichen Wandel.
Die unterschiedlichen Handlungs- und Forschungsebenen können am
Beispiel des social work von Jane Addams veranschaulicht werden:
135
ALBERT MÜHLUM
• „Auf dem individuellen und familiären Niveau befaßte sie sich mit
Immigranten, Arbeitslosen, Prostituierten, politischen Flüchtlingen,
Alleinerziehenden.
• Auf der Gruppenebene gründete oder ermöglichte sie verschiedenste
Klubs, Kinder-, Jugend-, Arbeitslosen-, Arbeiterclubs, Frauengruppen …
• Auf der lokalen Gemeinwesenebene sorgte sie für den Bau von öffentlichen Bädern, die Organisation von Müllabfuhr und lokalen Gesundheitsdiensten, die Gründung einer Genossenschaft für die Verteilung von Kohle im Slumgebiet …
• Auf der organisationellen Ebene beteiligte sie sich an der Gründung
von Gewerkschaften, insbesondere Frauengewerkschaften. Hull
House war zugleich ein wichtiger Treffpunkt für Arbeitslose, für
Streikende …
• Auf der internationalen Ebene – als größtes ‚territoriales Gemeinwesen‘ – bemühte sie sich um ein internationales Abkommen für den
Umgang mit gefährlichen Abfällen, um Aufklärung … über den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Expansion, Diktatur, Krieg,
Hunger und Gewalt.“ (Staub-Bernasconi 1989, 129f.)
Angesichts der unterschiedlichen Ausdehnung dieser Räume, die durchaus auch das Spektrum heutiger Sozialer Arbeit ausmachen, wird sich
die Wissenschaft nicht auf Interaktion und kleinräumige Analysen beschränken können – und damit eben auch nicht auf eine rein pädagogische Perspektive. Sozialraumorientierung heißt immer auch, organisatorische, strukturelle, politische Aufgaben als originären Teil Sozialer
Arbeit anzuerkennen.
(2) In der Zeitdimension ist zu unterscheiden zwischen
(a) Prävention, bezogen auf Problemverursachung bei potentiellen Klienten,
(b) Intervention, als sozialberufliches Tätigwerden bei akuten Problemen,
(c) Rehabilitation / Resozialisierung, als sozialberufliche Strategien bei
längerfristigen Problemen,
(d) Begleitung /Versorgung, als sozialberufliche Unterstützung bei dauerhaften Problemen.
136
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Die zeitliche Erstreckung Sozialer Arbeit ist wissenschaftlich bedeutsam, da in dieser Dimension die Problemstrukturen und die Handlungsanforderungen differieren. Dem sozialberuflichen Auftrag entsprechend wäre die Bewältigungsforschung voranzubringen, und bei der
Problemgenese und in der Problembehandlung ist Biographieforschung
angebracht (am Beispiel der Rehabilitation siehe: Mühlum/Oppl 1992).
Sozialarbeitswissenschaft muß sich als Handlungswissenschaft mit
Strategien der Problemvorbeugung, Problemerkennung, Problembearbeitung und „Problembegleitung“ beschäftigen. In ihrer „transdisziplinären“ Leistung berücksichtigt sie soziologisch analysierte Strukturen,
sozialpolitische Vorgaben und sozioökonomische Zusammenhänge und
deutet individuelles Verhalten und soziales Handeln in diesem Rahmen.
Gemäß ihrem doppelten Fokus zielt Soziale Arbeit sowohl auf die Bearbeitung psychosozialer Probleme als auch auf die soziale Ausstattung
und Entwicklung der ökosozialen Lebenswelt ihrer Adressaten. In beiden „Brennpunkten“ kann sie vorbeugend, problembearbeitend oder
planend tätig sein. Bezogen auf Individuen wird sie in erster Linie bestrebt sein, das soziale Verhalten zum Beispiel mittels Sozialerziehung,
in Beratung und Therapie zu beeinflussen, dabei auf „Empowerment“
setzend, also die Selbstverfügung des Individuums stärkend. Bezogen
auf das Umfeld handelt es sich um die Gestaltung sozialer Verhältnisse,
zum Beispiel mittels Sozialadministration, Management, Stadtteilarbeit,
wobei unterschiedliche Planungstechniken auf die Aktivierung und Verknüpfung von Ressourcen zielen. Beide Interventionsbereiche sind bisher am klarsten im Case Management begriffen (siehe Abbildung 3).
Soweit sich Sozialarbeitswissenschaft an den Anforderungen der Praxis
orientiert – und zu einem wesentlichen Teil sollte das der Fall sein –,
stellt sich erneut die Frage nach dem Berufsverständnis und den Alltagsproblemen in der Variationsbreite Sozialer Arbeit und wie sie sich in
dieser Breite und diesem Verständnis wissenschaftlich aufbereiten lassen.
(5) Zwischenbilanz
Mit den bisherigen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, daß
(a) die etablierten Disziplinen die Anforderungen an eine wissenschaftliche Begründung der Sozialen Arbeit nicht erfüllen;
137
ALBERT MÜHLUM
(b) neue, eigene Untersuchungen, Erklärungen, Paradigmen für soziale
Probleme und Lebensbewältigung unter erschwerten Bedingungen notwendig sind;
(c) bei der angemessenen Problemerfassung, Deutung und Bearbeitung
bereits vorliegende sozialwissenschaftliche Theorien helfen, aber auf
Soziale Arbeit fokussiert werden müssen;
(d) dazu eine eigene Wissenschaftsdisziplin notwendig ist und sich entwickelt;
(e) Erkenntnisgewinnung und Forschungsmethoden der Sozialarbeitswissenschaft dem heutigen sozialwissenschaftlichen Standard entsprechen müssen.
Die Sozialarbeitswissenschaft bedient sich der Erkenntnisse und Methoden ihrer Nachbardisziplinen und wendet sie kritisch-konstruktiv auf
ihr spezifisches Erkenntnisobjekt an. Bei der Komplexität sozialen Lebens und angesichts der Vielfalt sozialer Schwierigkeiten widmen sich
Praxisforschung und Theorieentwicklung unterschiedlichen Ausschnitten der Wirklichkeit: problemorientiert, methodenorientiert, personenbezogen und umweltbezogen.
Als Interventionswissenschaft wird Sozialarbeitswissenschaft unter anderem der Spannung des doppelten Mandats (Klient versus Auftraggeber/Anstellungsträger) und der Doppelverpflichtung des Berufes (Einwirkung auf Sozialverhalten und auf Sozialverhältnisse) Rechnung tragen müssen. Ihre eigenständige Leistung sehe ich dabei insbesondere in
der Verknüpfung von Person und Umwelt, wie sie etwa in Konzepten des
„life model“, von Case Management, Empowerment, task-centred social
work versucht und im ökosozialen Paradigma von Wolf Rainer Wendt
zusammengeführt wurde (Wendt 1982; Mühlum u.a. 1986; Wendt
1990).
138
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Abbildung 3: Perspektiven und Problemstrukturen
Ökosoziale Perspektive
psycho-sozial
sozio-politisch
Lebensbewältigung
Sozialarbeit
soziale Probleme
gesellschaftlich organisierte Hilfe
Prävention
Problembewältigung
Individuum
soziales Verhalten
Umfeld
soziale Verhältnisse
SozialErziehung
Beratung
Entwicklungsplanung
SozialTherapie
Administration
Management
Methodenpluralismus
Planungstechniken
Empowerment
Networking
Stadtteilarbeit
Case-Management
3. DAS WISSENSCHAFTSPROGRAMM EINER SOZIALWISSENSCHAFT
Das in der akademischen Diskussion nach wie vor ungelöste Problem
des Verhältnisses von Sozialarbeit und Sozialpädagogik irritiert nicht
nur in der Berufspraxis, sondern erschwert auch das Aufstellen eines
Wissenschaftsprogramm. Grundsätzlich wäre zunächst eine saubere
Trennung von Erziehungswissenschaft und Sozialarbeitswissenschaft
angebracht und die Zuordnung der Sozialen Arbeit, die strittig bleibt.
Daß aber ein eigenständiger theoretischer und empirischer Zugang zur
sozialberuflichen Praxis benötigt wird, ist unstrittig.
139
ALBERT MÜHLUM
Zum Programm der Sozialarbeitswissenschaft gehören folgende Aspekte:
(a) Gegenstandsbestimmung – Erkenntnisobjekt,
(b) Kategoriensystem – Fachbegriffe,
(c) Methoden der Erkenntnisgewinnung – Methodologie,
(d) Untersuchungsvorhaben und Forschungsstrategien – Forschungsprogramm,
(e) Integration der vorliegenden Sozialarbeitstheorien/Praxistheorien
zu einer Sozialarbeitslehre,
(f) Kooperation mit Nachbardisziplinen – Theorietransfer.
(1) Gegenstandsbestimmung
Die erste Herausforderung stellt die Bestimmung eines eigenen Erkenntnisobjekts dar. Es muß allgemein genug formuliert sein, um das breite
Spektrum der Sozialen Arbeit abzudecken und um schon vorliegende
Theorieansätze zu integrieren. Andererseits muß der Gegenstand speziell
genug sein, um ihn von dem anderer Sozialwissenschaften abgrenzen zu
können. Die soziologische Subsumtion „Sozialarbeit ist das, was Sozialarbeiter tun“ erfüllt diese Anforderungen nicht. Keine Wissenschaft kann
auf eine Selbstdefinition verzichten. Da wir auf einen Fortschritt in der
wissenschaftlichen Arbeitsteilung hin zur Sozialarbeitswissenschaft setzen, seien zum Vergleich die Gegenstandsbestimmungen der wichtigsten
Nachbardisziplinen genannt. Der Gegenstand der Soziologie ist: soziales
Handeln; der Erziehungswissenschaft: Bildung und Erziehung; der Psychologie: Erleben und Verhalten; der Sozialpolitikwissenschaft: Lebenslagen. Ich verzichte darauf, bisherige Versuche zur Gegenstandsbestimmung zu referieren (dazu ausführlich: Engelke 1992). Es handelt sich dabei um Festlegungen auf soziale Probleme und/oder Hilfe, auf dissoziales, defizitäres, auffälliges Verhalten, auf Armut, Benachteiligung, Marginalität, Überforderung, Gefährdung, gestörte Austauschbeziehungen
und darauf bezogene gesellschaftlich organisierte Hilfestellungen. Diese
Perspektive ist so durchgängig, daß geradezu von einem Mainstream der
Sozialen Arbeit gesprochen werden kann. Herkömmlich formuliert: Soziale Arbeit ist Hilfe bei psychosozialen Problemen. Aktueller formuliert:
140
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Soziale Arbeit befaßt sich mit sozialen Problemen und Problembewältigung (Vorschlag A). Hierher gehört auch die jüngst von Bernhard Haupert formulierte These, Gegenstand der Sozialarbeitswissenschaft sei der
überforderte Mensch, dem gesellschaftliche Unterstützung zuteil werden
muß. Ähnlich versucht Jan Tilmann eine „Annäherung an eine Sozialarbeitswissenschaft“ über das Erkenntnisobjekt des „homo abusus“, also
des gebrauchten, verbrauchten, mißbrauchten Menschen. Ich halte beide
Zugänge für bedenkenswert, allerdings eher im Sinne anthropologischer
Grundannahmen (Menschenbild), weniger als Gegenstandsbestimmung
im hier gemeinten Sinne.
Wegen der Vieldeutigkeit des Problembegriffes und zur Vermeidung
der Defizitorientierung schlage ich einen modifizierten Zugang vor: Soziale Arbeit unterstützt die Lebensbewältigung von Menschen im Alltag
unter erschwerten individuellen (Handicap) oder sozialen Bedingungen
(Deprivation). Lebensbewältigung definiere ich als konstruktive Auseinandersetzung mit situativen und sozialen Anforderungen im Hinblick
auf ein gelingendes Leben. In einer Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit aus dem Jahr 1993 heißt es: „Gegenstand der Sozialarbeitswissenschaft ist die Theorie und Praxis gelingenden und
scheiternden Lebens“. Erkenntnisobjekt der Sozialarbeitswissenschaft
wäre also: Lebensbewältigung unter erschwerten Bedingungen (Vorschlag B).
Beide Vorschläge enthalten sowohl einen individuellen als auch einen
sozialen Aspekt, eine personale Anforderung und eine gesellschaftliche
Herausforderung. Diese doppelte Perspektive ist konstitutiv für Soziale
Arbeit. Dabei kann aber nicht von einer einfachen Kausalbeziehung
ausgegangen werden, sondern man muß mit Kreisprozessen rechnen:
Sozioökonomische und soziokulturelle Benachteiligungen gefährden
zum Beispiel die Entfaltung der Persönlichkeit, ihre sozialen Beziehungen und ihre „Lebenstüchtigkeit“. Und umgekehrt: beschädigte Identität
und gestörte Beziehungen können unfähig machen zu autonomer Lebensführung und verantwortlichem Handeln, das heißt sie beeinträchtigen das soziale Zusammenleben, die Leistungsfähigkeit und Stabilität
der Gesellschaft und zeugen neue Ungerechtigkeiten. Soziale Arbeit ist
bemüht, diese Prozesse umzukehren, Benachteiligungen abzubauen und
die persönliche Autonomie im Sinne selbstverantwortlichen Handelns
zu stärken. Womit einmal mehr die Nahtstelle zwischen Sozialpolitik
und personalen Diensten deutlich wird.
141
ALBERT MÜHLUM
(2) Begriffsbildung – Begriffssystem
Man muß Wissenschaft nicht wie in der extremen Variante des Kritischen Rationalismus als bloßes „Sprachspiel“ betreiben (wie es in Lutz
Rössners „Theorie der Sozialarbeit“ [1973, 1977] geschieht), um die
Bedeutung der Begriffe für die Strukturierung der Wahrnehmung zu
verstehen. Keine Wissenschaft kommt ohne ein eigenes Kategoriensystem aus, in dem präzise definierte Begriffe zu Fachbegriffen werden, die
sachlogisch aufeinander bezogen sind. Der bisherige allenfalls semiwissenschaftliche Charakter der Sozialen Arbeit zeigt sich nicht zuletzt
am Gebrauch der Terminologie aus Nachbardisziplinen. Sprache vermittelt aber bekanntlich nicht nur Realität, sondern selektiert, bestimmt
und verändert sie auch. Auch die identitätsstiftende Wirkung einer gemeinsamen Fachsprache sollte nicht unterschätzt werden. Es ist gewiß
kein Zufall, daß sich berufliche Soziale Arbeit trotz aller Kontroversen
jahrzehntelang über den Hilfebegriff einerseits und die Arbeitsformen
(„Methoden“) andererseits definiert hat.
Wenn das Handlungsfeld und Forschungsfeld „sozialberufliche Praxis“
den Zentralbereich der Sozialarbeitswissenschaft ausmacht, hat auch
die Begriffsbildung sich darauf zu konzentrieren. Und wenn eine wichtige Funktion der Sozialarbeitswissenschaft in ihrer transdiziplinären
Kompetenz bestehen soll, knüpft ihre Terminologie an die einschlägigen Wissenschaftssprachen an, verwendet sie und entwickelt sie weiter.
Es ist nicht nur legitim, sondern sogar wünschenswert, Kategorien und
Termini fächerübergreifend zu verwenden. Zentrale Begriffe, mit denen
wir den Praxisbereich der Sozialen Arbeit erfassen, sind
(a) Hilfe, Unterstützung, Intervention als noch zu präzisierende Umschreibung eines beruflichen Handelns, das immer mehr als professionelle Sozialdienstleistung verstanden wird;
(b) Prozesse der Lebensführung, Lebensbewältigung, Problembearbeitung, die als individuelle Anpassungs- und Integrationsleistung oder als
Bwältigungsverhalten thematisiert werden können;
(c) Erschwerte soziale und ökologische Bedingungen der Lebenswelt,
die als Probleme der Ausstattung, Erziehung, Sicherheit, Gesundheit,
Umwelt oder als Konflikte zwischen unterschiedlichen Ansprüchen definiert werden;
142
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
(d) Psychosoziale Belastungen und Probleme, welche die Problembewältigungskompetenz der Betroffenen subjektiv oder objektiv überfordern.
Gewissermaßen „quer“ zu diesen Kategorien etablieren sich die Handlungsfelder der Sozialen Arbeit nach Zielgruppen, Problemfeldern und
Methoden.
(3) Erkenntnisgewinnung
Neben dem unverwechselbaren Erkenntnisobjekt und einem eigenen
Kategoriensystem sind die Methoden der Erkenntnisgewinnung die
dritte Komponente einer eigenständigen Wissenschaft. Für die Methodologie der Sozialarbeitswissenschaft gilt es einesteils die sozialwissenschaftliche Diskussion der letzten Jahrzehnte aufzuarbeiten (zum Beispiel den Positivismusstreit), andernteils neue Herangehensweisen und
Erklärungsmuster zu entwickeln, die den sich wandelnden Gegebenheiten und Anforderungen im Handlungsfeld entsprechen. Wie folgenreich
die Auswahl oder Organisation von Erkenntnisprozessen ist, wird gern
am Beispiel einer persischen Parabel (Peseschkian 1979, 73 f.) von den
Schaulustigen und dem Elefanten demonstriert:
Man hatte einen Elefanten zur Ausstellung bei Nacht in einen dunklen Raum
gebracht. Die Menschen strömten in Scharen herbei. Da es dunkel war,
konnten die Besucher den Elefanten nicht sehen, und so versuchten sie, seine
Gestalt durch Betasten zu erfassen. Da der Elefant groß war, konnte jeder
Besucher nur einen Teil des Tieres greifen und es nach seinem Tastbefund
beschreiben. Einer der Besucher, der ein Bein des Elefanten erwischt hatte,
erklärte, daß der Elefant wie eine starke Säule sei; ein zweiter, der die Stoßzähne berührte, beschrieb den Elefanten als spitzen Gegenstand; ein dritter,
der das Ohr des Tieres ergriff, meinte, er sei einem Fächer nicht unähnlich;
der vierte, der über den Rücken des Elefanten strich, behauptete, daß der Elefant so gerade und flach sei wie eine Liege.
Auch ForscherInnen und Fachkräfte in der Sozialen Arbeiter tappen
nicht selten im Dunkeln, und wie sie dieses zu durchdringen versuchen,
entscheidet wesentlich über die Qualität ihrer Erkenntnis. Nun hieße es,
Sozialarbeitswissenschaft hoffnungslos zu überfordern, wenn ihr ein
völlig neues, eigenständiges Erkenntnisprogramm abverlangt würde.
Aber auch von ihr muß die Berücksichtigung und adäquate Einhaltung
der Standards erwartet werden, die dem heutigen Stand der Wissen143
ALBERT MÜHLUM
schaftstheorie entsprechen. Und dazu gehören zumindest die Anwendung anerkannter Regeln der Erkenntnisgewinnung und das Bemühen
um Objektivität, um Systematisierung, um intersubjektive Vergleichbarkeit und selbstkritische Reflexion. Sozialarbeitswissenschaft wird
aber selbstverständlich auch unterschiedliche „Schulen“ integrieren
müssen, wie dies an der systematischen Zuordnung vorliegender Praxistheorien zum Beispiel zur kritisch-rationalen, emanzipatorischen und dialektisch-materialistischen Position wiederholt gezeigt wurde (Marburger 1979; Mühlum 1982; Engelke 1992). Daneben sind verstärkt auch
phänomenologische und hermeneutische Forschungsansätze zu würdigen, die nach jahrelanger Dominanz der empirischen Forschung mittlerweile wieder an Bedeutung gewinnen. Erinnert sei an Konzepte des
„deutenden Verstehens“ und des „typologischen Fallverstehens“, die
vor allem in der Sozialpädagogik eine Renaissance erleben.
Ob Sozialarbeitswissenschaft deshalb auch allen Modeerscheinungen
folgen wird, steht auf einem anderen Blatt. So wäre gewiß kritisch zu
fragen, womit sich denn die Soziologie vor der Entdeckung der „Lebenswelt“ und die Erziehungswissenschaft vor der „Alltagswende“ beschäftigt haben. Und wenn vor nicht allzu langer Zeit (bei einem internationalen Colloquium 1992 in Freiburg) – übrigens mit Rückgriff auf die Geschichte vom Elefanten in der Nacht – die Erziehungswissenschaft einen
neuen Forschungsansatz als Partial-Holismus präsentierte („Das Teil
und das Ganze müssen ... gesehen werden“), fragt sich der erstaunte Betrachter schon, wieweit sich zwischenzeitlich die Wissenschaft vom gesunden Menschenverstand entfernt haben mochte. Immerhin ist ein frühes Beispiel der Sozialarbeit die „Person-in-der-Situation“-Perspektive
von Gordon Hamilton.
Andererseits ist es ja durchaus zutreffend, daß neue Herausforderungen,
wachsende Unübersichtlichkeit und immer komplexere Zusammenhänge auch neue Forschungsansätze und vielleicht neue Wissenschaftsparadigmen erfordern. Genau besehen ist dies auch der Auslöser für die Forderung nach Sozialarbeitswissenschaft, die sich unter anderem der Entwicklung, Erprobung und kritischen Prüfung von Forschungsmodellen
im Kontext der Sozialen Arbeit widmen sowie insgesamt als reflexive Instanz für die Theoriebildung in diesem, gleichermaßen heiklen und wichtigen Feld dienen soll. Am Beispiel der sachlogischen Strukturierung eines empirischen Forschungsprozesses oder auch der hermeneutischen
Vorgehensweise („Hermeneutischer Zirkel“) könnte genauer gezeigt
144
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
werden, wie diese Erkenntnisprozesse auf genuin sozialarbeiterische
Probleme anzuwenden sind. Ebenfalls nur hingewiesen werden kann an
dieser Stelle auf die wechselseitige Beeinflussung von Praxis-Theoriebildung-Methodenentwicklung. Aufschlußreich sind dazu gleich drei
Neuerscheinungen im Frühjahr 1994 (alle bei Lambertus): „Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit“ (Heiner u.a.), „Lebensweltorientierte Individualhilfe“ (Pantucek) und „Modernisierung Sozialer Arbeit
durch Methodenentwicklung und -reflexion“ (Groddeck/Schumann).
Übereinstimmend wird darin das methodische Handeln als Schnittstelle
des Theorie-Praxis-Diskurses gesehen, gleichzeitig Movens und Ergebnis theoretischer Arbeit, das bezeichnenderweise „in einem gemeinsamen Prozeß von Praktikerinnen und Forscherinnen“ zu entwickeln sei –
eine Betrachtungsweise in guter Tradition des social work.
(4) Forschungsprogramm
Was Untersuchungsvorhaben und Forschungsstrategien betrifft, sei auf
die nachfolgenden Beiträge verwiesen. Zu betonen ist, daß auf Sozialarbeitsforschung als zentrales Bindeglied zwischen Theorie und Praxis
für die Entwicklung der Sozialarbeitswissenschaft nicht verzichtet werden kann. Ich selbst sehe in der Sozialarbeitsforschung sogar das alles
entscheidende Argument für die „Theoriewürdigkeit“ (Staub-Bernasconi) der Sozialen Arbeit. Man könnte auch „Theorienotwendigkeit“ sagen. Anders formuliert: Sozialarbeitswissenschaft ist vor allem deshalb
notwendig, weil die Nachbardisziplinen in vielen Fällen wichtige Untersuchungen im Kontext der Sozialen Arbeit unterlassen und in anderen
Fällen ihr eigenes Erkenntnisinteresse an die Stelle des sozialarbeiterischen Fokus gesetzt haben. Eine auf Autonomie bedachte Soziale Arbeit
kann deshalb weder auf eigene Theorie noch auf eigene Forschung verzichten, auch wenn sie die verwertbaren Ergebnisse anderer Disziplinen
selbstverständlich konstruktiv mitverwenden wird. Ein Beispiel:
Mir ist keine Untersuchung der psychosozialen Folgen des Zusammenlebens
auf engstem Raum bekannt (im Strafvollzug, im Asylantenheim). Wohl gibt
es die bekannten Experimente der Verhaltensforschung zur Überpopulation
von Ratten, es gibt Erkenntnisse der Massenpsychologie, Sozialpsychologie
und Soziologie. Aber die alltägliche Enge in unterschiedlichen Lebensräumen, dem Feld der Sozialen Arbeit eben, wäre noch genauer zu untersuchen.
Forschung hat hier zum Beispiel die genaueren Bedingungen des Zusam-
145
ALBERT MÜHLUM
menlebens, die Auswirkungen der Enge, Bewältigungsstrategien der Beteiligten und Reaktionen darauf sowie schließlich Konsequenzen für eine
methodenbewußte Soziale Arbeit zu klären. Wobei zu den Konsequenzen
durchaus auch Strategien zur Beseitigung solcher Unterbringungsverhältnisse insgesamt gehören können. Eine besondere Bedeutung und Chance
kommt dabei der teilnehmenden Beobachtung, der Begleitforschung und
Handlungsforschung sowie immer wieder der Evaluation zu (Heiner 1988).
Allgemeiner formuliert: Das Forschungsprogramm hat sich vor allem
auf konkrete Problemstellungen und Problembearbeitungen im sozialen
Feld zu konzentrieren. Das unterscheidet diese Forschung auch von den
Nachbardisziplinen. In „Zwölf Thesen zur Sozialarbeitsforschung in der
Schweiz“ (Meyer/Decurtins 1993) wurde deren Inhalt detaillierter wie
folgt umschrieben:
„1. Inhalt von Forschungsprojekten der sozialen Arbeit soll die Analyse von
sozialen und sozialpolitischen Problemen und Zusammenhängen sein sowie
die Entwicklung und Evaluation von Problemlösungsstrategien, die der Praxis zugute kommen können.
2. Der Beitrag der sozialen Arbeit in der Forschung ist besonders wertvoll
bei Evaluations-, Interventions- und Aktionsforschungsprojekten.
3. In sozialarbeiterischen Forschungsprojekten soll vermehrt die Klientenperspektive berücksichtigt werden. Solche Projekte können dazu beitragen,
soziale Arbeit so zu gestalten, daß sie nicht an den Klientenbedürfnissen vorbeigeht.“
Dem ist aus meiner Sicht kaum etwas hinzuzufügen, allenfalls die Bemerkung, daß die Kollegen mit diesem Forschungsanspruch nicht nur
die Berufspraxis, sondern auch die Ausbildung voranbringen möchten
– auf dem Weg zur Errichtung von Fachhochschulen in der Schweiz. Allerdings ist an dieser Stelle einmal mehr die lückenhafte, zumindest aber
verstreute Präsentation der Ergebnisse bisheriger Sozialarbeitsforschungsprojekte zu beklagen, ebenso die hierzulande fehlende MetaAnalyse solcher Forschungsergebnisse, die in anderen Sozialwissenschaften wie auch im amerikanischen social work research inzwischen
fast selbstverständlich ist.
Abschließend sei wenigstens an die Notwendigkeit erinnert, Forschungskompetenz auch zu erwerben. Da in der Sozialen Arbeit wohl
am ehesten Begleitforschung im Sinne der Handlungsforschung oder
Aktionsforschung realisiert wird, müßten angehende Fachkräfte in der
Sozialen Arbeit schon in der Ausbildung damit vertraut gemacht wer146
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
den. Forschendes Lernen und lehrendes Forschen kommen – zum Beispiel in ausgewählten Lernfeldern oder im Rahmen des Projektstudiums
– an den Fachhochschulen langsam in Gang. Für die Entwicklung der
Sozialarbeitsforschung und der Sozialarbeitswissenschaft, aber auch der
sozialprofessionellen Praxis, ist dies gewiß ein hoffnungsvolles Zeichen.
(5) Sozialarbeitslehre
Im Zusammenhang ihrer ungemein ausdifferenzierten Berufspraxis verfügt Soziale Arbeit über einen Fundus an Wissen, der unterschiedlichen
Reflexionsgraden und Theorieanforderungen entspricht: Alltagserfahrungen und Expertenwissen, geprüfte Hypothesen und ganze Satzsysteme, die im sozialprofessionellen Kontext erarbeitet wurden. Soweit ein
Mindestmaß an Systematik gewährleistet und die Regeln wissenschaftlichen Arbeitens eingehalten wurden, kann von Theorien für die Praxis
oder kurz: von „Praxistheorien“ gesprochen werden, die inzwischen in
beachtlicher Zahl und Variationsbreite vorliegen (zum damaligen Stand
siehe: Mühlum 1982; Engelke 1992). Ihre Integration unter dem gemeinsamen Dach der Sozialarbeitswissenschaft muß allerdings noch geleistet
werden, will man die Wissensbestände nicht einfach ungeprüft als deren
Bauelemente verwenden. Jedenfalls geben diese Praxistheorien mit ihren Begriffen, Untersuchungsperspektiven, Vorgehensweisen und Ergebnissen eine Grundlage für die sogenannte Sozialarbeitslehre her, die
– ergänzt um methodische Handlungsanweisungen und Arbeitsformen
– als „Kunstlehre“ für die Ausbildung im Sozialwesen zuständig ist.
Wurden bisher meist nur die Anweisungen für methodenbewußtes Handeln („Methodenlehre“) als Gegenstand einer eigenen Sozialarbeitslehre
gesehen, plädiere ich seit längerem dafür, auch die übrigen Praxistheorien zu sichten (eine weitere Aufgabe der Sozialarbeitswissenschaft) und
– je nach Erklärungswert und Bedeutungsgehalt – in die Sozialarbeitslehre zu integrieren. Schließlich handelt es sich dabei um teils frühe, teils
sehr partielle Versuche einer theoretischen Selbstvergewisserung der
Sozialarbeit, die mehr als bloß historische Bedeutung haben. Wie in anderen Sozialwissenschaften führt dies zu einem dreistufigen System von
Praxis – Lehre – Wissenschaft, in dem sich die drei Systemebenen wechselseitig beeinflussen (siehe jüngst: Papenkort/Rath 1994).
Die von Wolf Rainer Wendt im vorstehenden Beitrag referierte Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit zur inhaltlichen und be147
ALBERT MÜHLUM
grifflichen Ausgestaltung der Lehre an Fachhochschulen und Universitäten läßt eher die noch vorherrschende Vermischung von Lehre und
Wissenschaft erkennen, obwohl genauer nach der Verbreitung von Sozialarbeitswissenschaft gefragt war. Auch diese Verwirrung im Verständnis weist auf die Notwendigkeit einer Leitwissenschaft für Ausbildung und Lehre hin. Im Unterschied zur Sozialarbeitswissenschaft, die
sich grundsätzlicher mit Fragen der Theoriebildung und der Gewinnung
neuer Erkenntnisse zu beschäftigen hat (und gewiß auch eine reflexive,
„metatheoretische“ Instanz ist), müßte die Sozialarbeitslehre im wesentlichen die Vermittlung anwendungsbezogener Kenntnisse und Fertigkeiten leisten, was um so überzeugender gelingen dürfte, je klarer sich
die Sozialarbeitswissenschaft als anwendungsbezogene Wissenschaft
präsentiert. Und doch muß auch warnend darauf hingewiesen werden,
daß Theoriebildung sich nicht im „Relevanzkriterium“ erschöpft, daß
die praktische Verwertbarkeit theoretischer Erkenntnisse also nicht der
einzige Maßstab wissenschaftlicher Arbeit sein kann. Zwischen der reinen Grundlagenforschung einerseits und der bloßen Anwendungsorientierung andererseits sind gewiß viele Zwischenformen möglich. Welchen Weg die Sozialarbeitswissenschaft schließlich gehen wird, ist
noch weitgehend offen. Ein dialogischer Theorie-Praxis-Bezug und
eine problembewußte Sozialarbeitslehre gehören nach meiner Überzeugung jedoch unverzichtbar dazu.
4. ZUSAMMENFASSUNG: SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT ALS DISZIPLIN
Die Bedeutung einer eigenen Wissenschaftsdisziplin für Soziale Arbeit
sollte ebenso deutlich geworden sein wie das Theorie-Praxis-Dilemma
und die vielfältigen Hemmnisse auf dem Weg der Disziplinwerdung.
Auch wenn dieser Sachverhalt nicht eigens ausgeführt wurde, darf die
prinzipielle Interessengebundenheit des Anliegens (einschließlich der
Abwehr, auf die es trifft) nicht übersehen werden, wozu nicht zuletzt
auch institutionelle Vorentscheidungen und Machtpositionen gehören.
Erinnert sei nur an die Besetzung von Lehrstühlen, die Frage vollakademischer Abschlüsse (Promotion), den Berufsstatus einerseits sowie die
Fachhochschulrealitäten andererseits. Mit dem Versuch einer Standortbestimmung und der Skizze des anstehenden Wissenschaftsprogramms
wurde jedoch eine Perspektive vorgeschlagen, die dem Wissenschaft148
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
lichkeitspostulat für Soziale Arbeit viel grundsätzlicher gerecht werden
will. Das soll in dieser Zusammenfassung noch einmal deutlich werden.
(1) Sozialarbeitswissenschaft in der Ausbildung und für die Praxis
Zur Disziplinwerdung braucht es derzeit in erster Linie die Entschlossenheit, Sozialarbeitswissenschaft zu wollen und – wo immer möglich
– offensiv zu vertreten. Ich bin überzeugt davon, daß dies im gemeinsamen Interesse von Ausbildung und Berufspraxis ist. Paradoxerweise
könnte in dieser Frage die „Praxis“ derzeit sogar durchsetzungsfähiger
sein als die Fachhochschulen, die sich überwiegend mit dem – je nach
Standpunkt – multidisziplinären oder „disziplinlosen“ Status quo abgefunden haben. Das Vorgehen der amerikanischen National Association
of Social Workers (NASW), die selbst die Wissenschaftsentwicklung in
den USA zum Beispiel mittels Zeitschriften und ihrer „Encyclopedia of
Social Work“ kräftig beeinflußt, könnte für den endlich fusionierten
deutschen Berufsverband (DBSH) auch in dieser Hinsicht ein Modell
sein. Die Fachhochschulen ihrerseits sind aufgefordert, sich zumindest
mit dem Anspruch einer eigenen Sozialarbeitswissenschaft auseinanderzusetzen, sich an der inhaltlichen Weiterentwicklung zu beteiligen
und auch ganz konkret den Begriff zu verwenden. Wo immer „Einführung in Sozialarbeit“, „Methodenlehre“ oder „Sozialarbeitslehre“ auf
dem Studienplan steht, müßte auch von Sozialarbeitswissenschaft gesprochen (Maier 1993, 22) und bei Stellenausschreibungen vorrangig an
die Einrichtung von SozialarbeitswissenschaftlerInnen-Stellen gedacht
werden. Von entscheidender Bedeutung wird sein, ob es gelingt, die
Notwendigkeit und die Leistungsfähigkeit dieser neuen Disziplin für
Ausbildung und Praxis der Sozialen Arbeit zu beweisen.
Wir sind wissenschaftlich in der Sozialarbeit wie Doktor Faustus auf der
„Suche“, zwar nicht unbedingt nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, stattdessen nach dem, was die Praxis und die Theorie der
Sozialen Arbeit ausmacht und welches gemeinsame Band, welche einigende Perspektive sie verbindet. Dazu gehört auch die Frage nach der erhofften Integrationsleistung im vielstimmigen Konzert der Fachdisziplinen – im einfachsten Falle wohl als Bindeglied oder Transmissionsriemen zum Wissenstransfer zwischen den beteiligten Nachbarwissenschaften, im besten Falle als transdisziplinäre Leitwissenschaft, die den „Hilfs“Wissenschaften in der Ausbildung sinnvolle Aufgaben und Untersuchungsvorschläge zu unterbreiten und Anfragen in sozialarbeiterischer
149
ALBERT MÜHLUM
Absicht zu stellen hätte. Klärungsbedürftig ist dafür nach wie vor das Proprium der Sozialen Arbeit, ihr ureigenstes Anliegen, das sie von allen anderen Funktionsbereichen der Gesellschaft unterscheidet. Von beliebigen
Nachbardisziplinen kann die Antwort jedenfalls nicht kommen. Mit einem eigenen, unverwechselbaren Erkenntnisobjekt, fachspezifischem
Begriffssystem und adäquaten Methoden der Erkenntnisgewinnung stellt
sich die Sozialarbeitswissenschaft dieser Herausforderung. Gewiß ist sie
die einzig schlüssige Antwort mit Blick auf ein reformiertes Sozialarbeitsstudium, das die Disziplinlosigkeit der Ausbildung überwindet und
sich selbstbewußt und aufgabengetreu an einer eigenen Wissenschaftsdisziplin orientiert. Erst darüber wird schließlich auch die Identifikation
von Studierenden mit Sozialer Arbeit möglich. Wissenschaftlerinnen, die
im Idealfall eine Praxis und eine Theorie der Sozialen Arbeit repräsentieren, können als Fachhochschullehrerinnen am ehesten das schmerzlich
vermißte Lernmodell sein, an dem sich ein einschlägiges Berufsverständnis entwickelt. Die Durchsetzung der eigenen Wissenschaft ist schließlich eine Grundvoraussetzung wissenschaftlicher Ausbildung, anerkannter Professionalität und gesellschaftlicher Wirksamkeit – auch im Kontext benachbarter akademischer Berufe. Die berufliche Praxis wird in
dem Maße Profil und professionelle Anerkennung gewinnen, in dem sie
auf originärer wissenschaftlicher Grundlage, theoriegeleitet und reflektiert, arbeiten kann. Sozialarbeitswissenschaft hat dafür Garant, Legitimation und Prüfinstanz zugleich zu sein. Sie kann auch der klar identifizierbare Partner der Praxis werden, der den allseits geforderten Dialog
von Wissenschaft und Praxis in Gang bringt. Sozialarbeitsforschung – als
Instrument eines solchen Zusammenwirkens – würde ihrerseits gewährleisten, daß die jeweils drängenden Praxisprobleme untersucht und die
Erkenntnisse unverzüglich in der Sozialarbeitslehre weitergegeben werden. Adäquate Handlungsstrategien und Methoden sind daraufhin zu erproben und in ständiger Überprüfung weiterzuentwickeln. Die Klientenperspektive kann unter diesen Voraussetzungen ebenso konsequent einbezogen werden wie die Berufsperspektive und die gesellschaftliche Perspektive. Schließlich wären Ursachenforschung, Interventionsforschung
und Evaluationsforschung gleichermaßen – und zwar mit originärem sozialarbeiterischem Fokus – zu gewährleisten, was bisher leider nicht der
Fall ist. Insgesamt gewinnen die Fachkräfte der Sozialen Arbeit auf diese
Weise an Handlungs- und Methodensicherheit, Professionalität und Berufsidentität – mit allen positiven Auswirkungen für die Entwicklung der
Arbeit vor Ort und im Interesse der Klientel.
150
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Wenigstens hingewiesen sei abschließend noch auf die gesellschaftliche
Bedeutung der Sozialarbeitswissenschaft. Die Überwindung der „disziplinären Heimatlosigkeit“ liegt ja nicht nur im Interesse der Ausbildung
und der Praxis. Sie könnte auch segensreich für die Gesellschaft sein,
die der Staatszielbestimmung von Artikel 20 und 28 GG – mit Blick auf
die Schwächsten der Gesellschaft – bisher nur sehr bedingt gerecht
wird. Gemäß Sozialstaatsgebot hat die Sozialarbeitswissenschaft nicht
nur zur Optimierung gesellschaftlich organisierter Hilfe beizutragen
(Effizienzkriterium), sondern im positiven Falle auch die Überzeugung
von der Richtigkeit und Gerechtigkeit dieser Gesellschaftsordnung zu
stützen (Legitimationskriterium), im negativen Falle die Herstellung sozialer Gerechtigkeit einzufordern (Reformationskriterium) – Aufgaben,
die am Beispiel der Armutsberichterstattung zweifellos von besonderer
Aktualität sind.
(2) Praxis – Lehre – Wissenschaft
Die Disziplinwerdung selbst beinhaltet – wie in allen Sozialwissenschaften – eine Stufenfolge: Ausgehend von Sozialer Arbeit als einer
spezifischen gesellschaftlichen Praxis (Praxis der Sozialen Arbeit), ist
methodisch gewonnenes Erklärungswissen (Theorie der Sozialen Arbeit) zu formulieren, das gemeinsam mit den Arbeitsformen eine Handlungslehre (Sozialarbeitslehre) begründet. Hinzu kommen Reflexionen
über dieses theoretische Bemühen (Metatheorie) und Grundsätze der
Erkenntnisgewinnung (Methodologie). Zusammengenommen konstituiert der „theoretische Überbau“ etwa nach der in Abbildung 4 dargestellten Stufenfolge die Sozialarbeitswissenschaft.
Die Praxis der Sozialen Arbeit umfaßt die spezifische Lebenspraxis der
Klienten, ihre Lebenswelt und die sozialprofessionelle Praxis. Sie wird
nicht von der Wissenschaft bestimmt – könnte aber durch eine anerkannte Sozialarbeitswissenschaft nachhaltig beeinflußt werden. Definiert wäre sie als gesellschaftlich organisierte, professionell ausgeübte
Einflußnahme zur Verbesserung der Lebenslage und der Lebensbewältigung von einzelnen und Gruppen angesichts erschwerter Lebensbedingungen. Professionelle Praxis verweist dabei schon auf eine prinzipiell reflektierte Praxis, die sich selbstverständlich auch einschlägiger
Praxistheorien bedienen wird.
151
ALBERT MÜHLUM
Abbildung 4: Stufenmodell
Sozialarbeitswissenschaft i.e.S.
Metatheorie
Praxistheorien
Sozialarbeitswissenschaft
i.w.S.
Sozialarbeitslehre
reflektierte Praxis
Sozialarbeit als spezielle gesellschaftliche Praxis
Praxis der
Sozialarbeit
Die Sozialarbeitslehre hat vor allem für die Weitergabe der Praxistheorien, Praxismodelle und Praxismethoden (Arbeitsformen) an den beruflichen Nachwuchs (Ausbildung) und für die Weiterqualifizierung der beruflich Tätigen (Fort- und Weiterbildung) zu sorgen. Sie wird dazu vorläufig bewährte Erkenntnisse/Theorien auswählen und didaktisch aufbereiten sowie umgekehrt Anfragen und Problemstellungen aus der Praxis
aufgreifen und der Sozialarbeitsforschung zur Untersuchung empfehlen.
Insofern nimmt sie an der Wissenschaftsentwicklung aktiv teil – mit einer
Scharnierfunktion zwischen Praxis und Wissenschaft (siehe Abb. 5a).
Abbildung 5a: Sozialarbeitslehre
Sozialarbeitslehre
Praxistheorien
Praxismodelle
Praxismethoden
Die Sozialarbeitswissenschaft ist vorstellbar als angewandte Einzelwissenschaft, die im Orchester der Fachdisziplinen einen bestimmten Part
unter vielen ausführt, oder als Leitwissenschaft, die gewissermaßen die
erste Geige spielt, also das Leitmotiv vorgibt, dem die anderen mit ihren
spezifischen Mitteln zu folgen hätten. Hugo Maier (1993) plädiert beispielsweise für eine Allgemeine Sozialarbeitswissenschaft, die sich mit
Grundlagenfragen beschäftigt, theoretische Erkenntnisse systematisch
aufarbeitet und auch das Verhältnis zu den Nachbardisziplinen klärt. Neben der Allgemeinen Sozialarbeitswissenschaft wären dann Spezialisierungen notwendig, die durchaus als „Bindestrich-Disziplinen“, zum Bei152
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
spiel als Sozialarbeitspsychologie und Sozialarbeitssoziologie, vorstellbar sind. Ulrich Papenkort und Matthias Rath (1994) unterscheiden
dagegen eine Sozialarbeitswissenschaft im engeren Sinne (Deskription
und Theorie) und im weiteren Sinne (unter Einschluß der Methodenlehre). Welche Variante man auch bevorzugt, das eigenständige Profil der
Sozialarbeitswissenschaft wird vom gewählten Erkenntnisobjekt, den
Erkenntnismethoden und überzeugenden Praxistheorien bestimmt, für
die sie in gewisser Weise verantwortlich bleibt (siehe Abbildung 5b).
Abbildung 5b: Sozialarbeitslehre
Sozialarbeitswissenschaft
Metatheorien
Theorie der
Sozialen Arbeit
Methodologie
Sozialarbeitswissenschaft und Sozialarbeitslehre stehen in einem Verhältnis der Wechselbeziehung, das – auf anderer Ebene – dem TheoriePraxis-Verhältnis ähnelt (wie die Symmetrieachse in Abbildung 5c andeuten soll). Im übrigen muß Sozialarbeitswissenschaft den unterschiedlichen Wissenschaftsansprüchen gerecht zu werden versuchen,
die oben skizziert wurden, das heißt sie muß empirisch, anwendungsfähig, kritisch, interventionsorientiert und normativ zugleich sein. Eine
schier unlösbare Aufgabe, die in der Realität wohl immer nur teilweise,
mit je unterschiedlicher Akzentuierung, zu bewältigen ist. Eine Sozialarbeitswissenschaft als Einzelwissenschaft oder Grundlagenwissenschaft mit dem Fokus „Lebensbewältigung unter erschwerten Bedingungen“ hat sowohl ganz grundsätzliche anthropologische Erkenntnisse
als auch konkrete gesellschaftliche Bedingungen und Anforderungen
im Kontext der Sozialen Arbeit zu berücksichtigen. Dazu wäre im
Grundsätzlichen bei den Kardinalproblemen menschlicher und gesellschaftlicher Existenz anzusetzen:
(a) Individuum versus Gesellschaft – mit der Forderung nach sozialer
Integration;
(b) Freiheit versus Unfreiheit – mit der Forderung nach Selbstbestimmung;
153
ALBERT MÜHLUM
(c) Gleichheit versus Ungleichheit – mit der Forderung nach Verteilungsgerechtigkeit und Partizipation;
(d) Sicherheit versus Unsicherheit mit der Forderung nach Lebensbewältigung und Daseinsvorsorge;
(e) Anerkennung versus Ablehnung/Diskriminierung – mit der Forderung nach sozialer Wertschätzung und Integration;
(f) Sinnhaftigkeit versus Sinnverlust/Orientierungslosigkeit – mit der
Forderung nach einem sinnerfüllten Leben.
In der Summe könnte man so die Integration der Segregation und ein gelingendes Leben dem Scheitern gegenüberstellen. Dieses prinzipielle
Spannungsverhältnis, das in dialektischer Sicht leicht erweitert werden
könnte, macht verständlich, weshalb gesellschaftliche Interventionen
vom Typus „Hilfe – Fürsorge – Soziale Arbeit“ in jeder hochdifferenzierten Gesellschaft erforderlich sind, unabhängig von der jeweiligen
Gesellschaftsordnung, und zwar sowohl im Interesse der Betroffenen
als auch der Gesellschaft: Auf der gesellschaftlichen Ebene erscheinen
sie als sozioökonomische und soziokulturelle Konflikte (Strukturprobleme), auf der Interaktionsebene als Beziehungsstörungen und psychosoziale Konflikte (Bewältigungsprobleme).
Abbildung 5c: Sozialarbeitswissenschaft und Sozialarbeitslehre
Sozialarbeitswissenschaft
Metatheorien
Theorie der
Sozialen Arbeit
Methodologie
Praxistheorien
Praxismodelle
Praxismethoden
Sozialarbeitslehre
154
NOTWENDIGKEIT UND PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Berufliche Soziale Arbeit war sich in ihrer Geschichte dieser Doppelaufgabe immer bewußt und versuchte, sie „ganzheitlich“ zu bewältigen,
das heißt zwischen individuellen und gesellschaftlichen Anliegen zu
vermitteln. Da ihr dieser Spagat offenbar auf Dauer zugemutet wird,
kann ihr die wissenschaftliche Unterstützung nicht länger vorenthalten
werden. Die Sozialarbeitswissenschaft ist überfällig. Sie kann abschließend im Überblick wie in Abbildung 6 skizziert werden. Sozialarbeitswissenschaft umfaßt demnach Theorie der Sozialen Arbeit, Metatheorie
und Methodologie. Auf der metatheoretischen Ebene wird vorzugsweise
die Erkenntnistheorie behandelt. Je nach Standort können dort Kritischer
Rationalismus (Empirie), Kritische Theorie (Dialektik), Historie, Hermeneutik oder Phänomenologie vertreten sein oder eine der zahlreichen
Zwischenformen. Auf der Ebene der Theorie der Sozialen Arbeit wird
von einzelnen Praxistheorien ausgegangen, die sich aus reflektierter Praxis, Expertenwissen und Praxisforschung aufbauen, von Theorien mit
deskriptivem, explikativem, komparativem oder normativem Anspruch,
welche die eigentliche Praxislehre begründen. In der Methodologie werden Wege gewiesen, auf denen Erkenntnis gewonnen werden kann. Diesem wissenschaftlichen Anspruch entspricht in der Ausbildung die Methodenlehre, die von Praxismodellen, bewährten Arbeitsformen, Konzeptionen und Techniken ausgeht, die je nach Problemladung präventiv
oder interventiv oder rehabilitativ ausgerichtet sein können. Praxislehre
und Methodenlehre konstituieren die Sozialarbeitslehre, die ihrerseits
als eine Vermittlungsinstanz der Sozialarbeitswissenschaft verstanden
werden könnte.
155
ALBERT MÜHLUM
Abbildung 6: System der Sozialarbeitswissenschaft
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Metatheorie
Theorie der
Sozialen Arbeit
Methodologie
Empirie
- kritischer Rationalismus
Praxistheorien
- Praxisforschung
- Expertenwissen
- reflektierte Praxis
Praxismodelle
- Arbeitsformen
- Konzeption
- Arbeitstechniken
deskriptiv
komparativ
explikativ
normativ
präventiv
interventiv
rehabilitativ
kurativ
Dialektik
- kritische Theorie
Historie
Hermeneutik
Phänomenologie
Praxislehre
Methodenlehre
SOZIALARBEITSLEHRE
Eine Schlußbemerkung: Beim derzeitigen Stand der Suchbewegungen
und Verselbständigungsbemühungen ist im Interesse der Sozialarbeitswissenschaft ein ständiger Austausch der Wissenschaftler untereinander und mit Praxisvertretern notwendig. Auf der Ebene der Fachhochschulen, des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge
und der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit hat diese Zusammenarbeit im Jahr 1993 begonnen und sollte institutionalisiert werden. Das
gleiche gilt für die Sozialarbeitsforschung. Angesichts der eher zufälligen und weitgestreuten Publikationen bisheriger Forschungsergebnisse
und der eher seltenen grundlagentheoretischen Arbeiten wäre ein zentrales Publikationsorgan wünschenswert, das als Forum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und der Weiterentwicklung dient.
Ohne neue Formen der Kooperation und ohne einen neuen Anlauf zur
Emanzipation der Sozialen Arbeit kommt auch ihre Wissenschaft nicht
gut voran. Es liegt an der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Lehrenden und Forschenden, ob sie den Schritt zur konkreten Utopie wagt.
156
Einige Thesen zur Begründung und Anlage
einer Sozialarbeitswissenschaft
Peter Erath und Hans-Jürgen Göppner
1. AUSGANGSTHESE
Die Notwendigkeit und Bedeutung einer eigenständigen Sozialarbeitswissenschaft ist in den letzten Jahren immer wieder begründet und betont worden (Zacher 1992; Erath 1993; Greca 1993; Pfaffenberger
1993). Trotzdem konnte bis heute in der Sache der Institutionalisierung
kein durchschlagender Erfolg erzielt werden. Die Gründe dafür scheinen derzeit vor allem in unangemessenen Dominanzansprüchen seitens
der universitären Sozialpädagogik zu liegen. Denn deren um ihren Einfluss und ihre Stellung fürchtende VertreterInnen wollen dagegen – aus
Furcht vor einem Bedeutungsverlust – das gesamte Terrain der „Sozialen Arbeit“ für sich beanspruchen und in der Diskussion lediglich einen
Streit um unterschiedliche Terminologien sehen (insb. Thiersch 1994,
144).
Die Verhinderung der Etablierung einer Sozialarbeitswissenschaft muss
aber auf Dauer gravierende Folgen für die gegenwärtige Praxis der Sozialarbeit haben: Dringend notwendige Reformen und Verbesserungen
des Systems Sozialer Hilfen kommen nur zögernd voran (Hinte 1990;
Rauschenbach 1993), insbesondere ökonomische Denkmodelle werden
in Ermangelung eigener, sozialarbeitswissenschaftlicher, zunehmend
ungeprüft übernommen und umgesetzt, der Anschluss an internationale
Entwicklungen wird verpasst, kurz, die Herausforderungen der Gegenwart werden nur unzureichend angenommen.
Soll die Etablierung einer Sozialarbeitswissenschaft wirklich ernsthaft
vorangetrieben werden, so müssen zwei Argumentationslinien vertieft
werden, die im folgenden nur ansatzweise ausgeführt werden können:
Es geht darum, zum einen die Dominanz des sozialpädagogischen Paradigmas in der Sozialarbeit zu beenden (Kap. 2) und zum anderen, die
konkreten Aufgabenstellungen einer Sozialarbeitswissenschaft deutlicher zu konturieren (Kap. 3).
157
PETER ERATH UND HANS-JÜRGEN GÖPPNER
2. ABSCHIEDNAHME VON DER DOMINANZ DES
SOZIALPÄDAGOGISCHEN PARADIGMAS IN DER SOZIALARBEIT
2.1 Die vier Ziele des modernen Sozialstaats
Die derzeitigen, vom modernen Sozialstaat zum Beispiel auch in Form
von Sozialarbeit zur Verfügung gestellten Hilfen lassen sich heute nur
noch zu einem geringen Teil sozialpädagogisch begründen. Diesem
Faktum tragen die Sozialgesetzbücher vor allem mit dem Begriff der
Dienstleistungsorientierung Rechnung. So werden etwa in § 11 des ersten Sozialgesetzbuches die persönlichen erzieherischen Hilfen als „zu
den Dienstleistungen“ gehörig bezeichnet, und der Neunte Jugendbericht der Bundesregierung schließt sich dieser Auffassung an: Gefordert
wird eine „Jugendhilfe als Dienstleistung“, die der aus der Individualisierung und Pluralisierung der Lebenslagen resultierenden „adressatenspezifischen Nachfrage“ nach „Dienstleistungen“ seitens der von „biographischen Wechselfällen“ betroffener Kinder und Jugendlicher
(Neunter Jugendbericht 1994, 582f) entspricht.
Es kann nicht verwundern, dass – soll der Dienstleistungsanspruch bereits für Kinder und Jugendliche gelten – es in den Bereichen der Hilfen
für Erwachsene zu einer noch weitergehenden Ausformulierung dieses
Anspruches kommt. So wurde insbesondere im Pflegebereich dieser
Rechtsanspruch auf eine optimale Dienstleistung weiterentwickelt. Die
Träger der verschiedenen Maßnahmen werden hier sogar darauf verpflichtet, die Qualität ihrer eigenen Maßnahmen abzusichern und durch
externe Berater überprüfen zu lassen (Qualitätssicherung, § 80 SGB
XI), zudem müssen sie sich regelmäßigen „Wirtschaftlichkeitsprüfungen“ (§ 79 SGB XI) unterziehen. Vorbei sind offensichtlich die Zeiten,
in denen die (sozialpädagogischen) HelferInnen und ihre Träger als sakrosankt galten und ihr Verhalten keinesfalls kritisiert werden durfte.
Haisch hat diese alte Denkweise wie folgt beschrieben:
„Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren aufgerufen, mit gegebenen
Sachmitteln und Personal ein Optimum an Leistung zu erzielen und in der
inhaltlichen Gestaltung der Arbeit im wesentlichen auf ihr persönliches
Engagement und ihre persönliche (vom Betrieb her gedacht relativ zufällige)
Qualifikation zu bauen. Ziele wurden meist nur sehr abstrakt geplant und
eingefordert – oder gar nicht aufgestellt. Die kritische Frage nach dem in der
Dienstleistung Erreichten war da eher die nachträgliche Reflexion, ob man
158
EINIGE THESEN ZUR BEGRÜNDUNG EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
„unter den gegebenen Ressourcen auch wirklich alles Mögliche getan hat“ –
eine sehr unscharfe, prinzipiell nur persönlich von jeder Mitarbeiterin und
jedem Mitarbeiter für sich selbst beantwortbare Frage (da hat jeder „sein“
0ptimum!)“ (Haisch 1994, 85).
Es ist davon auszugehen, dass sich in Zukunft die damit angedeutete
Tendenz eher noch verstärken wird, Hilfeangebote, über deren Annahme der betreffende Hilfeberechtigte dann autonom entscheiden kann,
auf einem freien oder halbstaatlichen Markt zur Verfügung zu stellen.
Die Mehrzahl der dabei möglichen Hilfen, die auf Zielen beruhen, die
durch den modernen Sozialstaat definiert sind, lassen sich aber keinesfalls auf die Erweiterung von Kompetenz reduzieren. Sie sind – im Gegenteil – weit umfassender. Sie lauten:
„Erstens: ein Existenzminimum für jedermann, zweitens: mehr Gleichheit –
weniger Abhängigkeit, Begrenzung der Wohlstandsdifferenzen und vor
allem Chancengleichheit; drittens: Sicherheit der Deckung außergewöhnlicher Bedarfe und des erreichten Lebensstandards auch in den sogenannten
‚Wechselfällen des Lebens‘; viertens: Hebung des Wohlstandes und Ausbreitung der Teilhabe daran“ (Zacher 1992, 361).
2.2 Das Problem der Definitionsmacht
über den Begriff der Hilfebedürftigen
Zacher (1992, 361ff.) hat auch auf die „objektive Ungewissheit“ des Sozialen und damit die Gefahr hingewiesen, dass vor allem der Lehrende
im Bereich des Sozialwesens versucht sein könnte, „das zu lehren …“,
was er für „sozial“ hält. Dies geschieht aus einer sozialpädagogischen
Denkweise heraus, die glaubt, stellvertretend für den Schwachen Partei
ergreifen zu müssen. Faktisch ist dies aber gerade in einer werteoffenen
und pluralen Gesellschaft weitgehend unmöglich, da
1. es an Maßstäben fehlt, Not eindeutig zu charakterisieren und etwa
von Nicht-Not zu unterscheiden. Bei der Benennung von Not beziehungsweise Nicht-Not beziehungsweise der daraus resultierenden Hilfe
beziehungsweise Nicht-Hilfe können wir im Wohlfahrtsstaat immer nur
relativ dezisionistisch vorgehen, da sich die Vielfalt dessen, was als
„sozial“ gedacht werden kann, immer neu umwälzt (Zacher 1992, 361),
2. sich aus der exakten Beschreibung einer Not nicht eindeutig auf mögliche durchzuführende Maßnahmen schließen lässt, die der Not ein
159
PETER ERATH UND HANS-JÜRGEN GÖPPNER
Ende machen können beziehungsweise das Leben der Klienten „gelingender“ (Thiersch 1986) werden lassen,
3. die Gefahr besteht, dass die Übernahme der Stellvertreterrolle durch
eine sich sozialpädagogisch gerierende Hilfe lediglich zum Entdecken
immer neuer Formen der Hilfebedürftigkeit und damit verbunden zur
Legitimation neuer Dienste führt. Zuletzt kann das professionelle burnout nur die Konsequenz sein, da das permanente Entdecken neuer Notzustände verbunden mit dem Nichtlösen der alten, in der Tat zu Erschöpfungszuständen führen muss.
Heute gibt es in der Regel nurmehr zwei Wege, um Hilfebedürftigkeit
und darauf abgestimmte Maßnahmen nachhaltig zu begründen:
1. Rechtliche Grundlagen garantieren relativ eindeutig formulierte und
auf Dauer gestellte professionelle Hilfeleistungen, oder
2. Es gelingt den Betroffenen alleine beziehungsweise der Sozialarbeit
mit den Betroffenen zusammen, Hilfeanspruch und Hilfeleistungen
plausibel zu machen und die Finanzierung von Maßnahmen zu deren
Erfüllung kurz- beziehungsweise mittelfristig politisch abzusichern.
Gerade aber in diesem zweiten Punkt sind die PolitikerInnen heute zunehmend misstrauischer geworden. Beklagt wird auch, dass die Sozialpädagoglnnen sich hier selbst bedienen, indem sie „clever genug sind,
eine Initiative zu gründen“ und sich dann für die Tätigkeit bezahlen lassen (Süddeutsche Zeitung Nr. 163, 18.07.1995, 44).
2.3 Das Ende des sozialpädagogischen Stellvertreteranspruchs
Damit aber wird das sozialpädagogische Mandat der Sozialen Arbeit
heute in den meisten Bereichen der Erwachsenenhilfen, zunehmend aber
auch in einigen Bereichen der Jugendhilfe obsolet. Unter diesem Mandat
kann man die insbesondere von Herman Nohl als selbstverständlich geäußerte Vorstellung verstehen, die Sozialpädagoglnnen kennten nicht
nur die „Not“ des Hilfebedürftigen, sondern wüssten selbstverständlich
auch, wie dieser zu begegnen sei: „Es soll ihm (dem Kind, dem Hilfebedürftigen, P. E.) nichts Fremdes eingebildet werden, sondern die Lebensform, zu der sie führen will, muss die Lösung seines Lebens sein.
So fordert die pädagogische Liebe Einfühlung in das Kind (den hilfebedürftigen Menschen, P. E. ) und seine Anlagen, in die Möglichkeit seiner
160
EINIGE THESEN ZUR BEGRÜNDUNG EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Bildsamkeit, immer im Hinblick auf sein vollendetes Leben …, realistisches Sehen und idealistisches Wollen sind hier auf das innigste verbunden“ (Nohl 1933, 136).
Mollenhauer (1964) hat diese Denkweise dann aufgenommen und präzisiert: „Von ihrem (gemeint ist die Sozialpädagogik, P. E.) Beginn an
und in allen ihren Formen war sie ein Antworten auf Probleme dieser
Gesellschaft, die der Sozialpädagoge zu Erziehungsaufgaben umformulierte“ (19). Allerdings erfährt diese Sozialpädagogik, die Mollenhauer
im übrigen eindeutig als eine „Theorie der Jugendhilfe“ (13) charakterisiert, im Gegensatz zu Nohl eine gesellschaftskritische Ausweitung,
die den „Umfang dessen, über das erzieherisch nachgedacht und das in
das erzieherische Handeln mit einzubeziehen ist, enorm erweitert“ (21).
Nun gehört „alles, was die Veränderung der Person bewirken kann und
der Planung zugänglich ist, ...zur Erziehungswirklichkeit ...Das Charakteristische dieser neuen Praxis ist, dass der Erzieher als persönlich in bestimmter Richtung Beeinflussender zurücktritt, wenngleich er dadurch
auf seine pädagogische Willensrichtung nicht verzichtet, sie vielmehr
gerade in den Bedingungen manifest werden lässt, die ein gesundes Heranwachsen ermöglichen sollen“ (22).
Im Konzept der „Kritischen Sozialpädagogik“ präzisiert Mollenhauer
diese sozialpädagogische Denkweise lediglich. Die „sozialpolitische
Erziehungsrichtung“ zielt demnach nicht nur im „direkten Weg auf den
Einzelnen“ und dessen Veränderung, sondern auch auf die „Veränderung der Erziehungsbedingungen (Stadtteilarbeit, Gemeinwesenarbeit,
politische Aktion)“. Genau darin wird dann seiner Ansicht nach „das
enge Verhältnis zwischen Sozialpädagogik, Institutionenkritik, Sozialstaatsproblematik und ökonomischen Problemen“ (Mollenhauer 1973,
294 f.) begründet.
Ein zeitgenössischer Vertreter dieser Position ist Thiersch (1986; 1992;
1994), der in seinem alltagsorientierten Konzept davon ausgeht, Sozialpädagogik (seit 1992 verwendet er den Begriff „Soziale Arbeit“) habe
nicht nur einen Beitrag zu einem „gelingenderen Leben“ (1986, 37) zu
leisten, sondern müsse auch in der Lage sein, bezüglich der Maßnahmen
und Ziele Sozialer Arbeit die „elementare Unterscheidung von wahr und
falsch“ zu treffen und „die Verantwortung für solche Unterscheidungen“ zu übernehmen (54). Auch wenn Thiersch dann diese Vorrangstellung des Sozialpädagogischen wiederum dadurch einschränkt, dass er
einräumt, das soziale professionelle Handeln müsse sich der Kritik des
161
PETER ERATH UND HANS-JÜRGEN GÖPPNER
Alltags stellen (49), so bleibt doch erkennbar, dass er am sozialpädagogischen Paradigma bis heute festhält. Allerdings verwendet Thiersch
hier öfter (um alle Anklänge an Begriffe wie „pädagogisch“, „erzieherisch“ etc. zu vermeiden) Begriffe wie „reflexive Arbeit“ der SozialpädagogInnen beziehungsweise „kritische Selbstreflexivität der Sozialpädagogik“ (247). Auch bei dieser Arbeit gilt: Als letzte Instanz muss die
moderne „Soziale Arbeit“ beziehungsweise die „Sozialpädagogik“
Maßstäbe für gelingendes und nicht gelingendes Leben entwickeln und
diese Maßstäbe unter Umständen auch gegen die eigene Klientel durchsetzen.
Wie widersprüchlich allerdings Thiersch mit den Begriffen Soziale Arbeit und Sozialpädagogik umgeht und wie schnell und unauffällig er
Aufgabenstellungen einer Sozialen Arbeit zu sozialpädagogischen umformuliert, zeigen Textstellen, die Thiersch im Zusammenhang mit seiner These vom „sozialpädagogischen Jahrhundert“ (1992, 235ff.) formuliert hat:
„Soziale Arbeit, so kann man resümieren, findet im modernen Sozialstaat
innerhalb der arbeitsteilig sich neu organisierenden Zuständigkeiten ihr spezifisches Aufgabenfeld. Aus und neben sozialen Problemen entstehen die
sozialpädagogischen Probleme und Aufgaben in der Hilfe und Unterstützung in sozialen und psychisch-individuellen Problemen, in der aufklärenden und unterstützenden Bearbeitung sozialer und individueller Alltags- und
Lebensprobleme, in Unterstützung, Erziehung, Bildung, Beratung und in der
Organisation von Ressourcen: Das sozialpädagogische Jahrhundert beginnt“
(1992, 241).
Beide Ansprüche, den der „Alleinvertretung“ für die Definition von Problemlagen und -stellungen und den der (sozialpädagogischen) „Lösungskompetenz“ lassen sich heute aber nicht mehr ernsthaft aufrechterhalten. Wie unterschiedlich hier heute die Position einer Sozialarbeitswissenschaft im Gegensatz zu der von Thiersch mit seinem Konzept
„Soziale Arbeit = Sozialpädagogik“, geäußerten ausfällt, soll noch einmal abschließend kurz angedeutet werden: Während nämlich Hinte
(1992) und Hinte/Springer (1992) im Rahmen eines Stadtteilprojektes
vehement darauf hinweisen, dass die professionelle Haltung der SozialarbeiterInnen „frei von pädagogischen Handlungsplänen darüber (sein
muss), wie sich Menschen ändern sollten oder wie sich gelingender Alltag individuell realisieren lässt“, nicht frei von „ Vorstellungen und Konzepten über einen funktionierenden Stadtteil“, aber frei von „professio162
EINIGE THESEN ZUR BEGRÜNDUNG EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
neller Besserwisserei“ (Hinte 1992, 122), die lediglich dazu führen
muss, dass die Betroffenen die Kontakte abbrechen, formuliert Thiersch
die Vorrangstellung der Sozialpädagoglnnen versteckt, aber trotzdem
eindeutig erkennbar:
„Lebensweltorientierte Soziale Arbeit schließlich ist reflexive Arbeit. Im
Respekt vor der Eigensinnigkeit der Erfahrungen der Adressatlnnen und in
der Angst vor den eigenen „kolonialisierenden“ Möglichkeiten gilt es zu
prüfen, was je in der Situation angemessen ist; Planungen und Abstimmungen zu einem tragfähigen Konsens werden aufwendig, brauchen Zeit, Energie und Phantasie“ (1992, 247).
2.4 Die zunehmende Relevanz weitergehender Fragestellungen
Betrachtet man die Entwicklung der Sozialarbeit in Deutschland, so
kann man den Preis einer allzu langandauernden Orientierung am sozialpädagogischen Paradigma heute deutlich erkennen. Die die Praxis
wirklich bewegenden Fragen beziehen sich schon lange nicht mehr auf
den konkreten Kontext pädagogisch-psychologischer Interventionen,
sondern liegen vor allem auf der Ebene der Konzeptionalisierungs- und
Steuerungs-, der Planungs-, der Evaluierungs- und der Effizienzsteigerungsprozesse. Welche Formen der Sozialarbeit sich als besonders effizient erweisen und welche diese Gesellschaft sich auf Dauer noch leisten
will oder kann, das ist die derzeit wichtigste Frage. Gerade bezüglich
dieser Aufgabenstellungen aber liegen die Defizite auf der Hand: So ist
etwa der Thierschsche Begriff vom „gelingenderen Leben“ aufgrund
seiner Unbestimmtheit in keiner Weise als Indikator für die Messung
von Ergebnisqualität geeignet (Nutley/Osborne 1994). Wer hier weiterkommen will, der muss nicht nur danach trachten, Anschluss an die neueren Erkenntnisse der Wirtschafts-, Verwaltungs- und Sozialwissenschaften zu gewinnen, sondern im übrigen auch die Forschungsergebnisse der europäischen und außereuropäischen Sozialarbeitswissenschaft zu diesen Fragen zur Kenntnis zu nehmen.
Wer heute etwa in umfassendere Planungs-, Budgetierungs- und Steuerungsprojekte der Sozialreferate in den Kommunen eingebunden ist
(Greca/Erath 1995), der weiß, dass gerade die sich an das Theorem von
der „Sozialpädagogisierung der Sozialarbeit“ klammernden SozialarbeiterInnen beziehungsweise SozialpädagogInnen zu Innovationsverhinderern im Hinblick auf die Weiterentwicklung beziehungsweise Stei163
PETER ERATH UND HANS-JÜRGEN GÖPPNER
gerung der Leistungsfähigkeit des Systems der Sozialen Hilfen geworden sind. Eine Steigerung der Leistungsfähigkeit dieses Systems ist aber
– aus ernstzunehmenden volkdswirtschaftlichen Gründen – nicht nur
dringend notwenig, sondern, wie einige Beispiele bereits zeigen (Stöcken 1995), auch durchaus möglich.
2.5 Der Kampf der etablierten universitären Sozialpädagogik
gegen die befürchtete zunehmende Bedeutungslosigkeit
Es ist kein Geheimnis, dass an den Universitäten, an denen derzeit die
Möglichkeit der Etablierung einer Sozialarbeitswissenschaft eruiert
wird, sich die VertreterInnen der universitären Sozialpädagogik als besonders hartnäckige Gegner beziehungsweise Verhinderer erweisen. Einige VertreterInnen der universitären Sozialpädagogik, insbesondere
Thiersch (1994), versuchen derzeit mit zwei Argumenten die hier dargestellte Grundsatzproblematik zu verschleiern. So wird
1. lapidar behauptet: „die unterschiedlichen Titel einer Sozialen Arbeit,
oder, wie an den Fachhochschulen neuerdings favorisiert wird, einer Sozialarbeitswissenschaft bezeichnen den gleichen Gegenstandsbereich,
so unterschiedlich er im einzelnen auch akzentuiert sein mag“ (1994,
144),
2. wird gemutmaßt, es handele sich hier um „Ängste, wie sie sich aus
Status- und Hierarchiefragen (seitens der Fachhochschulprofessorlnnen, P.E. ) notwendig ergeben“ (144).
Beide Einlassungen erscheinen wenig begründet, denn immerhin treten
namhafte universitäre Vertreter wie Zacher (1992) und Pfaffenberger
(1993) vehement für Sozialarbeitswissenschaft ein (etwas vorsichtiger:
Rauschenbach 1991, 7) und geben eher zur Vermutung Anlass, dass die
universitäre Sozialpädagogik im Falle der Etablierung einer Sozialarbeitswissenschaft befürchtet, in die Bedeutungslosigkeit einer erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin mit dem Schwerpunkt „Außerfamiliäre und außerschulische Kinder- und Jugendarbeit/-hilfe“ zurückzufallen (vgl. auch Wissenschaftsrat 1993). Auch deshalb scheinen die
universitären SozialpädagogInnen den Begriff „Sozialarbeitswissenschaft“ so zu fürchten. Denn durch die Verwendung dieses Begriffes
würde die bislang betriebene Subsumierung von Fragestellungen Sozialer Arbeit oder Hilfen, wie zum Beispiel Schuldnerberatung, Stadttei164
EINIGE THESEN ZUR BEGRÜNDUNG EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
larbeit etc., unter dem Dach der Erziehungswissenschaft obsolet werden.
2.6 Das Problem der weiteren Positionierung
der universitären Sozialpädagogik
Um keine Zweifel entstehen zu lassen: Natürlich wäre eine universitäre
Sozialpädagogik auch im Zeitalter der Existenz einer Sozialarbeitswissenschaft unverzichtbar. Freilich könnte dann seitens der Vertreterlnnen
der Sozialpädagogik darüber nachgedacht werden, ob sie sich mit ihrer
Disziplin und ihren Zielsetzungen – wie bisher – eher unter dem Dach
der Erziehungswissenschaft aufgehoben wissen wollen oder ob nicht
sogar eine Zuordnung zum Bereich der Sozialarbeitswissenschaft unter
dem Schwerpunkt: Maßnahmen in bezug auf Kinder und Jugendliche
(beziehungsweise Leistungsberechtigte im Sinne des KJHG), sinnvoll
und möglich erscheint (Schilling 1990). Zurecht hat Mollenhauer deshalb eindeutig formuliert: „Sozialpädagogik ist die Theorie der Jugendhilfe“ (1964, 13). Wie auch immer das Problem gelöst wird, vordringlich scheint es auf jeden Fall zunächst, Realitäten zu schaffen, die dann
dazu führen können, dass die universitäre Sozialpädagogik ihren Alleinvertretungsanspruch aufgibt (aufgeben muss) und neue Perspektiven
entwickelt werden können.
3. AUFGABEN EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
3.1 Das theoretische Grundproblem der Diskussion um eine
eigenständige Sozialarbeitswissenschaft: Der Umgang
mit dem Problem der Multireferentialität
Die von verschiedenen Seiten vorgetragenen Versuche, eine eigenständige Sozialarbeitswissenschaft zu begründen, gehen in der Regel von
zwei Perspektiven aus. Zum einen wird versucht, die Identität des Faches Sozialarbeitswissenschaft durch die Definition eines eigenen Gegenstandsbereichs beziehungsweise eigenständiger Methoden zu sichern (1), zum anderen Sozialarbeitswissenschaft als multireferentielles
Bezugssystem zu entwickeln (2).
165
PETER ERATH UND HANS-JÜRGEN GÖPPNER
(1) Gehrmann und Müller (1993) fordern dazu auf, nicht nur die Ausbildung „eigenständige(r) Arbeitsbereiche mit spezifischen Problemlagen … und eigenständige(r) Methoden“ (176) in der Sozialarbeit voranzutreiben, sondern glauben, die Domäne einer Sozialarbeitswissenschaft auch gefunden zu haben: „Das Denk- und Handlungsmuster der
Sozialen Arbeit ist ein sozialräumliches“ (160).
Ähnlich versuchen Haupert und Kraimer (1991) die „disziplinäre Heimatlosigkeit“, die „permanente Begründungs- und Legitimationskrise
der Sozialarbeit/Sozialpädagogik“ und die „oft mangelhaft ausgeprägte
Professionsidentität“ (178) dadurch zu bewältigen, dass sie nur noch
qualitativ empirische Methoden als zulässig erklären und der Sozialarbeitswissenschaft die Lebenswelt- und Alltagsorientierung als probate
Lösung dieser Probleme verschreiben.
Diese Versuche stellen Identitätsfindungsprobleme in den Vordergrund
nach dem Motto: Wo kein identifizierbarer Gegenstand, da keine Wissenschaft. Zunächst scheint es, als ob so das Identitätsproblem gelöst
werden könnte. Man handelt sich jedoch ein anderes, noch schwerwiegenderes Problem ein, nämlich das der Finalisierung. Der immer offene
Diskussionsprozess wird einem scheinbaren Endpunkt zugeführt, eine
bestimmte Forschungsmethode und ein bestimmtes theoretisches Modell erheben Allgemeingültigkeitsanspruch. Das birgt die Gefahr der
Abschottung und Selbstimmunisierung. So begonnen, ist der Prozess
der Gewinnung eines allgemeingültigen Propriums der Sozialarbeitswissenschaft bereits beendet.
Skepsis ist auch gegenüber der Erwartung geboten, eine Sozialarbeitswissenschaft müsse Antworten geben auf die Frage, „was 'gutes Leben'
heißt, … was sie unter Leid versteht und mit Hilfe meint“ (Haisch 1994,
87), sie könne „präskriptiv“ (Wendt 1995) wirken oder „systemgestaltende“ und „ganzheitliche“ Funktionen innerhalb der Gesellschaft übernehmen“ (Mühlum 1994, 14).
(2) Die Vorschläge von Staub-Bernasconi (1994), Obrecht (1994), Mühlum (1994) gehen davon aus, dass die Sozialarbeitswissenschaft zur Lösung ihrer Aufgabe ein multireferentielles Beschreibungs-, Erklärungsund Handlungswissen in bezug auf soziale Probleme benötigt, das Bezüge auf kulturelle, soziale, psychische, biologische und physikalische
Systeme herstellt (Obrecht 1994). Diese Versuche haben ein deutliches
Inkompatibilitätsproblem zwischen den Disziplinen und ein Integrationsproblem, das eines „disziplinären Partikularismus“ (Obrecht 1993)
166
EINIGE THESEN ZUR BEGRÜNDUNG EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
und eines „Kolonialismus der Fachdisziplinen“ (Engelke 1992). Vorsicht scheint hier zudem gegenüber einer allzu integralistischen Sicht
auch deshalb geboten, weil die Problematik der „Inkommensurabilität
der Theorien“ (T. S. Kuhn), das heißt der Problematik fehlender Verkehrssprachen zwischen zwei gegebenen Theorien, nicht verkannt werden darf.
Es scheint also, als führe auch dieser Weg zu der Schwierigkeit, dass die
Lösung des Problems jeweils nur mit gewaltigen negativen Nebeneffekten erkauft werden kann. Denn die disziplinäre Multireferentialität führt
entweder zu einer Partikularisierung und damit zum Verlust an Eigenkontrolle oder zu unangemessenen Integrationsversuchen.
3.2 Die praktische Seite: Erfolg durch Multifunktionalität
Angesichts dieser aus theoretischer Sicht heraus prekären Ausgangssituation kann man sich nur darüber wundern, wie sich die Berufsbilder
Sozialarbeiterln/SozialpädagogIn gegen die konkurrierenden etablierten Spezialdisziplinen haben durchsetzen können. Trotz der beklagten
Ungesichertheit der Identität und trotz des Partikularismus und Kolonialismus der Bezugsdisziplinen prosperieren die AbsolventInnen auf
dem Stellenmarkt nach wie vor (Rauschenbach 1991; Maier, K. 1994).
Praktisch gesehen hängt der Durchsetzungserfolg dieser Berufe offensichtlich vor allem damit zusammen, dass sie ihren Auftrag gerade
durch Wahrnehmung „gebündelter Funktionen“, durch Multifunktionalität optimal erfüllen, eine Multifunktionalität, mit der letztlich ein Leistungs- und Funktionsvorteil gegenüber Spezialprofessionen verbunden
ist. Zur Veranschaulichung der „gebündelten“ Funktionen sei folgendes
Beispiel erwähnt: In einer Schuldnerberatung zum Beispiel ist es eben
nicht ausreichend, dass ein juristisch-banktechnisch versierter Sachbearbeiter die Schuldenregulierung angehen oder ein Psychologe psychodynamische Konfliktlage hinter dem Schuldenmachen klären helfen
kann. Der Klient profitiert am meisten, wenn beide Funktionskomponenten fachlich seriös angeboten werden.
Sozialarbeiter variieren im Idealfall ein Angebotsspektrum, das so bei
keiner anderen der Spezialprofessionen zu bekommen ist. Dies bedeutet
einen Leistungsvorteil unter dem Gesichtspunkt gesamtwirtschaftlicher
Ökonomie: Ein Sozialarbeiter ist offensichtlich billiger und besser als
ein Spezialist, wenn es sich um eine Art Grundversorgung handelt, für
167
PETER ERATH UND HANS-JÜRGEN GÖPPNER
die nicht zu viele Spezialkenntnisse, dafür aber ein umfassender Überblick erforderlich sind. Es bedeutet auch einen Service-Vorteil für die
Klienten: Der Sozialarbeiter ist zumindest im günstigen Fall im Gegensatz zum Spezialisten aufgrund seiner Multireferentialität in seiner Intervention weniger eingeengt (man weiß von allen Professionen, dass
sie das tun, was sie können, auch dann, wenn es gar nicht angebracht
ist). Der Sozialarbeiter hat in einem multiplen Referenzsystem zu agieren gelernt, es liegt an ihm, die damit verbundenen Kapazitäten auszuschöpfen, aber auch die Grenzen seiner Fachlichkeit erkennen zu können.
So gesehen haben die klassischen Spezialdisziplinen (Juristen, Psychologen, Mediziner usw.) einen Leistungsnachteil, nämlich den, dass sie
immer nur modo artis ihrer Disziplin intervenieren können: beim Mediziner wird alles zum medizinischen, beim Therapeuten wird alles zum
therapeutischen Problem usw.
3.3 Geweitetes Bezugssystem (Multireferentialität) – Vielfältigkeit
der Intervention (Multifunktionalität)
Diese Betrachtungen zeigen zunächst einmal, dass die Sozialarbeitswissenschaft einen historisch gewachsenen Gegenstandsbereich und damit
keinen exklusiven Gegenstand hat. Allerdings scheinen mit diesem Umstand, den man zunächst beklagen mag, offensichtlich auch Vorteile in
der berufspolitischen Durchsetzung verbunden.
Trotzdem haben die Sozialarbeitswissenschaft beziehungsweise die Sozialarbeit durchaus ihren distinkten Gegenstand, der aus dem disziplinübergreifenden Charakter der (theoretischen) Sozialarbeitswissenschaft
und den Interventionsebenen der (praktischen) Sozialarbeit abzuleiten
ist. Das Proprium liegt allerdings in der Art des Problemzugangs: Auf
der Theorie-Ebene in einem geweiteten Bezugssystem (Multireferentialität), auf der Praxis-Ebene in einer Vielfältigkeit der Interventionen
(Multifunktionalität). Das vermeintlich gesicherte Materialobjekt vieler
etablierter Wissenschaftsdisziplinen (zum Beispiel Medizin, Pharmazie, Arbeitswissenschaft, Bierbrauerei) verflüchtigt sich beim Übergang
zu praktischer Aufgabenbewältigung; ebenso wie die Sozialarbeitswissenschaft sind sie praktische Wissenschaften, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie sich einem bestimmten Aufgabenbereich widmen, dessen Komplexität die Beschäftigung mit diesem theoriefähig und theo168
EINIGE THESEN ZUR BEGRÜNDUNG EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
riebedürftig macht, da „… die reine Reproduktion vereinzelter, einmal
gemachter Erfahrungen im praktischen Handeln, selbst in ihrer zeitlichen Anhäufung, ohne Begreifen des Allgemeinen, bei jedem neuen
Handlungsfall die Gefahr des Scheiterns in sich birgt“ (Feinbier 1992,
144). Sozialarbeitswissenschaft wäre so der Prototyp einer modernen
Praxiswissenschaft, mit dem Charakteristikum, dass sie Wissen und theoretische Erklärungszusammenhänge für die Bewältigung eines Aufgabenbereiches bereitstellt und integriert.
Nach Kaufmann (1982) und Zacher (1992) kann man die unterschiedlichen möglichen Interventionsformen des Sozialstaates beziehungsweise
der Sozialpolitik auf fünf verschiedenen Interventionsebenen betrachten. Es sind dies erstens die rechtliche Intervention, zweitens die ökonomische Intervention, drittens die dienstleistende Intervention, viertens
die pädagogische Intervention der Kompetenzforderung und fünftens
die ökologische (umweltgestaltende) Intervention. Wichtig für eine sich
von der Umklammerung der „Sozialpädagogisierung“ befreiende sozialarbeitswissenschaftliche Sicht der Sozialarbeit ist es nun, dass keiner
der Ebenen eine höhere Plausibilität zugesprochen wird. Alle Maßnahmen sind für sich oder kombiniert denkbar.
Aus dieser umfassenden, Hilfeformen kombinierenden Sicht erscheint
es allerdings nun nicht sinnvoll, wie Zacher (1992, 375) dies vorschlägt,
rechtliche beziehungsweise ökonomische Maßnahmen den Rechts- beziehungsweise Wirtschaftswissenschaften zuzuordnen und lediglich die
dienstleistende und pädagogische Intervention als die sozialarbeitswissenschaftlich relevante zu bezeichnen. Alle aufgezeigten Maßnahmen
sind sozialarbeitsbezogen, ja, ein modernes System der Sozialarbeit
zeichnet sich gerade durch die Vielfalt der Optionen und Interventionen,
die im Einzelfalle praktisch möglich sind, aus. Und keine der möglichen
Hilfemaßnahmen ist wertvoller oder wichtiger als die andere.
So geht etwa die Sozialarbeit in Frankreich sehr deutlich von der Gleichwertigkeit der verschiedenen Maßnahmen aus und setzt die dort geschaffenen sozialarbeiterischen Gremien erst in die Lage, unterschiedlichste
Hilfen (auch etwa die Gewährung von Zuschüssen und Kleinkrediten)
gezielt und dosiert anzubieten. Sozialarbeiterische Hilfen werden hier
gerade nicht auf pädagogische oder dienstleistende Maßnahmen reduziert (Jäger 1995).
Rückblickend betrachtet können so die historischen Paradigmen-Krisen
in der Sozialarbeit als sinnvolle Entwicklungskrisen auf einem Weg zu
169
PETER ERATH UND HANS-JÜRGEN GÖPPNER
einer Differenziertheit, die Klapprott (1988) mit der Formel „Berufe im
Beruf des SA/SP“ umschreibt. Allerdings wäre es romantisch-verklärend, wenn man die Ursache des Sozialarbeits-Booms nur darin sehen
wollte, dass sie aufgrund ihrer Multireferentialität und Multifunktionalität eine Gegenbewegung zu der verbreiteten Tendenz zum Spezialistentum darstellt. Denn leider hat sich die Soziale Arbeit in ihrer Entwicklung zu „Berufen im Beruf des SA/SP“ nicht nur so ausdifferenziert, dass sie Funktionen verschiedener Berufe in einem Beruf umfasst
(vgl. Schuldnerberatung), sondern zudem in negativer Weise zu Monofunktionalität (zum Beispiel in Vollzugsrollen, Blinkert 1977) neigt, in
der die Berufsträger auf einer schmalen Bandbreite ihres konzeptuellen
und Handlungsspektrums eingepfercht bleiben. Es besteht also in vielen
Bereichen eine Berufsrollenausformung, die eine merkwürdige Diskrepanz zwischen den durch Berufsgeschichte gewachsenen Gegenstandsbereichen beziehungsweise Berufsfunktionen und der Ausformung von
Berufsrollen in der Berufspraxis deutlich werden lässt.
Als Zukunftsprojekt ergibt sich für die Sozialarbeitspraxis eine bessere
Umsetzung und Instrumentalisierung ihrer vielfältigen Bezüglichkeit
und ihres Handlungsvorteils durch vielfältige Interventionsebenen. Nur
um den Preis von Verkürzung und Vereinseitigung sind Abstriche in
dieser multi-system-referentiellen Verfasstheit der Sozialarbeitswissenschaft zu bekommen, sie ist eine „interdisziplinäre Wissenschaft“ (Hollstein-Brinkmann 1993,79).
3.4 Wiedergewinnung der Anschlussfähigkeit an andere Theoriesysteme
Angesichts des besonderen Charakters der Sozialen Arbeit und der weit
gespannten theoretischen Horizonte der Sozialarbeitswissenschaft verbietet sich eine vordergründig identitätssichernde, letztlich aber Abschottung und Selbstimmunisierung bedeutende Strategie. Die Suche
nach einem exklusiven Gegenstand kann wegen der historischen Gewachsenheit ihres Gegenstandsbereiches nicht erfolgreich sein. Deshalb
benötigt die Sozialarbeitswissenschaft – um ihrer Zukunftsfähigkeit willen – den Anschluss an die Spezialdisziplinen als Bezugsdisziplinen, um
an deren Innovationspotential teilhaben zu können.
Grundsätzlich würde die Sozialarbeitswissenschaft einen transdiziplinären Interpretations- und Reflexionsrahmen benötigen. Allerdings
stellt sich hierbei ein Problem, das mit der Aussage Einsteins umrissen
170
EINIGE THESEN ZUR BEGRÜNDUNG EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
werden kann: „ Wir können nur das beobachten, wofür wir eine Theorie
haben“. Folglich kann die Praxis der Sozialarbeit angesichts des „vorparadigmatischen Zustands“ (Feinbier 1992, 147) der Sozialarbeitswissenschaft in ihren vielen Segmenten vorläufig nur durch die Brille der
vorhandenen, teilweise sozialarbeitsfremden, disziplinären TheorieKonstruktionen betrachtet werden. Multireferentialität ist allerdings nur
bedingt realisierbar: da einerseits die Begründungszusammenhänge der
Theorie-Modelle unverzichtbar sind und andererseits eine Sozialarbeitswissenschaft in ihren wesentlichen Bestandteilen noch nicht ausformuliert ist, wird notgedrungen Multidisziplinarität statt -referentialität sein müssen. Für eine Abhilfe wird ein umfangreicher Theoriebildungsprozess notwendig sein, bei dem bislang noch kaum der Anfang
gemacht ist (die zahlreichen Publikationen zum Thema sind programmatischer, kaum aber inhaltlicher Art). Notwendig ist das Sich-Einlassen von Repräsentanten der verschiedenen Referenzebenen auf die Praxis mit dem Willen zur Kooperation und gedanklichen Vernetzung
(Baecker 1994). Dabei muss die Prämisse der Multireferentialität gelten, um Ausschließlichkeitsdenken, aber auch ein Denken in bloßen
„Teilrationalitäten“ zu unterbinden. Als gemeinsame Verkehrssprache
wäre die Systemtheorie (Hollstein-Brinkmann 1993) denkbar.
3.5 Konsequenzen für die Forschung in der Sozialarbeitswissenschaft
Zur Gewinnung von Eigenkontrolliertheit werden auf lange Sicht genuine Sozialarbeitswissenschaftler benötigt, die spezifische, aus der Praxis
der Sozialarbeit resultierende Fragestellungen verfolgen. Diese Sozialarbeitwissenschaftler rekrutieren sich momentan und bis auf weiteres
noch aus einem Personenkreis, der an Fachhochschulen studiert, in einem Teilsegment der Sozialarbeit Praxiserfahrung gemacht und, um
eine professorable Qualifikation zu erhalten, eine fremde Universitätsdisziplin studiert hat.
Der daraus resultierende Partikularismus der Disziplinen muss auf theoretischer Ebene überwunden werden. Dies geschieht am besten durch
eine „Evaluations- und Verwendungsforschung“ (Dallinger, 1993), das
heißt eine partizipativ-intervenierende Begleitforschung in verschiedenen Praxissegmenten der Sozialarbeit, die sich interdisziplinär vernetzt
und so die integrierte Multireferentialität des Denkens und der Handlungskonzepte auf allen Interventionsebenen und -bereichen formuliert.
171
PETER ERATH UND HANS-JÜRGEN GÖPPNER
Wahrscheinlich muss es auch neben diesen Sozialarbeitswissenschaftlern Bezugswissenschaftsvertreter geben, die sowohl vernetzt als auch
spezialisiert bleiben, um den Anschluss an das Innovationspotential der
Bezugswissenschaften sicherzustellen.
Die Sozialarbeitswissenschaftler werden sich notgedrungen zwar auch
referentiell spezialisieren müssen, da die Multireferentialität gesichert
bleiben muss. Die Vielfältigkeit der Problemlagen erfordert Spezialisierung auf einzelne Praxisfelder, wobei Sozialarbeitswissenschaftler mit
verschiedener referentieller Orientierung oder BezugswissenschaftsVertreter in anwendungsbezogenen Entwicklungs-, Begleit-, Projektund Forschungsvorhaben die Praxis bei fachlich-professioneller Ausführung ihrer Berufsfunktionen und der Ausfüllung der sozialarbeitstypischen Multifunktionalität unterstützen. Auf Seite der notgedrungen
spezialisierten Vertreter der Sozialarbeitswissenschaft oder auch der Bezugsdisziplinen ist Diskussions-, Kooperations- und Kritikfähigkeit erforderlich.
Für die konkrete Forschung im Bereich der Sozialarbeit muss dies vielfältige Konsequenzen haben (Salustowicz 1995). Insbesondere Greca
(1993) hat zurecht darauf hingewiesen, dass Forschung hier als Praxisforschung angelegt werden muss, die sich vor allem in drei Bereichen
entfaltet:
1. Praxisforschung als Methode in der Sozialarbeit; hier werden Forschungsprozesse zu Auslösern oder Motoren von Veränderungen,
2. Praxisforschung als Methode zur Verbesserung der fachlichen
Grundlagen; hier tragen Forschungsprozesse zur Erforschung der Bedingungen beruflicher Praxis, zur Verbesserung einzelner Methoden,
zur Überprüfung von Modellen und zur Zerstörung von Mythen bei,
3. Praxisforschung als Weg zur weiteren Institutionalisierung des Faches; hier zielt Forschung darauf ab, dazu beizutragen, dass die Problemlösungskompetenz der Praxis verbessert wird und stärker öffentliche Verbreitung findet.
3.6 Konsequenzen für die Praxis und Ausbildung
Insgesamt gilt: Die praktische Sozialarbeit muss stärker „mit ihren
Pfunden wuchern“, das heißt mit ihren vielfältigen analytischen und interventionellen Ebenen operieren lernen. Es geht somit um Überwin172
EINIGE THESEN ZUR BEGRÜNDUNG EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
dung der selbstauferlegten Funktionseinschränkung, die durch die Reduzierung der Sozialarbeit auf Entsorgung der Gesellschaft von ihren
sozialen Problemfällen und die damit verbundene Einschränkung auf jeweils lediglich eine der Interventionsebenen hervorgerufen wird. In der
Ausbildung muss die disziplinäre Mystifizierung aufhören, allerdings
darf auch nicht verschwiegen werden, dass die bis auf lange Sicht vorhandenen Theorie-Defizite in der Sozialarbeitswissenschaft durch eine
bloße „Ganzheits“-Rhetorik nicht zu beseitigen sind (Vogel 1994).
Angesichts des weitgespannten Horizontes muss das Studium extensiv
durchgeführt werden, wobei gleichzeitig die Entfaltung von theoretischen Begründungszusammenhängen und der Erwerb praktischer Kompetenzen auf allen o.g. Interventionsebenen geleistet werden muss. Das
multireferentielle Paradigma ist den Studierenden als Orientierung nahe
zu bringen, um das derzeit übliche „à la carte-Studium“ zugunsten einer
Multifunktionalität abzulösen. Dabei stößt man auf ein Zeit- und Kapazitätsproblem, das durch exemplarische Verdichtung angegangen werden muss. Um dem Partikularismus der Disziplinen zu begegnen, ist es
das falsche Rezept, wenn man die Bezugsdisziplinen zugunsten von
Lernbereichen mit Themenkatalogen auflöst, wie dies derzeit im Rahmen von Studienreformen in verschiedenen Bundesländern geschieht,
da man der Gefangenheit der Begriffe in ihrem Modelltext nicht entrinnen kann; außerdem müssen Sozialarbeiter, sollen sie nicht bloße Rezepteanwender und Zauberlehrlinge werden, in grundlegenden Begründungszusammenhängen denken können. Ohne das Problem abwiegeln
zu wollen (immerhin ergab eine Befragung von ehemaligen Absolventen, dass die Entwicklung einer beruflichen Selbstwirksamkeits-Überzeugung auch unter der Bedingung einer in Fächern organisierten Ausbildungsstruktur möglich ist, s. Göppner 1988), muss doch gefragt werden, ob so – gewissermaßen gewaltsam – eine Harmonisierung der
Teilrationalitäten der Disziplinen möglich ist.
Organischer und erfolgversprechender, allerdings in sehr langfristiger
Perspektive realisierbar, wäre es, wenn sich die Fachhochschullehrer
auf eine interdisziplinäre Evaluations- und Verwendungsforschung zur
Ausformulierung von Theorien einließen, die die Probleme eines Praxissegmentes mit einem multireferentiellen Beobachtungsinstrument,
wie etwa dem von Staub-Bernasconi (s. Geiser 1990), zu analysieren
und systematisch die sozialarbeiterischen Interventions- und Praxisebenen (s.o.) zu entwickeln versucht. Auf diese Weise wären auch die Kon173
PETER ERATH UND HANS-JÜRGEN GÖPPNER
zeptlücken, die die notgedrungene Anwendung sozialarbeitsfremder Erklärungs- und Handlungsmodelle hinterlassen, zu schließen.
Es würde sich erübrigen, den Praxisbezug noch zu erwähnen, wenn seine Herstellung im Gegensatz zum technischen im sozialen Bereich nicht
mit besonderen Schwierigkeiten verbunden wäre (Luhmann 1977;
1990). Bei aller Bemühung um Wissenschaftlichkeit darf nicht verloren
gehen: Nicht Reden und Reflektion über Praxis bedeutet Herstellung
von Praxisbezug, sondern Herstellung eines persönlichen Erfahrungskontextes und einer Handlungssituation mit Verantwortung für diese.
174
Soziale Arbeit – Grundlagen und Perspektiven
einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin
Peter Sommerfeld
„Sie erklärten, dass ich mich den Pfeilen in Aberglauben und Unwissenheit
genähert hatte. Sie zeigten, wie mir das eine Mal geholfen werden könnte,
weil die Pfeile heilig genannt wurden, und wie ich ein anderes Mal in eine
Falle gehen könnte. Wenn wir die Symbole und Gesetze in der Gemeinschaft
verstehen, sind sie heilig. Wenn wir sie nicht verstehen, sind sie ein Feind.
Missverstandene Gesetze müssen bekämpft und besiegt werden. Wenn sich
unsere Hunde gegen unsere Kinder und uns selbst wenden würden, wäre es
nicht anders. Die Hunde müssten bekämpft werden. Die Gesetze sind unsere
Lagerhunde.“ (Storm 1984, 153)
1. EINLEITENDE VORBEMERKUNGEN
Das vorangestellte Zitat umschreibt, worum es im folgenden geht. Es
geht um die Eigenheiten sozialer Interaktionen, um die Regulierung dieser Interaktionen und ihre Steuerung in Abhängigkeit von Wissen und
Verstehen, um das darauf bezogene menschliche Erkenntnis- und Interventionsvermögen im allgemeinen sowie, all dies spezifisch gewendet,
um die Wissenschaft der Sozialen Arbeit.45 Es sind in diesem Zusammenhang einige Vorbemerkungen zu machen, deren Bedeutung sich
teilweise erst bei der Entfaltung der eigentlichen Argumentation erschließen wird:
(1) Gesetzmäßigkeiten im Bereich der Sozialwissenschaften unterscheiden sich grundlegend von denen der Naturwissenschaften. Soziale Gesetzmäßigkeiten realisieren sich im Handlungsvollzug. Sie sind auf die
Reproduktion durch die Subjekte angewiesen. Sie müssen immer wieder
45 Ich verwende den Begriff „Soziale Arbeit“ und „Wissenschaft der Sozialen
Arbeit“. Es soll mit dieser Begriffswahl den Tendenzen einer unsinnigen,
gleichwohl wieder aufkeimenden Dichotomisierung von Sozialpädagogik und
Sozialarbeit symbolisch entgegengewirkt werden.
175
PETER SOMMERFELD
durch Akteure hergestellt werden und sind doch gleichzeitig etwas ÜberIndividuelles. Sie beruhen konstitutiv und unveränderbar auf Unsicherheit beziehungsweise Ungewissheit. Das heißt andererseits nicht, dass
es keine Gesetzmäßigkeiten im Sozialen gibt. Ordnung ist ebenso konstitutiv für soziale Interaktion wie Ungewissheit, denn ohne Ordnung
gäbe es weder Interaktion, noch Kommunikation, noch Gesellschaft,
noch Soziale Arbeit, noch Individualität, noch Sozialwissenschaften.
Das scheinbar Paradoxe der sozialen Interaktion liegt nun darin, dass
Ordnung und Ungewissheit sich gegenseitig bedingen, nur in ihrem Zusammenspiel verstehbar sind. Mit anderen Worten: Die Akteure sind
nicht durch die Ordnung determiniert, sondern sie stellen die Ordnung
gerade deshalb her, weil sie nicht durch eine unverrückbare Ordnung,
etwa wie bei den Naturgesetzen, determiniert sind. Giddens (1992) arbeitet diesen Tatbestand mit dem Begriff der „Dualität von Strukturen“
beziehungsweise „Strukturierungen“ prägnant heraus: Strukturierungen
der Interaktion begrenzen und ermöglichen Interaktion gleichermaßen.
Die Freiräume, die dabei konstitutiv sind, können nicht beliebig genutzt
werden, sie können aber genutzt werden und dies hat unter den Bedingungen von Sozialität eine strukturierende Kraft. Zwei Begriffe, die
Luhmann (1984, 3. Kapitel, 79f., 382ff.) verwendet, sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich: „doppelte Kontingenz“ und „Entropie“.
„Doppelte Kontingenz“ beschreibt die oben eingeführte konstitutive
Ungewissheit. Jedes Handlungselement kann in einer Handlungssequenz prinzipiell von jedem Akteur anders geformt oder gestaltet werden, als dies vom anderen erwartet wird. Gleichwohl sind Handlungssequenzen sinngenerierend und sinnbezogen (Mead 1980). Handlungssequenzen und Handlungssysteme sind daher prinzipiell labil, gleichwohl aber auf Stabilität angewiesen, und sie erzeugen daher Stabilität.
Sie sind konstitutiv von „Entropie“ bedroht, das heißt im Luhmannschen
Sinne, dass jeder mögliche Zusammenhang gleich wahrscheinlich wäre.
Weil Menschen auf Sozialität und auf Sinn angewiesen sind, konstruieren und reproduzieren sie die Ordnung sozialer Systeme, um der Entropie im Sinne einer chaotischen Komplexitätsüberflutung, oder mit anderen Worten: um der Ungewissheit entgegenzuwirken.
(2) Ich setze für meine Überlegungen eine tiefgreifende Identitätsproblematik der Sozialen Arbeit in Theorie und Praxis als das der Diskussion um die „Sozialarbeitswissenschaft“ zugrundeliegende Ausgangsproblem. Offenbar ist es bisher nicht in befriedigender Weise gelungen,
176
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
eine tragfähige Identität des Faches (gegliedert in Profession und Disziplin) aufzubauen.46 Als Indiz seien die Suchbewegungen in der Praxis
nach Orientierung in anderen Disziplinen und Professionen genannt
(nach wie vor ist der therapeutisch orientierte Fortbildungsmarkt imposant; neuerdings massiv ergänzt durch Sozialmarketing beziehungsweise Sozialmanagement). Dass „Eigenständigkeit“ den roten Faden der
meisten Publikationen zum Thema „Sozialarbeitswissenschaft“ (exemplarisch Wendt 1994a) bildet, wird unter dem hier gewählten Blickwinkel der Identitätsproblematik auf der Ebene der Disziplin erklärbar und,
wie zu zeigen sein wird, produktiv nutzbar.
Um sogleich Missverständnissen vorzubeugen, die auf diesem heiklen
Terrain an der Tagesordnung sind: Es sollen hier nicht die jeweiligen
Autoren als in ihrer Identitätsstruktur gestörte Unruhestifter denunziert
werden. Mir geht es um den sozialen Prozess und das in ihm zum Ausdruck kommende Entwicklungspotential.47 In diesem Sinn wäre also
die gesamte Diskussion um die „Sozialarbeitswissenschaft“ in loser Anlehnung an Erikson (1970) verstehbar als Ausdruck einer Entwicklungskrise in einem Identitätsbildungsprozess. Man kann sogar noch einen
Schritt weitergehen und wieder mit Erikson tendenziell Anzeichen einer
„negativen Identität“ erkennen. Eine „negative Identität“ ist dadurch gekennzeichnet, dass mit ihr die Kritik an etwas Bestehendem, an dem bestehenden Identitätsangebot gewissermaßen, dergestalt transportiert
wird, dass die Differenz zum Bestehenden beziehungsweise die Negation des Bestehenden die Identitätsbildung strukturiert und kennzeichnet.
46 Ein alternativer Erklärungsansatz wäre, die identitätsbildende Beschäftigung
mit sich selbst als Ausdruck eines fortgeschrittenen Stadiums der Entwicklung
des Fachs im Sinne einer „reflexiven Moderne“ zu beschreiben (Merten/Olk
1992). Für die nachfolgende Argumentation können beide Optionen zugrunde
gelegt werden, weil lediglich im einen Fall ein Problem diagnostiziert wird,
während im anderen Fall eher ein auszeichnendes Prädikat verliehen wird.
Beide Prozesse, die Identitätsbildung wie die Selbstreflexion im Zuge einer
„reflexiven Moderne“, sind aber gleichermaßen auf Selbstvergewisserung und
Entwicklung angelegt und darum geht es mir hier vor allem.
47 Dabei spielen hochschulpolitische Dinge eine wichtige Rolle. Das ist lang
und breit diskutiert worden (z.B. Effinger 1994). Mir geht es darum, den darüber hinaus auch bestehenden inhaltlichen Impuls aufzugreifen und theoretisch
zu verarbeiten.
177
PETER SOMMERFELD
Um den kritischen, also für den wissenschaftlichen Diskurs wichtigen
Anteil der derzeitigen Diskussion noch deutlicher herauszustellen, können die Vorstöße unter dem Etikett „Sozialarbeitswissenschaft“ als „soziale Bewegung“ charakterisiert werden. Soziale Bewegungen transportieren stets eine Kritik am Bestehenden (Raschke 1985). Es werden
durch soziale Bewegungen einerseits in der Regel gesellschaftliche Prozesse angeregt, die zu mehr oder weniger weitreichenden Transformationen des kritisierten Tatbestandes führen und andererseits haben sie
eine starke identitätsbildende Wirkung für die an einer sozialen Bewegung Teilhabenden. Ein weiterer Aspekt sozialer Bewegungen wird von
Ahlemeyer (1995) beschrieben. Er stellt die Funktion sozialer Bewegungen im Rahmen „gesellschaftlicher Selbstbeobachtung“ ins Zentrum seiner theoretischen Überlegungen zu diesem Thema. Analog dazu
wäre die Diskussion um die „Sozialarbeitswissenschaft“ Ausdruck disziplinärer Selbstbeobachtung.
Wenn diese Charakterisierung zutrifft, dann wäre es entscheidend, die
in den Beiträgen enthaltene Kritik an der bestehenden Verortung und
Gestaltung der Sozialen Arbeit im Wissenschaftssystem zu verstehen,
um sie sodann konstruktiv zu wenden. Im vorliegenden Kontext erscheinen mir drei Themenkomplexe relevant, auf die sich die Kritik
richtet: Die bereits erwähnte disziplinäre Eigenständigkeit beziehungsweise Nicht-Eigenständigkeit (Müller/Gehrmann 1994), die mangelnde
Praxisrelevanz der Disziplin und damit zusammenhängend das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis beziehungsweise von Disziplin und
Profession. Weil die Kritik, die sich mit dem Begriff der „Sozialarbeitswissenschaft“ verbindet, meist implizit erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen aufwirft (zum Beispiel Gehrmann 1994; Haupert/
Kraimer 1991; Mühlum 1994; Wendt 1994b), ohne meines Erachtens
deren Tragweite und Bedeutung zu erkennen, noch zu würdigen, noch
befriedigend zu bearbeiten (auch Thole 1995; Merten 1996), soll hier
der Versuch unternommen werden, allgemeine erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Überlegungen mit Gedanken zur Verfasstheit des
Wissenschaftssystems und zum Verhältnis von Wissenschaft und Praxis
so zu bündeln, dass daraus ein Modell entsteht, mit dem die Wissenschaft der Sozialen Arbeit in ihrer Grundstruktur abgebildet wird, und
zwar unabhängig von Namensgebung und Hochschulpolitik.
Im Bemühen, dieses Modell auf einen sicheren Boden zu stellen, der aufgrund der als verworren zu bezeichnenden Lage unabdingbar scheint, ist
ein weiter Bogen zu spannen, der nun entfaltet wird.
178
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
2. STRUKTUR DER WISSENSCHAFT
UND VON IHR ERZEUGTE WISSENSTYPEN
Aufgrund der spezifischen Beschaffenheit des menschlichen Gehirns
können Menschen aus Ereignisketten und darauf bezogenen fixierten
Verhaltensmustern heraustreten (Mead 1980). Sie können in Distanz
zur Situation treten, sie in ihrer Sinnhaftigkeit analysieren und hinsichtlich eigener Intentionen und Bedürfnisse reflektieren, Pläne und darauf
bezogene Handlungsstrategien entwickeln.
Diese menschliche Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und in sie
zu intervenieren, möglicherweise sich von ihnen zu emanzipieren, liegt
auch der Epoche der (humanistischen) Aufklärung und der Ausdifferenzierung der Wissenschaften in ihrer heutigen Form zugrunde. Es verbindet sich mit der Idee, die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten in ihrer künstlichen und gleichwohl unvermeidlichen „Horizontverengung“
(Plessner 1975) zu erweitern, konstitutiv die Hoffnung, die konkreten
menschlichen Lebensbedingungen zu verbessern.
Im Prozess der Ausdifferenzierung und Institutionalisierung haben die
Wissenschaften, die „natürlichen“ Bedingungen des Denkens und Handelns in etwas verfremdeter Form zu Strukturprinzipien eines eigenständigen Systems erhoben. Distanz und Handlungsentlastetheit werden so
zu den beiden konstitutiven Elementen, die einen Erkenntnisprozess
strukturieren, der auf Wahrheit oder Richtigkeit oder verallgemeinerbare Erkenntnis zielt. Damit verbunden ist die Entwicklung einer Methodologie, die nachprüfbares und kritisierbares Wissen hervorbringt. Wissenschaft wurde im Verlauf der Institutionalisierung zu einem autonomen Teilsystem der Gesellschaft und zu einem spezialisierten Beruf
(FeIt/Nowotny/Taschwer 1995, 30-56), das in seiner reduzierten Grundstruktur schematisch wie folgt dargestellt werden kann.
179
PETER SOMMERFELD
Abbildung 1: Schematisierte Darstellung des Handlungssystems
Wissenschaft
Wissenschaft
Innovation
soziales System
Disziplin
Verfahren
(Forschungs-)Methoden
Auseinandersetzung um Wahrheitsfähigkeit
Anerkennung der Ergebnisse
erkenntnisl. Fragen
individuelle
und kollektive
Reproduktion
erkenntnisf.
Theorien
Forschung
Erkenntnisse in Bezug
auf untersuchte Realität
Erklärungen in
Bezug auf
konkrete
Phänomene
Hypothesenprüfung
Stimmung
BedürfnisBedürfnisse
befriedigung
Persönlichkeitsstruktur
Wissenschaft ist auf ständige Erneuerung des „Produkts“, der in Theorien gespeicherten Erkenntnis, angelegt. Der im Idealfall spiralförmige
oder aber in paradigmatischen Revolutionen verlaufende Zyklus, der
mit Fragen, also einem Erkenntnisinteresse, immer wieder seinen Ausgangspunkt auf einem höheren Niveau finden sollte, weil in dieser Vorstellung die sukzessive verbesserten Theorien genauere oder auch ganz
andere Fragen zulassen, wird ergänzt durch die Möglichkeit, die Instrumente für den Erkenntnisprozess, die Forschungsmethoden und alle damit zusammenhängenden Verfahren, den Fragen anzupassen und somit
ebenfalls zu verfeinern. Insofern das System Wissenschaft auf verallge180
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
meinerbare Erkenntnis angelegt ist, wird auf der Ebene der systeminternen Steuerung angestrebt, die subjektiven Anteile zu minimieren beziehungsweise zu kontrollieren. Das in diesem Zusammenhang leitende
Strukturprinzip ist neben der Auseinandersetzung um die Wahrheitsfähigkeit der Methoden die Auseinandersetzung um die Gültigkeit der
theoretischen Aussagen im wissenschaftlichen Diskurs (ebd. 57-83).
Entscheidend ist, dass das System Wissenschaft trotz aller zum Teil gegenläufigen Tendenzen in seinen Grundzügen darauf angelegt ist, neue
Erkenntnisse und neue Erkenntnismittel hervorzubringen, weil im Zentrum dieser Berufspraxis das von unmittelbaren Handlungsnotwendigkeiten entlastete Fragen steht. Dies wird durch die spezifische Organisation des Erkenntnisprozesses gewährleistet.
Es erscheint mir an dieser Stelle eine klärende Zwischenbemerkung notwendig, die dem derzeitigen Diskussionsstand über das Verhältnis von
Wissenschaft und Praxis widerspricht, die aber für die späteren Ausführungen grundlegend ist. Es scheint in der Sozialen Arbeit ein Konsens
zu bestehen, dass wissenschaftliches Wissen eine Wissensform neben
anderen darstellt, die sich qualitativ nicht von irgendwelchen anderen
unterscheidet.
„Die Alltagswende der Erziehungswissenschaften … wie eine postmodern
auch modisch gewordene Wissenschafts- und Rationalitätskritik … haben
Erwartungen an die Möglichkeit wissenschaftlich begründeter Innovation
und Aufklärung von Praxis problematisch werden lassen. Die Überlegenheitsansprüche der Sozialwissenschaft gegenüber dem berufskulturellen und
alltäglichen Wissen von Praktikern gelten vielfach als obsolet und stehen
unter dem Verdacht, Teil der herrschaftlichen Kolonialisierung von Lebenswelten (Habermas) und der Technokratisierung von Lebenspraxis (Oevermann) zu sein …“ (Dewe et al. 1993,46)
Ich möchte mich hier auf die Replik beschränken, dass mit dieser Auffassung die kritische Funktion von Wissenschaft gleich mit obsolet
wird, denn mit welcher Legitimation könnte Wissenschaft auftreten und
einer gesellschaftlichen Praxis den Spiegel vorhalten und sie als eben in
der Praxis nicht durchschaute Ideologie beschreiben, wenn sie grundsätzlich nicht in der Lage wäre, über das im Alltag entstandene Wissen
hinausgehende Erkenntnisse zu erzeugen (zur kritischen Funktion der
Wissenschaft auch Dießenbacher/Müller 1987). Ziel des Systems Wissenschaft ist es, über im Alltag entstehendes Wissen hinauszugelangen,
ohne es freilich ersetzen zu können. Die Begrenzungen des Erkenntnis181
PETER SOMMERFELD
vermögens sind dadurch nicht ein für alle mal zu überwinden, aber zu
erweitern. Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass dieses Ziel mit diesem System prinzipiell nicht erreicht werden kann, dann wäre es unsinnig dieses Unternehmen fortzuführen. Es hätte ein unsinniger gesellschaftlicher Differenzierungsprozess stattgefunden. Es wäre auch unsinnig hier weiterzulesen.
Das durch Wissenschaft erzeugte Wissen gliedert sich in drei Typen
(Bunge 1985; Patry/Perrez 1982a und Obrecht in diesem Band):
1. Es wird Faktenwissen erzeugt.
2. Es werden beschreibende oder erklärende Theorien über Zusammenhänge von Fakten und Phänomenen gebildet.
3. Es wird auf die beiden anderen Typen bezogenes Handlungs- oder
Interventionswissen oder technologisches Wissen erzeugt.
Wissenschaftstheoretisch sind Disziplinen, die sich als spezialisierte Disziplinen mit Fragen des dritten Typus beschäftigen, „technologische Wissenschaften“ oder „Handlungswissenschaften“ oder „pragmatische“ oder
„praxeologische“ oder „angewandte Wissenschaften“. Ich stelle die Begriffe unkommentiert nebeneinander, weil sie trotz einiger möglicherweise bedeutungsvoller Unterschiede einen gemeinsamen Bezugspunkt
haben: den konstitutiven Handlungsbezug. Sowohl die dazugehörige Fragestruktur als auch Disziplinen, die eine derartige Fragestruktur verfolgen, sind traditionell Bestandteile des Systems Wissenschaft und daher
auch der Universität.
Für die Etablierung einer eigenständigen, das heißt mit einer eigenen
Identität ausgestatteten wissenschaftlichen Disziplin sind neben der Bereitstellung der Ressourcen nur sehr wenige prinzipielle Kriterien zu erfüllen: Die wissenschaftliche Arbeit, also die Erkenntnisproduktion,
muss vom alltäglichen Handlungsvollzug getrennt sein, es darf keine
Abhängigkeit von im Untersuchungsfeld vorhandenen Interessen bestehen, so dass eine Distanz strukturell gewährleistet werden kann, es muss
von den drei genannten Wissenstypen mindestens der theorieerzeugende
Typ als Ziel ausgewiesen sein, es müssen als erkenntnisproduzierend
geltende Methoden angewandt werden und schließlich: Es muss ein eigener Gegenstand bearbeitet werden, der innerhalb der disziplinären Arbeitsteilung sinnvoll ist, das heißt keine Verdoppelung darstellt. Eine
Verdoppelung wäre, wenn unter verschiedenen Etiketten dasselbe gemacht würde.
182
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
3. BESTIMMUNG DER WISSENSCHAFT DER SOZIALEN ARBEIT
Für den folgenden Entwurf werden die beiden Strukturprinzipien Handlungsentlastetheit und Distanz und die damit verbundene relative Autonomie einer wissenschaftlichen Disziplin (v.a. gegenüber der Praxis) als
notwendig gesetzt und als institutionell gegeben betrachtet. Als per Definition sozialwissenschaftliche Disziplin kann die Wissenschaft der
Sozialen Arbeit auf das Methodenarsenal der Sozialwissenschaften zurückgreifen. Bezüglich der Wissenstypen ergibt sich aus dem Umstand,
dass Theoriebildung konstitutiv für Wissenschaft allgemein ist, Faktenwissen als ein Baustein für Theoriebildung dient und Interventionswissen technologische Disziplinen geradezu kennzeichnet, dass alle drei
Wissenstypen im Rahmen der Wissenschaft der Sozialen Arbeit eine
Rolle spielen. Diese drei Wissenstypen in ein wissenschafts- und erkenntnistheoretisch befriedigendes Verhältnis zu bringen, ist das zentrale Problem, das Handlungswissenschaften generell lösen müssen. Aussagen, die um diesen Themenbereich kreisen, finden sich überall in den
Handlungswissenschaften oder mit konkreten Handlungen befassten
wissenschaftlichen Arbeiten aller wissenschaftstheoretischen Lager
und über die einzelnen Disziplinen hinweg (exemplarisch für die Erziehungswissenschaft, Sozialpädagogik und Sozialarbeit Eggimann 1993).
Die Handlungswissenschaften (zum Beispiel Medizin, Sportwissenschaft, Betriebswirtschaft) bearbeiten jeweils einen Ausschnitt gesellschaftlicher Praxis, der sich unter den Bedingungen der Modernisierung
in eine berufliche und in der Regel auch professionalisierte Praxis transformiert hat. Analog zu den anderen Handlungswissenschaften ist also
der Gegenstand der Wissenschaft der Sozialen Arbeit die Praxis der Sozialen Arbeit in ihrer gesellschaftlichen und institutionellen Kontextuierung und darin auftretende Handlungsprobleme. Diese Gegenstandsbestimmung erfüllt die Forderung, dass keine Verdoppelung stattfindet,
weil keine andere bestehende Einzeldisziplin sich als Handlungswissenschaft auf diesen Teil gesellschaftlicher Praxis spezialisiert hat.48 Sie ist
formal strukturanalog zu vergleichbaren anderen Disziplinen. Damit
wären alle wesentlichen Anforderungen, die auf der prinzipiellen Ebene
an eine wissenschaftliche Disziplin gestellt sind, erfüllt. Die Wissen48 An dieser Stelle wird auch aus der formaltheoretischen Sicht erkennbar, dass
eine Aufsplitterung in Sozialpädagogik und Sozialarbeit problematisch ist.
183
PETER SOMMERFELD
schaft der Sozialen Arbeit kann sich damit als legitime wissenschaftliche Disziplin ausweisen.
Die von mir vorgenommene Gegenstandsbestimmung ist bewusst eine
inhaltlich offene Definition, das heißt in ihr ist nicht unmittelbar enthalten, was Soziale Arbeit ist. Sie ist gerade deshalb anschlussfähig an alle
denkbaren theoretischen Bestimmungen der Sozialen Arbeit als Praxis.
Beispielhaft seien genannt: lebensweltorientierte (Thiersch 1992) oder
ökologische (Wendt 1982), systemisch-prozessuale Soziale Arbeit
(Staub-Bernasconi 1986), usw.49 Die Definition ist ebenso tragfähig für
neuere Ansätze, wie zum Beispiel den von Baecker (1994), der systemtheoretisch eine funktionale Bestimmung der Sozialen Arbeit vornimmt.
Soziale Hilfe als Integrationsarbeit an der Gesellschaft, sozusagen als
funktionales Äquivalent für in Auflösung befindliche „natürliche“ Solidaritätsformen (Durkheim 1988; Soulet 1994), eröffnet übrigens ganz
andere Zugänge als der Weg über soziale Probleme. Gleichwohl müsste
der Gegenstandsbereich derselbe sein. Mit der oben vorgenommenen
Gegenstandsbestimmung werden jedenfalls die inhaltlichen Fragen, die
in den genannten Beispielen deutlich erkennbar durch den jeweiligen
theoretischen Standpunkt geprägt sind und weitgehend nicht auf empirisch soliden Fundamenten beruhen, getrennt von der Frage nach der
grundsätzlichen Legitimität der Disziplin und als das bestimmt, was sie
in einer wissenschaftlichen Perspektive tatsächlich sind: Empirisch zu
bearbeitende und theoretisch zu lösende Probleme. Eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft der Sozialen Arbeit ist, zu bestimmen, was Soziale Arbeit auf der gesellschaftlichen Ebene ist. Dies ist keineswegs trivial. Das bedeutet, dass mit dieser Definition unterschiedliche theoretische Zugriffe auf die Soziale Arbeit offengehalten und empirisch gefüllt
werden können, ohne dass dabei sogleich die Identitätsfrage mitthematisiert wird, wie dies bisher oftmals und nicht erst aktuell im Kontext von
„Sozialarbeitswissenschaft“ der Fall ist.50 Das komplexe Feld Soziale
Arbeit kann mit seriöser wissenschaftlicher Arbeit bestimmt werden,
49 Eine umfassendere und zugleich die zersplitterte Situation veranschaulichende Auflistung der theoretischen Zugriffe auf Soziale Arbeit findet sich z.B.
in Stimmer 1994 unter den Stichworten Soziale Arbeit (440ff.), Sozialarbeitswissenschaft (433ff.) und Theorie der Sozialpädagogik.
50 Vgl. die oben genannten theoretischen Ansätze. Besonders deutlich wird
dieser Tatbestand aber, wenn ältere wissenschaftstheoretisch-konzeptionelle
Arbeiten betrachtet werden: z.B. Schmidt 1981; Lowy 1983; Lukas 1979.
184
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
ohne sich vorschnell in theoretischen und wissenschaftstheoretischen
Grabenkämpfen zu erschöpfen, wenn ein gemeinsamer Gegenstandsbereich benannt ist. Unter Identitätsgesichtspunkten kommt darüber hinaus
einer gemeinsamen Basis natürlich besondere Bedeutung zu.
4. DIE KONKRET ZU REGELNDEN SYSTEMREFERENZEN
In diesem Kapitel geht es darum, die konkreten relevanten Beziehungen
zu anderen Teilsystemen zu untersuchen und modellhaft zu gestalten.
Denn hier liegt meines Erachtens der Schlüssel zum Verständnis einer
weiteren Dimension des Identitätsproblems, die mit dem spezifischen
Charakter von Handlungswissenschaften und noch spezifischer mit dem
Theorie-Praxis-Verhältnis zusammenhängt.
Ausgangspunkt bildet der theoretische Zugriff, dass sich Wissenschaft
und Soziale Arbeit als eine Disziplin darin in „historischen Prozessen gesellschaftlicher Evolution ausdifferenziert“ (Neidhardt 1979, 325) hat.
Ausdifferenzierungsprozesse bringen immer ein „Integrationsproblem“
mit sich. Sie zerstören die Einheit und bedrohen beziehungsweise schwächen insofern die Identität von bestehenden Strukturen. Lösungsoptionen
für dieses Integrationsproblem sind weder durch konzeptionelle Grenzvertuschung (insbesondere Mühlum 1994), das heißt die erkenntnistheoretischen Problemstellungen unterschlagende Vorgehensweisen, noch
auf dem Weg der Entdifferenzierung51 zu finden. Vielmehr kann eine auf
einem höheren Niveau angesiedelte und daher komplexere (Handlungs)Probleme wahrnehmen und bearbeiten könnende Einheit dadurch wieder hergestellt werden, dass die Beziehungen zu anderen Teilsystemen
oder Umwelten im Sinne von Austausch- und Kooperationsverhältnissen
höherer Ordnung neu gestaltet werden müssen. Um diese Argumentationsfigur herum bauen sich die folgenden Ausführungen auf.
51 Dies geschieht zum Teil im Rahmen der Diskussion um die „Sozialarbeitswissenschaft“, wenn zum Beispiel von einem alternativen Wissenschaftsverständnis (Müller/Gehrmann 1994) ausgegangen wird, ebenso wie in anderen
Diskursen, die sich mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis beschäftigen.
Als Beispiele können hier diverse Beiträge zum Thema „Praxisforschung“
genannt werden (Kardorff 1988; Filsinger/Hinte 1988). Vgl. zum Thema Entdifferenzierung auch Merten/Olk 1992, 84 ff.
185
PETER SOMMERFELD
„Als Teilsystem im gesellschaftlichen Kontext anderer Teilsysteme besitzt
es [das System Wissenschaft; P.S.] dauerhaft drei Systemreferenzen, die es
zu regeln gilt; den Bezug zu sich selbst, den Bezug zum umfassenden System
Gesellschaft und den Bezug zu anderen Teilsystemen, etwa der Wirtschaft,
der Religion, der Politik etc.“ (Neidhardt 1979, 325).
Insofern die Wissenschaft der Sozialen Arbeit wieder ein Teilsystem
des von Neidhardt behandelten Systems Wissenschaft darstellt, muss
eine vierte Systemreferenz hinzugefügt werden, nämlich der Bezug zu
den anderen wissenschaftlichen Disziplinen.
(1) Bezug zur Gesellschaft: Neidhardt bezeichnet Aufklärung und Bildung als die Funktionen, die von jeder Wissenschaft zu erfüllen und daher zu regeln sind. Da diese Systemreferenz im hier verfolgten Zusammenhang nicht von besonderer Bedeutung ist, können wir diesen Aspekt vernachlässigen und als prinzipiell regelbar und faktisch-historisch
als geregelt beiseite lassen.
(2) Bezug zu sich selbst (als Grundlage der Identitätsbildung und -reproduktion): Die spezifische Identität einer wissenschaftlichen Disziplin
entsteht durch das permanente Bemühen um die Bedingungen der eigenen Wahrheitsfähigkeit in methodischer, theoretischer und normativer
Hinsicht zusammen mit der dadurch geleiteten Auseinandersetzung mit
dem Gegenstand der Erkenntnis.
„Hier findet mit der Verarbeitung der Traditionen des Faches Grundlagenforschung als systematische Suche nach erkenntnisleitenden Fragen und Kategorien sowie nach erkenntnisfassenden Theorien statt.“ (Neidhardt 1979,
325).
Auch in technologischen Disziplinen findet in diesem Sinne Grundlagenforschung als theoriebildende Tätigkeit statt, auch wenn sie konkretes professionelles Handeln zum Gegenstand hat. In Bezug auf das Theorie-Praxis-Verhältnis, auf das ich später noch eingehen werde, heißt
das, dass die relative Autonomie einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit
die Erkenntnissuche unabhängig von unmittelbaren Verwertungsinteressen der Praxis als notwendig ausweist. Umgekehrt formuliert: Die
Wahrheitsfähigkeit der Disziplin ist nicht durch funktionierende Handlungsmodelle der Praxis herstellbar.
An die Grundlagenforschung, die zur Herstellung von Theorien dient,
schließt sich unmittelbar der zweite Wissenstyp, die Erzeugung von Faktenwissen an, das als Material für die Theoriekonstruktion dienen kann.
186
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
Beide Wissenstypen und die damit verbundenen Tätigkeiten sind notwendiger Bestandteil einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit , aber sie
reichen nicht hin, um sie zu begründen. Mit diesen beiden Wissenstypen
ist lediglich beispielsweise eine Soziologie, eine Sozialpsychologie oder
auch eine Philosophie der Sozialen Arbeit begründbar, weil die reale
Komplexität der Sozialen Arbeit bei der theoretischen Bearbeitung sofort in disziplinäre Einzelsegmente zerfällt, wenn kein „Kristallisationspunkt“, kein gemeinsamer Bezugspunkt gegeben ist. Die Disziplin „Soziale Arbeit“ würde dann tatsächlich ein interdisziplinäres Sammelbecken darstellen, wie es beispielsweise Engelke beschreibt, in dem sich
Soziologen, Sozialpsychologen und Philosophen neben anderen tummeln und, und das ist entscheidend, in ihrer jeweiligen disziplinären Perspektive und nur ihrer jeweiligen Herkunftsdisziplin verpflichtet, Prozesse in der Sozialen Arbeit beobachten und Wissen aus der Herkunftsdisziplin lehren. In solchen Verhältnissen findet offenbar keine ernsthafte interdisziplinäre Zusammenarbeit statt. Im Gegenteil: Ohne einen
gemeinsamen Bezugspunkt (und das heißt auch ohne disziplinäre Identität) entsteht unter den Bedingungen einer (notwendigen und sinnvollen) Interdisziplinarität ein Bild der Sozialen Arbeit als von den anderen
bedrohte beziehungsweise dominierte Disziplin (Engelke 1992, 92).
Das Spezifikum der Wissenschaft der Sozialen Arbeit wird, wie bei jeder anderen Handlungswissenschaft, erst mit dem dritten Wissenstypus
darstellbar, dem Typus des technologischen Wissens. Mit der logischen
Fragestruktur: „Wie muss jemand was machen, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen und was braucht er/sie dafür?“ ergeben sich die spezifischen Fragestellungen. In dem Maße wie die Erkenntnissuche dem
Ziel unterliegt, eine gesellschaftliche Praxis so erklären zu können, dass
Aussagen über die Funktionsweise des konkreten HandeIns in einem
spezifischen, nämlich per Definition beigeordneten Handlungsfeld und
seinen bedingenden Kontext möglich werden, entsteht eine eigene Frageperspektive, auch auf der Ebene der Grundlagen. Diese „eigene Brille“ ist der angebbare Grund, warum die Ausdifferenzierung des Systems
Wissenschaft in eine eigenständige Disziplin der Sozialen Arbeit systemintern sinnvoll ist. „Eigene Perspektive“ heißt, dass wegen der technologischen Ausrichtung eigene Theorien und die der Nachbardisziplinen wie durch ein Prisma auf den interessierenden Realitätsausschnitt
(die Praxis der Sozialen Arbeit und ihre gesellschaftliche und institutionelle Kontextuierung) projiziert werden. Mit der grundlegenden Ver187
PETER SOMMERFELD
änderung des Erkenntnisinteresses und der spezifischen Bündelung theoretischer Zugänge kommen tendenziell auch andere Sichtweisen auf
die Problemlagen und dadurch andere Erkenntnismöglichkeiten zum
Vorschein.
Abbildung 2: Schematisierte Darstellung des Handlungssystems „technologische Wissenschaft“
Wissenschaft
Innovation
soziales System
Disziplin
Verfahren
(Forschungs-)Methoden
Auseinandersetzung um Wahrheitsfähigkeit
Anerkennung der Ergebnisse
erkenntnisl. Fragen
individuelle
und kollektive
Reproduktion
erkenntnisf.
Theorien
Forschung
Erkenntnisse in Bezug
auf untersuchte Realität
Erklärungen in
Bezug auf
konkrete
Phänomene
Hypothesenprüfung
pragm. Aussagen
Modelle
Mit den durch reale und dadurch komplexe Handlungsnöte verbundenen Fragen, sind Anreize für die Weiterentwicklung des Wissens und
der wissenschaftlichen Methode strukturell gesetzt. Die Wissenschaft
188
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
der Sozialen Arbeit braucht daher keine eigene Handlungstheorie, kein
eigenes „Paradigma“ (Haupert 1992) und auch keine eigene Methode,
sondern sie braucht eine eigene Grundlagenforschung und eine eigene
Theoriebildung im Rahmen der Sozialwissenschaften in Bezug auf ihren Gegenstand. Handlungswissenschaften sind Nahtstellen, an denen
Kommunikation zwischen Praxis und Wissenschaft strukturell verankert ist. Die Medizin ist im Hinblick auf die Fruchtbarkeit dieser Beziehung für den Erkenntnisprozess ein Beispiel, wie Handlungsprobleme
kommuniziert, aufbereitet, diffundiert, interdisziplinär strukturiert und
bearbeitet werden können. Die Komplexität konkreten Handeins setzt
Entwicklungsanreize für die Evolution von Wissen.
Es ergeben sich also aus der theoretisch-technologischen Aufgabenstellung und Doppelstruktur der Wissenschaft der Sozialen Arbeit spezifisch zugeschnittene, perspektivisch veränderte Fragestellungen im Hinblick auf identische Phänomene, zum Beispiel auf Gesellschaft und Gesellschaftstheorie, soziale Probleme, Lebenslagen, Coping-Strategien
etc. Dass die eigene Perspektive, die aus dem Handlungsbezug entsteht,
keine Fiktion ist, möchte ich mit dem Beispiel der Betriebswirtschaft
(auch als wissenschaftliche Disziplin) in Bezug auf soziale Probleme,
die oftmals als Spezifikum der Sozialen Arbeit ausgegeben werden, belegen. Betriebswirtschaftlich werden jedenfalls soziale Probleme u.a. im
Hinblick auf die Produktion und Kosten/Nutzen-Überlegungen wahrgenommen und verarbeitet. Wenn durch den Produktionsprozess soziale
Probleme entstehen, werden sie ebenso wie ökologische Probleme möglichst externalisiert. Externe soziale Probleme werden zum Beispiel unter Standort- und Investitionsgesichtspunkten untersucht, und die Ergebnisse werden sowohl für konkrete Entscheidungen wie für die theoretische Modellbildung verwendet. Es gibt also im Zusammenhang mit
einer anderen Profession eine wissenschaftliche Disziplin, die sich u.a.
mit „sozialen Problemen und Lösungen“ beschäftigt, die unschwer als
different zur Sozialen Arbeit erkennbar ist. Vergleicht man die beiden
Fächer, so ist ebenso unschwer erkennbar, dass sich ihre Differenz von
der Perspektive bis hin zu Persönlichkeitsmerkmalen der einzelnen
FachvertreterInnen aus dem Bezug zur jeweilig differenten Handlungspraxis ableitet.
Zusammenfassend ergibt sich, dass alle drei Wissenstypen in ihrem Zusammenspiel für die Handlungswissenschaften relevant und in diesem
Aufeinander-Verwiesen-Sein zu bewältigen sind, um als eigenständige
189
PETER SOMMERFELD
Disziplin jenseits, wenngleich nicht unabhängig von (hochschul-) politischen Prozessen, Geltung erlangen zu können. Dies ist also auch die
zu lösende Aufgabe der Gestaltung der Systemreferenz „Selbstbezug“
für die Wissenschaft der Sozialen Arbeit. Daraus ergibt sich übrigens,
dass Grundlagenforschung und „angewandte Forschung“ in Handlungswissenschaften nicht einfach zu trennen sind,52 sondern dass die daraus
entstehenden (u.a.) erkenntnistheoretischen Probleme bewältigt werden
müssen. Der Grund für die hier postulierte Nicht-Trennbarkeit dieser
beiden Bereiche liegt in dem strukturellen Charakter einer Handlungswissenschaft: Es werden auf dieser Ebene in Bezug auf die Handlungspraxis primär keine verfahrensmäßigen Ad-hoc-Lösungen angestrebt,
sondern ein umfassendes Gedankengebäude, von dem aus begründete
oder „fundierte“ (Patry/Perrez 1982b) Aussagen gemacht und darauf
bezogene weiterführende Ideen, Modelle und Konzeptionen entwickelt
werden können. Wie dieser Weg, vom „normalen“ wissenschaftlichen
Geschäft zur Entwicklung von Modellen zu gelangen, bewältigt wird,
welche Verfahren dazu eingesetzt werden, welche Standards dafür gelten müssen, sind für die Soziale Arbeit noch relativ offene Fragen, aber
zu regelnde Referenzen unter dem Stichwort „Selbstbezug“ auf der normativen Ebene.
(3) Bezug zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen: Wie jede Wissenschaft so hat auch die Wissenschaft der Sozialen Arbeit Verhältnisse
mit verschiedenen anderen Teilsystemen einzugehen. Zu denken ist insbesondere an die Teilsysteme Politik oder Wirtschaft (Staub-Bernasconi 1991) oder aber auch an soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen etc.
52 Vgl. dazu auch Groeber/Westmeyer (1975, 173): „… dass eine Entgegengesetztheit von theoretischem und praktischem Wert der Wissenschaft ein zu
undifferenziertes Modell darstellt … So hat sich im Laufe der Diskussion recht
deutlich herausgestellt, dass die Trennung von reiner und angewandter Forschung eine künstliche Teilung von zwei Aspekten ist, die sich gegenseitig stimulieren und ergänzen …“ Diese kategoriale Teilung und damit die Verkennung des Charakters von Handlungswissenschaften ist ebenso populär wie folgenreich. Beispielsweise findet sich genau diese Unterscheidung als
Hauptargument zur Differenzierung des Bildungssektors in der Schweiz. Die zu
gründenden Fachhochschulen werden mit angewandter Forschung betraut,
während die Universitäten Grundlagenforschung zu betreiben haben. Vgl. Botschaft zu einem Bundesgesetz über die Fachhochschulen (Fachhochschulgesetz
FHSG), EMDZ 94.056, Maig 1994.
190
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
Technologische Disziplinen sind nun aber in der hier vertretenen Perspektive auf ein bestimmtes gesellschaftliches Teilsystem (in unserem
Fall: die Praxis der Sozialen Arbeit) spezialisiert und daher enger mit
diesem verbunden.
(4) Bezug zur eigenen Praxis (als identitätsbildende Integrationsleistung): An dieser Stelle geht es darum, die Bedingungen der Integration
(von Disziplin und Profession) durch Austausch- und Kooperationsprozesse höherer Ordnung zu skizzieren. Theoretische Voraussetzung dafür ist die Anerkennung der strukturellen und institutionellen Differenz
von Theorie und Praxis und die Sinnhaftigkeit ihrer jeweils bestehenden
relativen Autonomie, die nicht als prinzipieller Gegensatz zu verstehen
ist. Die traditionelle und nach wie vor dominante Regelung dieser Systemreferenz erfolgt nach dem Muster der Regelung der Systemreferenz
zur Gesellschaft hin, nämlich über die Integrationsmodi Aufklärung
und Bildung, die in diesem Fall spezifischer als Ausbildung gefasst
wird. Beide zielen ausschließlich auf die Übermittlung von allgemeinem Wissen, auf Wissenstransfer (Dewe et al. 1992), verbunden mit der
Vorstellung, dass Wissen zwar nicht unmittelbar umgesetzt werden
könne, dass aber letztlich doch immer nur vernünftig und reflektiert gehandelt wird. Auch der Begriff „angewandte Wissenschaften“ bezieht
sich auf dieses Denkmodell. Dies stellt eine Reduktion der realen Komplexität des HandeIns auf eine rationalistische Handlungstheorie dar,
aus der im Kontext einer Handlungswissenschaft diverse Folgeprobleme resultieren. Die rationalistische Handlungstheorie findet sich beispielsweise auch in Theorien zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit wieder. Ich wähle dieses Beispiel, weil sich die Professionalisierungstheorie in spezifischer Weise mit dem Verhältnis Wissenschaft
und Praxis auseinandersetzt, das als zu regelnde Systemreferenz hier
behandelt wird.
„Zentrales Theorem der neueren Professionalisierungsdebatte (...) ist die
Annahme, soziale Arbeit sei ein Typus pädagogischen Handelns, für den gilt,
dass spezialisiertes und abstraktes wissenschaftliches Wissen fallbezogen
zur stellvertretenden Deutung und handlungsrelevanten Bearbeitung von
Problemlagen verwendet wird.“ (Dewe et al. 1993, 41)
Interessant an dieser Definition ist, dass professionelles Handeln stets
neu als professionelles Handeln unter Rekurs auf wissenschaftliches
Wissen hergestellt werden muss und insofern keinen professionalisier191
PETER SOMMERFELD
ten, ja in mancher Perspektive sogar einen nicht vollständig-professionalisierbaren Handlungstypus darstellt (Merten/Olk 1996; Etzioni
1969). Dies geht aus dem Begriff „fallbezogen“ hervor. Professionell
Handelnde sind in dieser Konzeption wie Bluter. Es fehlt ein Stoff, der
eine Gerinnung zu professionellen Handlungsmustern und dann auch zu
einer Profession ermöglichen würde. Es ist unter dem Gesichtspunkt der
Identitätsfrage eine an sich unglaubliche Zumutung in diese Definition
eingebaut: Es obliegt dem/der einzelnen in jeder Situation aufs Neue,
das ihr zugängliche wissenschaftliche Wissen zu instrumentalisieren
und in adäquates Handeln zu überführen. „Verwenden“ enthält insofern
eine stets neu zu treffende subjektive Wahl und Entscheidung zwischen
gleichwertigen und subjektiv neutralen Wissensbeständen. Auf die konstitutive Ungewissheit sozialer Interaktion und die damit verbundene
prinzipielle Nicht-Standardisierbarkeit sozialarbeiterischer Intervention
wird professionstheoretisch mit Individualisierung reagiert. Analog zur
leitenden Gesellschaftstheorie (Beck 1986; Rauschenbach 1992) haben
wir eine individualisierte Professionalisierungstheorie. Das Subjekt ist
alleiniger Träger von Professionalität, indem es je individuell und situativ angemessen Wissenschaft und Praxis integrieren soll. Dies überfordert gleichermaßen die menschlichen kognitiven Kapazitäten, die im
Handlungsvollzug aktualisiert werden können, wie die darüber laufenden Steuerungspotentiale im Hinblick auf soziales Handeln und ignoriert sowohl die Funktionsweise des Systems Wissenschaft als auch die
der Praxis, wenn man sie als konkretes Handlungssystem betrachtet.
Eine kürzlich von uns durchgeführte Studie (nur für das Feld Psychiatrie
Sommerfeld/Gall 1995) zeigt, dass diese Individualisierung des Professionellen tatsächlich in verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit stattfindet, und dass die konstitutive Ungewissheit der Interaktion und der Intervention der nahezu ausschließlichen individuellen Bearbeitung obliegt. Durch die Ausbildung individueller Nischenstrategien zur Bewältigung der subjektiv als bedrohlich empfundenen Handlungsunsicherheit
findet nun aber eine von den Sozialarbeitenden selbst vorangetriebene
Deprofessionalisierung im Sinne einer „methodischen Beliebigkeit“
(Posseh 1993, 34) und ein Ausweichen in therapeutische Weiterbildung
statt. Diese Deprofessionalisierung geht einher mit einer Identitätsstruktur, in der die Profession als Ansammlung von Akteuren verstanden wird,
die alle Soziale Arbeit betreiben und insofern ähnliche Probleme haben,
und sonst nichts. Und die Sozialarbeitenden werden von ihrer Umwelt
192
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
auch genauso wahrgenommen, nämlich als Individuen, die (zufällig) Soziale Arbeit machen, was im übrigen auch jedes andere, nicht als professionell titulierte Individuum tun könnte.
Im Zusammenhang mit dem bereits geschilderten Verzicht auf den Anspruch auf Rationalitätssteigerung durch Wissenschaft wird professionelles Handeln zu einem postmodernen Spiel, das zuerst und zuletzt von
der Reflexivität und der ominösen „Handlungskompetenz“ (Müller et
al. 1982; 1984) des/der einzelnen strukturiert wird. Der in der zitierten
Definition von Professionalisierung enthaltene Anspruch hat systematisch, wenn man es pointiert formulieren will, Handlungsunfähigkeit
aufgrund von Informationsüberlastung oder aber Selbsttäuschung im
Sinne der soeben genannten „methodischen Beliebigkeit“ zur Folge.
Das rationalistische Handlungsmodell ist eine grobe Verkürzung der
Operationsmodi sozialen HandeIns, das professionelles Handeln eben
auch ist, und unterschlägt dadurch auch Möglichkeiten der Professionalisierung der Sozialen Arbeit. Um zu einer differenten Auffassung von
Professionalität zu gelangen, und um die Koppelung von Disziplin und
Profession beleuchten zu können, muss zunächst ein alternatives Handlungsmodell in Ansätzen geklärt werden. Ich kann dies hier nur sehr
kurz skizzieren. Damit werden übrigens zugleich die Begrenzungen
menschlichen Erkenntnisvermögens, die in der anfangs eingenommenen Perspektive zur Ausdifferenzierung des Systems Wissenschaft geführt haben, in Bezug auf das konkrete Handeln noch einmal sichtbar.
193
PETER SOMMERFELD
Abbildung 3: Schematisierte Darstellung des Handlungssystems Praxis
Hier sind drei unterschiedlich dimensionierte Kreisläufe angelegt.53 Der
mittlere Kreislauf ist kennzeichnend für die Entstehungsphase einer Organisation oder für den Eintritt eines neuen Mitarbeiters/einer Mitarbeiterin. Sinnkonstruktion, Bewertung und Reflexion sind permanent präsent. Mit der Etablierung, mit der Einkehr des Alltags wird dieser Kreislauf auf den kleineren reduziert. Sinnfragen und die allgemeine
Bewertung des Tuns sind erledigt und haben sich in Deutungsmustern
vergegenständlicht, welche das Handeln im Zusammenspiel mit der
„theory in use“ (Argyris/Schön 1978) leiten. Das Reflexionspotential
wird vorwiegend bei abweichenden Wahrnehmungen ausgeschöpft. Die
damit verbundenen Bewusstseinsprozesse sind aber ihrerseits tief „in die
rekursive Regulierung sozialer Praktiken eingebunden“ (Giddens 1992;
53; vgl. dazu auch Oldemeyer 1979). Reflexive Prozesse in einem eta53 Das schematisierte Modell ist im Zusammenhang mit anderen Arbeiten über
sozialarbeiterisches bzw. sozialpädagogisches Handeln (z.B. Sommerfeld
1993a; 1993b) und einer Auseinandersetzung mit der allgemeinen Handlungstheorie, der allgemeinen Systemtheorie und der Organisationstheorie entstanden.
194
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
blierten Alltag sind, obwohl beziehungsweise gerade weil steuernder
Natur, tendenziell systemerhaltend, das heißt auch abweichende Wahrnehmungen werden zunächst in das bestehende Schema von Sinn, Bewertung und Deutungsmuster assimiliert, wodurch zugleich aber geringfügige Akkomodationen stattfinden. Dadurch wird der Alltag „pseudokonkret“. Über längere Zeiträume bleiben Zustände jedenfalls stabil im
Sinne eines dynamischen Gleichgewichts, bis zuviel unvereinbare Information aufgestaut ist (zum Äquilibrationsmodell Piaget 1983, 73ff.).
Weitere wesentliche, Instabilität erzeugende Faktoren sind veränderte
Umweltbedingungen (wie derzeit zum Beispiel in der Folge von Deregulierung beobachtbar), massive Handlungsprobleme, Zieldiskrepanzen, wahrgenommene Ineffektivität, unterschiedliche organisationsinterne Situationsdefinitionen, massives Leiden an den Verhältnissen und
andere ökologische Störungen mehr.
Wenn nun aber ein Handlungssystem beziehungsweise einer oder mehrere Akteure darin die Stabilität verlieren, das heißt aus dem Gleichgewicht geraten, wird zunächst der mittlere Kreislauf aktiviert. Dies kann
wieder zu einem Einpendeln auf ein nun leicht verändertes Gleichgewichtsniveau im kleinen Kreislauf führen. Es kann dabei aber auch eine
Dynamik in Gang kommen, die auf größere Veränderungen hinstrebt.
Dies führt teilweise zum Verlassen des Systems einzelner, oder aber es
aktiviert den großen Kreislauf, der hier aus Darstellungsgründen auf die
Ebene der Verfahren beschränkt wurde, der aber auch die Ebene der
Werte (der Ethik), der Ziele und anderer orientierender Elemente umfasst. Dieser große Kreislauf ist ein relativ seltenes Ereignis, mit dann
allerdings langfristigen Wirkungen. Als Ziel beziehungsweise als Ergebnis dieses Kreislaufs kann „reframing“ und damit verbunden die
Entwicklung neuer Handlungsmuster beziehungsweise einer neuen
„theory in use“ gelten.
In dem von mir skizzierten Modell wird Professionalität nur in Grenzfällen durch Reflexion und die Verwendung von u.a. auch wissenschaftlichem Wissen hergestellt. Im professionellen Alltag wird die Professionalität durch die professionellen Verfahren grundsätzlich gewährleistet und durch die kompetente Anwendung durch die professionellen
Akteure als RepräsentantInnen der Profession in konkreten Situationen
fallbezogen und situationsangemessen hergestellt. Die Verfahren stellen sozusagen „geronnene“ Rationalität dar, die es den sie beherrschenden Akteuren (durch Ausbildung und Erfahrung und Training erworbe195
PETER SOMMERFELD
ner Kompetenz im Zusammenspiel mit dem je gelernten Wissenshintergrund) prinzipiell erlaubt, auf einem höheren Niveau zu handeln und zu
reflektieren. Dadurch unterscheiden sich in jedem Beruf Professionelle
prinzipiell von Laien. Dadurch wird „methodische Beliebigkeit“ zumindest ein Stück weit überwindbar, ohne die Einzigartigkeit des Individuellen und die Abhängigkeit der Realisierung der Verfahren von Akteuren deshalb zu unterschlagen. Nicht-Standardisierbarkeit heißt eben
nicht, dass Verfahren unsinnig sind. Prinzipielle Ungewissheit ist kein
Grund, alles dem Einzelnen zu überlassen. Wenn die Überlegungen zur
Sozialität menschlicher Existenz zutreffen, dann ist die Ungewissheit
im Gegenteil ein Grund, auf der sozialen Ebene eine tragfähige Basis zu
schaffen, um dem Individuellen die kreativen und produktiven Potentiale erst zu erschließen. Die Sportwissenschaft beispielsweise stellt ihren
Professionellen, den TrainerInnen, eine Reihe von Verfahren zur Verfügung. Diese bilden das „Handwerkszeug“ eines/einer jeden. Darauf
aufbauend kann nun ein Trainer/eine Trainerin mit den Menschen arbeiten, mehr oder weniger gut, mehr oder weniger erfolgreich. Grundsätzlich ist aber aufgrund professioneller Bedingungen, das heißt der technologischen Voraussetzungen, der Ausbildung und der extensivierten
Erfahrung „on the job“, eine im Vergleich zu nicht professionellen Bedingungen wesentlich höhere Qualität der Arbeit und des Ergebnisses
gewährleistet. Freilich, das Ergebnis ist technologisch-standardisiert
nicht herstellbar. Lediglich der Prozess kann durch die Technologie auf
der Verfahrensebene zusammen mit dem notwendigen Hintergrundswissen zielgerichtet gestaltet werden. Der Ausgang bleibt auch im Sport
offen, wie man weiß.
Wenn also über die professionellen Verfahren ein Mindestmaß an sozialer Professionalität gewährleistet werden kann, dann ist die Verfahrensentwicklung eine prioritäre Aufgabe der Profession. Wenn das Projekt
Professionalisierung mit dem Projekt Wissenschaft verbunden bleibt,
und wenn Wissenschaft dazu beitragen kann, die explizite Rationalität
von Verfahren zu steigern und/oder mittels ihrer systematischen Vorgehensweise Innovationsprozesse langfristig effektiver und effizienter zu
gestalten, dann ist eine Kooperation sinnvoll (Abb. 4). Der gemeinsame
„Gegenstand“ der Kooperation ist die Verfahrensentwicklung, weil in
Verfahren und Technologien sowohl wissenschaftlich erzeugtes als
auch über Erfahrung erworbenes, praktisches Wissen zu praktikablen
Formen „gerinnt“, die über die Virtuosität des/der einzelnen hinaus Be196
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
stand haben, ja diese letztlich erst systematisch ermöglichen, Orientierung gewährleisten, Identitätsbildung als Profession ermöglichen, gelehrt werden können und die Erreichung der Ziele erleichtern, und zwar
gerade auch auf der individuellen Ebene.
Die gestrichelte Linie in der Abbildung 4 zwischen den Bereichen Wissenschaft und Praxis soll symbolisieren, dass sie aufeinander verwiesen
sind, zusammenhängen, gleichwohl aber getrennte, in diesem Sinn relativ autonome Bereiche darstellen. Die Trennungslinie kann jedenfalls
als in beide Richtungen durchlässige Membran verstanden werden,
durch die hindurch ein Austausch stattfindet, wobei Durchlässigkeit
nicht konstant ist, sondern von diversen Faktoren gesteuert wird. Die
Begriffswahl „Membran“ als Metapher kennzeichnet den Tatbestand,
dass der Austausch zwischen den Bereichen Wissenschaft und Praxis
ein aktives Geschehen ist, das auch aktiv gestaltet werden kann, im Gegensatz zum Begriff der „Resonanz“ (Dewe et al. 1992; 78ff). Wie dieser Austausch gesteuert wird, welche Faktoren von Bedeutung sind, darüber können die Ergebnisse der „Verwendungsforschung“ (Beck/Bonß
1989; Daheim 1987) und der „Wissenschaftsforschung“ (Nowotny
1975) erste Anhaltspunkte liefern. Insgesamt bleiben hier noch viele zu
untersuchende Fragen offen, v.a. an Projekten, die einen aktiven Gestaltungsversuch unternehmen, das heißt nicht auf die unspezifische Diffusion der wissenschaftlichen Erkenntnisse allein vertrauen.
Wenn wir hier die Charakterisierung der Diskussion um die „Sozialarbeitswissenschaft“ als soziale Bewegung wieder aufnehmen, dann wird
eine Kritik, die dort formuliert wird, nun deutlicher. Die Verkoppelung
von Wissenschaft und Praxis in der derzeitigen Form (über Aufklärung
und Ausbildung) ist weder in genügendem Maße in der Lage, Identität
herzustellen, noch die komplexen Handlungsprobleme der Praxis adäquat zu erfassen und an Lösungsansätzen mitzuarbeiten.
197
PETER SOMMERFELD
Abbildung 4: Schematisierte Darstellung der Beziehung der Handlungssysteme Wissenschaft und Praxis
Auseinandersetzung um
Wirksamkeit
Anerkennung der
Ergebnisse
Ein wichtiger und derzeit viel beschrittener Weg ist die Verbesserung
der Ausbildung über die Reformierung und Reformulierung der Curricula. Zwei Elemente der Abbildung 4, zugleich zwei mögliche Dimensionen der Verkoppelung, sollen noch kurz herausgehoben werden.
(a) Fragen: Es geht hier darum, die in beiden Systemen emergierenden
und jeweils unterschiedlich motivierten und unterschiedlich ausgerichteten Fragen auszutauschen. Auf dieser Relation kann das jeweilige
Wissen genutzt werden, um die Dynamik im jeweilig anderen System
anzuregen, und um schnell Bedarf beziehungsweise Interesse an spezifischen Antworten zu kommunizieren, ohne die anderen in ein Abhängigkeitsverhältnis zu bringen (Stichwort: Technokratie). Die Beantwortung der Fragen bleibt in der jeweiligen Verantwortung des sie bearbeitenden Systems. Beispiele für die Institutionalisierung wären regional
zu organisierende regelmäßige Treffen zwischen Vertreterinnen beider
Systeme, gemeinsame Reflexionsgruppen in einem abgewandelten Sin198
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
ne von „Qualitätszirkeln“, „think tanks“, „Problemlösegruppen“ (zum
Beispiel Küchler 1988). Prinzipiell bleibt diese Option auch offen für
informelle und formelle Einzelinitiativen. In jedem Fall muss hier die
Fähigkeit zur Perspektivenübernahme geschult werden, um angemessen dimensionierte Fragen stellen zu können, denn nur die haben eine
Chance, Gehör zu finden. Dafür ist das Wissen um die sinnvolle Differenz zwischen Wissenschaft und Praxis und um die jeweiligen Begrenzungen Voraussetzung.
(b) Kooperation: Über den Austausch von angemessen dimensionierten
Fragen hinaus wäre eine weitere institutionalisierbare Verschränkung
denkbar. In dem Schema ist das mit dem Begriff „Kooperation“ symbolisiert. Wenn zwei autonome, gleichwohl aufeinander verwiesene und
außerdem noch komplementäre Bereiche mit verschiedenen Mitteln das
gleiche Feld (die Soziale Arbeit) bearbeiten, bietet sich die Kooperation
zur Steigerung der Qualität der geleisteten Arbeit insgesamt, aber auch
in den jeweiligen Bereichen geradezu an. Der Vorteil der Kooperation
für unsere Argumentation liegt darin, dass sie die Autonomie der Partner
prinzipiell gewährleistet, dass also eine Nahtstelle systematisch denkbar
wird, in der ein freier, zielgerichteter Austausch möglich wird. Der Sektor, an dem diese Kooperation am sinnvollsten wäre, ist die Verfahrensentwicklung, die innovative Schlaufe beider Kreisläufe. Aus der Graphik geht ansatzweise hervor, dass bei der Kooperation zur Verfahrensentwicklung eine wissenschaftliche Analyse des Handlungsfeldes mit
einer fundierten Reflexion (Vorbereitung) der PraktikerInnen zusammentreffen würde, bevor dann die gemeinsam erarbeiteten Vorstellungen wieder in die jeweiligen Arbeitsbereiche einfließen würden, einerseits zur Erprobung und möglichen Modifikation von Handlungsvollzügen, andererseits zur Erweiterung der Perspektive und der möglichen
Modifikation von Erklärungen der Realität, von erkenntnisfassenden
Theorien.
Eine Form der Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis haben
wir mit dem Modell der „wissenschaftlichen Praxisberatung“ kürzlich
vorgestellt (Sommerfeld/Koditek 1994). Dieses Modell ist insofern speziell, weil es die temporäre Hereinnahme von WissenschaftlerInnen in
das System „Praxis“ zur Begleitung von Veränderungsprozessen zumindest als Option beinhaltet. Dies erscheint aufgrund des vorgestellten
Handlungsmodells sinnvoll, macht die Beziehung aber prekärer. Ob
199
PETER SOMMERFELD
dieses Modell erfolgreich funktioniert, muss daher erst noch gewissenhaft überprüft werden.
(5) Der Bezug zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen (als abschließende Integration und Abrundung der Identität): Die Beziehung zu den
anderen wissenschaftlichen Disziplinen steht vor einem ähnlichen Integrationsproblem, wie die Disziplin in Bezug zur Praxis. Die Ausdifferenzierung muss durch Austausch- und Kooperationsleistungen auf höherer Ebene wieder zusammengeführt werden.
Als zentraler Punkt ergibt sich im Anschluss daran: Die Komplexität der
theoretisch zu beantwortenden Fragen, die notwendig ins Blickfeld geraten, wenn konkrete gesellschaftliche Praxen zum Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit werden, erzwingt geradezu eine transdisziplinäre
Theoriebildung, das heißt eine eigenständige Theoriebildung über die
Handlungsverläufe und relevante Zusammenhänge der zu untersuchenden Praxis (in unserem Fall der Sozialen Arbeit) unter Verwendung von
Erkenntnissen aus anderen Disziplinen. Umgekehrt heißt dies, dass die
eigenen Erkenntnisse und Theorien und weiterführende Fragestellungen im Sinne von „Komplexitätsbereitstellung“ auch wieder in die Diskurse der anderen Disziplinen zurückfließen.
Dies macht interdisziplinäre Zusammenarbeit auf der Ebene der sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu einem zentralen Element, das dann
fruchtbar und ohne Identitätsverlust organisiert werden kann, wenn die
spezifische Perspektive auf theoretischer Ebene zur Geltung gebracht
werden kann. Nicht theoretische Versatzstücke aus anderen Disziplinen
zusammenzubauen ist das Ziel, wie es Wendt (1995) unlängst wieder
formuliert hat, sondern realitätsnahe, erklärungskräftige sozialwissenschaftliche Theorien und darauf aufbauende, praxisrelevante Modelle
zu bilden, und auf dem Weg dahin als gleichberechtigter Partner Rückfragen an die RepräsentantInnen der jeweiligen, die Soziale Arbeit interessierenden Disziplinen zu stellen. Bunge (1985, 235) bezeichnet die
mit technologischen Disziplinen liierten anderen Wissenschaften als
„supporting sciences“. Dies macht den Stellenwert einer technologischen Disziplin in ganz anderer Weise, mit einem ganz anderen Verständnis (Stichwort: Identität) deutlich, als man dies im Kontext der
Diskurse innerhalb der (deutschsprachigen) Sozialen Arbeit gewohnt
ist.
200
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
5. ZUSAMMENFASSUNG
Ich habe versucht, ein Bild zu zeichnen, das als Antwort auf die unterstellte Identitätsproblematik der Sozialen Arbeit und die als ernstzunehmend eingestufte Kritik der Vorstöße auf eine „Sozialarbeitswissenschaft“ hin zu verstehen ist. Dieses Bild situiert die Soziale Arbeit als
wissenschaftliche Disziplin innerhalb des gesellschaftlichen Teilsystems Wissenschaft. Es zeigt aber auch, dass die wissenschaftliche Disziplin eng verbunden, ja in dieser Perspektive sogar nur im Zusammenhang konzipierbar ist mit der Profession beziehungsweise der beruflichen Praxis. Die Ebenen sind in Anlehnung an die Unterteilung von
Weniger (1929) als Theorien ersten, zweiten und dritten Grades zu verstehen, die durch das skizzierte handlungstheoretische Modell etwas
verändert werden. Sie enthalten eine Steigerung an expliziter Rationalität, keine Wertigkeit. Umgekehrt nimmt nämlich die Komplexität von
unter nach oben ab. Die Wertigkeit entsteht aus gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen, nicht aus einem Wert an sich.
Die Soziale Arbeit wird als Einheit dargestellt, die sich in zwei aufeinander bezogene Teilsysteme ausdifferenziert hat. Die strukturelle Nahtstelle zwischen den beiden Teilsystemen wird von dem gemeinsamen
Bemühen gebildet und in ihrer Gestaltung strukturiert, die Verfahren
der Praxis, die als verdichtete Rationalität aus beiden Bereichen sich
speist, weiter zu entwickeln. Dabei kommt der Wissenschaft u.a. die
Verpflichtung zu, die gesellschaftliche Strukturiertheit der Sozialen Arbeit kritisch mitzureflektieren, ebenso wie die konkrete Praxis kritisch
zu beobachten. Beide Teilsysteme haben je eigene Verantwortungsbereiche, in denen sie bezogen auf das jeweilig andere Teilsystem autonom sind. Für die Praxis ist dies die Ebene der Performanz, die Ebene
des eigentlichen Handelns. Für die Wissenschaft ist dies die Ebene der
erkenntnisfassenden Theorien. Die strukturell verankerte integrative
Verkoppelung als Austausch- und Kooperationsbeziehung höherer Ordnung findet traditionell auf der Relation Ausbildung und im vorliegenden Modell zwischen den Ebenen zwei und drei statt. Beide, nicht nur
die Ausbildung bedürfen institutionalisierter Formen kontinuierlicher
Beziehung.
Das hier vorgestellte Bild der Wissenschaft der Sozialen Arbeit stellt
eine enorme Herausforderung dar. Selbst wenn man voraussetzt, dass
sich die Theorieproduktion und die Entwicklung von Verfahren tatsäch201
PETER SOMMERFELD
lich produktiv miteinander vereinbaren lassen, bleiben zunächst einmal
erhebliche Forschungsanstrengungen zu erbringen, um erstens das vorhandene Praxiswissen zu systematisieren, und um zweitens darauf bezogen ein solides theoretisches Fundament zu legen. Mit den vorhandenen Ressourcen ist dies fast nicht zu leisten. Ein Minimum an Expansion, das zur Bewältigung der hier aufscheinenden Aufgaben notwendig
ist, wäre beispielsweise mit zentralen Forschungsstellen zu beschreiben.
Deren Aufgaben würden selbstverständlich erstens in eigenen Forschungsarbeiten, zweitens und vor allem aber in der Koordination von
Forschungstätigkeiten, eventuell auch in der sekundären Aufbereitung
und Analyse von Daten aus Einzelprojekten bestehen. Dies ist deshalb
wichtig, weil damit ein Zugang zu den brachliegenden Daten aus Evaluations-, Organisationsentwicklungs- und anderen Wissenstransferunternehmungen geschaffen werden kann. Dies könnte wiederum zur Bildung neuer Formen der Wissensproduktion (Gibbons et al. 1995) beitragen, wie es in spezifischer Form im Modell der „wissenschaftlichen
Praxisberatung“ ansatzweise für die Sozialarbeit von uns formuliert
wurde (Sommerfeld/Koditek 1994). Damit wäre mittelfristig die Systematisierung des vorhandenen, in Verfahren geronnenen Wissens möglich. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft der Praxis zur Mitwirkung
und zur Bereitstellung durchaus vorhandener Ressourcen die derzeit lieber als Beitrag zum Boom von betriebswirtschaftlich geprägten Unternehmens- und Organisationsberatungsfirmen verwendet werden, in teilweise unsinnige Fortbildungen oder in teilweise kontraindizierte Supervision fließen, worin abschließend noch einmal ein Defizit auf der
Identitätsebene zum Ausdruck kommt.
Die Perspektiven (im Sinne „konkreter Utopien“), die sich daraus ergeben, halte ich für atemberaubend. Die Möglichkeiten, in einem relativ
kurzen Zeitraum einen qualitativen Sprung zu schaffen, sind in kaum einer anderen Disziplin in dem Maße angelegt und bisher so wenig genutzt wie in der Sozialen Arbeit. Sie kann, weil sie eine integrative
Handlungswissenschaft im Bereich der Sozialwissenschaften ist strukturell eine ähnliche, den Erkenntnisprozess dynamisierende Rolle einnehmen, wie dies die Medizin im Bereich der Naturwissenschaften sowie im Grenzbereich zwischen Natur- und Humanwissenschaften getan
hat und immer noch tut. Interdisziplinäre Zusammenarbeit wird dann
nämlich erst möglich, wenn das spezifische Wissen aus einzelnen Disziplinen auf einen gemeinsamen (Erkenntnis-) Gegenstand bezogen
202
GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN EINER WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLIN
werden kann, wenn also die Fragen bereits interdisziplinär formuliert
werden. Komplexe Handlungs- und damit verbundene Erkenntnisprobleme gibt es in der Sozialen Arbeit genug. Die damit zusammenhängenden Fragen so aufzubereiten, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit
möglich, sinnvoll und attraktiv wird, ist eine der zentralen, wenn nicht
die zentrale zu bewältigende Aufgabe für die WissenschaftlerInnen der
Sozialen Arbeit. Dies kann nur gelingen, wenn vorgängig die Identitätsproblematik gelöst wird. Ob das als Nebeneinander von Sozialarbeit
und Sozialpädagogik in unterschiedlichen Institutionen geschieht wie
dies Thiersch geradezu beschwört, oder ob eigenständige, nicht unter
eine andere Disziplin subsumierte Institute entstehen können, ist unter
der Voraussetzung einer gemeinsamen Perspektive egal. Die zweite Variante würde meines Erachtens bessere Entwicklungschancen bieten.
Die möglichen Gefahren einer Konzeption der Wissenschaft der Sozialen Arbeit, wie ich sie hier skizziert habe, sind neben den Chancen
selbstverständlich mit zu bedenken. Als Stichworte seien die Begriffe
„Kolonialisierung“ und „Verwissenschaftlichung“, aber auch „Sozialtechnologie“, wie ich sie nicht gemeint habe, nämlich im Sinne von
„Technokratie“, genannt. Natürlich muss mit solchen Phänomenen
sorgsam umgegangen werden. Aber: Ich habe vorher kurz angedeutet,
wie sich die Wissenschaft durch die Negierung ihrer eigenen Grundvoraussetzungen selbst zugleich ihres kritischen Potentials entledigt und
damit der Ideologieproduktion und damit den Herrschaftsinteressen
doch indirekt wieder Vorschub leistet. Die „Dialektik der Aufklärung“
(Horkheimer/Adorno 1979) bleibt das, was sie ist, nämlich ein gesellschaftlich-dialektischer Prozess zwischen Herrschaft und Emanzipation, der weit über die Wissenschaft hinausreicht, und der nicht dadurch
zu einem Ende kommt, dass die Wissenschaft versucht, sich möglichst
eIegant aus allem heraus zu halten oder faktische Beziehungsstrukturen
zu leugnen. Die „lnstrumentalisierung der Vernunft“ ist prinzipiell in
Richtung auf beide Pole möglich, auch wenn die allgemeine Entwicklungstendenz von Horkheimer und Adorno pessimistischer beschrieben
wurde. Um so wichtiger erscheint mir die kritische Funktion der Wissenschaft, und zwar, um es abschließend noch einmal zu betonen, sowohl im Hinblick auf die Gesellschaft als auch im Hinblick auf die als
Erkenntnisgegenstand ausgewiesene (Berufs-) Praxis als auch im
Selbstbezug auf die eigene wissenschaftliche Praxis und deren Wirkungen.
203
Auf dem Weg zu „Humanwissenschaften zweiter
Ordnung“: Sozialarbeitswissenschaft –
Pflegewissenschaft – Gesundheitswissenschaft
Albert Mühlum, Sabine Bartholomeyczik, Eberhard Göpel
Die vorliegende Darstellung mit dem Dreischritt „Retrospektive – Innensicht – Außensicht“ kann als eine schlichte Einführung in Sozialarbeitswissenschaft, Pflegewissenschaft und Gesundheitswissenschaft
gelesen, aber auch als Anstiftung zur Kritik und Selbstkritik verstanden
werden, aus der sich Folgerungen ergeben, zumal die gewählte Form der
Synopse nicht nur einen schnellen Überblick ermöglichen und den Vergleich erleichtern, sondern auch – grenzüberschreitend – den fachwissenschaftlichen Diskurs anregen sollte. Unser eigener Lernprozeß im
Verlauf der Vorüberlegung, Konzeption und Umsetzung dieses gemeinsamen Projektes ermutigt jedenfalls dazu. Die beschriebene Erweiterung des Kontextblickes, die Exposition der eigenen Überzeugung für
wechselseitige kritische Anfragen, die Teilhabe an Erkenntnissen der
Nachbardisziplinen und deren sinngemäße Übertragung sind wichtige
Elemente, die nebenbei auch für eine neue Reflexions- beziehungsweise
Diskurskultur stehen und der Weiterentwicklung dienen. Die wichtigste
Erkenntnis aber liegt für uns darin, daß die „reflexive Moderne“ von
aufgeklärten Professionen permanent eigene Erkenntnisbemühungen
verlangt, wenn der Prozeß der Weltdeutung und Weltgestaltung nicht
völlig anderen Kräften überlassen bleiben soll. Der normative Anspruch
„unserer“ Disziplinen als Humanwissenschaften verpflichtet etwa im
gleichen Maße zur theoretischen Einmischung, wie von Berufsvertretern eine Einmischung in Praxis erwartet wird.
1. GEMEINSAMKEITEN UND UNTERSCHIEDE
Als vorläufiges Ergebnis lassen sich Gemeinsamkeiten und Differenzen
feststellen.
(1) Zu den Gemeinsamkeiten zählen nicht nur Gesundheit, Glück und
Wohlbefinden, die mit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft zu Leit204
AUF DEM WEG ZU „HUMANWISSENSCHAFTEN ZWEITER ORDNUNG“
vorstellungen wurden, sondern auch soziale Gerechtigkeit, Autonomie
und Menschenwürde, die es mit Hilfe sozialprofessioneller Dienstleistungen zu gewährleisten beziehungsweise zu unterstützen gilt, auch und
gerade in prekären Situationen und unter bedrohlichen Umständen. Alle
drei Bereiche suchen für ein elementares gesellschaftliches Anliegen
eine neue professionelle Identität und eine akademische Fundierung
durch den Rückbezug auf wissenschaftliche Reflexion, – eine Suche,
die hierzulande mit dem Bemühen der Fachhochschulen um akademische und gesellschaftliche Aufwertung zusammentrifft. Das Schicksal
der professionellen Anerkennungsbemühungen ist daher mit der wissenschaftlichen Profilierung dieses Hochschultyps verknüpft. Ihre disziplinäre Entwicklung ist insofern eher ein wissenschaftspolitisches als
ein wissenschaftstheoretisches Problem.
Ausgangspunkt für ihre Etablierung an Fachhochschulen war jedoch jeweils ein gesellschaftspolitischer Handlungsdruck:
(a) Sensibilisierung für soziale Probleme durch die Studentenbewegung
der 60er und 70er Jahre in Verbindung mit der Aussicht, durch besser
ausgebildete „Experten für Soziale Arbeit“ die Probleme zu verringern;
(b) Bewußtmachung der Pflegeproblematik durch die Pflegebewegung
(Berufsflucht und öffentliche Demonstrationen) in den 80er Jahren und
das Versprechen, durch besser ausgebildete „Expertinnen für Pflege“
die Probleme zu bewältigen;
(c) Zuspitzung der Gesundheitsproblematik durch die Umwelt- und
Selbsthilfebewegung in den 90er Jahren verbunden mit der Hoffnung,
durch besser ausgebildete „Experten für Gesundheitsförderung“ die
Problem zu reduzieren.
In allen Fällen wurde für die öffentliche Bilanz behauptet, daß Experten
und Expertinnen mit besserer Ausbildung und theoretischem Rüstzeug
zu einer Lösung gesellschaftlicher Problemlagen beitragen können, die
zudem kostengünstiger, weil professioneller ist. Erst durch diese
Zweckbehauptung war eine breitere Unterstützung für die Professionalisierungshoffnungen möglich.
Damit einher gingen tatsächlich auch Fortschritte zum einen in der Praxis und im praktischen Handeln der Professionellen und zum anderen in
der Reflexion, in der Theorie, die diesen Anspruch untermauerten. Unter Hinweis auf social work science, nursing science und public health
205
ALBERT MÜHLUM, SABINE BARTHOLOMEYCZIK, EBERHARD GÖPEL
science scheint die wissenschaftliche Anerkennung auch in Deutschland nur eine Frage der Zeit zu sein.
Gemeinsam ist den Dreien schließlich auch, daß sie in ihrer Praxis mit
der Dialektik von Bevormundung und Kontrolle einerseits und Unterstützung und Emanzipation andererseits konfrontiert sind, die mit dem
Anspruch auf „Ganzheitlichkeit“ unter einen Hut gebracht werden sollen. Bis ins Detail stimmen in allen drei Disziplinen Problemdruck,
Selbstzweifel, Theoriebedarf und Professionsanspruch wie auch die „typischen“ Widersprüche überein, mit denen sie sich in Theorie und Praxis auseinander zu setzen haben.
(2) Daneben gibt es deutliche Unterschiede, die im gesellschaftlichen
Auftrag und Selbstverständnis gründen, sich in klar unterscheidbaren
Berufstraditionen rekonstruieren und die aktuelle professionspolitische
Auseinandersetzung prägen:
(a) Die Sozialarbeitswissenschaft ist eng mit der Idee des Sozialstaates
verbunden. Ihre „regulative Leitidee“ (Immanuel Kant) ist soziale Gerechtigkeit bezogen auf die Lebenschancen aller Gesellschaftsmitglieder. Die Krise des Wohlfahrtsstaates erfaßt daher auch die Soziale Arbeit. Als öffentliches Kontroll- und Kompensationshandeln gerät sie
von der Kostenseite und von der Legitimationsseite in Begründungsnot,
so daß der Wunsch nach wissenschaftlicher Reflexion und gesellschaftlicher Aufwertung stärker wird.
(b) Die Pflegewissenschaft ist stärker interaktionistisch orientiert. Ihre
regulative Leitidee ist der Wunsch nach menschlicher Unterstützung
und Hilfe angesichts des Leidens und der Sterblichkeit von Menschen.
Die Tabuisierung von Leid und Tod und die scheinbare Inflation von
Pflegebedarf drohen die Pflege nochmals zu deprofessionalisieren, die
durch den herrschenden medizinisch-industriellen Komplex ohnehin an
den Rand gedrängt war. Daraus wächst ein Zugriff auf Wissenschaft,
der sich ausdrücklich auch als weibliches Emanzipationsprojekt versteht.
(c) Die Gesundheitswissenschaft entwickelt sich aus der Tradition der
Aufklärung und dem Wunsch, sich aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ gegenüber der eigenen Lebensgestaltung zu befreien. Regulative
Leitidee ist hier der Wunsch nach Entfaltung des individuellen Lebenspotentials in der Spanne zwischen Geburt und Tod. Die Krise des Gesundheitssystems einerseits und die Neubewertung von Selbstverant206
AUF DEM WEG ZU „HUMANWISSENSCHAFTEN ZWEITER ORDNUNG“
wortung und gesundheitlicher Selbsthilfe andererseits verlangt nach einer Neuorganisation gesundheitsbezogener Dienstleistungen, die auf
rationale und wissenschaftlich begründbare Strategien zurückgreifen
können.
Bei allen Unterschieden ist die inhaltliche Nähe der drei Disziplinen offenkundig. Zusammen spannen sie einen Bogen für den Diskurs über
die Grundanliegen der Menschen und die Wirkungen der modernen Lebensweise, der sich nicht nur auf die individuelle Dimension, sondern
auch auf die kollektiven Rahmenbedingungen bezieht und neben sozioökonomischen und soziokulturellen auch die anthropologischen, humanbiologischen und ökologischen Voraussetzungen einer gelingenden
Lebensgestaltung berücksichtigt. Ein solches Mehrebenen-Verständnis
ist charakteristisch für die drei jungen Disziplinen und stützt die Bereitschaft zu interdisziplinärer Zusammenarbeit. Es legitimiert auch den
von uns vertretenen Wunsch nach einer multiprofessionellen Ausbildung und gemeinsamen Metaperspektive jenseits berufsständischer
Konkurrenz (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Reflexionsebenen im Vergleich
Diskursebene
Normative Fixierung
Sozialarbeitswissenschaft
Pflegewissenschaft
Gesundheitswissenschaft
1. Diskurs über Praxisziele
und Methoden
Lebensbewältigung/Case
Management
Hilfe zur Selbstpflege
Pflegemanagement
Gesundheitsförderung/Gesundheitsmanagement
2. Diskurs über die arbeitsteilige Berufsorganisation
Sozialarbeiter/
Sozialpädagogin
Krankenschwester
Pflegewirtin
Gesundheitswirtin
3. praxiswissenschaftlicher
Diskurs
Sozialarbeitswissenschaft
Pflegewissenschaft
Gesundheitswissenschaft
4. objektwissenschaftliche
Diskurse der
Bezugsdisziplinen
Sozialpolitik
Biologie/Psychologie
Public Health
5. metatheoretischer
Wissenschaftsdiskurs
Wissenschaft der
Sozialen Arbeit
6. philosophischer Diskurs
weitere Sozial- und Verhatlenswissenschaften
Metaparadigmen der
Pflegewissesnchaft
Gesundheitswissenschaft
körperlich-seelisch-soziale Verfügung über das eigene
Lebenspotential im Hinblick auf ein gelingendes Leben
207
ALBERT MÜHLUM, SABINE BARTHOLOMEYCZIK, EBERHARD GÖPEL
2. KRITIK UND SELBSTKRITIK
Der doppelte Spannungsbogen von Theorie und Praxis und von Affirmation und Fundamentalkritik klang in den Einzelbeiträgen immer wieder an. Wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung und mit abweichenden Begriffen, handelt es sich offenbar um Antinomien, die weder beruflich noch theoretisch befriedigend aufgelöst und am ehesten in ihrer
dialektischen Grundstruktur verstanden werden können, wie abschließend am Verhältnis von Profession und Wissenschaft sowie individueller und gesellschaftlicher Perspektive zu verdeutlichen ist.
(a) Wenn bisher die positiven Aspekte des Professionsanliegens betont
wurden, muß doch auch an seine Fragwürdigkeit erinnert werden, heißt
Professionalisierung doch immer auch Interessengebundenheit, Statussuche, quasi-ständische Organisation, normative Regulation, die im Extrem als fachliche Engstirnigkeit und spezifische Wichtigtuerei auftreten und in Vernebelungsaktivitäten münden, gebündelt in Paradoxien
wie Autonomie des Klienten versus Expertenmacht, ethischer Anspruch versus Berufsrealität. Alle drei Bereiche weisen im übrigen eine
charakteristische Mischung von Alltagsbewältigung, Laientätigkeit und
Expertentätigkeit auf. Daher ist eine Rückbindung an eine Reflexionsinstanz unverzichtbar. Wir stellen sie uns als kritische Berufswissenschaft
vor, die die Prämissen und Interessen offen zu legen und die tatsächlichen Professionseffekte empirisch zu analysieren hätte, – kritisch deshalb, weil Berufswissenschaften prinzipiell zu affirmativer Einstellung
tendieren und ihrerseits einer Metaebene bedürfen.
(b) Mit gleichem Recht muß aber auch Wissenschaft in Frage gestellt
werden, insbesondere jede Form einer Mystifizierung von Wissenschaft. Denn selbstverständlich gibt es auch hier Interessen (angedeutet
im Dauerkonflikt zwischen Fachhochschulen und Universitäten),
Machtkämpfe und Ritualisierungen, die hinter der Fassade der Selbstinszenierung von Wissenschaft leicht verschwinden, und zwar wiederum
zu Lasten der oft proklamierten Aufklärungsfunktion. Am Beispiel der
Praxistheorien Sozialer Arbeit, Pflege und Gesundheit wurde hinlänglich deutlich, wie ihre Rechtfertigungsfunktion in der Berufsgeschichte
dominierte und wie schwer es zu allen Zeiten aufklärerische Ansätze
haben. Als Gegenstrategie bietet sich zum einen eine Alltagskultur an,
die das Gefälle verringern hilft, zum Beispiel über die Entdifferenzierung von Spezialistentum und einen Zugewinn an Ganzheit, zum ande208
AUF DEM WEG ZU „HUMANWISSENSCHAFTEN ZWEITER ORDNUNG“
ren über die schon erwähnte metatheoretische Reflexionsinstanz. In der
Konsequenz bedeutet dies eine bewußte Gegenbewegung zum zentrifugalen Prozeß der Ausdifferenzierung, also eine zentripedale Bewegung
der Zusammenfügung. Dies gerät dann nicht in Widerspruch zu den hier
vertretenen Berufswissenschaften, wenn es als gemeinsamer Reflexionsrahmen organisiert würde – mit allen Konsequenzen für die oben beschriebenen Anliegen wie Rationalität, Identität und Integration (siehe
Abbildung 2).
Abbildung 2: Gemeinsame Meta-Ebene
Meta-Ebene als gemeinsame Reflexionsinstanz
angewandte
Wissenschaft
Sozialarbeitswissenschaft
Pflegewissenschaft
Gesundheitswissenschaft
Professionalisierung durch Rückgriff auf Wissenschaft
Zur Dialektik der Entwicklung gehört auch, daß eine „menschengerechte“ Wissenschaft Anliegen begründen und verteidigen muß, die selbst
der wissenschaftlichen Nachprüfung entzogen sind, weil sie auf Wertentscheidungen beruhen. Der mehrfach angesprochene normative Charakter erhält für angewandte Wissenschaften besondere Bedeutung hinsichtlich Privatheit, Selbstaktualisierung und Integrität von Personen,
denen zum Beispiel Zwangskontakte und alle Formen der Gewalt widersprechen. So werden Machtaspekte in Beruf und Wissenschaft unvermeidlich zum Thema. Gefahren wie berufliche Übergriffe, Beziehung als Mittel der Ideologie, Wissenschaft als Mittel der Distanzierung, Hilfe als Zwangsbeglückung sind bekannt und müssen doch stets
neu bewußt gemacht und bearbeitet werden. Daher ist die Frage, welcher Typus von Wissenschaft und welche Reflexionsebene dafür angemessen ist nicht nur erlaubt, sondern unabdingbar, so schwer auch ihre
Beantwortung sein mag. Rationalität von Wissenschaft ist eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung, und ein einseitiger Wissenschaftsbegriff birgt zum Beispiel die Gefahr der Verwissenschaftli209
ALBERT MÜHLUM, SABINE BARTHOLOMEYCZIK, EBERHARD GÖPEL
chung, weil komplementäre Anteile vernachlässigt werden, zumal in
der Spannung von Privatheit und Öffentlichkeit, von gewünschter Einflußnahme auf Lebensabläufe und drohender Bevormundung. Schließlich ist eine Enteignung von Alltagskultur durch Verberuflichung und
von Berufskompetenz durch Wissenschaft nicht auszuschließen.
Daneben gibt es noch einen weiteren Spannungsbogen, der für die „Soziale Arbeit“, „Pflege“ und „Gesundheitsförderung“ gemeinsam reflektiert werden kann. Zum Gegensatzpaar Individuum und Gesellschaft
lassen sich zwei unterschiedliche analytische Zugänge finden, die vereinfacht dichotomisch als Perspektive „von unten“ und „von oben“ vorstellbar sind:
(a) Aus Sicht des Individuums, also von der Basis her, werden die Anliegen des einzelnen, die Autonomie der Person und daher die „Hilfe zur
Selbsthilfe“ betont. Die Subjektstellung der Klienten fördert den Aufklärungs- und Emanzipationsaspekt und verweist auf „Humanwissenschaften“ als theoretische Basis.
(b) Aus Sicht der Gesellschaft, konkreter des Staates, werden Störungen
und problematische Situationen identifiziert und zum „Fall“ gemacht.
Die Objektstellung des Klienten fördert einen paternalistischen Aspekt
der Für-Sorge mit tendenzieller Entmündigung und verweist auf „Staatswissenschaften“ (moderner: Systemwissenschaft) als theoretische Basis.
Also auch hier eine Dialektik, die in der Berufsgeschichte nicht immer
bewußt war, mit der sich Theorie und Praxis aber auseinandersetzen
müssen. Sie legt den Wunsch nach einer wissenschaftlichen Metakommunikation nahe, die für Soziale Arbeit, Pflege und Gesundheit gemeinsam wegweisend sein könnte.
3. WISSENSEXPANSION UND PRAXISMODELLE
Im Zentrum der drei Einzeldarstellungen stehen – pragmatisch und reflektiert – Vorstellungen von einem gelingenden Leben, das unter den
Bedingungen der Moderne gefährdet ist und Unterstützung braucht. Die
gesellschaftliche Organisation entsprechender Hilfen bedient sich einschlägiger Institutionen und sozialprofessioneller Dienste, die ihrerseits
der wissenschaftlichen Rückbindung bedürfen. Dabei müssen die Anliegen der Menschen, ihre Befindlichkeiten und Reaktionen sowie mög210
AUF DEM WEG ZU „HUMANWISSENSCHAFTEN ZWEITER ORDNUNG“
liche Beurteilungsmaßstäbe auf einer Metaebene kommuniziert werden,
soweit sie sich dem empirisch-rationalen Wissenschaftsprogramm entziehen. Das Interesse an einer sinnstiftenden, gelingenden Lebensweise
ist gewiß existentiell angelegt, in seiner Ausdeutung aber subjektiv verschieden und doch auch wesentlich sozial vermittelt, zum Beispiel im
Leistungsmotiv der 50er und im Freiheitsmotiv der 60er Jahre, im
Wohlstandsmotiv der 70er und im Natur- und Ökologiemotiv der 80er
Jahre, – Orientierungen, die in den 90er Jahren vom Gesundheitsmotiv
überlagert werden und zusammengenommen eine eigentümliche Krise
des Sozialen provozieren. Diese Form der Individualisierung, der Vereinzelung und Verinselung und des Schwindens von „Normalbiographie“ mag als Verlust an Tradition bedauert werden, ist jedoch als Übergang zu einer „reflexiven Moderne“ (Ulrich Beck) wohl unausweichlich, verlangt aber auch nach spezifischen sozialprofessionellen Hilfen.
Diese wiederum versuchen darauf mit einer Ausweitung des beruflichen
Wissens und bewährten Praxismodellen angemessen zu antworten (siehe Abbildung 3).
Die Erweiterung des Wissens und seine Veränderung im Zeitverlauf sind
in der Abbildung 3 nach den Dimensionen zunehmende Abstraktion und
zunehmende Zweckorientierung angedeutet, ebenso die Überschneidungen der Qualifikationsstufen beruflichen Handelns und theoretischen
Wissens. Für die berufliche Wissensexpansion, die am Beispiel von Berufstheorien der Geschichte und dann vor allem anhand der jüngeren Wissenschaftsentwicklung für Sozialarbeitswissenschaft, Pflegewissenschaft
und Gesundheitswissenschaft als „angewandte Wissenschaften“ skizziert
wurde, sind die sozialprofessionellen Interventionen von besonderer Bedeutung. Auch hier ist auf die unterschiedlichen Dimensionen zurückzuverweisen, die aus Sicht der Gesellschaft, des Auftraggebers, des Berufsrollenträgers und der Nutzer in den Einzeldarstellungen erörtert wurden.
Je nach dem, welche Erkenntnisperspektive gewählt und welches professionelle Modell bevorzugt wird, ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen. Wie mehrfach angedeutet, gilt dies auch für die normative Orientierung und die – persönliche und fachliche – Verantwortlichkeit. Professionalität stützt sich ja nicht nur auf theoretisch begründetes, methodenbewußtes Handeln, sondern auch auf eine berufliche Selbstkontrolle,
die als moralische Selbstbindung, als informelle kollegiale Regulation
und als formale berufsständische Kontrolle wirksam ist (Berufsverbände,
Berufscodices und Berufskammern). Eine metatheoretische Betrachtung
hätte nicht nur diese normative Bindung und ihre Konsequenzen zu be211
ALBERT MÜHLUM, SABINE BARTHOLOMEYCZIK, EBERHARD GÖPEL
rücksichtigen, sondern viel grundsätzlicher die philosophische Reflexion
von Motiven und Erkenntnisgrundlagen zu leisten. Die Einzeldarstellungen lassen allerdings erkennen, daß die Disziplinen damit noch ganz am
Anfang stehen.
Abbildung 3: Berufliche Wissensexpansion in gesellschaftlicher Arbeitsteilung
zunehmende
Abstraktion
von Wissen
lebensweltliche
Kompetenz und
alltagspraktische
Vernunft
philosophische
Reflexion von
Motiven und
Erkenntnisgrundlagen
Anlernberuf
(regelgeleitetes Handeln)
Profession
(methodenbewußtes Handeln)
Praxiswissenschaft
(Reflexion professioneller Praxis
Bezugswissenschaften
(Reflexion disziplinärer Praxis)
Q
u
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l
i
f
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s
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n
zunehmende Zweckorientierung von Wissen
Wie die jeweils vorherrschenden theoretischen Erklärungsmodelle(=
Paradigmen) für die Wissenschaft, so haben bewährte und beispielhafte
Praktiken (= Praxismodelle) für die Profession prägende Bedeutung.
Obwohl in der Fachdiskussion selten thematisiert, sind beide doch über
Ekenntnisperspektiven miteinander verknüpft. So gründet beispielsweise eine strikte Einzelfall-Arbeit im wesentlichen auf einem biographischen Modell, während den situativen Handlungsansätzen eher ein psychosoziales oder ethnographisches Modell zugrunde liegt. Sozialräumliche oder umfeldorientierte Strategien greifen dagegen auf ökosoziale
Modellvorstellungen zurück (siehe Abbildung 4).
212
AUF DEM WEG ZU „HUMANWISSENSCHAFTEN ZWEITER ORDNUNG“
Abbildung 4: Praxismodelle im Verhältnis zu Erkenntnisperspektiven
sachlogischerklärend
(mechanistisch)
ökologisches
Modell
biomedizinisches
Modell
Binnenorientierung
Organismus
Person
Mentale
Repräsentation
biographisches
Modell
Lokalitäten
Gemeinschaft
Außenorientierung
ethographisches
Modell
sinnlogischverstehend
(humanistisch)
Der Mensch als bio-psycho-soziales Wesen setzt in ganzheitlichem Anspruch zwingend eine integrative Perspektive voraus, eine Perspektive,
die erkenntnistheoretische und professionspolitische Voraussetzungen
hat. Dazu zählen gewiß Interdisziplinarität in der Theorie und Multiprofessionalität in der Praxis. Eine integrierende Klammer für die hier behandelten Disziplinen ist der Bezug auf Unterstützungsbedarf von Menschen zur Sicherung der Selbstverfügung über die eigene Lebensgestaltung. Angesichts mannigfacher Gefährdungen besteht ein gesellschaftlicher Regelungsbedarf, für den die Wissenschaften ihren Beitrag – einzeln
und gemeinsam – leisten müssen. Meta-Theorie hätte dafür, im Sinne einer übergreifenden Theoriebildung, eine integrierende Strukturierung der
erfahrbaren Wirklichkeit und eine sinnstiftende Zuordnung von Teilbereichen zu jener Ganzheit zu ermöglichen.
213
ALBERT MÜHLUM, SABINE BARTHOLOMEYCZIK, EBERHARD GÖPEL
4. AUF DEM WEG ZU HUMANWISSENSCHAFTEN ZWEITER ORDNUNG
Die epochalen Umbrüche machen auch vor Professionen und Disziplinen nicht halt. Diese grundsätzlich in Frage zu stellen heißt auch, neu
zu begründen, was unter den Bedingungen der Jahrtausendwende notwendig ist. Eine pragmatische Reflexion des Berufsalltags genügt dafür
ebensowenig wie eine handlungsorientierte, normativ gebundene Theoriebildung im Sinne der hier beschriebenen angewandten Wissenschaften. Vielmehr müssen die institutionellen Grundlagen selbst reflektiert werden, und das bedeutet, die Moderne selbst einschließlich ihrer Wissenschaft zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Die
Erkenntnisbemühungen in bezug auf Alltag und Lebensführung (–>
Alltagswissen), Beruf und Lebensbewältigung (–> Praxiswissenschaften oder „Humanwissenschaften erster Ordnung“), Handlungstheorie
und angewandte Wissenschaft (–> Metatheorie oder „Humanwissenschaften zweiter Ordnung“) zu unterscheiden, bedeutet nicht zwingend
jene hierarchische Über-Unter-Ordnung, die sich Wissenschaft allzu oft
anmaßt. Notwendig ist vielmehr eine Enthierarchisierung, die das Alltagsverständnis ernst nimmt, statt denunziert und Wissenschaft als eine
Betrachtungs- und Verständigungsweise neben anderen begreift, von
denen keine verzichtbar ist. Statt einer disziplinären Engführung oder
einer bloß additiv verstandenen biopsychosozialen Perspektive vertreten wir grundsätzlich einen ganzheitlichen Denkansatz, der systemischholistisch genannt werden mag und von einer „Heterarchie“ der Wissens- und Erkenntnisweisen, also einem ständigen Positionswechsel
ausgeht. Weder dominiert hier Wissenschaft die Erkenntnisgewinnung
und diese die Praxis, noch umgekehrt. ForscherInnen, PraktikerInnen
und Betroffene ermöglichen vielmehr wechselseitig Erkennen und Verstehen von Wirklichkeit, – eine Integrationsleistung besonderer Art, die
sich „professionell“ in methodischen und ethischen Prinzipien abbildet.
Dies verlangt allerdings auch neue Formen des Austauschs und der
Selbstreflexivität. Am Beispiel der Institutionalisierung der Berufe
konnte gezeigt werden, daß die Soziale Arbeit, die Pflege und die Gesundheitsförderung durch pragmatische „Setzung“ und gerade nicht
aufgrund vorgängiger Theorie entstanden, – ein Primat der Praxis, der
fast trivial anmutet, aber Konsequenzen hat. Vielleicht wurde es den
Professionen zu leicht gemacht, wurden ihnen zu wenig intellektuelle
Anstrengungen zur Positionsklärung und Sinnfindung abverlangt, mit
214
AUF DEM WEG ZU „HUMANWISSENSCHAFTEN ZWEITER ORDNUNG“
allen Folgen eines platten Pragmatismus, der nun mit der „normativen
Kraft des Faktischen“ (Max Weber) Veränderungen entgegensteht.
Die wünschenswerte Selbstklärung, die Bereitschaft zum Lernen (Verändern) und eine systematische Erkenntnisgewinnung werden dagegen
durch eine Reflexionskultur gefördert, die sich in und außerhalb der Profession entfalten kann, aber eine gewisse Unabhängigkeit und Entlastung vom Entscheidungsdruck des beruflichen Alltags braucht, nicht
zuletzt um den Wandel der Profession anregen und korrigierend begleiten zu können. Die Entwicklung der Disziplinen als gesellschaftliche
Erkenntnisanstrengung, Lebensdeutungen in der modernen Welt in einer rationalen Verständigungsform sinnstiftend und handlungsorientierend auch für arbeitsteilige Tätigkeiten aufzubereiten, gewinnt nur in
dem Maße Glaubwürdigkeit und öffentliche Unterstützung, als sie sich
nicht von Partialinteressen bestimmen läßt, sondern sich in einer inklusiven Form um einen vorurteilsfreien Diskurs bemüht, der sich gleichwohl Grundsätzen und Grundwerten verpflichtet weiß. Aufgabe angewandter Wissenschaften ist dabei vorrangig, systematisches Wissen für
Praxis und über Praxis bereitzustellen, „Reflexionswissen“ also, das
Konsequenzen für professionelles Handeln und für die Neustrukturierung von Praxis, aber auch Konsequenzen für die Gesellschaft und ihre
Institutionen hat. Dieser Anspruch verlangt, sich aktuellen Anforderungen zu stellen, über eine Neubestimmung der Professionen nachzudenken, zukunftsfähige Lösungen zu initiieren und zu einer neuen tragfähigen Institutionalisierung beizutragen. Dafür gibt es eine defensive und
eine offensive Option: (a) Veränderungen der Professionen als bloße
Anpassungsreaktion auf sozialstaatliche Verwerfungen zu verstehen
und diesen Prozeß im Sinne einer reflexiven Hilfestellung zu begleiten;
oder (b) Professionen mit Blick auf schwierige Lebenssituationen generell (nicht nur unter akutem Modernisierungsdruck) neu zu überdenken
und kreative Lösungen zu entwerfen, um auf diese Weise Zukunft –
auch in neuen Praxisformen und Berufsstrukturen – zu gestalten.
Wir plädieren für die zweite Option, weil neue Antworten „Jenseits von
Links und Rechts“ (Giddens 1997) notwendig sind, um im neuen Jahrtausend bestehen zu können. Denn eine kritische Bilanz kann vor dem
notwendigen Umbau der institutionellen Vorgaben und sozialstaatlichen Organisationen nicht länger die Augen verschließen. Die Dynamik
dieser Entwicklung zu reflektieren, in Praxis, Forschung und Lehre aufzugreifen und in einem gemeinsamen Denkprozeß aller Beteiligten zu
215
ALBERT MÜHLUM, SABINE BARTHOLOMEYCZIK, EBERHARD GÖPEL
bearbeiten wäre Voraussetzung dafür, dem sozialen Wandel nicht selbst
hilflos, ja politisch bewußtlos, ausgeliefert zu sein, ihn vielmehr buchstäblich und im übertragenen Sinne zu humanisieren.
Nach unserem Verständnis ist dazu eine Vorstellung von gelingendem
und ungeteiltem Leben nötig, die sich den spezialisierten Disziplinen
entzieht und bewußt normativ Position bezieht. Die Sinnhaftigkeit von
Arbeitsteilung und Handlungsmethoden läßt sich rational nur im Wechselbezug von Gesamtentwurf und Teilbestimmung rekonstruieren, wozu
es nicht nur der reflexiven Haltung des Professionellen bedarf. Vielmehr muß auch eine wissenschaftliche Reflexion der Dialektik von Teil
und Ganzem möglich sein, ein Wissenschaftsdiskurs als „Ganzheitsdiskurs“, der im Zusammenhang von Sozialer Arbeit, Pflege und Gesundheit mehrfach angemahnt wurde. So hilfreich und notwendig nämlich
wissenschaftliche Arbeitsteilung und ihre Konzentration auf Teilaspekte ist, so offenkundig sind auch die Grenzen eines reduktionistischen Erkenntnisprogramms. Immer dringlicher wird in den Sozialwissenschaften selbst die Frage nach dem Verbindenden gestellt (zum Beispiel
Beck/Bonß 1989; Deutscher Soziologentag 1996), vermutlich mehr ahnend als wissend, daß der Preis für eine fortgesetzte Aufspaltung und
immer größeres Detailwissen im besten Falle im Verlust praktischer Relevanz, schlimmstenfalls in einer Enthumanisierung von Mensch und
Gesellschaft besteht. Dann genügt es auch nicht, auf Philosophie und
Ethik als Widerlager zu verweisen. Der Mensch als Ganzes muß vielmehr im Blick und Auftrag der Disziplinen bleiben, die sich mit seinen
Grundanliegen beschäftigen.
Wir können noch keinen zufriedenstellenden Vorschlag für die Umsetzung dieser Forderung präsentieren, sehen aber die wachsende Dringlichkeit und wollen für dieses Anliegen werben. Die vergleichende Darstellung der drei Disziplinen soll daher auch nicht apologetisch- affirmativ
– im wohlbekannten Ringen um bessere Positionen in Wissenschaft und
Gesellschaft – schließen, sondern mit der Hoffnung auf einen metatheoretischen Diskurs, der dieses Anliegen aufgreift. Ein Diskurs, unter dessen Dach Praxiswissenschaften und disziplinäre Bezugswissenschaften
ihre je eigene Perspektive verfolgen können, der aber um Synthese und
Ganzheit bemüht ist, ein Diskurs, der das Gemeinsame im Blick hält und
anschlußfähig bleibt für andere Reflexionsebenen, ein Diskurs schließlich, der wissenschaftstheoretischen Ansprüchen genügt und dennoch
eine neue Reflexionskultur begründet. Die Disziplinen könnten dann zu
216
AUF DEM WEG ZU „HUMANWISSENSCHAFTEN ZWEITER ORDNUNG“
Hoffnungsträgern für eine menschengerechte Berufspraxis und für ein
neues, ganzheitlich orientiertes Wissenschaftsverständnis, also „Humanwissenschaften zweiter Ordnung“, werden.
217
Sozialarbeitswissenschaft.
Eine Sozialwissenschaft neuer Prägung –
Ansätze einer inhaltlichen Konturierung
Reiner Feth
1. EINLEITENDE VORBEMERKUNG
Die Debatte um die Soziale Arbeit als Wissenschaft ist in den letzten vier
Jahren mit besonderer Intensität entflammt. Ausgelöst hat diese Debatte
das Buch von Ernst Engelke (1992) „Soziale Arbeit als Wissenschaft“.
In der Zwischenzeit sind eine Vielzahl weiterer Veröffentlichungen hinzugekommen. Ergänzt wird diese Diskussion durch Symposien, Tagungen und Workshops, die insgesamt dokumentieren, dass sich bereits eine
gut funktionierende scientific community zu diesem Themenkomplex
etablieren konnte. Sommerfeld kennzeichnet diese Entwicklung gar als
„soziale Bewegung“, die die Kritik an der unbefriedigenden wissenschaftlichen Verfasstheit der Sozialen Arbeit eint (Merten/Sommerfeld/
Koditek 1996). Historisch gesehen ist es keine neue Debatte, aber von anderer Qualität und eine längst fällige. Gerade die Bedeutung der Sozialen
Arbeit als unverzichtbares Steuerungselement im Ausdifferenzierungsprozess moderner Gesellschaften und als wichtige Legitimationsquelle
demokratischer Sozialstaaten verlangt nach immer mehr wissenschaftlicher Fundierung. Will sich Sozialarbeit diesen Herausforderungen stellen, dann muss sie sich konsequenterweise zu einer eigenständigen sozialwissenschaftlichen Disziplin emanzipieren. Aus der Perspektive einer
sich arbeitsteilig ausdifferenzierenden Sozialwissenschaft dürfte diese
Forderung durchaus begründet sein.
Um das Thema Sozialarbeitswissenschaft hat sich zwischenzeitlich eine
rege akademische Streitkultur entwickelt, die sowohl mit großer Ernsthaftigkeit als auch mit polemischer Heftigkeit geführt wird, insbesondere dann, wenn vermeintlich akademische Besitzstände verteidigt werden müssen. Ungelöst ist nach wie vor der „Erbfolgestreit“ zwischen
Sozialpädagogik und Sozialarbeit um die disziplinäre Ortsbestimmung
der Sozialen Arbeit als Wissenschaft. Jedoch wird der Alleinvertretungsanspruch der universitären Sozialpädagogik, als disziplinäre Hei218
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
mat der Sozialarbeit zu gelten, immer stärker in Zweifel gezogen (Erath/
Göppner 1996). Inhaltlich beschäftigt sich diese Diskussion überwiegend mit den Themen der Professionalisierung, der Disziplinbildung,
der Gegenstandsbestimmung und der wissenssoziologischen Einordnung Sozialer Arbeit.
Die Praxis der Sozialen Arbeit steht dieser zum Teil sehr abgehobenen
akademischen Diskussion eher zwiespältig gegenüber. Dies gilt insbesondere für die Professionalisierungsdebatte, die in manchen Facetten
der Praxis nicht mehr vermittelbar ist. Gildemeister (1992) hat zwölf unterschiedliche Professionsmodelle gezählt, die in den letzten Jahren diskutiert wurden. Die Forderung nach einer eigenständigen Wissenschaft
der Sozialen Arbeit wird zwar grundlegend begrüßt, jedoch werden immer wieder Befürchtungen geäußert, dass mit dieser neuen Qualität an
Verwissenschaftlichung der Verlust an Praxisnähe vorprogrammiert ist,
der den altbekannten Vorwurf der Praxisferne nährt (zum Beispiel Stellungnahme des Deutschen Städtetages von 1977). Müller/Gehrmann
(1994) haben innerhalb dieser Debatte bereits sehr deutlich auf die mangelnde Praxisrelevanz hingewiesen. Solche Befürchtungen der Praxis
sind ernst zu nehmen und legen deshalb den Umkehrschluss nahe, dass
eine Wissenschaft der Sozialen Arbeit nur eine „Wissenschaft mit und
für die Praxis“ sein kann, wie dies bereits von Alice Salomon gefordert
wurde.
Wenn die Etablierung der Sozialarbeitswissenschaft in absehbarer Zeit
gelingen soll, dann muss mehr an der inhaltlichen Konzeption der Disziplin gearbeitet werden. Und wenn der Aussage von Stichweh zuzustimmen ist, dass eine wissenschaftliche Disziplin das in „lehrbare Form
gebrachte Wissen“ darstellt und somit als Wissenssystem gilt, das auf
der einen Seite aus dem Handlungsfeld der Profession Wissen bezieht
und auf der anderen Seite als wissenschaftliches Bezugssystem für die
Profession fungiert, dann ist damit richtungsweisend etwas über die inhaltliche Systematik der Disziplin vorgezeichnet (Stichweh 1992). Meine Ausführungen werden sich mit folgenden Fragen beschäftigen:
Wie könnte eine in lehrbare Formen gebrachte Sozialarbeitswissenschaft inhaltlich konturiert werden? Lassen sich die Wissensbestände
im System der Sozialen Arbeit so ordnen, dass sich hieraus Ansätze einer inhaltlichen Systematik der Sozialarbeitswissenschaft ableiten lassen? Wie kann aus dieser Perspektive das Beziehungsverhältnis zwischen Disziplin und Profession näher bestimmt werden? Ergeben sich
219
REINER FETH
für die Gegenstandsbestimmung bestimmte Konsequenzen? Und welches Professionsmodell müsste einem Studium der Sozialen Arbeit zugrunde liegen, das die Sozialarbeitswissenschaft zur curricularen Leitdisziplin erhebt?
2. DIE WISSENSORGANISATION IM
GESELLSCHAFTLICHEN TEILSYSTEM SOZIALE
ARBEIT
Aus inhaltlich formalen Gründen unterteilt Engelke Soziale Arbeit in
drei Bereiche: Soziale Arbeit als Wissenschaft, Soziale Arbeit als Praxis
und Soziale Arbeit als Ausbildung, die untereinander zirkulär verbunden sind und sich alle in eigenständiger Weise auf denselben Gegenstand sozialer Arbeit beziehen (Engelke 1992, 11).
Abbildung 1: Soziale Arbeit als Wissenschaft, Praxis und Ausbildung
Er befasst sich ausschließlich mit der Sozialen Arbeit als Wissenschaft.
Diese Beschränkung übersieht m.E. den funktionellen Zusammenhang
zwischen den einzelnen Bereichen. Ich greife diesen formalen Funktionszusammenhang auf und möchte ihn im folgenden einer systemtheoretischen Betrachtung unterziehen, um auf diese Weise den Zusammenhang von Disziplin und Profession näher bestimmen zu können.
220
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Aus systemtheoretischer Sicht lassen sich die vier Bereiche als Subsysteme eines komplexen Systems Soziale Arbeit beschreiben. Dieses System Soziale Arbeit ist als funktionsrelevantes Teilsystem der Gesellschaft zu kennzeichnen, das für einen gesellschaftlich zugewiesenen
Aufgabenbereich Leistungen zu erbringen hat, die zum Erhalt der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft beitragen sollen. In diesem Sinne kann
Soziale Arbeit ihre Funktionalität und damit auch ihre gesellschaftliche
Legitimation nur sichern, wenn sie durch die Qualität ihrer Problemlösungs- und Steuerungsstrategien zu überzeugen versteht. Die Qualität
dieser Leistungen ist also auch im wesentlichen davon abhängig, wie
und mit welchen Auswirkungen das Wissen in diesem System produziert, geordnet, weitergegeben, angewandt und zur Problemlösung eingesetzt wird. Auf dem Hintergrund der folgenden Grafik wird das Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Subsystemen Sozialer Arbeit
mit Blick auf ihre Wissensorganisation einer näheren Betrachtung unterzogen.
In Anlehnung an Engelke soll damit verdeutlicht werden, dass das gesellschaftliche Teilsystem Soziale Arbeit als komplexes Sozialsystem zu
betrachten ist, das sich aus vier eigenständigen Subsystemen beziehungsweise aus vier eigenständigen Praxisbereichen zusammensetzt,
die sich im Kontext unterschiedlicher Selektionshorizonte und Rationalitätskonzepte bewegen, autopoetische Züge aufweisen und folglich in
ihrer Funktionsweise relativ autonom agieren können (Willke 1987). Jedes dieser Subsysteme ist durch typische Handlungsbedingungen und
Entscheidungszwänge geprägt. Diese Bestimmungsmerkmale haben
konkrete Auswirkungen auf das Verhältnis von Theorie und Praxis, auf
das Professionsverständnis und auf die Programmatik einer Sozialarbeitswissenschaft einschließlich ihrer Gegenstandsbestimmung und
Ausbildungskonzeption.
221
REINER FETH
Abbildung 2: Soziale Arbeit als komplexes Teilsystem der Gesellschaft
2.1 Die wissenschaftliche Praxis Sozialer Arbeit
Das wissenschaftliche Wissen in diesem Subsystem wird von Wissenschaftlern produziert, die verschiedenen Fachdisziplinen (Erziehungswissenschaftler, Soziologen, Psychologen etc.) und Organisationskontexten (Universitäten, Fachhochschulen und Forschungsinstitute) angehören und die mit ihrer fachspezifischen Identität Aspekte aus der Praxis
der Sozialen Arbeit beforschen. Dieses sogenannte multireferentielle
Bezugsystem Sozialer Arbeit (Erath/Göppner 1996) produziert ein Wissen, das sie der professionellen Praxis Sozialer Arbeit als reflexives
Steuerungswissen zur Verwendung anbietet. Als reflexives Steuerungs222
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
wissen soll es der Praxis angemessene Deutungsmuster liefern, um
brauchbare alternative Lösungsmöglichkeiten für sozialarbeiterische
Handlungsprobleme aufzeigen zu können. Es ist ein Wissen, das stark
von einem „disziplinären Partikularismus“ (Obrecht 1993) geprägt ist
und infolge dessen Probleme Sozialer Arbeit disziplinspezifisch fragmentiert. Der quantitative und qualitative Umfang dieses Wissens mag
zwar in gewisser Weise die Verwissenschaftlichung Sozialer Arbeit vorantreiben, jedoch fehlt ein identifizierbarer Wissenschaftskern, der dieses fraktale „Patchwork“ an Wissensbeständen in einen inhaltlich überschaubaren Zusammenhang stellt.
Der Disziplinbildungsprozess einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit ist
m.E. erst dann hinreichend abgeschlossen, wenn sich wissenschaftliche
und professionelle Praxis auf eine eigenständige Fachsystematik verständigt haben, die der Komplexität sozialarbeiterischer Praxis einigermaßen gerecht wird. Dieser Aspekt wird in der aktuellen Diskussion zur
Sozialarbeitswissenschaft kaum reflektiert. Eine solche Fachstruktur
kann sich nur aus einer Binnenperspektive sozialarbeiterischer Praxis
und ihrer handelnden Akteure entwickeln, die die impliziten Themen
(Sachverhalte, Probleme, Prozesse, Verfahren, Interventionen, Organisationsformen, Strukturen, Theorien etc.) sozialarbeiterischer Praxis explizit macht, sie wissenschaftlich kategorisiert, systematisiert und in einen inhaltlichen Zusammenhang stellt. Erst dann kann sich über eine solche Fachsystematik eine semantische Fachstruktur bilden, die durch ihre
spezifische Verkehrssprache mehr Eindeutigkeit und Klarheit verspricht
und die die Ausformung einer disziplinären Identität erleichtert. Außerdem erhalten die einzelnen Bezugswissenschaften dadurch einen Bezugsrahmen, der es ihnen ermöglicht, einen sinnvollen interdisziplinären Zusammenhang herzustellen.
Auf diesem Hintergrund ist bereits zu erkennen, dass die Sozialarbeitswissenschaft fachsystematisch eine Sozialwissenschaft neuer Ordnung
darstellen könnte, deren Ausdifferenzierungsphase noch bevorsteht.
Dies deutet eine Entwicklung an, die den Alleinvertretungsanspruch der
universitären Sozialpädagogik, die wissenschaftliche Grundlage der Sozialarbeit zu sein, in Frage stellt, ungeachtet der großen Verdienste, die
sie sich für die wissenschaftliche Fundierung der Sozialen Arbeit erworben hat (Erath/Göppner 1996).
223
REINER FETH
2.2 Die professionelle Praxis Sozialer Arbeit
In diesem Sozialsystem wird ebenso wie in der wissenschaftlichen Praxis eine komplexe Vielfalt an berufspraktischem Wissen produziert, die
über eigene Kommunikationssysteme (Fachzeitschriften, Fort- und
Weiterbildungsseminare, Tagungen etc.) der beruflichen Praxis zur Verfügung gestellt wird. Die Wissensproduktion orientiert sich an einem
Rationalitätskonzept, das situativ und zweckrational ausgerichtet ist. Bei
analytischer Betrachtung dieser Wissensbestände zeigt sich sehr deutlich, wie selektiv wissenschaftliches Wissen in die Praxis transformiert
wird und sich dort in Praxistheorien verwandelt, die wiederum ihr innovatives Potential entfalten, wenn sie sich wieder reflexiv auf wissenschaftliches Wissen beziehen. Die „Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens ist demzufolge ein eigenständiger Prozess, der nicht … auf
das Problem der bloßen Anwendung „wahren“ Wissens reduziert werden kann. Vielmehr sind eigensinnige Aneignungsprozesse … in Rechnung zu stellen, die sozialwissenschaftliches Wissen aus seinem wissenschaftlichen Entstehungskontext selektiv herauslösen und unter pragmatischen Gesichtspunkten nutzen“ (Dewe/Otto 1996, 149). Dies macht
deutlich, dass der Unterschied zwischen Theorie und Praxis im Grunde
genommen nur noch gradueller Natur ist (Lüders 1989, 220).
Die Komplexität der in diesem Subsystem produzierten Bestände an Praxiswissen führt zu einer Unübersichtlichkeit, die den Reflexionsprozess
zwischen Theorie und Praxis zusätzlich erschwert. Deshalb ist eine grundlegende, arbeitsfeldübergreifende, inhaltlich geordnete Themenstruktur
erforderlich, die diese Unübersichtlichkeit der Wissensbestände zu überwinden hilft. Erst dann können die Beziehungen zwischen Theorie und
Praxis kommunizierfähiger gestaltet beziehungsweise die gegenseitige
Rezeptionsfähigkeit gesteigert werden. Wie bereits ausgeführt, müsste
die inhaltliche Grobstruktur dieser berufspraktischen Wissensbestände
mit der disziplinären Fachsystematik einer wissenschaftlichen Sozialarbeit übereinstimmen.
2.3 Soziale Arbeit als Studium und als Ausbildungspraxis
Dieses Subsystem gilt funktional als Vermittlungsinstanz zwischen
Theorie und Praxis. Es hat die Aufgabe wissenschaftliches und berufspraktisches Wissen in einen reflexiven Zusammenhang zu stellen, da224
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
mit sich eine professionelle Handlungskompetenz ausformen kann (Lüders 1989, 204). Es folgt weder der Logik der wissenschaftlichen Wissensproduktion noch den Mustern der professionellen Praxis im
Umgang mit berufspraktischem Wissen. Es ist ein eigenständiges Sozialsystem, das in hochschulpolitische Rahmenbedingungen eingebettet
ist, das vom Sozialprofil und der Lebenswelt der Studierenden geprägt
wird und eigene Handlungsmuster und Umgangformen mit Wissen ausgebildet hat.
Der bestimmende wissenschaftliche Kern des Studiums der Sozialen Arbeit wird nach wie vor über eine Vielzahl von Bezugswissenschaften
vermittelt, die unterschiedlichen Disziplinen zuzuordnen und deren
Wissensbestände mehr oder weniger additiv miteinander verbunden
sind. Ein solch multireferentielles Beschreibungs-, Erklärungs- und
Handlungswissen bleibt inhaltlich relativ unbestimmt, solange eindeutige Bezugspunkte fehlen. Dieser Mangel kann nur durch eine entsprechenden Fachsystematik behoben werden, die, wie oben ausgeführt, die
Themen der professionellen Praxis zum inhaltlichen Bezugspunkt erklären. In eine so konzipierte themenorientierte Fachsystematik lassen sich
die Wissensbestände der einzelnen Bezugswissenschaften wesentlich
besser integrieren und ihre interdisziplinäre Ausrichtung klarer konturieren. Über diese Form der „Disziplinierung“ von Wissensbeständen
wird eine curriculare Leitlinie formuliert, die die disziplinäre Eigenständigkeit der Sozialarbeitswissenschaft dokumentiert und bessere Voraussetzungen zur Ausformung einer disziplinären Identität schafft.
Insbesondere für die berufspraktischen Wissensanteile im Studium ist
eine so konzipierte Fachsystematik geradezu disziplinkonstitutiv, denn
„keine Handlungswissenschaft kann, wenn sie nicht irgendwann ins
Leere laufen und den Bezug zur Praxis verlieren will, auf Praxis verzichten“ (Lüders 1989 S. 213). Um jedoch eine additive Verknüpfung
von Theorie und Praxis zu vermeiden, bedarf es spezifischer Lehr- und
Lernformen (Projektstudium, Theorie-Praxis-Seminare, forschendes
Lernen etc.), die den reflexiven Prozess zwischen Theorie und Praxis effizienter gestalten können.
Die Befürchtung, dass durch eine themenorientierte Fächerstruktur die
Lehre zu einem „diffusen Brei gerinnt“, wie Vahsen vermutet, kann hier
nicht geteilt werden und müsste erst einer empirischen Überprüfung
standhalten (Vahsen 1996, 19). Auch Erath/Göppner (1996, 198) plädieren „notgedrungen“ und mangels anderer Alternativen dafür, diesen
225
REINER FETH
multireferentiellen Bezugsrahmen von Fachdisziplinen beizubehalten,
solange der Theoriebildungsprozess in der Sozialen Arbeit noch nicht
abgeschlossen ist. Dabei wird übersehen, dass der erste Schritt im Theoriebildungsprozess bereits leistbar wäre, nämlich die Kategorisierung
und inhaltliche Systematisierung der Themen professioneller Praxis.
Mangels Alternativen verspricht die Rückbesinnung auf „gute Grundlagenkenntnisse“ in den einzelnen Fachdisziplinen eher einer Kapitulation vor der Komplexität der Praxis Sozialer Arbeit und zeigt keinen Ausweg aus dem Dilemma eines additiv organisierten Disziplinwissens
(Vahsen 1996).
2.4 Die Lebenspraxis als Gegenstandsbereich Sozialer Arbeit
Wie bereits ausgeführt, ist die gesellschaftliche Legitimation Sozialer
Arbeit als Profession und als Disziplin eng verknüpft mit der Zuständigkeit für einen gesellschaftlich ausgewiesenen Aufgabenbereich, der über
einen eigenen Gegenstands- beziehungsweise Objektbereich verfügt.
Die wissenschaftliche Praxis der Sozialen Arbeit produziert über diesen
Objektbereich Wissen, das sie der professionellen Praxis zur Verfügung
stellt, damit diese auf den Gegenstand verändernd einwirken kann. Dieses Einwirken (Intervention) ist an spezifische Bearbeitungsformen gebunden, die Soziale Arbeit als Profession und Disziplin ethisch legitimieren. Aus dieser Sicht übernimmt Soziale Arbeit als Profession soziale Verantwortung für die Gestaltung des Sozialen in diesem Teilsystem
gesellschaftlicher Praxis. Sie beruft sich dabei auf die Sozialstaatsidee
(Formalperspektive) als zentrale ethische Legitimationsquelle. Sie setzt
sich auf der gesellschaftlichen Ebene für mehr Humanität und soziale
Gerechtigkeit ein, trägt zur Förderung von Solidarität und Gemeinsinn
bei und leistet auf der individuellen Ebene (Materialobjekt) Hilfe zur
Selbsthilfe bei der alltäglichen Lebensführung spezifischer Adressaten/
innen.
Dieses Einwirken auf den Gegenstandsbereich, mit dem Ziel Veränderungen herbeizuführen, ist ein komplexer Interventionsprozess, der von
rechtlichen, organisatorischen, ökonomischen, ethischen und politischen Rahmenbedingungen abhängig ist, die unmittelbar funktionale
Auswirkungen auf den Veränderungsprozess haben. Insofern gibt es neben dem zentralen Objektbereich im engeren Sinne, weitere funktional
abhängige Gegenstandsbereiche, die sich auf die komplexe Handlungs226
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
struktur sozialarbeiterischer Praxis beziehen. Im Verständnis einer Sozialarbeitswissenschaft als Handlungswissenschaft ist diese mehrdimensionale Gegenstandskonstellation konstitutiv für den Handlungsbezug professioneller Praxis und kennzeichnend für handlungswissenschaftliche Konzepte, die sich durch größere Gegenstandsadäquatheit
und Realitätsnähe auszeichnen.
Mit dem Konzept der alltäglichen Lebensführung ist ein Gegenstandsbereich thematisiert, der im wissenschaftlichen Sinne theoriefähig ist
und für die Praxis Handlungsrelevanz besitzt. Dies soll im weiteren
noch näher ausgeführt werden.
Die Argumentationslinie im Zusammenspiel zwischen Sozialarbeit als
Wissenschaft, als Profession und als Ausbildungs- und Lebenspraxis
möchte ich noch einmal zusammenfassen:
(1) Alle wesentlichen Anforderungen, die auf der erkenntnistheoretischen Ebene an eine wissenschaftliche Disziplin zu stellen sind, sind sowohl aus der Perspektive ihres Formalobjektes als auch ihres Materialobjektes erfüllt. Die Schwierigkeiten, die sich bei der Etablierung der
Sozialarbeitswissenschaft als eigenständige wissenschaftliche Disziplin
zeigen, sind eher politischer beziehungsweise hochschulpolitischer Natur.
(2) Auf der Ebene des Beziehungsverhältnisses zwischen Wissenschaft
und Profession besteht in gewisser Weise ein Konkurrenzverhältnis
zwischen diesen beiden Subsystemen. Der Wissenschaftler und der
Praktiker stehen sich als Experten gegenüber, die sich auf den gleichen
Gegenstandsbereich beziehen und ihr Wissen aus der gleichen Quelle
schöpfen. Jedoch kann das wissenschaftliche Wissen nicht mehr den
Anspruch erheben, dem Praxiswissen prinzipiell überlegen zu sein, sondern es muss seine Praxisrelevanz und damit seine Verwendungstauglichkeit erst unter Beweis stellen. Die Ergebnisse der Verwendungsforschung indizieren hier einen grundsätzlichen Rationalitätsbruch, der
von Seiten der Wissenschaft nicht mehr überbrückt werden kann (Lüders 1989, S.216). Über die Praxisrelevanz von wissenschaftlichem
Wissen entscheidet letztlich situationspragmatisch der Praktiker vor
Ort. Demzufolge lässt sich die Praxisrelevanz von wissenschaftlichem
Wissen nur steigern, wenn dieses Wissen für den Praktiker eine hohe
Verwendungstauglichkeit besitzt, um dann im Sinne eines Transformationsprozesses innovatives Praxiswissen erzeugen zu können, was Luh227
REINER FETH
mann als „nicht-identische Reproduktion“ von Wissen bezeichnet
(Luhmann 1977, S. 32). Eine solch innovierende Funktion von wissenschaftlichem Wissen setzt jedoch einen Kommunikationsprozess zwischen wissenschaftlicher und professioneller Praxis voraus, der sich an
klaren inhaltlichen Strukturen orientiert, die nur durch eine gemeinsame
inhaltliche Fachsystematik zu gewährleisten ist.
(3) In der aktuellen Professionalisierungsdebatte werden aus den Ergebnissen der Verwendungsforschung (Beck/Bonß 1989) kaum Konsequenzen gezogen. Sie fokussiert mehr ihre Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen einer handlungsentlasteten Wissenschaft und einer
handlungsbelasteten Praxis. Diese beiden Strukturprinzipien können das
Kernproblem des Theorie-Praxis-Verhältnisses nur unzureichend beschreiben, wenn der Transformationsprozess von wissenschaftlichem
Wissen in die professionelle Praxis nicht mit reflektiert wird.
(4) Die Sozialarbeitswissenschaft muss zur curricularen Leitdisziplin
im Studium der Sozialen Arbeit erhoben werden. Dies ist weniger ein
formal-wissenschaftliches, sondern vielmehr ein inhaltlich-konzeptionelles Problem, das es zu lösen gilt. Außerdem sollen die Ergebnisse der
Verwendungsforschung genutzt werden, um spezielle Kompetenzprofile im Studium auszuformen, die den Transformationsprozess von wissenschaftlichem Wissen in innovatives Praxiswissen qualifizieren können. Denn der Umgang mit Wissensbeständen ist immer eine Frage professioneller Handlungskompetenz.
3. GRUNDZÜGE EINER DISZIPLINÄREN FACHSYSTEMATIK
DER SOZIALEN ARBEIT ALS WISSENSCHAFT
Vor dem Hintergrund der zuvor diskutierten Zusammenhänge ist eine
inhaltliche Ordnung der wissenschaftlichen und berufspraktischen Wissensbestände dringend geboten, um zu vermeiden, dass die Soziale Arbeit als Wissenschaft weiterhin im Dickicht der einzelnen Bezugswissenschaften verschwindet. Wenn sie als eigenständige Fachwissenschaft
Profil gewinnen will, braucht sie ein klares inhaltliches Profil, das ihr
den Anspruch als eigenständige sozialwissenschaftliche Disziplin sichern hilft. An ihrem inhaltlichen Profil muss folglich deutlich werden,
dass es sich um eine Handlungswissenschaft handelt, die das professio228
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
nelle Handeln und seine Bedingungen in den Mittelpunkt rückt und damit ihren originären Kern kennzeichnet. Ob nun die universitäre Sozialpädagogik mit diesem inhaltlichen Profil deckungsgleich ist, muss bezweifelt werden. Denn aufgrund der Komplexität sozialarbeiterischer
Praxis ist es ihr bisher auch nicht gelungen, das Wissen der professionellen Praxis zu ordnen beziehungsweise thematisch zu strukturieren,
um es für den wissenschaftlichen Reflexionsprozess zugänglich zu machen. Ihre erziehungswissenschaftlich orientierte Fachsystematik grenzt
bestimmte Themen professioneller Praxis aus. Der Reflexionsrahmen
der universitären Sozialpädagogik ist einfach zu eng bemessen, um die
Themen adäquat reflektieren zu können.
Stimmt man der Aussage zu, Sozialarbeitswissenschaft ist zu aller erst
eine Wissenschaft für die Praxis, dann können nur die Themen der Praxis
Ausgangspunkt für eine grundlegende fachsystematische Konturierung
sein. Die Ergebnisse der Verwendungsforschung legen eine solche Themenorientierung nahe, da die Verwendung von Wissen sich vor allem
an handlungspraktischen Situationen orientiert. Erste Ansätze einer
fachsystematischen Konturierung wurden von Lüssi und Mühlum geleistet. Mühlum formuliert eine Sozialarbeitslehre, die er ohne nähere
Spezifizierung unterteilt in Praxistheorien, Praxismodelle und Praxismethoden und stellt ihr die Sozialarbeitswissenschaft gegenüber (Mühlum 1994, 70). Lüssi kennzeichnet seine Sozialarbeitslehre als praktische Sozialarbeitstheorie, die ausschließlich auf die Praxis bezogen ist
und als eigentliche Berufslehre gilt (Lüssi 1991, 41). Damit bestätigt er
im Grunde die Aussagen der Verwendungsforschung, dass Praxistheorien beziehungsweise praktische Sozialarbeitstheorien die „nicht-identische Reproduktion“ (Luhmann) von wissenschaftlichen Theoriekonzepten verkörpern. Praxistheorien akzentuieren damit die Binnenperspektive professioneller Praxis und gelten m. E. als unhintergehbare
Grundlage sozialarbeiterischer Theoriebildung. Praxisnähe wäre in diesem Sinne mit dieser Binnenperspektive identisch. Aus dieser Sicht
müssen die Themen der Praxis explizit gemacht, geordnet und einem
übergreifenden wissenschaftlichen Orientierungsrahmen beziehungsweise Begründungskontext zugeordnet werden. Eine dichotome Gegenüberstellung von Theorie und Praxis, wie es Mühlum und Lüssi noch
vorschlagen, lässt sich auf diesem Hintergrund nicht mehr aufrechterhalten. In diesem Sinne kann wissenschaftliches Wissen niemals zum
Praxiswissen führen, wenn es nicht praktisch reflektiert wird. Das prak229
REINER FETH
tische Handeln kann nicht gelingen, wenn es nicht durch theoretische
Überlegungen strukturiert wird. Zwischen professioneller und wissenschaftlicher Praxis besteht folglich ein enges Verweisungsverhältnis,
das idealtypisch zu einer wechselseitigen Selbstvergewisserung beitragen soll und trotzdem – aufgrund der Autonomie beider Systeme – der
Wissenschaft ihre gebotene Distanz sichert.
Die folgende Themenstruktur, ist ein erster Entwurf, die Grundstruktur
einer sozialarbeitswissenschaftlichen Fachsystematik abzubilden.
1.
Allgemeine Sozialarbeitswissenschaft
1.1.
Theorien Sozialer Arbeit
1.2.
Sozialarbeitsforschung
1.3.
Geschichte und Professionsentwicklung Sozialer Arbeit
1.4.
Interventionslehre Sozialer Arbeit
1.4.1.
Organisationslehre Sozialer Arbeit
1.4.2.
Wirtschaftslehre Sozialer Arbeit
1.4.3.
Politiklehre Sozialer Arbeit
1.4.4.
Sozialrechtslehre Sozialer Arbeit
1.4.5.
Philosophie- und Ethiklehre Sozialer Arbeit
2.
Spezielle Sozialarbeitswissenschaft
2.1.
Adressatspezifische Theorien
2.2.
Adressatspezifische Forschungszugänge
2.3
Adressatspezifische Geschichte
2.4.
Adressatspezifische lnterventionskonzepte
2.4.1.
Organisatorische, wirtschaftliche, politische, sozial rechtliche und philosophisch ethische Rahmenbedingungen
Es ist ein übergreifender Ordnungsrahmen, der in seiner Systematik
zwischen allgemeiner und spezieller Sozialarbeitswissenschaft unterscheidet. Auf der Ebene der allgemeinen Sozialarbeitswissenschaft werden die Grundlagen für die spezielle Sozialarbeitswissenschaft gelegt,
die in ihrer speziellen Perspektive spezifische Adressaten der Sozialen
Arbeit zum Gegenstand hat. Jedes einzelne Fachgebiet lässt sich thematisch noch weiter ausdifferenzieren.
230
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Zusammenfassend ist festzuhalten:
(1) Das inhaltliche Profil der Sozialarbeitswissenschaft als moderne
Handlungs- und Praxiswissenschaft ist an eine Fachsystematik gebunden, die die Themen der Praxis im Sinne einer Topologie der zentralen
Wissenselemente zum Gegenstand hat. Diese thematische Struktur bildet die gemeinsame Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher und professioneller Praxis. Sie konstituiert einen übergreifenden Rahmen, der
der Komplexität sozialarbeiterischer Praxis angemessen ist und der auf
der Ebene der einzelnen Fachgebiete noch weiterer inhaltlicher Ausdifferenzierung bedarf.
(2) Der originäre Kern beziehungsweise das Proprium einer Sozialarbeitswissenschaft muss sich auch inhaltlich-systematisch ausdifferenzieren lassen. Eine solche Ausdifferenzierung kann im Grunde nur über
eine entsprechende Fachsystematik gelingen, die zum einen eine themenspezifische Reflexibilität garantiert und zum anderen gerade die
Defizite in den originären Wissensbeständen aufzeigt, um damit gezielter den Theoriebildungs- und Forschungsprozess vorantreiben zu können. Gleichzeitig kann über eine solche inhaltliche Systematik ein Prozess ausgelöst werden, der die disziplinäre Selbststeuerung und Eigenkontrolle der wissenschaftlichen Sozialarbeit beschleunigt.
(3) Den anderen wissenschaftlichen Fachdisziplinen verschafft dieser
inhaltliche Bezugsrahmen die Möglichkeit, ihr Wissen wesentlich gezielter beziehungsweise themenspezifischer einbringen zu können. Der
bisherige Zustand der disziplinlosen Interdisziplinarität kann damit
endlich überwunden werden. Die ordnende Funktion einer inhaltlich
klar konturierten Fachdisziplin ist also eine zentrale Voraussetzung für
eine produktive interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen und führt eher zu einer synergetischen Integration disziplinspezifischer Wissensdimensionen. Wie die folgende Abbildung zeigt,
ist eine eigenständige Sozialarbeitswissenschaft auch in Zukunft auf
eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen angewiesen, jedoch wird sich die Dominanz der Bezugswissenschaften
verringern, je mehr sie an inhaltlichem Profil gewinnt. Die Sozialarbeitswissenschaftler werden deshalb in Zukunft ihr spezifisches Qualifikationsprofil weniger an den Bezugswissenschaften orientieren, sondern sich vielmehr über Themen der sozialarbeiterischen Praxis spezialisieren. Die Berufungspraxis an den Fachhochschulen bestätigt bereits
diese Entwicklung.
231
REINER FETH
Abbildung 3: Interdisziplinäres Profil der Sozialarbeitswissenschaft
(4) Die Forderung nach einem Studium der Sozialen Arbeit, das sich
curricular an der Sozialarbeitswissenschaft als Leitdisziplin orientiert,
kann nur mit einer themenspezifischen Fachsystematik eingelöst werden. Bereits in den Studienreformen der letzten Jahre haben sich erste
Ansätze dieser Art in den Studienplänen niedergeschlagen (Feth 1996).
Die Etablierung eines solchen curricularen Rahmens, der gleichzeitig
das inhaltliche Profil der Disziplin kennzeichnet, ist letztlich eine Frage,
die zwischen wissenschaftlicher und professioneller Praxis geklärt werden muss. Hans Pfaffenberger formuliert hierzu: „Die Entwicklung und
Etablierung einer wissenschaftlichen Disziplin folgt nicht nur, nicht einmal in erster Linie, einer innerdisziplinären Entwicklungslogik, sondern
auch gesellschaftlichen Anforderungen und Impulsen in sozialen Prozessen. Die scientific community, die die Existenz und gesellschaftliche
Etablierung einer Disziplin begründet und aufrechterhält, ist ein soziales Gebilde und ein Produkt sozialer Prozesse“ (Pfaffenberger 1992,
234). Insofern ist die Einigung auf ein inhaltliches Profil der Sozialen
Arbeit als wissenschaftliche Leitdisziplin primär eine hochschulpolitische und professionspolitische Frage. Insgesamt würde eine solche Re232
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
gelung das Studium an den einschlägigen Hochschulen zwar stärker inhaltlich binden, jedoch auch ausreichend Spielraum für die inhaltliche
Profilierung der einzelnen Fachbereiche lassen. Hieraus ließen sich
auch leichter Qualitätsstandards für die Lehre ableiten, die eine vergleichbare Lehrevaluation erst möglich machen, was in Zukunft für jede
Hochschule ein Thema sein wird. Außerdem könnten Studierende der
Sozialen Arbeit in Zukunft wesentlich leichter ihren Studienplatz wechseln. Es ist jedoch zu entscheiden, was in einem grundständigen Studium an Wissen vermittelt werden muss und was in Aufbaustudiengängen
zu vertiefen und zu spezialisieren ist.
4. ZUM GEGENSTANDSBEREICH
EINER WISSENSCHAFTLICHEN SOZIALARBEIT
Die Bestimmung des Gegenstandsbereiches einer wissenschaftlichen
Sozialarbeit wird in der Fachöffentlichkeit intensiv diskutiert. Es geht
letztlich um die Frage, ob Sozialarbeit als berufliche Tätigkeit zu verstehen ist, die allerdings bei der praktischen Ausübung auf eine Reihe
bestimmter Einzelwissenschaften zurückgreifen muss, um fachlich und
zielwirksam helfen zu können, oder ob Soziale Arbeit eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin verkörpert, die es erlaubt, auf eigenes
methodisch überprüfbares Wissen zurück zu greifen und die tatsächlich
über einen eigenen disziplinären Objektbereich verfügt.
Die Frage nach dem Gegenstand ist von zentraler Bedeutung, weil mit
ihr auch die Frage nach der disziplinären und professionellen Identität
verknüpft ist und über den Gegenstandsbereich das professionelle Handlungsfeld der Sozialen Arbeit grundlegend eingegrenzt und ein originärer
wissenschaftlicher Hoheitsbereich abgesichert wird. Außerdem lassen
sich über die Gegenstandsbestimmung auch Zielperspektiven ableiten,
die die Richtung und den Charakter des sozialarbeiterischen Interventionsprozesses bestimmen und damit auch das Selbstverständnis prägen
werden.
Zum besseren Überblick möchte ich kurz einige Gegenstandskonzepte
aus der Perspektive ihrer Brauchbarkeit vorstellen, die in letzter Zeit
diskutiert worden sind:
233
REINER FETH
• Bearbeitung von Sozialen Problemen
Soziale Arbeit wird zwar auf der individuellen Ebene mit den subjektivsituativen Auswirkungen von sozialen Problemen konfrontiert, kann
aber auf dieser Ebene soziale Probleme nicht lösen. Sie muss also noch
andere Zielperspektiven entwickeln, um dem Menschen als Subjekt helfen zu können. Auf der Ebene der Sozialpolitik beziehungsweise der Sozialarbeitspolitik zählt die Bearbeitung von sozialen Problemen zu den
originären politischen Aufgaben Sozialer Arbeit (Engelke 1992, StaubBernasconi 1995). Insofern gehören sie zum erweiterten Gegenstandsbereich Sozialer Arbeit.
• Gestaltung von Lebenslagen
Dieser Gegenstandsbereich kennzeichnet weniger die persönliche Lage
eines Menschen, sondern vielmehr die Gesamtheit der objektiven Umstände einer bestimmten Adressatengruppe, durch die der Spielraum ihrer Lebensgestaltung beeinflusst wird. Subjektspezifische Dimensionen, wie Selbstbestimmung und Eigensinn, die den Menschen als autonomes Wesen kennzeichnen, sind nicht einbezogen, sind aber für den
Theoriebildungsprozess konstitutiv. Jedoch politisch betrachtet ist die
Gestaltung von Lebenslagen spezifischer Adressaten, insbesondere in
konkreten lebensräumlichen Zusammenhängen, durchaus eine Aufgabe
der Sozialarbeit.
• Gestaltung von Lebenswelten
Mit dieser Gegenstandsbestimmung wird eine subjektspezifische Wende beziehungsweise die Alltagswende vollzogen. Mit Lebenswelt werden die symbolischen Sinnwelten spezifischer Adressaten charakterisiert, auf die Soziale Arbeit einwirken soll. Die Deutung von Lebenswelten, ob sie nun direkt oder stellvertretend erfolgt, eignet sich zwar
auf der analytischen Ebene zu Begründung von Interventionsentscheidungen, vernachlässigt jedoch zugleich die konkrete Handlungsebene.
Ohne die notwendige Erschließung zusätzlicher Handlungsoptionen und
Ressourcen kann die Soziale Arbeit den konkreten Problemen spezifischer Adressaten mit ihren Nöten und ihrem Leid nicht gerecht werden.
• Normative Gegenstandsbestimmungen
wie gelingendes Leben (Thiersch 1986), beschädigte Identität (Haupert
1995), der sozial überforderte Mensch (Tillmann 1994), beschädigte
Subjektivität (Scherr 1992). Der normative Gehalt dieser Gegenstands234
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
bereiche verweist zwar auf eine Zielperspektive, es fehlt jedoch an konkreten inhaltlichen Maßstäben, die die Definitionsmacht des Professionellen begrenzt und das Selbstbestimmungsrecht des Klienten respektiert. Solche Gegenstandsbestimmungen sind eher geeignet, der
Sozialen Arbeit eine therapeutische Funktion zuzuschreiben, was wiederum nicht ihre definitive Aufgabe ist.
Festzuhalten ist, dass die genannten Gegenstandskonzepte auf ihre Weise Bezug nehmen auf das konkrete Leben, wobei die einen stärker die
strukturelle Dimension und andere die subjektive Dimension gewichten. Damit wird deutlich, dass es bereits einen historisch gewachsenen
Gegenstandsbereich gibt, der inhaltlich nur noch näher zu präzisieren
ist.
4.1 Die Lebensführung als Gegenstandsbereich
Einige der genannten Gegenstandskonzepte lassen sich m.E. sehr gut in
das Konzept der Lebensführung integrieren, da es sowohl struktur- als
auch subjektorientiert ist. In seiner theoretischen Tradition geht dieses
Konzept auf Max Weber zurück. Es eröffnet einen theoretischen Zugang, der der geforderten Binnenperspektive Sozialer Arbeit entspricht.
Lebensführung ist ein Alltagsbegriff, der für alle Beteiligten kommunizierbar ist. Erst Gerd-Günter Voß hat mit seinen Forschungen zur alltäglichen praktischen Lebensführung ein Theoriegerüst entwickelt, das
für die Bestimmung der Lebensführung als Gegenstandsbereich Sozialer Arbeit hilfreich sein kann (Voß 1991). Er versteht unter Lebensführung:
• „… ein sich teilweise „selbst organisierendes“, eigenlogisches und
eigenständiges System der alltäglichen praktischen Tätigkeiten von
Menschen … Die Grundstruktur von Lebensführung ist die funktional differenzierte Verteilung der Tätigkeiten des Alltags auf die verschiedenen Lebensbereiche der Person, wobei Arbeit der potentiell
bedeutsamste Bereich darstellt.“ (ebd. S. V)
• „… dass Lebensführung eine genuin personale Konstruktion ist,. die
aber eingebunden in soziale Bedingungen erstellt wird und sowohl
gegenüber Gesellschaft als auch gegenüber der Person einen funktional eigenständigen Charakter aufweist. Lebensführung kann damit
als ein bisher nicht thematisiertes Vermittlungsglied … zwischen Individuum und Gesellschaft angesehen werden, …“ (ebd.)
235
REINER FETH
• „Mit Lebensführung wird der integrative und ganzheitlich zu verstehende Zusammenhang der Tätigkeiten benannt. Formal kann Lebensführung als eine Systembildung „sui generis“, das heißt als komplexhafter Zusammenhang eigener Logik und Struktur begriffen
werden. Lebensführung in diesem Sinne ist, wie die Hervorbringung
und Regulierung der einzelnen Tätigkeiten, unaufhebbar eine personale Leistung, eine permanent zu erbringende praktische Konstruktion der Person.“ (ebd., S.381).
Voß hat ein Konzept von Lebensführung entwickelt, das subjektorientiert und systemisch operiert, das umfassend und ganzheitlich zu verstehen ist, das die praktische Seite der Alltagsorganisation beachtet, das den
Menschen von seiner personalen Eigenlogik und seinen Sinnkonstruktionen her begreift und menschliches Leben in seiner biographischen Eigentümlichkeit berücksichtigt. Es ist ein sozialwissenschaftliches Konzept, das den Anspruch erhebt, das „Leben“ nicht einer arbeitsteilig orientierten Wissenschaft zu opfern. Es ergänzt sinnvoll das Konzept der
Lebenswelt als Welt des Alltags, in die wir handelnd eingreifen und
durch unser Tun verändern. Die Lebenswelt wäre somit als interpretatives Konzept der Lebensführung zu verstehen. Auf dem Hintergrund der
klassischen Problemkonstellation sozialarbeiterischer Zielgruppen bietet das Lebensführungskonzept einen brauchbaren Ansatz für die Binnenperspektive Sozialer Arbeit. Anhand der folgenden Abbildung möchte
ich diesen Zusammenhang verdeutlichen.
Auf der Ebene dieses Gegenstandsbereiches (Materialobjekt) ist Soziale
Arbeit eine Hilfe zur Selbsthilfe bei der alltäglichen Lebensführung spezifischer Adressaten. Auf dem Hintergrund der klassischen Problemdimensionen Normalität und Devianz, soziale Ausgrenzung und soziale
Integration im jeweils konkreten Lebensraum (Gemeinwesen) erfährt
der Gegenstandsbereich seine spezifische Eingrenzung und damit den
von der Sozialen Arbeit zu betrachtenden und zu verändernden Wirklichkeitsausschnitt.
Soziale Arbeit soll Normalität in der Lebensführung herstellen (zum
Beispiel durch Integration, Resozialisierung und Rehabilitation). Sie
muss unter anderem auch Normalitätskonzepte hinterfragen und gegebenenfalls der Lebensführung bestimmter Zielgruppen Normalität zubilligen, ihre soziale Ausgrenzung verhindern oder ihre soziale Integration betreiben. Lebensführungsprobleme bestimmter Adressatengruppen konstituieren auf gesellschaftlicher Ebene Soziale Probleme, deren
236
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Auswirkungen zwar auf der individuellen Ebene zu bearbeiten sind, deren grundsätzliche Lösung jedoch auf der politischen Ebene anzustreben
ist.
Abbildung 4: Adressatenspezifische Lebensführung als Gegenstand der
SAW
4.2 Die theoretische Anschlussfähigkeit des Gegenstandes
Die Theoriefähigkeit dieses Gegenstandes lässt sich durch weitere
Merkmale verdeutlichen:
• Das Konzept der alltäglichen Lebensführung basiert auf einem
Raum-Zeit-Kontinuum, das einen spezifischer Erfahrungshintergrund ausformt, der in der aktuellen Lebenssituation wirksam wird.
Zusätzlich determinieren die strukturellen Bedingungen des Raumes
237
REINER FETH
und die lebenszeitlichen Faktoren die aktuelle Lebenssituation und
beeinflussen somit die alltägliche Lebensführung spezifischer Adressaten. Das Lebensführungskonzept verweist explizit auf die Rahmenbedingungen in der alltäglichen Lebensführung, die überfordern, einschränken, ausgrenzen, sowie Not und Leid auslösen können, so dass
die Fähigkeit zu einer autonomen Lebensführung bedroht ist.
• Das konkrete Handeln der Adressaten wird in dieser Konzeption in
den Vordergrund gestellt und nicht nur deren symbolische Sinnwelten. Es weist auf die Notwendigkeit von Fähigkeiten und Fertigkeiten in den unterschiedlichen Lebensbereichen (Arbeit, Haushalt, Familie, Freizeit etc.) hin, die zu einer selbstbestimmten Lebensführung notwendig sind.
• Es verweist auf die Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Lebensraum, vermeidet damit eine Psychozentrierung der Intervention
und eröffnet die Möglichkeit über die Gestaltung des Lebensraumes
auf das Subjekt einzuwirken und umgekehrt. Sozialräumliches Denken und Handeln, eine historische Wurzel Sozialer Arbeit (ChicagoSchule), gewinnt durch diese Gegenstandsbestimmung wieder an
Bedeutung.
• Die subjekttheoretische Ausrichtung, die dem Adressaten Selbstbestimmung und Eigensinn zubilligt, ihm seine Entscheidungsfreiheit
und die Verantwortung für sein Handeln belässt, geht von einem
Menschenbild aus, dessen normative Dimensionen richtungsweisend für die sozialarbeiterische Intervention und für die Berufsethik
sein können. Die Autonomie der Lebensführung wird zur zentralen
Zielkategorie sozialarbeiterischer Intervention.
• Zielperspektive sozialarbeiterischer Intervention ist also die autonome Lebensführungskompetenz. Auf diesem Hintergrund lässt sich
eine erste Definition formulieren: Sozialarbeiterische Intervention
ist ein Veränderungsprozess der Lebenssituation spezifischer Adressaten mit dem Ziel der Förderung, Sicherung und Wiederherstellung
ihrer alltäglichen Lebensführungskompetenz.
• Es eröffnet auch die Möglichkeit im Sinne einer „Theorien-Triangulation“ (Flick 1995, 442) das Lebenslage- und Lebensweltkonzept
sinnvoll miteinander zu verknüpfen, um möglichst unterschiedliche
Perspektiven und Ebenen des Gegenstandes zu verbinden und zu the238
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
matisieren. Eine solche „methodologische Triangulation“, die Theorien und Methoden so kombiniert, um der Analyse eines Problembereichs mehr Breite und Tiefe zu verleihen, um ein mehr kaleidoskopartiges Bild zu erhalten, entspräche m.E. durchaus dem Theorieverwendungsinteresse der Praxis.
In Abbildung 5 wird dieser Zusammenhang noch einmal verdeutlicht.
Abschließend ist festzuhalten: über die alltägliche Lebensführung konstituiert sich ein Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit, der wieder zurück zu den Wurzeln der Sozialen Arbeit führt, der eine hohe theoretische Anschlussfähigkeit besitzt, die zukunftsfähig ist und der den Anspruch auf disziplinäre Autonomie der Sozialen Arbeit als Wissenschaft
rechtfertigt. Ist vielleicht die Sozialarbeitswissenschaft die Wissenschaft von der Lebensführung des Menschen? Die Diskussion um den
Gegenstandsbereich der SAW macht aber auch deutlich, dass sich der
Gegenstand der Sozialen Arbeit nicht eindeutig vom Gegenstandsbereich anderer Einzeldisziplinen abgrenzen lässt. Dieses Problem haben
mittlerweile auch andere Fachdisziplinen, das heißt jedoch nicht, die
Bestimmung des Objektbereiches Sozialer Arbeit aufzugeben, sondern
die Abgrenzungsprobleme systematisch anzugehen.
239
REINER FETH
Abbildung 5: Theoretische Anschlussfähigkeit
240
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
5. ZUR PROGRAMMATIK EINER SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT.
Auf dem Hintergrund der bisherigen Diskussion lässt sich das inhaltliche Profil der Sozialarbeitswissenschaft und damit ihre Programmatik
folgendermaßen kennzeichnen:
(1) Die Sozialarbeitswissenschaft ist eine neue Sozialwissenschaft, die
von ihrer Konzeption und Zielsetzung her eine hohe Affinität zur Lebenspraxis der Menschen besitzt. Sie will das Soziale spezifischer
Adressaten weniger aus der Außenperspektive, sondern vielmehr aus einer Innenperspektive wissenschaftlich betrachten. In diesem Sinne ist
sie eine lebenspraktische Wissenschaft, die für die lebenspraktischen Interessen bestimmter Menschen verwendbares Wissen bereitstellt, um
sich an der aktiven Gestaltung ihrer alltäglichen Lebensführung beteiligen zu können. Sie ist deshalb auch eine interdisziplinäre beziehungsweise transdisziplinäre Wissenschaft mit eigener Prägung, die das „Leben“ spezifischer Adressaten nicht einer arbeitsteiligen Wissenschaft
überlässt, sondern es in einem umfassenden Sinne zu thematisieren versucht. Sie will das „unteilbare Leben“ des Menschen ganzheitlicher verstehen und nicht nur aus Teilperspektiven wie dies durch den fragmentierenden und parzellierenden Blick der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen geschieht. Sie möchte damit dem Menschen in seiner Subjekthaftigkeit und Ganzheitlichkeit eher gerecht werden.
(2) Die Sozialarbeitswissenschaft ist eine Querschnittswissenschaft
oder integrative Wissenschaft. Als Querschnittswissenschaft überwindet sie die traditionelle Aufgabenteilung beziehungsweise Zuständigkeit
der einzelnen wissenschaftlichen Fachdisziplinen, die aufgrund der
Komplexität sozialer Zusammenhänge nicht mehr angemessen ist. Nur
eine disziplinübergreifende Problemorientierung und Problembearbeitung kann der Gemengelage komplexer Praxisprobleme gerecht werden.
Diese Querschnittsorientierung ist längst bei vielen Professionen Realität. Die Entwicklung von Querschnittswissenschaften oder integrativen
Wissenschaften weist auf eine neue Ordnung beziehungsweise Arbeitsteilung im Wissenschaftssystem hin, die die überkommene tayloristische Arbeitsteilung aufzuheben beginnt und sich mehr an den Erfordernissen einer professionellen Praxis orientiert. Die wissenschaftliche Soziale Arbeit kann also der Komplexität sozialarbeiterischer Aufgaben
nur gewachsen sein, wenn sie sich nicht an den klassischen Zuschnitt der
241
REINER FETH
alten Grundlagendisziplinen hält sondern sich an einer interdisziplinären
beziehungsweise transdisziplinären Betrachtungsweise der Themen sozialarbeiterischer Praxis orientiert. Der Sozialarbeitswissenschaft fällt
dabei die Aufgabe zu, die Wissensanteile der einzelnen Fachdisziplinen
auf dem Hintergrund ihrer eigenen Fachsystematik zu integrieren. Eine
synergetische Integration der verschiedenen disziplinären Wissensteile
kann nur durch den ordnenden Rahmen einer autonomen Sozialarbeitswissenschaft qualifiziert gelingen.
(3) Die Sozialarbeitswissenschaft ist eine reflexive Wissenschaft. Sie liefert die Sichtweisen, die perspektivischen Wahrheiten und somit die
Leitlinien für die Reflexion und Beurteilung sozialarbeiterischer Praxis.
Sie dient als Reflexionsfolie, im Sinne eines dichten Kommunikationsprozesses zwischen Theorie und Praxis. Sie kann gedankenexperimentell einen Beitrag zur Entdeckung und Erprobung neuer Formen der Praxis Sozialer Arbeit leisten und sie kann professionelles Handlungswissen für sozialarbeiterische Interventionen bereitstellen. Damit wird das
Verhältnis von Theorie und Praxis bestimmt, das Alice Salomon einmal
treffend gekennzeichnet hatte, eine „Wissenschaft kann nur so praktisch
sein, wie die Praxis wissenschaftlich ist.“ In diesem Sinne kann die Theorie die Praxis nicht unmittelbar anleiten, sie kann aber durch ihre hohe
Affinität zur Lebenspraxis der Menschen gezielter verwendbares Wissen bereitstellen. Moser kennzeichnet diesen Sachverhalt so: „Wissenschaftliches Wissen muss der Praxis als „Material“ gegeben werden, die
damit dann nach ihren eigenen system-referentiell gebundenen Maßstäben umgeht – also bei dessen Aneignung oder Rückweisung nach Regeln
ihres eigenen Systems verfährt“ (Moser1995, 81).
(4) Die Sozialarbeitswissenschaft ist eine angewandte Wissenschaft.
Ihre Aufgabe ist es, über Forschung verwendbares Wissen und Theorien mit hohem Gebrauchswert für die Praxis Sozialer Arbeit zu produzieren. Die Forschungsperspektive der Sozialen Arbeit als Wissenschaft ist also an dieser Zielvorgabe orientiert. Sozialarbeitsforschung
ist schwerpunktmäßig Forschung im Lebenszusammenhang von Menschen in lokal begrenzten Lebensräumen. Im Sinne von Praxis- und
Handlungsforschung ist sie Entwicklungs-, Begleit- und Evaluationsforschung mit dem Ziel, brauchbares Wissen zu produzieren, um die innovative Funktion sozialarbeiterischer Praxis zu stärken.
(5) In ihrem Kern ist die Sozialarbeitswissenschaft eine Handlungswissenschaft, die von ihrem Grundverständnis her die Chance eröffnet,
242
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
„das Auseinanderfallen von Problemen des Erkennens, Sollens und
Könnens zu überwinden“ (Staub-Bernasconi 1994, S. 88). Das Erkennen der Problemsituation der Adressaten kann nur mit Hilfe von wissenschaftlichem Wissen sachgemäß gelingen, insofern ist sozialarbeiterisches Handeln ein wissenschaftlich gestütztes Handeln. Das Erkenntnisproblem einer wissenschaftlich orientierten Sozialarbeit besteht also
darin, den komplexen Handlungszusammenhang einer professionellen
Praxis wissenschaftlich zugänglich zu machen, aus einer Innen- beziehungsweise Binnenperspektive diese Handlungswirklichkeit adäquat
zu beschreiben, zu ordnen und zu erklären. Das Sollen verweist auf ein
sozialarbeiterisches Handeln, das an gesellschaftliche, sozialpolitische,
subjektspezifische und berufsethische Wertmaßstäbe gebunden ist und
das die Autonomie der Lebensführung spezifischer Adressaten zum
Ziel hat. Das Können verweist auf die speziellen Kompetenzen, die notwendig sind, um professionell Probleme unterschiedlicher Adressaten
bearbeiten zu können. Professionell sozialarbeiterisches Handeln ist
demzufolge ein Handeln, das sich explorierend, interpretierend, rekonstruierend, deutend und evaluierend in der Praxis bewegt, um Veränderungen in der Lebensführung spezifischer Adressaten auslösen zu können. Insgesamt zeichnen sich handlungswissenschaftliche Konzepte
durch größere Gegenstandsadäquatheit und Realitätsnähe aus (s. Abbildung 6).
243
REINER FETH
Abbildung 6: Programmatische Struktur der SAW
6. STRUKTUREN EINES PROFESSIONSMODELLS SOZIALER ARBEIT
Auf diesem Hintergrund lässt sich für das Studium der Sozialarbeit ein
Kompetenzmodell ableiten, das als Orientierung für die Gestaltung der
Lehre dienen könnte. Wie die Abbildung 7 zeigt, unterteilt sich die Professionskompetenz in zwei zentrale Kompetenzbereiche, der theoretischen und der professionellen Praxiskompetenz. Die gemeinsame
244
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
Schnittstelle zwischen beiden Kompetenzbereichen bildet der themenspezifische Fächerkatalog, der gleichzeitig den curricularen Rahmen einer Sozialarbeitswissenschaft darstellt, deren konzeptioneller Entwurf
zuvor beschrieben wurde.
Abbildung 7: Professionsmodell der Sozialen Arbeit
Mit theoretischer Praxiskompetenz ist die Fähigkeit zur personen- und
situationsbezogenen Theoriebildung gemeint, die auf dem Hintergrund
von unterschiedlichem theoretischem Wissen, einen theoriegeleiteten
Reflexions- und Interpretationsprozess in gang bringt, als grundlegende
Voraussetzung für eine wissenschaftlich aufgeklärte sozialarbeiterische
Intervention. Dieses Kompetenzelement beinhaltet Prozesse des Verste245
REINER FETH
hens, Deutens und des Rekonstruierens im Sinne des hermeneutischen
Fallverstehens.
Eine theoretische Praxiskompetenz kann nur qualifiziert ausgeformt
werden, wenn auch entsprechende Praxisforschungskompetenzen im
Studium ausgebildet werden. Forschungsverfahren, die zu einer personen- und situationsbezogenen Theoriebildung befähigen, zur qualifizierten Dokumentation von professionellen Handlungsabläufen verhelfen, dem sozialarbeiterischen Berichtswesen mehr Professionalität verleihen und eine kleinräumige Sozialberichterstattung und Sozialplanung
ermöglichen, müssen demzufolge gelehrt und auch eingeübt werden.
Nicht nur explorative, sondern auch evaluative Forschungsverfahren, als
wichtige Ansätze der Praxisreflexion und der Erfolgskontrolle von Interventionsabläufen, sollten selbstverständlich zu einem professionellen
Forschungsinstrumentarium gehören. Im gewissen Sinne sollte sich jede
Sozialarbeiterin/jeder Sozialarbeiter auch als Praxisforscher verstehen.
Die professionelle Praxiskompetenz dient der Bewältigung berufspraktischer Aufgaben (Haupert/Kraimer 1991). Über diesen Kompetenzbereich wird beispielsweise berufliches Wissen über die praktischen Interventionsabläufe und ihre organisationstypischen Begleitprozesse, über
die konzeptionellen Erfahrungen im Umgang mit einem spezifischen
Klientel, sowie über die Fertigkeiten bei praktischen Verfahrensabläufen vermittelt, die für das jeweilige Arbeitsfeld konstituierend sind. Hier
zeigt sich, welche Bedeutung der Praxisbezug und die Theorie- PraxisReflexion in einem berufsqualifizierenden Studium besitzen, um erfolgreich beruflich relevantes Wissen in systematisierter Form vermitteln zu
können. Über qualifizierte Praxisanleitung vor Ort, durch Praxisberatung oder Supervision der Studierenden, durch die Einbindung von
Praktikern in Forschungsprojekte und im Rahmen des Projektstudiums
kann eine solche Wissensvermittlung erfolgen.
Der Bereich Subjektkompetenz umfasst alle personenbezogenen Schlüsselqualifikationen, die für diese Profession von zentraler Bedeutung sind.
Der Terminus Subjektkompetenz soll verdeutlichen, dass in der Praxis
der Sozialen Arbeit die Persönlichkeit des Professionellen eine entscheidende Rolle spielt. Es ist unbestritten, dass zur Ausübung des sozialarbeiterischen Berufs eine ausgeprägte Sozialkompetenz (zum Beispiel Beziehungs-, Kommunikations-, Motivations- und Kooperationsfähigkeit)
gehört, um mit anderen Menschen kompetent umgehen zu können. Auch
der kompetente Umgang mit sich selbst ist eine notwendige Persönlich246
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT
keitsvoraussetzung dieser Profession. Es ist eine Selbstkompetenz anzustreben, die sich an eigenen ethischen Werten orientiert, die eine Toleranz
im Umgang mit Eigensinn und Anderssein ermöglicht und die der Belastung in berufstypischen Stresssituationen gewachsen ist. Alle genannten
Aspekte formen die Subjektkompetenz und sind auch als Zielvorgabe für
die Entwicklung einer professionellen Identität von Bedeutung, ihre primäre Ausformung muss bereits im Studium beginnen. Obwohl auch theoretisch orientierte Veranstaltungen ihren Beitrag dazu leisten, sind spezifische Veranstaltungsangebote angebracht, die gezielter die Ausformung solcher Kompetenzen angehen können.
Die genannten Kompetenzanteile tragen dazu bei, die eigentliche Interventionskompetenz auszuformen, die letztlich die Fachlichkeit der Profession ausmacht. Der Begriff ist in der Fachliteratur bereits etabliert.
Willke (1994) kennzeichnet damit den praktischen Umgang mit einem
komplexen sozialen System. Sozialarbeiterische Intervention bezeichnet die Aktivität eines Handelnden, der von professionellen Interessen
geleitet wird, Veränderungen in der Lebenssituation spezifischer Adressaten anzustreben. Sozialarbeiterisches Handeln ist analytisch in drei
Prozesselemente aufzugliedern, die in einem zirkulären Prozess zueinander stehen und zwar in Exploration, Intervention und Evaluation. Mit
dieser analytischen Aufteilung will ich deutlich machen, dass die klassischen Methoden der Sozialen Arbeit zu kurz greifen. Es gibt demzufolge auch Explorations- und Evaluationsmethoden, die der Sozialarbeitsforschung zuzurechnen sind und die im Interventionsprozess die
notwendige Distanz herstellen, um wissenschaftlich aufgeklärt bestimmte Sachverhalte betrachten zu können. Schütze sieht „die Vermittlung einer Kompetenz zu abgekürzten Erkundungs- und Interpretationsverfahren, die am Ort des aktuellen Berufshandelns unmittelbar zum
Einsatz gelangen und wissenschaftlich angeleitet sind“ als Voraussetzung für professionelles Handeln (Schütze 1979, 3). Deshalb ist ein
praktikables Repertoire von Forschungsmethoden notwendige Voraussetzung für den Interventionsprozess.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Auf dem Hintergrund des vorgeschlagenen Professionsmodells kann sich m. E. im Studium der Sozialen Arbeit nur dann ein professioneller Habitus ausformen, wenn die Sozialarbeitswissenschaft zur curricularen Leitdisziplin wird und in den
genannten Kompetenzbereichen gezielter ausgebildet wird.
Am Ende der 90er Jahre stehen wir in einer entscheidenden Entwicklungsphase der Sozialarbeit als Profession und als wissenschaftliche
247
REINER FETH
Disziplin. Die wissenschaftliche Eigenständigkeit wächst, allerdings
muss am inhaltlichen Profil noch gearbeitet werden, um diesen Emanzipationsprozess zu unterstützen. Insgesamt ist die Etablierung der Sozialarbeit als Disziplin weniger ein wissenschaftstheoretisches, vielmehr ein hochschulpolitisches Problem, eine Frage der Definitionsmacht. Im Vergleich zum wissenschaftlichen Status der Sozialarbeit in
anderen Ländern ist der Zustand skandalös, zumal wenn man bedenkt,
welchen entscheidenden Beitrag die Soziale Arbeit bei der Gestaltung
des Sozialen in unserer Gesellschaft leistet. Er ist für die sozialstaatliche
und demokratische Legitimation der Gesellschaft unverzichtbar.
248
Ein Stück weitergedacht ...
Wilhelm Klüsche
Im Auftrag des Fachbereichstag Soziale Arbeit legt der Fachausschuss
„Theorie- und Wissenschaftsentwicklung“ seine Ergebnisse zur Weiterentwicklung der Sozialarbeitswissenschaft54 und ihrer Verankerung in
den Curricula vor.
Angesichts der gegenwärtig noch unklaren disziplinären Perspektive
und der Heterogenität wissenschaftstheoretischer und methodologischer Zugänge zum Feld der Sozialen Arbeit verzichtete der Ausschuß
von vornherein darauf, ein Votum für oder gegen einen bestimmten Erklärungsansatz abzugeben. Das Ziel der Beratungen sollte die Systematisierung der wesentlichen und konstituierenden Elemente des Gebäudes der Wissenschaft der Sozialen Arbeit sowie die inhaltliche Bestimmung der einzelnen Bausteine einer Theorie der Sozialen Arbeit sein.
Dafür war ein übergreifender Bezugsrahmen zu erarbeiten, der diejenigen analytischen Kategorien zur Verfügung stellt, auf die sich sozialarbeitswissenschaftliche Objekttheorien unterschiedlicher Reichweite beziehen müssen. Die Ausschußmitglieder knüpften daran auch die Erwartung, daß eine solche geistige Landkarte im Rahmen der Ausbildung
dazu beiträgt, die Entwicklung transdisziplinären Denkens und die Integration des Wissens bei der Problemerfassung und Problembearbeitung auf Seiten der Lehrenden und Studierenden zu unterstützen. Die
Formulierung von Empfehlungen an den Fachbereichstag Soziale Arbeit, wie das Studienelement „Theorie der Sozialen Arbeit“ in einzelnen
Ausbildungskonzepten fester verankert werden könne, sollte eine weitere Zielsetzung der Ausschußarbeit sein.
Rückblickend betrachtet konzentrierten sich die Beratungen auf zwei
inhaltliche Schwerpunkte:
(1) die Umschreibung beziehungsweise Definition des Gegenstandes
der Sozialen Arbeit oder – weniger verdinglicht gesprochen – ihrer spezifischen Sichtweise und
54 Die Begriffe „Wissenschaft der Sozialen Arbeit“ und „Sozialarbeitswissenschaft“ werden hier synonym gebraucht.
249
WILHELM KLÜSCHE
(2) die Bestimmung der relevanten Kategorien des angestrebten Bezugsrahmens.
Während die hier vorgelegte Definition des Gegenstandes Sozialer Arbeit nach intensiven und kritischen Diskussionen recht bald als Grundlage der weiteren Beratungen verabschiedet werden konnte, erwies sich
die Erarbeitung eines kategorialen Bezugsrahmens als ein deutlich
schwieriger und langwieriger Prozeß. Getragen von der Auffassung, daß
die „wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sozialen Arbeit ... gleichwertig Handlungsfelder und Handlungsorte Sozialer Arbeit, interne
(ausformulierte Modelle Sozialer Arbeit) und externe (Bezugswissenschaften) Theorieansätze und ein gegenstandsspezifisches Praxis-Theorie-Praxis-Verhältnis zu berücksichtigen“ hat (Protokoll der 5. Sitzung
vom 16.12.1996:4), verständigte man sich schließlich auf die folgenden
relevanten Bezugsgrößen für die theoretische Erfassung des Feldes: (1)
Gegenstandserklärung, (2) Gegenstandsbereich und (3) Gegenstandsbearbeitung. Auf der Basis dieser Kategorien sollte die Systematik der
Wissenschaft der Sozialen Arbeit weiter ausdifferenziert und – begleitet
vom Streit um das Pro und Kontra einer Disziplin Soziale Arbeit im Hintergrund – „ein Stück weiter gedacht“ werden.
Das Buch richtet sich zuerst an die Lehrenden und Studierenden in den
Fachbereichen Sozialwesen. Sie sind eingeladen, sich am Weiterdenken
zu beteiligen, die geistige Landkarte der Sozialen Arbeit gemeinsam zu
studieren und für die Bewältigung der disziplinären und professionellen
Anforderungen zu nutzen. Deren Gebrauchswert besteht entschieden
darin, den Mitgliedern der scientific community einen Weg zu ebnen
und den disziplinären Erkenntnisfortschritt auf einen klar konturierten
Wirklichkeitsausschnitt zu richten. Mit Hilfe der Bezugskategorien läßt
sich das vielfältige und breite Wissen der Sozialen Arbeit ordnen und
auf relevante Weise verknüpfen, lassen sich die zahlreichen weißen Flecken der Landkarte strukturiert beschreiben, sukzessive erforschen, erklären und praktisch bearbeiten.
EINLEITUNG
Wenn das Spielfeld der Sozialen Arbeit abzustecken ist, dann ist zunächst zu klären, wo gespielt wird, in der Theorie und/oder in der Praxis? Eine theoretische Beschäftigung mit der Sozialen Arbeit erfordert
250
EIN STÜCK WEITERGEDACHT ...
erweiterte Perspektiven und hat andere Schwerpunkte zu setzen als das
situationsabhängige und von vielen Alltäglichkeiten bestimmte Handeln, das fundiertes und konzeptionell geplantes Vorgehen oft nicht zuläßt.
Dennoch ist Theoriearbeit Grundlage für Idee und Gestaltung von Sozialer Arbeit, für Analyse und Handeln, da strukturelle Klärung und Reduzierung von Komplexität die Voraussetzungen schaffen für die wissenschaftliche Durchdringung wie für die konkrete Problembearbeitung. Die Theoriearbeit dient gleichermaßen der Weiterentwicklung der
wissenschaftlichen Disziplin wie der fachlichen Begründung des beruflichen Handelns. Nur werden die beiden „Spielorte“ unterschiedlich
markiert, und man könnte mit Wendt im Falle der Disziplin vom Gegenstandsbereich und im Falle der Profession vom Zuständigkeitsbereich
sprechen (Wendt 1994:14).
Die Arbeiten zum Gegenstandsbereich beginnen mit der Herausarbeitung von substantiellen Begrifflichkeiten, die eine Subsumierung und
Zuordnung von Detailfragen in einen Gesamtzusammenhang erlauben.
Professionsnahe Fragestellungen aus dem Zuständigkeitsbereich haben
aber ebenso ihren Platz in disziplinären Überlegungen wie ethische Begründungen als Fundament helfender Berufe, Herausbildung einer professionellen Identität, Lehre und Studium oder das besondere TheoriePraxis-Verhältnis. Diese für die Praxis relevanten und evtl. auch zunächst durch sie aufgeworfenen Fragen können aber effektiver angegangen werden, wenn sie in begründete Konzeptionen eingeordnet und zu
weiteren Aspekten von Sozialer Arbeit in Beziehung gesetzt werden.
Gibt es zum Beispiel neben dem Sozialstaatsprinzip andere übergeordnete Orientierungen, die die Entfaltung des Selbstverständnisses von
Sozialer Arbeit zwischen den Polen ethisch zu fordernder umfassender
Humanität und ökonomischen Grenzen einer Volkswirtschaft begründen könnten?
Insofern ist bei den Konzepten und Modellentwürfen zur Sozialen Arbeit zu diskutieren, ob sie in Hinblick auf Systematik, Begrifflichkeit
und Bezugsgrößen Ansatzpunkte für eine umfassende wissenschaftliche Analyse – Disziplinaspekt – liefern, unter deren Dach auch eine Beschreibung und theoretische Bearbeitung von Aspekten des Handlungsfeldes der Sozialen Arbeit – Professionsaspekt – möglich wird.
251
WILHELM KLÜSCHE
1. THEORIEBILDENDE VORSTELLUNGEN ZUR SOZIALEN ARBEIT
Um eine Wissenschaft oder Disziplin der Sozialen Arbeit zu entwickeln, wäre es denkbar, Soziale Arbeit als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft in ihrem pädagogischen Ansatz, als Teildisziplin der Soziologie in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit, als Teildisziplin der Politologie in ihrem öffentlichen Gestaltungsauftrag, als Teildisziplin der
Rechtswissenschaft in ihrer normativen Funktion oder als Teildisziplin
der Psychologie in ihrem korrigierenden und entfaltenden Selbstverständnis zu verorten und folgerichtig das jeweilige Wissenschaftsverständnis zu übernehmen. Entsprechende Versuche hat es in der Geschichte der Sozialen Arbeit hinreichend gegeben, wie die Diskussion
um die „Basiswissenschaften“ (Lüssi 1998:25), Leitdisziplin (Feth
1996:80) oder Bezugswissenschaften (Grohall 1997:189ff.) innerhalb
der Sozialarbeit/Sozialpädagogik belegt, wobei die Spannweite reicht
von der theoretischen Akzentuierung durch Schlagworte wie etwa „Politisierung“ (Vahsen 1992:8), „Kolonialisierung durch Fremddisziplinen“ (Müller/Gehrmann 1996:101ff.) oder der Verhinderung von Verselbständigung durch Festschreibung des „universitären Ort(es) der
Verhandlung der Sozialen Arbeit“ (Thiersch 1996:16).
Die Ökonomisierung, Psychologisierung, Pädagogisierung, Soziologisierung, Politisierung oder Medizinisierung der Sozialen Arbeit verhindert allerdings schon im Ansatz, daß die differentia specifica einer Disziplin von der Sozialen Arbeit herausgearbeitet werden kann, denn man
operiert ja im Denk- und Gegenstandsbereich einer „Fremd“-Wissenschaft, die ihren Fokus nicht auf den Gegenstand der Sozialen Arbeit
legt und diese zu einer anwendungsbezogenen Detailfrage in einer übergeordneten Systematik verkümmern läßt.
Einzelne Statements der Autoren während der Kommissionsarbeit zeigen die Grenzen dieser Subsumtionslogik, aber auch die Ansätze zu einer selbständigen Theorieentwicklung auf. Diese Beschreibungen von
Sozialer Arbeit durch die Kommissionsmitglieder lassen unterschiedliche Akzentsetzungen erkennen. Eine Zugangsweise versucht die Klärung des Verhältnisses zu den Bezugswissenschaften:
„Soziale Arbeit ist keine Teildisziplin der Erziehungswissenschaft, sondern
– wie diese – Teildisziplin einer Wissenschaft von den personenbezogenen
Dienstleistungen – man könnte auch sagen: Beziehungswissenschaft – weitere Teildisziplinen wären etwa die Gesundheitswissenschaften, die Pflegewissenschaften, die Bildungswissenschaften, die Therapiewissenschaften.“
252
EIN STÜCK WEITERGEDACHT ...
Einen anderen Ausgangspunkt bilden die Voraussetzungen für gelingendes Leben in sozialen Bezügen:
„Soziale Arbeit als Teildisziplin einer Beziehungswissenschaft untersucht
die sozialen und individuellen Bedingungen, die Methoden und Medien, die
Gesetze, Normen und Werte, die vorhanden sind oder fehlen und für den Prozeß der Produktion sinnvoller Lebensbedingungen im Kontext unterschiedlicher Systemanforderungen eingesetzt werden (könnten oder sollten).“
Zur Bestimmung von Sozialer Arbeit kann der Versuch gemacht werden, Kernelemente zu benennen, die in ihrem wechselseitigen Verhältnis zueinander erst das Sujet Soziale Arbeit ausmachen.
„Eine Sozialarbeitswissenschaft sollte in der Lage sein, den Gegenstand zu
beschreiben, zu erklären, Entwicklungen vorherzusagen und Ansätze zu dessen Beeinflussung aufzuzeigen. Zu den konstitutiven Elementen des Gegenstandes der Sozialen Arbeit zählen:
Eine Definition der belastenden Situation (Problemlage), ein von einer sozialen Problemlage Betroffener (Adressat), ein gegen Entlohnung soziale
Hilfe Leistender (Professioneller), eine zur Überwindung sozialer Problemlagen geschaffene Organisation (Institution) und die soziokulturellen Rahmenbedingungen, durch die die anderen bisher genannten Elemente in ihren
Ausprägungen und Handlungsspielräumen definiert werden (Gesellschaft).“
Auch der substantielle Gehalt von Sozialer Arbeit eröffnet eine Wegbeschreibung:
„Die Wissenschaft der Sozialen Arbeit beschäftigt sich mit der Komplexität
der Lebensumstände und Bewältigungsformen von Individuen und Gruppen
im Rahmen gesellschaftlichen Wandels.“
Da die systematische Theoriebildung von Sozialer Arbeit noch im Entstehen begriffen ist, lassen sich von einer Metaebene aus zunächst die
Aufgaben dieser neuen Wissenschaft darlegen:
„Die Sozialarbeitswissenschaft ist professionsgründend, sie formuliert die
notwendige Wissensbasis und dient der Handlungsprofilierung. Sie untersucht und entwickelt Standards und Bedingungen beruflichen Handelns.“
Einen Definitionsweg ergibt die Kombination mehrerer bisher aufgezeigter Zugangsweisen wie Metaebene, Aufgabenstellung oder inhaltliche Bestimmung:
„Die Wissenschaft der Sozialen Arbeit ist eine empirisch ausgerichtete Sozialwissenschaft, die sich mit der Beschreibung, Erklärung und Lösung von
sozialen Problemen und der Bewältigung von Lebensaufgaben beschäftigt
253
WILHELM KLÜSCHE
und dazu wissenschaftlich fundierte Handlungskonzepte entwickelt. Insbesondere befaßt sich die Soziale Arbeit wissenschaftlich und praktisch mit
den komplexen Wechselbeziehungen von Individuum und sozialer
Umwelt.“
Diese zunächst nicht aufeinander bezogenen und nur als subjektiv bedeutsam empfundenen Charakterisierungen des Gegenstandes von Sozialer Arbeit markieren aber doch Gemeinsamkeiten bei den Basisannahmen für die Theoriebildung, nämlich das Vorhandensein von Problemkonstellationen, die gesellschaftlich relevant erscheinen und nicht
nur einer privaten, sondern einer öffentlich verantworteten Bearbeitung
bedürfen und zwar als „personenbezogene Dienstleistung“, „Produktion
sinnvoller Lebensbedingungen“, „Überwindung sozialer Problemlagen“, „Beschäftigung mit Bewältigungsformen“, „Entwicklung von
Standards beruflichen Handelns“ oder „Lösung sozialer Probleme und
Bewältigung von Lebensaufgaben“.
Trotz individueller Terminologie und Akzentsetzung in Detailfragen
wie Bezugnahme auf verwandte Wissenschaften, normative Orientierung, gesellschaftlichen Wandel oder Benennung der Hilfssysteme bleiben zwei Bezugspunkte für die theoretische Auseinandersetzung mit der
Sozialen Arbeit relevant, nämlich Problemlagen und deren Bearbeitung,
die natürlich jeweils unter sehr unterschiedlicher Perspektive betrachtet
werden können. Häufig erwächst der wissenschaftliche, fachliche, politische oder weltanschauliche Disput innerhalb der Sozialen Arbeit über
diese Perspektiven und nicht so sehr über die Tatsache von Lebensschwierigkeiten und die Notwendigkeit deren Bearbeitung. Hilfreich
könnte es sein, einen Rahmen zu schaffen, um diese Kontroversen unter
gemeinsamen Bezugspunkten austragen zu können, wobei eine Verständigung auch dann möglich werden sollte, wenn es sich um unterschiedliche Ansätze handelt wie beispielsweise bei einer subjekttheoretischen,
humanökologischen oder handlungstheoretischen Zugangsweise.
2. ENTWICKLUNG VON BEZUGSKATEGORIEN
UND WISSENSCHAFTSDEFINITION
Die Kommission entschloß sich daher, Bezugskategorien festzulegen,
innerhalb derer eine eigenständige Theoriebildung sich entfalten kann,
um den Zustand der „Heimatlosigkeit“ zu überwinden und evtl. zu einer
254
EIN STÜCK WEITERGEDACHT ...
Disziplin der „vielen Heimaten“ zu werden (vergleiche Pfaffenberger
1997:51). Es müßten also solche, die innere Struktur der Sozialen Arbeit ausmachenden Kategorien gefunden und so zueinander in Beziehung gesetzt werden, daß der disziplineigene Rahmen und die Grenzmarken zu anderen Disziplinen erkennbar werden.
Als elementare Bezugskategorien werden angesehen:
• die Definition von Sozialer Arbeit (was?),
• die Erklärung ihrer Bedingungen und Bedingtheiten (wovon, warum
und wozu?),
• die Umschreibung ihrer Struktur und Funktion (wo und wer?),
• die Begründung ihrer Handlungsansätze (wie und womit?).
Eine eigenständige Disziplin der Wissenschaft der Sozialen Arbeit ergibt sich demnach aus einer Gegenstandsbestimmung, also der Definition der Sozialen Arbeit, die klärt, was Soziale Arbeit ist und was sie
nicht ist, den Gegenstandserklärungen, die zu Theorien führen, die das
Zusammenspiel von Einflußfaktoren bei der Entstehung und Überwindung von Problemlagen darlegen können, einer Umschreibung des Gegenstandsbereiches, welcher die Akteure und die gesellschaftlichen, institutionellen und personellen Bedingungen im Handlungsfeld erfaßt
und in Beziehung zur Disziplin und Profession setzt und einer Gegenstandsbearbeitung, die die disziplin- und professionstypischen Handlungsansätze aufzeigt.
Für die Entwicklung einer Theorie der Sozialen Arbeit oder anspruchsvoller und umfassender gesehen und formuliert – der Etablierung einer
Sozialarbeitswissenschaft – ist es notwendig, bereits vorliegende Forschungsarbeiten und Theorieentwürfe zu den ordnenden Kategorien der
Gegenstandsbestimmung, der Gegenstandserklärung, des Gegenstandsbereiches oder der Gegenstandserklärung in Beziehung zu setzen. Denn
eine Disziplin der Sozialen Arbeit bildet sich erst, wenn eine Systematik
der unterschiedlichen Erklärungs- und Deutungsansätze möglich wird
und mit Festlegung der Beobachtungsperspektiven werden die Konturen einer eigenständigen Disziplin erkennbar. Es ist aber nicht nur eine
Verständigung über die jeweiligen Bearbeitungsperspektiven wie Gegenstandserklärung oder Gegenstandsbearbeitung erforderlich, sondern
zunächst eine Eingrenzung des gesamten Spielfeldes. Das „Spielfeld“
255
WILHELM KLÜSCHE
der Disziplin der Sozialen Arbeit läßt sich zusammenfassend wie folgt
bestimmen:
Die Wissenschaft der Sozialen Arbeit ist die Lehre von den Definitions-,
Erklärungs- und Bearbeitungsprozessen gesellschaftlich und professionell als relevant angesehener Problemlagen.
Schaubild 1 soll das Feld der „Wissenschaft der Sozialen Arbeit“ mit
seinen Bezugskategorien verdeutlichen.
Der Gegenstandsbestimmung als der Hauptkategorie von Sozialer Arbeit sind drei Unterkategorien zugeordnet worden, um eine analytische
Differenzierung der Disziplin zu ermöglichen. Durch diese Unterkategorien sollen zum einen die „empirische Ganzheitlichkeit“ gewahrt und
zum anderen einzelne Wirklichkeitsausschnitte exakter beschreibbar
und erklärbar werden.
256
EIN STÜCK WEITERGEDACHT ...
Schaubild 1
Wissenschaft der Sozialen Arbeit
Die Wissenschaft der Sozialen Arbeit ist die Lehre von den Definitions-,
Erklärungs- und Bearbeitungsprozessen gesellschaftlich und professionell als
relevant angesehener Problemlagen.
Gegenstandsbestimmung
(was?)
Der Gegenstand der Sozialen Arbeit ist die Bearbeitung von
gesellschaftlich und professionell als relevant angesehenen Problemlagen
Gegenstandserklärung
(warum und wozu?)
Gegenstandsbereich
(wo und wer?)
Gesellschaftliche
Rahmenbedingungen
Institutionen
Akteure
Adressaten
Theorien
Forschung
Gegenstandsbearbeitung
(wie und womit?)
Handlungskonzepte
Fachliche Standards
Evaluation
Die Pfeile symbolisieren, daß die Wissenschaft der Sozialen Arbeit sich
nicht auf isolierbare Detailfragen beschränken läßt, sondern daß sie einen „ganzheitlichen“, „lebensweltorientierten“, „systemischen“ – eben
mehrdimensionalen Erfahrungs- und Erlebensraum zu bearbeiten hat,
in dem Gegebenheiten oder Reaktionen in einer Bezugskategorie oder
in einem Fakt Veränderungen in den anderen Bezugskategorien nach
257
WILHELM KLÜSCHE
sich ziehen. So haben die jeweiligen Theoriemodelle zur Gegenstandserklärung Auswirkungen auf die Sichtweise von Akteuren und Adressaten im Gegenstandsbereich und beeinflussen die Handlungskonzepte
innerhalb der Gegenstandsbearbeitung. Ebenso erfordert eine Erweiterung des Adressatenkreises die Entwicklung neuer Erklärungsansätze
zur jeweiligen Problemlage beziehungsweise der Standards fachlichen
Vorgehens. Die Definition der Gegenstandsbestimmung ist substantieller Natur, so daß Aussagen oder Erweiterungen in den anderen Kategorien keine Neubestimmung erzwingen.
Die drei zusätzlichen Bezugskategorien machen für sich gesehen natürlich nicht den inhaltlichen Gehalt einer Systematik der Sozialen Arbeit
aus, denn alle Handlungswissenschaften benötigen neben einer Gegenstandsbestimmung eine Klärung ihrer Gegenstandsbereiche, machen
Aussagen zu methodischem Vorgehen bei der Gegenstandsbearbeitung
und liefern Gegenstandserklärungen.
So hat auch die Rechtswissenschaft einen klar umschriebenen Gegenstand (die Rechtsordnung als die auf Dauer angelegte allgemeinverbindliche abstrakte Ordnung sozialer Beziehungen in einer Gruppe von Menschen), sie wird relevant in gesellschaftlichen Feldern (überall dort, wo
Beziehungen strittig werden), sie verfügt über charakteristische Verfahrensweisen, die zu Ergebnissen führen (Subsumtion der tatsächlichen
Sachverhalte unter die einschlägigen Rechtsnormen), und sie erarbeitet
Begründungen für die Logik ihrer systematischen Aussagen (zum Beispiel Naturrecht oder Rechtspositivismus).
Das Spezifische eines jeden Faches ergibt sich in der Ausfüllung der
Bezugskategorien. Auch wenn nur das bereits vorhandene Wissen mittels der hier vorgestellten vier Kategorien zusammengetragen, geordnet
und die verbindende Struktur aufgezeigt werden, dürfte die Theoriebildung innerhalb der Sozialen Arbeit einen Schritt nach vorne tun.
3. RELEVANZ DER BEZUGSKATEGORIEN FÜR DIE THEORIEBILDUNG
Dennoch haben diese Kategorien für die substantielle Ausfüllung von
Modellvorstellungen über die Soziale Arbeit einen je eigenen Stellenwert, denn bei der Sozialen Arbeit handelt es sich um eine Handlungswissenschaft, die von den in der Realität angetroffenen Bedingungen,
der „sozialarbeiterischen Wirklichkeit“ (vergleiche Feinbier 1992:137)
258
EIN STÜCK WEITERGEDACHT ...
ausgeht – daher Wirklichkeitswissenschaft (Mühlum 1997:7) –, so daß
Fragen zu den Gegenstandsbereichen und zur Gegenstandsbearbeitung
zunächst relevanter weil praxisnäher erscheinen. Abstrakte Wissenschaften – etwa die Philosophie – setzen dagegen im immateriellen Feld
des „reinen“ Geistes an – bemühen sich also zunächst um Gegenstandsbeschreibung und Gegenstandserklärung und berühren eher sekundär
Anwendungsfragen, etwa die einer „Ausbildung zum praktischen Philosophen“ (von Werder 1997:44).
Allerdings kann das Nachdenken über gelingendes Leben oder Problementstehung und Problemvermeidung selbst zum Anstoß für praktisches Handeln werden, – man denke an Modelle tragfähiger Partnerschaften für die Eheberatung, an pädagogische Leitvorstellungen zur
Erziehung demokratischer Bürger oder an Konzepte bürgerfreundlicher
Gemeinwesen –, und insofern schafft Theoriearbeit in den Kategorien
Gegenstandsbeschreibung und Gegenstandserklärung immer auch ein
aktivierendes Potential zur Realitätsveränderung.
Es bleibt für die Disziplin der Sozialen Arbeit derzeit noch kennzeichnend, daß impulsgebende Fragen sich häufig aus praktischen Problemen
ergeben, um erst in einem zweiten Schritt zu einer theoretischen Herausforderung zu werden. Denn Soziale Arbeit formt sich als gesellschaftliche Antwort auf zeitspezifische Problemkonstellationen, seien
dies zum Beispiel Verarmung von Arbeiterfamilien im Frühkapitalismus, Flüchtlingselend in der Nachkriegszeit oder Suchtabhängigkeit
und Arbeitslosigkeit im späten 20. Jahrhundert, und es ist wohl noch
nicht möglich, ein zeitunabhängiges Metamodell der Entstehung und
Bearbeitung von Problemlagen zu entwerfen. Daher steht die Soziale
Arbeit auch noch am Anfang einer systematischen und in sich stringenten Ausfüllung der obigen Bezugskategorien ihres Theoriegebäudes.
Wenn Soziale Arbeit aber zu einer eigenen Theoriebildung kommen
will, müssen alle Kategorien bearbeitet werden.
Eine Gegenstandsbestimmung erfaßt das Proprium dieser neuen Disziplin und bestimmt deren Grenzen und Abhebung von den Nachbarwissenschaften. Die Gegenstandserklärung ist nicht gleichzusetzen mit der
Gegenstandsbestimmung von Sozialer Arbeit. So können Gesellschaftsanalysen die Entstehung von schwierigen Lebensverhältnissen erklären
helfen, machen aber nicht den Inhalt von Sozialer Arbeit aus, wie oft
vermutet, sondern beinhalten nur eine Kausalperspektive. Auch die
Zielperspektive der Sozialen Arbeit, das „wozu?“ oder „wohin?“ ist
259
WILHELM KLÜSCHE
nicht mit der Gegenstandsbestimmung schon hinreichend erfaßt. Allein
das die Soziale Arbeit charakterisierende „Doppelte Mandat“ mit seiner
Hilfs- und Kontrollfunktion (vergleiche Bönisch-Gösch 1973:21ff.;
Schilling 1997:340) gibt mindestens zwei Orientierungen vor.
Ebenso ist die Ausdifferenzierung des Gegenstandsbereiches – wer
agiert wo? – wiederum auf einem anderen Denkniveau angesiedelt, auf
dem die Akteure beschrieben und in Beziehung zum Gehalt und Auftrag
von Sozialer Arbeit gesetzt werden.
Schließlich erschöpft sich Soziale Arbeit auch nicht in der „Methodenfrage“, denn die Ebene der Umsetzung des Arbeitsauftrages ist eine
praktische Frage des Vorgehens, nicht aber eine substantielle des „Wesens“ von Sozialer Arbeit.
3.1 Gegenstandsbestimmung
Bisher ist es nicht gelungen, sich innerhalb der Fachdiskussion auf eine
Gegenstandsbestimmung von Sozialer Arbeit zu verständigen, also eine
Definition zu akzeptieren. Noch immer ist zu klären, was Soziale Arbeit
beinhaltet, ob Sozialarbeit und Sozialpädagogik zu unterscheiden sind
oder nur Facetten des gleichen Gegenstandes betonen – bei „Fraktionierung = Spaltung (wären) Sozialarbeit und Sozialpädagogik terminologisch und inhaltlich zu bestimmen“ (Pfaffenberger 1997:48) – und wo
die Grenzen zu anderen helfenden Systemen liegen. Diese Vorbehalte
gegen eine definitorische Festlegung beruhen im deutschsprachigen
Raum zum Teil auf der historisch bedingten Entwicklung zweier Disziplin- und Professionsbezeichnungen für den gleichen Sachverhalt (vergleiche Mühlum 1996), auf hochschul-, berufs- und fachspezifischen
Interessen des Festhaltens an der Dichotomie von Sozialarbeit und Sozialpädagogik (zur Diskussion vergleiche Schilling 1997:169ff.; Grohall 1997:129ff.), ohne eine inhaltliche Abgrenzung im Lehrkonzept
noch in den Tätigkeitsfeldern wirklich erreichen zu können und an der
sprachlichen Schwierigkeit, dem sich durchsetzenden kategorialen Leitbegriff „Soziale Arbeit“ einen stimmigen akademischen Grad zuordnen
zu können (vergleiche Grohall 1997:128ff.).
Die Kommission hat sich an eine vereinheitlichende Gegenstandsbestimmung gewagt und lehnt die von Merten (1997:15) geäußerte Ansicht, daß „eine Gegenstandsbestimmung theoretisch wie wissenschaftstheoretisch gleichermaßen nicht haltbar ist“, ab, denn „als eine Art Aus260
EIN STÜCK WEITERGEDACHT ...
weichmanöver kann man es deuten, wenn anstelle einer Gegenstandsbestimmung Ziele und Aufgaben der Sozialen Arbeit benannt und
aufgelistet werden“ (Puhl/Burmeister/Löcherbach 1996:168).
Merten befürchtet zum einen eine „Selbststigmatisierung“ (Merten
1997: 15) der Sozialen Arbeit, wenn sie sich in ihrem Selbstverständnis
an der Negativperspektive von sozialen oder personalen Problemen orientiert. Natürlich kann man Soziale Arbeit auch an ihrer Zielvorstellung, Problemfreiheit oder Glück her- oder sicherzustellen, definitorisch ausrichten – Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession der
Problemfreiheit – beziehungsweise mit Ilse von Arlt „Lebensfreude“ als
Fokus der Sozialen Arbeit zu betrachten (vergleiche Staub-Bernasconi
1996:30) – doch entfaltet sich diese Zielvorstellung erst auf der Tatsache, daß soziale und personale Probleme angetroffen und der Sozialen
Arbeit zur Bearbeitung zugewiesen werden. In dem man sich dazu bekennt, daß die Bearbeitung solcher Probleme die Soziale Arbeit tangiert,
wertet man sie ja nicht automatisch ab, genauso wenig wie die Medizin
negativ besetzt wird, weil sie sich überwiegend mit Krankheiten beschäftigt. Die Gesundheitswissenschaft als ihr positives Pendant entwickelt sich ja erst gerade, wobei noch nicht ausgemacht ist, welche der
beiden Disziplinen auf Dauer ein höheres Ansehen erhalten.
Das immer noch andauernde Ringen der Sozialarbeit/Sozialpädagogik
um ihre professionelle Identität ist nicht nur in den ihr gestellten, negativ
besetzten Problemlagen begründet, sondern dürfte auch aus den ungeklärten Grenzen der helfenden Rolle, den diffusen, oft nicht klar umschriebenen Arbeitsaufträgen und dem zwiespältigen Verhältnis zu ihrem Auftraggeber „Gesellschaft“ resultieren. Die Stigmatisierungsfrage
darf daher nicht gleichgesetzt werden mit der Inhaltsfrage.
Zum anderen wird davon ausgegangen, daß sich die Soziale Arbeit wie
die soziale Wirklichkeit als ein Ganzes vorstellen läßt (vergleiche Merten 1996:80). Dennoch wird man beiden nicht ausschließlich analytisch
vorgehend gerecht, in dem man sie – wie Merten (ebd.) über die soziale
Wirklichkeit schreibt –„in wohlbestimmte Einzelteile auflösen läßt, wobei jedem der einzelnen ‚Stücke der Realität‘ (als bestimmte Gegenstände) spezifische Disziplinen korrespondieren“, so daß sich erst aus der
Summe der disziplinären Gegenstände die Welt beziehungsweise entsprechend die Soziale Arbeit ergibt. So wie Merten anderen Wissenschaften eine Eigenrationalität und die Bildung „ihrer Gegenstände
nach Maßgabe ihrer Theorie (Luhmann))“ (ebd.) zugesteht, so kann und
261
WILHELM KLÜSCHE
muß auch die Soziale Arbeit ihre spezifische Sichtweise auf die Welt
und sich selbst einnehmen, beide unter dieser Perspektive betrachten
und erforschen.
Die Kommission hat sich zu der Ansicht bekannt, daß man wissen und
bestimmen kann, was den Kern von Sozialer Arbeit ausmacht, was Soziale Arbeit ist und was sie nicht ist. Die eingrenzenden Basisannahmen
gehen von innerhalb der Sozialen Arbeit immer anzutreffenden Problemen und dem Bemühen zu deren Überwindung aus, wobei bedingende
Beifügungen das Charakteristische der Problemlagen ansprechen und
zu folgender Definition führen:
Der Gegenstand der Sozialen Arbeit ist die Bearbeitung von gesellschaftlich und professionell als relevant angesehenen Problemlagen.
Eine ausführliche Problematisierung dieser Definition und Darlegung
deren Bezüge ist Kapitel 2 vorbehalten.
3.2 Gegenstandserklärung
Die Arbeiten zur Gegenstandserklärung zielen auf zwei elementare Fragenkomplexe innerhalb der Sozialen Arbeit, nämlich auf den der Genese, Dynamik und Folgen der (zu bearbeitenden) Problemlagen (warum?) und auf den der Ansätze zu deren Überwindung (wozu?).
Aus den Antworten auf die Fragen nach dem „Warum“ und „Wozu“ leitet sich das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit ab. Zum einen, weil
mittels Ursachenforschung die Ansätze zur Bearbeitung von Problemlagen entwickelt werden und damit die fachspezifische Kompetenz begründen und zum anderen, weil die Antworten auf die Fragen nach dem
wohin und wozu zu bewußtseinsbildenden Elementen der professionellen Identität werden. Die „funktionale Analyse“ (Merten 1997:15) zählt
zu den Essentials einer theoretischen Betrachtung von Sozialer Arbeit,
weil sie Bedeutung und Ziele vorgibt.
Unter der engeren Kausalitätsperspektive zur Problemverursachung
(warum?) sind Gesetzmäßigkeiten innerhalb der jeweiligen Einflußfaktoren zu entdecken, etwa die Auswirkungen gesellschaftlicher Strukturbedingungen oder die Folgen klientenspezifischer Verhaltensweisen,
zum Beispiel bei der Entstehung von Sucht oder Obdachlosigkeit. Für
262
EIN STÜCK WEITERGEDACHT ...
solche empirisch belegbaren oder hypothetischen Konstrukte sind Anleihen in verwandten wissenschaftlichen Disziplinen unverzichtbar,
etwa bei den obigen Beispielen die Heranziehung der soziologischen
Anomietheorie, marxistischer Vorstellungen oder der systemischen Familienforschung. Mit der Kausalitätsperspektive ist aber nicht eine erkenntnistheoretische Festlegung verbunden in dem Sinne, daß nur positivistisch zu interpretierende Datensammlungen akzeptierbar wären,
sondern ebenso kann ein verstehendes Vorgehen Zusammenhänge erhellen, insbesondere bei der Komplexität der zu bearbeitenden Lebensprobleme, die mit ausschließlich reduktionistisch empirischer Methode
oft nicht faßbar sind.
Die Analyse der Bedingungen, Voraussetzungen und Anstöße zur Herausbildung von Sozialer Arbeit als Hilfesystem (wozu?) ist ebenfalls
Aufgabe der Gegenstandserklärung. Welche historischen Kräfte, gesellschaftlichen Handlungsspielräume und weltanschaulichen Positionen
begründen öffentliche Hilfen und führen zur institutionalisierten Systemen, etwa von Wohlfahrtsverbänden und Ämtern.
Der Forschungsbereich des „Warum und Wozu“ der Sozialen Arbeit, –
die als ein Produkt des Zusammenwirkens von Gesellschaftsstrukturen,
Theorien des Helfens, ethischen Orientierungen und ökonomomischen
Möglichkeiten sich darstellt –, soll auch transparent machen, daß Soziale Arbeit nicht nur eine gesellschaftliche Instanz ist, die ihre Begründung allein in ihrer Existenz findet – „Soziale Hilfe als Funktionssystem
der Gesellschaft“ (vergleiche Baecker 1994) –, sondern als eigenständige wissenschaftliche Disziplin existieren kann. Diese Disziplin hat
Sachverhalte aufzugreifen, die nicht durch Theorien anderer Disziplinen hinreichend erklärt werden können, sondern sie setzt sich mit eigenen Themen, Strukturen und Wirkmechanismen auseinander, vergleichbar der sich verselbständigenden Pflege- und Gesundheitswissenschaft (vergleiche Mühlum/Bartholomeyczik/Göpel 1997). Welche
Theorieansätze inhaltlich die Soziale Arbeit ausfüllen können, wird in
Kapitel 3 ausgeführt.
3.3 Gegenstandsbereich
Die Ausfüllung und Abgrenzung des Gegenstandsbereiches stellt für die
Soziale Arbeit eine fachimmanente und professionspolitische Herausforderung dar, weil professionelle, ehrenamtliche, private, systemati263
WILHELM KLÜSCHE
sche und unsystematische Hilfeleistungen im landläufigen Verständnis
häufig pauschal zur Sozialen Arbeit hinzugerechnet werden, etwa wenn
der Vorsitzende des Deutschen Fußballbundes die Millionen – ehrenamtlich tätigen – Mitglieder seines Verbandes als Sozialarbeiter bezeichnet (Festrede von Egidius Braun anläßlich des 100-jährigen Bestehens des Westdeutschen Fußballverbandes am 11.9.1998 in Mühlheim/
Ruhr). Auch „müssen (Sozialpädagogen) hinzugedacht werden, wenn
wir von einem sozialpädagogischen Fall reden wollen“ (Müller
1993:25) und aus Problemgeschichten professionelle Aufgaben werden
sollen.
Zu eruieren ist also, wer und wann im Gegenstandsbereich von Sozialer
Arbeit disziplinbezogen agiert, etwa die Betroffenen, die Experten, die
Öffentlichkeit, die Angehörigen, die Institutionen etc. und in welcher
Weise deren Handeln als Soziale Arbeit im Sinne einer Gegenstandsbestimmung zu werten ist. Ist zum Beispiel der Besuch einer Nachbarin
bei einer älteren Hausbewohnerin Bestandteil von Sozialer Arbeit, wenn
die Nachbarin von sich aus spontan nachfragt oder wird diese Anteilnahme erst dann zur Sozialen Arbeit, wenn sie aufgrund einer Absprache
mit einem Wohlfahrtsverband dazu angeregt wird? Welcher disziplinund professionsbestimmende Faktor kommt den einzelnen Elementen
im Gegenstandsbereich zu? Sollte nicht von Sozialer Arbeit nur dann gesprochen werden, wenn Professionelle beteiligt sind? Und erfordert
nicht ein professionelles Bewußtsein bei Übernahme von Vorgehensweisen aus anderen Wissensbereichen und Praxisfeldern, „diese Methoden auf ihre Tauglichkeit im Blick auf die Probleme und AdressatInnen
der Sozialen Arbeit zu überprüfen“? (Staub-Bernasconi 1996:52).
Die Forschungen zum Gegenstandsbereich haben daher für die Entwicklung der Sozialen Arbeit als einer dynamischen Handlungswissenschaft einen notwendigen erläuternden und erklärenden Stellenwert.
Eine zwar stimmige aber abstraktbleibende Gegenstandsbestimmung
vermag für sich gestellt ein umfassendes Bild von Sozialer Arbeit noch
nicht abzugeben, denn soziale Probleme und deren Bearbeitung unterliegen zeit- und situationsbedingten Veränderungen, und Diagnose und
„Therapie“ sind je nach „Fall“ neu aufeinanderzubeziehen.
Erst in ihrem Gegenstandsbereich wird Soziale Arbeit konkret, etwa
durch Bezugnahme auf die gesellschaftstypischen Rahmenbedingungen, die historisch gewachsenen Institutionen, die wechselnden Akteure
und die jeweiligen Adressaten. Die deskriptive und funktionale Ausfül264
EIN STÜCK WEITERGEDACHT ...
lung des Gegenstandsbereiches erlaubt es, die sich zwar wandelnden,
aber immer zentralen Elemente bei der Ausgestaltung von Sozialer Arbeit im aktuellen Zusammenhang darzustellen. Kapitel 4 behandelt die
einzelnen Elemente des Gegenstandsbereiches.
3.4 Gegenstandsbearbeitung
Jede Profession besitzt ein Repertoire an Arbeitsformen, und das Bild
von Sozialer Arbeit als selbständige Profession und Disziplin wird
schärfer, wenn die ihr eigenen Handlungskonzepte erkennbar werden.
Wird der Sozialen Arbeit ein eigener Gegenstand und Zuständigkeitsbereich zuerkannt, der sich von anderen Disziplinen und Professionen
unterscheidet, dann benötigt er auch spezifische Bearbeitungsverfahren
und kann – selbst theoretisch – fremd konzipierte Handlungsansätze
nicht einfach übernehmen. Soziale Arbeit muß adaptieren, nicht adoptieren.
Denn die Handlungskonzepte in der Sozialen Arbeit umfassen mehr als
die einfache Übernahme von Modellen, Verfahren und Interventionsansätzen aus therapeutischen Schulen, Erziehung, Bildung, Verwaltung
oder Rechtsprechung. Soziale Arbeit hat eben nicht nur eine individuumsbezogene Perspektive – weniger Leiden und mehr Kompetenz –,
sondern immer auch eine gesellschaftsbezogene – weniger Ausgrenzung
und mehr Teilhabe – und diese doppelte Zielsetzung muß sich im methodischen Selbstverständnis niederschlagen. Die Systematisierung der
Vorgehensweisen innerhalb der Sozialen Arbeit durch Aufzeigen von
Konzeptionen mit ihren Zielbestimmungen und unterschiedlichen Interventionsmöglichkeiten ist struktureller Beitrag zur fachlichen Profilierung und kann die häufig zu hörende, aber inhaltlich oft nicht zu präzisierende Behauptung: „Wir handeln professionell“ substantiell untermauern. Kapitel 5 legt ein Ordnungsschema zu den Arbeitsprozessen in
der Sozialen Arbeit vor.
4. REFLEXION UND QUERVERBINDUNGEN
Diese vier Kategorien bilden ein Raster, das Theorie- und Praxisfragen
einer konzeptionellen Bearbeitung zuführt. Theoretische Orientierungen und inhaltlichen Aufgaben können unter den ordnenden Gesichts265
WILHELM KLÜSCHE
punkten der definintorischen Bestimmung, der Handlungsbereiche, der
Ätiologie oder der Bearbeitung systematischer angegangen werden.
Beispielsweise ist die Ausdifferenzierung des Theorie-Praxis-Verhältnisses oder die Rechtfertigung des Einsatzes spezieller Vorgehensweisen, etwa kontrollierender Methoden, Inhalt der Gegenstandsbearbeitung, ein professionelles Selbstverständnis läßt sich nur auf einer handlungsleitenden Gegenstandsbestimmung und durch Inbeziehungsetzung
der Akteure im Gegenstandsbereich begründen, und Lehre und Studium
stützen sich auf Modelle der Gegenstandserklärung, eben der Theoriebildung.
Auch fachspezifische Eigenarten berücksichtigende Methodologien bei
der Gegenstandserfassung (Forschung) oder eine spezifische Didaktik
bei der Gegenstandsvermittlung (Lehre) stellen nur ergänzende Charakterisierungen dar, bilden aber keine disziplinbegründenden Essentials,
denn sie ergeben sich aus den Antworten zu Gegenstandsbereich, Gegenstandsbearbeitung und Gegenstandserklärung.
Eine grundsätzliche Trennung der disziplinären oder professionellen
Sichtweisen erscheint für die Theoriebildung auch nicht notwendig,
denn die Bearbeitung beider Perspektiven von „Disziplin und Profession: (sind) Aufgaben der Sozialarbeitswissenschaft“ (Wendt 1995:46).
Die disziplinäre Beschäftigung mit der Sozialen Arbeit erfordert allerdings einen reflektierten Blickwinkel, der in der Lage ist, das scheinbar
durch die Einmaligkeit der Situation bestimmte praxisnahe Handeln einer theoriegeleiteten und Zusammenhänge einordnenden Betrachtung
zuzuführen, und dazu können die vorgestellten Kategorien eine Hilfe
sein.
Für die Kommissionsarbeit kristallisierte sich daher als unverzichtbare
Voraussetzung für die Entwicklung des angestrebten Bezugsrahmens
zunächst die Notwendigkeit einer Gegenstandsbestimmung heraus. Sie
soll das Feld der Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit umschreiben
und damit die Verarbeitung weiterer konstruktiver Elemente zulassen,
die zu Ausgangspunkten einer Theorieentwicklung werden können. Dabei hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sozialen Arbeit
gleichwertig Handlungsfelder und Handlungsorte, interne (ausformulierte Modelle Sozialer Arbeit) und externe (Bezugswissenschaften)
Theorieansätze und ein gegenstandsspezifisches Praxis-Theorie-PraxisVerhältnis zu berücksichtigen. Mit den Kategorien Gegenstandsbereich,
Gegenstandserklärung und Gegenstandsbearbeitung sind folgerichtig
266
EIN STÜCK WEITERGEDACHT ...
die relevanten Bezugsgrößen für die theoretische Erfassung des Feldes
der Sozialen Arbeit bestimmt. Auf der Basis dieser Eckpunkte kann die
Systematik der Wissenschaft der Sozialen Arbeit weiter ausdifferenziert
werden.
Sicher enthält der hier vorgeschlagene Bezugsrahmen keine völlig neuen Kategorien zur theoretischen Erfassung und Durchdringung des Feldes der Sozialen Arbeit. Was ihn nach Auffassung der Kommission von
anderen Ausführungen zum spezifischen Wirklichkeitsausschnitt der
Sozialen Arbeit unterscheidet, ist insbesondere seine größere Klarheit
und Systematik.
Während in der Literatur der relativ unstrittige Brennpunkt der Sozialen
Arbeit in dem Verhältnis von (Lebens)Problemen und Bewältigungsunterstützung gesehen wird, werden die allgemeinen Anforderungen an
eine Theorie der Sozialen Arbeit durchaus unterschiedlich expliziert.
Nach Silvia Staub-Bernasconi muß eine Theorie der Sozialen Arbeit 1.
„Die Bandbreite von Problem- und Fragestellungen in Termini von erklärungskräftigen Konzepten“ fassen; 2. „Konzeptuell die Frage nach
der Entstehung der beschriebenen Problematiken samt den Folgen,
durch die sie reproduziert und stabilisiert werden, beantworten können“
und 3. „Aus dem Wissen um empirisch überprüfbare und geprüfte Determinationszusammenhänge alltags- und wertbezogene Handlungsanweisungen ableiten lassen“ (Staub-Bernasconi 1994:81). Bezogen auf
den Bezugsrahmen der Kommission lassen sich die 1.und 2. Anforderung der Kategorie Gegenstandserklärung und die 3. der Gegenstandsbearbeitung zuordnen.
Ähnlich anschlußfähig ist auch die von Thiersch/Rauschenbach 10 Jahre
zuvor geforderte gesellschafts- und handlungstheoretische Fundierung
der Sozialen Arbeit (Thiersch/Rauschenbach 1984:987). Das meint Aussagen und Erklärungen über die Entstehung, Definition und die Folgen
von (Lebens)problemen einerseits und über die Bewältigungs- und Unterstützungsleistungen andererseits. Die fünf zentralen Dimensionen einer Theorie der Sozialen Arbeit: die Lebenswelt der Adressaten, die gesellschaftliche Funktion, die Institution, das professionelle Handeln und
der Wissenschaftscharakter der Sozialen Arbeit (Thiersch/Rauschenbach 1984:1000) lassen sich mit dem Bezugsrahmen der Kommission
jedoch stärker systematisieren. Die Lebenswelt der Adressaten, die Institution und das professionelle Handeln wären dem Gegenstandsbereich zuzuordnen, die gesellschaftliche Funktion der Gegenstandserklä267
WILHELM KLÜSCHE
rung. Der fünften Dimension, der Wissenschaftscharakter der Sozialen
Arbeit, kommt allerdings nur der logische Status wissenschaftstheoretischer Reflexion zu; sie kann nicht Dimension einer Objekttheorie sein.
In einer neueren Arbeit thematisiert Hans Thiersch mit Recht nur noch
die ersten vier Dimensionen als zentral für eine Theorie der Sozialen Arbeit (Thiersch 1996:12f.).
Mit diesem Bezugsrahmen hat sich die Kommission eindeutig für ein
Wissenschaftsprogramm entschieden, das die Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft begreift, was auch der Definitionsvorschlag – „Die
Wissenschaft der Sozialen Arbeit ist die Lehre von den Definitions-, Erklärungs- und Bearbeitungsprozessen von gesellschaftlich und professionell als relevant angesehenen Problemlagen“ – zum Ausduck bringt.
Damit folgt die Kommission der Auffassung einer Vielzahl von Autoren,
die zwar mit unterschiedlichen Bezeichnungen in der Sache aber identische Auffassungen vertreten. Zum Beispiel sprechen – um nur einige zu
nennen – Mühlum (1994:53) von einer „transdisziplinären oder multidisziplinären Disziplin“, Feth (1996:100) von „Querschnittswissenschaft“,
Obrecht (1996:121) von „integrativer Handlungswissenschaft“, Hollstein-Brinkmann (1993:79) und Staub-Bernasconi (1994:84) von „interdisziplinärer“ beziehungsweise „interdisziplinär“ zu konzipierender
Wissenschaft, Sommerfeld (1996:64) von „transdisziplinärer Theoriebildung“ oder Erath und Göppner von „Multireferentialität“ beziehungsweise „multireferentieller Sozialarbeitswissenschaft“ (Erath/Göppner
1996:34, Göppner 1997:36).
Im Kern geht es dabei um die systematische Erzeugung von relevantem
Wissen entsprechend den Anforderungen der praktischen Sozialen Arbeit. Das Ziel ist, bessere im Sinne von wirksameren Problemlösungen
herbeizuführen. Die Frageperspektive einer solchen angewandten Wissenschaft ist nach Sommerfeld: „Wie muß jemand was machen, um ein
bestimmtes Ereignis zu erzielen und was braucht er/sie dafür?“ (Sommerfeld 1996:33). Das Wissen dient dazu, Handlungskompetenz zu erzeugen (vergleiche Thiersch 1996:15) und zu steigern.
Mit diesem Wissenschaftsprogramm unterscheidet sich die Soziale Arbeit wesentlich von der Mehrzahl ihrer Bezugswissenschaften, die als
reine erkenntniserzeugende Disziplinen ihren Ausgang genommen haben und deren spezifisches Wissen allmählich auch in Teilbereichen
praktisch Anwendung gefunden hat (zum Beispiel Psychologie und psychotherapeutische Verfahren). Weil die Welt aber nicht abschließend
268
EIN STÜCK WEITERGEDACHT ...
unter den vorhandenen Wissenschaften zur Erforschung aufgeteilt ist,
bleibt es der Zukunft überlassen, ob sich die Soziale Arbeit jenseits von
Anforderungen der Praxis zu einer Disziplin mit einem eigenen exklusiven Erkenntnisgegenstand entwickelt. Die Kommission hofft jedenfalls, daß ihr Bericht dazu beiträgt, Forschung und Theoriebildung in der
Sozialen Arbeit voranzutreiben und unabhängig vom letztendlich erreichbaren Programm der Etablierung einer Wissenschaft von der Sozialen Arbeit einen theoriefördernden Sachbeitrag geleistet zu haben.
269
Soziale Systeme, Individuen,
soziale Probleme und Soziale Arbeit
Zu den metatheoretischen, sozialwissenschaftlichen
und handlungstheoretischen Grundlagen des
„systemtheoretischen Paradigmas“ der Sozialen Arbeit
Werner Obrecht
EINLEITUNG: PROBLEME DER THEORETISCHEN INTEGRATION
UND DIE STRUKTUR DER WISSENSCHAFT SOZIALE ARBEIT
In ihrer künftigen Entwicklung sieht sich die Soziale Arbeit sowohl vor
interne wie auch vor externe Probleme gestellt, die teils praktischer, teils
kognitiver Natur sind. Das übergeordnete interne kognitive Problem der
Disziplin ist das des extrem fragmentierten Professionswissens, das
nach einer umfassenden und integrativen Konzeption Sozialer Arbeit
verlangt. Eine solche muss man sich als ein in sich zusammenhängendes
Netz von nomologischen Grundlagentheorien55 und auf ihnen beruhende speziellen Handlungstheorien (Methoden) ganz verschiedener Art
vorstellen, die die vielfältigen objekt- und handlungstheoretischen Fragen beantworten, die mit dem Gegenstand und der Problematik der Sozialen Arbeit aufgeworfen werden. Da die Integration von Theorien
nicht zuletzt ein logisches Problem ist, wird ein geeignetes Netz solcher
Theorien nur Begriffe, Hypothesen und Theorien einschließen, die logisch miteinander verträglich sind. So müssen, da sich Soziale Arbeit
sowohl auf Individuen als auch auf soziale Systeme unterschiedlicher
Art bezieht, die nomologischen Theorien biologischer, psychischer und
sozialer Prozesse, die in eine Konzeption aufgenommen werden, miteinander harmonieren, und alle zusammen müssen Grundlagen jener
Theorie sozialer Probleme sein, die im Mittelpunkt des jeweiligen Net55 Im Unterschied zum in der Sozialen Arbeit verbreiteten Theorieverständnis,
wonach Theorien Begriffssysteme (z.B. Parsons, Luhmann) oder einfach Texte
mit „Reflexionen“ sind, sind nomologische Theorien Systeme von Hypothesen
über (kausale, stochastische oder teleonome) Gesetzmässigkeiten im Aufbau
und in den Prozessen in und zwischen den untersuchten Dingen (Systemen).
270
SOZIALE SYSTEME, INDIVIDUEN, SOZIALE PROBLEME UND SOZIALE ARBEIT
zes steht. Darüber hinaus werden nur Methoden (spezielle Handlungstheorien) zu einer solchen Konzeption der Sozialen Arbeit zählen, die
auf den nomologischen Theorien über Wirkmechanismen beruhen, die
zum Netz gehören und die je spezifischen Probleme lösen, mit denen im
Rahmen der Theorie sozialer Probleme gerechnet werden muss und die
sich im beruflichen Alltag ergeben. Selbstverständlich sind innerhalb
einer Handlungswissenschaft mehrere Netze möglich.
Die Integration von professionellem Wissen setzt geeignete Metatheorien voraus, in denen das Problem der Fragmentierung und das Ziel der
Integration präzis formuliert und das Problem als lösbar dargestellt
wird. Da die Soziale Arbeit keine Basis- sondern eine Handlungswissenschaft ist, sind zwei Formen der Integration von Bedeutung, eine im
Bereich von Objekttheorien und eine im Bereich der Theorie des methodischen Handelns (für beides vgl. Obrecht 2003a).
• Die Integration von Objekt- oder Basistheorien und insbesondere
von Theorien, die sich auf verschiedene Arten von Systemen wie biologische, psychische und soziale Systeme beziehen, erfordert zweierlei. Sie involviert einerseits eine wissenschaftsbasierte Ontologie,
die erlaubt, die verschiedenen Arten von Dingen zu unterscheiden,
die die Welt ausmachen, sowie die möglichen Beziehungen zu spezifizieren, in denen diese, falls überhaupt, zueinander stehen. Darüberhinaus involviert theoretische Integration eine Wissenschaftstheorie, die erhellt, welche Formen von Theorien der in der Ontologie
beschriebenen Struktur der Dinge angemessen sind und wie Theorien, die Partialzustände oder -prozesse unterschiedlicher Art beschreiben oder erklären,56 miteinander zu umfassenderen und erklärenden Theorien verknüpft werden können.
56 Unterschieden wird hier einerseits zwischen beschreibenden oder 1-NiveauTheorien (auch Blackbox-Theorien), die lediglich aus Verallgemeinerungen
bestehen und streng genommen nichts erklären, sondern nur verallgemeinernd
beschreiben, und andererseits 2- oder Mehrniveautheorien (auch mechanismischen oder erklärenden Theorien), die einzelne Eigenschaften von Systemen
oder die in 1-Niveau-Theorien formulierten Regularitäten durch Mechanismen
erklären, d.h. durch gesetzmässige Prozesse innerhalb der betrachteten Systeme
und unter gegebenen äusseren Bedingungen (vgl. z.B. Bunge 1996 oder
Obrecht 2003a).
271
WERNER OBRECHT
• Im Unterschied zu den Objekttheorien der Basiswissenschaften, in
denen lediglich Beschreibungs- und Erklärungstheorien, also Antworten auf Was- und Warum-Fragen beantwortet und verknüpft werden, besteht das Ziel der allgemeinen Handlungstheorie der Handlungswissenschaften darin, nomologisch erklärte Beschreibungen,57
das heißt „integrierte“ Gegenwarts- und Vergangenheitsbilder und
bedingte Prognosen (Zukunftsbilder), mit allen weiteren, im Rahmen
von rationalen Handlungen funktionalen Wissensformen in einen
systematischen handlungstheoretischen Zusammenhang zu bringen,
nämlich mit Werten, Problemen, Methoden, Zielen und Plänen
(Obrecht 1996a sowie Kap. IV)).
Eine solche allgemeine Handlungstheorie formuliert alle Operationen
methodisch kontrollierten und problemlösungsorientierten, das heißt
professionellen Handelns. Im Rahmen der Fallbearbeitung ermöglicht
sie so, auf der Grundlage systematisch beschriebener und erklärter Klientensituationen eine begründete Auswahl und kontrollierte Anwendung von wirksamen Methoden im Hinblick auf die Lösung von ins
Auge gefassten Problemen des Klienten. Auf diese Weise wird (1) der
Begriff des problemlösenden Handelns von jenem der Methode klar getrennt, werden (2) Methoden als Systeme von Regeln im Sinne einer
Form von Ressourcen im Rahmen problemlösungsorientierten Handelns definiert. Damit wird die in der Methodendiskussion bis heute verbreitete Konfusion zwischen Methoden beziehungsweise speziellen
Handlungstheorien einerseits und methodischem Handeln andererseits
vermieden.
Die Integration von Objekt- und Handlungstheorien ist keine sporadische, sondern eine permanente Aufgabe aller Handlungswissenschaften
wie auch der zugehörigen Professionen. Deshalb müssen die dafür unverzichtbaren Metatheorien zur Struktur der Sozialarbeitswissenschaft
gezählt werden. Dies bedeutet, dass sich mit der Bildung einer Disziplin
auf dem Wege der eigenständigen Verknüpfung ihres multidisziplinären Wissens sowohl ihre interne Struktur wie auch die gesamte institu57 Nicht zu verwechseln mit Beschreibungstheorien. Während diese Verallgemeinerungen sind und sich deshalb auf Klassen von Dingen beziehen (vgl. Fußnote 56), sind Beschreibungen Aussagen über singuläre Fakten, d.h. über
Zustände und Zustandsänderungen von partikulären Dingen (Systemen).
272
SOZIALE SYSTEME, INDIVIDUEN, SOZIALE PROBLEME UND SOZIALE ARBEIT
tionelle Differenzierung verändert: Abb. 1 (Obrecht 2001: 20) zeigt
links oben die Struktur der Sozialarbeitswissenschaft als Disziplin mit
4 logischen Ebenen von Wissen und in der unteren Mitte ein Dreieck,
das die in fünf Wirklichkeitsbereiche (= Bündel von Systemebenen =
Kollektion aller Systeme einer bestimmten Art) differenzierte terrestrische Realität symbolisiert, deren als problematisch betrachteten Zuständen (= praktische Probleme) die Interventionen der Sozialen Arbeit mit
Hilfe professioneller Methoden gelten.
Die zu den basiswissenschaftlichen Objekttheorien und den Methoden
neu hinzukommenden Stufen I und III haben die Funktion der objektund handlungstheoretischen Integration, Stufe I eine allgemeine, welche die Integration des multidisziplinären Wissens über verschiedenartige, und verschiedenen ontologischen Niveaus angehörenden Systeme
ermöglicht, mit denen Soziale Arbeit direkt oder indirekt beschäftigt ist;
Stufe III hingegen ermöglicht die Verknüpfung und Sequenzierung der
bereits genannten Wissensformen im Rahmen professioneller (rationaler) Handlungen (vgl. dazu auch Kap. IV).
Was die institutionelle Struktur der vordisziplinären Phase der Sozialen
Arbeit mit ihrer dem Alltagsdenken entnommenen diffusen Unterscheidung von „Theorie“ und „Praxis“ betrifft (vgl. Abb. 1, rechts), so differenziert sie sich mit der Etablierung der Disziplin von zwei auf vier Stufen: Wissenschaft Soziale Arbeit (Disziplin) – Ausbildung – Profession
– Praxis.
Entscheidend an dieser Auffassung von Sozialer Arbeit als handlungswissenschaftliche Disziplin ist, dass sie dank der Stufen I und III Wissensitems bestehender Disziplinen (II, IV) im Hinblick auf spezifische
Fragestellungen der Sozialarbeitswissenschaft (II-IV) und der Praxis
der Sozialen Arbeit (II–V) systematisch miteinander zu verknüpfen erlaubt. Was die innerhalb der integrativen Stufen verknüpften Items (Begriffe, Hypothesen, Theorien) betrifft, die meist dem Wissen unterschiedlicher Disziplinen entstammen, so erhalten sie durch ihre Integration eine Funktion innerhalb einer umfassenderen theoretischen Sicht,
ohne dass dadurch die Eigenständigkeit der Herkunftsdisziplinen der integrierten Items in Frage gestellt würde: eine Hypothese ist eine soziologische (psychologische) Hypothese durch die Art ihrer Referenten
und nicht wegen dem Ort innerhalb der disziplinären Arbeitsteilung, an
dem sie (auch noch) eine Rolle spielt. Und was die beiden Stufen mit
Integrationsfunktion (I und III) anbelangt, so sind sie transdisziplinär,
273
WERNER OBRECHT
Abbildung 1: Die Struktur der Sozialarbeitswissenschaft in der Sicht des
systemistischen Paradigmas
oder anders gesagt disziplinenübergreifende Bezugsrahmen mit der
Aufgabe, Wissen aus verschiedenen Disziplinen logisch zu verknüpfen.
Sie sind insofern philosophisch, als sie Probleme bearbeiten, die in allen
wissenschaftlichen Disziplinen auftreten, und gerade deshalb von keiner mit ihren eigenen Mitteln allein bearbeitet werden können.
Das Folgende umreißt einige metatheoretische, sozialwissenschaftliche
und handlungstheoretische Grundbegriffe und -hypothesen eines umfassenden systemtheoretischen Verständnisses der Sozialen Arbeit, das
in den letzten 25 Jahren an der Hochschule für Sozial Arbeit in Zürich
entwickelt worden ist. In knapper Form soll die Art der theoretischen Integration im Bereich von Objekttheorien unterschiedlichen Niveaus und
zwischen solchen und der allgemeinen Handlungstheorie umrissen werden, die im Rahmen dieser Konzeption bisher erreicht worden ist. In Kapitel I.1 wird der nicht holistische Systembegriff der Ontologie des
274
SOZIALE SYSTEME, INDIVIDUEN, SOZIALE PROBLEME UND SOZIALE ARBEIT
Emergentistischen Systemismus zunächst in seiner hyperallgemeinen,
das heißt ontologischen Form eingeführt (Abb. 1, Stufe I, Ontologie)
und anschließend in Bezug auf soziale Systeme angewandt (Kapitel I.2,
Stufe II, soziale Systeme). Kapitel II charakterisiert sodann zunächst
den eingeführten Systembegriff unter ontologischen und methodologischen Gesichtspunkten und vergleicht ihn mit seinen beiden einseitig reduktionistischen Konkurrenten, mit dem abwärtsreduktionistischen Individualismus und mit dem aufwärtsreduktionistischen Holismus – zu
dem auch die holistische Systemtheorie Talcott Parsons und deren autopoietisch-prozessualistische Variante, die Systemlehre Niklas Luhmanns zählen (Stufe I, Wissenschaftstheorie). Dabei erweist sich, dass
der Systemismus logisch von den beiden bisherigen Zugängen zur sozialen Realität nicht unabhängig ist, sondern deren je wahre Kerne kombiniert, während er ihre Einseitigkeiten vermeidet. Zweitens wird gezeigt, dass der eingeführte Systembegriff die ontologische Grundlage
für den wissenschaftstheoretischen Begriff des mechanismischen Erklärens darstellt, für den weder Holismen noch Individualismen eine Verwendung hatten und der sich gegenwärtig, als Ergebnis der internationalen Mikro-Makro-Link-Debatte der 80er Jahre (Alexander und Giesen 1987), auch in den Sozialwissenschaften mehr und mehr durchsetzt
(Stufe II, soziale Systeme, psychische Systeme). Da mechanismisches
Erklären rekursiv auf alle Niveaus angewandt werden kann, durch die
ein System gebildet wird, kann auch das Verhalten von Individuen im
selben Sinne, das heißt durch den Nachweis interner, namentlich neuronaler Mechanismen erklärt werden. Dies setzt voraus, dass menschliche
Individuen im Sinne der kognitiven Neurowissenschaften als selbstwissensfähige Organismen verstanden werden und psychische Prozesse als
Gehirnprozesse innerhalb des Nervensystems als einem ihrer Subsysteme.
Sind aber Individuen, einschließlich ihrer psychischen Subsysteme,
konkrete Systeme, so lassen sich soziale Systeme als konkrete Systeme
mit sprach- und selbstwissensfähigen menschlichen Individuen als
Komponenten verstehen. Der Bedeutung dieser Sicht für die Theorie Sozialer Akteure wie auch für die Theorie professionellen Handelns entsprechend umreißt Kapitel III davon ausgehend zweierlei: Zum einen
enthält es die Skizze eines systemistischen, biopsychosozialen Erkenntnis- und Handlungsmodells des Individuums (Stufe II, psychische Systeme und Stufe I Erkenntnistheorie). Zweitens präsentiert es in äußerst
knapper Form und ausgehend von Begriffen des Modells und vom Be275
WERNER OBRECHT
griff des sozialen Systems den Begriff sozialer Probleme als den objekttheoretischen Kernbegriff der Theorie Sozialer Arbeit. Kapitel IV
schließlich zeigt die Funktion auf, die verschiedenen Formen des Wissens, nicht zuletzt aber namentlich nomologischen Theorien, wie etwa
der Theorie sozialer Probleme, und Methoden innerhalb der allgemeinen
Handlungstheorie der Sozialen Arbeit zukommt (Stufen III und IV sowie
I, philosophische Handlungstheorie, Erkenntnis- und Wissenstheorie).58
I. GRUNDZÜGE DER ONTOLOGIE DES EMERGENTISTISCHEN
SYSTEMISMUS UND SYSTEMISTISCHER THEORIEN SOZIALER SYSTEME
1. Einige Grundbegriffe und Hypothesen
des Emergentistischen Systemismus
Im Mittelpunkt des Emergentistischen Systemismus stehen die begrifflichen Zwillinge System und Emergenz. Sie sollen zunächst, Bunge (1983,
1989, 1996) folgend, definiert werden, ehe mit ihrer Hilfe einige ausgewählte ontologische, das heißt hyperallgemeine Hypothesen präsentiert
werden:
„Ein System ist ein komplexes Objekt, dessen sämtliche Teile oder Komponenten mit anderen Teilen desselben Objektes in einer Weise gekoppelt sind,
dass das Ganze einige Charakteristika aufweist, die seinen Komponenten
fehlen, das heißt emergente Eigenschaften. Ein System mag begrifflich sein
oder konkret, jedoch nicht beides. Ein begriffliches System ist ein System,
das aus Begriffen gebildet wird, die miteinander durch logische oder mathematische Operationen verknüpft sind. Klassifikationen und Theorien sind
begriffliche Systeme. Ein konkretes oder materielles System ist eines, das
gebildet wird aus konkreten Dingen, die miteinander durch nichtbegriffliche
Bindungen verknüpft sind wie physikalische, chemische, biologische, ökonomische, politische oder kulturelle Links. Atome und Moleküle, Zellen und
Organe, Familien, Wirtschafts- und nichtgouvernementale Organisationen
wie auch Regierungen und informelle soziale Netzwerke sind konkrete Sys-
58 Die Ausdrücke „sozial(arbeits)wissenschaftlicher Systemismus“, „elementaristische Systemtheorie“ u.ä. werden benutzt, um die Systemkonzeption
Emergentistischen Systemismus, auf der das Verständnis der Wissenschaft
Soziale Arbeit des Systemtheoretischen Paradigmas der Sozialen Arbeit beruht,
von allen Arten von systemtheoretischen Holismen zu unterscheiden.
276
SOZIALE SYSTEME, INDIVIDUEN, SOZIALE PROBLEME UND SOZIALE ARBEIT
teme” (Bunge 1996, 20f; Hervorhebung im Original; Uebersetzung W.O.).
„Zu jedem gegebenen Zeitpunkt ist ein konkretes System charakterisiert
durch seine Zusammensetzung, Umwelt und Struktur oder Organisation. Die
letztere ist die Kollektion von Bindungen unter den Teilen des Systems wie
auch zwischen diesen und Umweltitems. Die erstere bildet die interne, die
letzteren die externe Struktur des Systems“ (Bunge 1996, 21). „Konkrete
Systeme, die für andere stehen oder andere Objekte repräsentieren, wie Sprachen, Texte und Diagramme, mögen symbolisch oder semiotisch genannt
werden.“ (ibid, 21).
Begriffliche und konkrete Systeme haben nicht den selben ontologischen Status: während die letzteren materiell, wenn auch nicht notwendig physikalisch sind, wie dies der materialistische Physikalismus behauptet, sind die ersteren fiktional.59 Deshalb hat auch die Vorstellung
von Gesellschaft (sozialen Systemen) als Entitäten, deren Komponenten
59 Dies ist die These des „konzeptualistischen und fiktionalistischen Materialismus“, wie er von Bunge (1983a, 43ff.) formuliert worden ist. Danach werden
Begriffe und begriffliche Systeme erfunden und haben dementsprechend keine
reale, sondern eine fiktionale Existenz. Wir erfinden dabei gleichzeitig die
begrifflichen Gegenstände wie auch ihre Existenzweise. Begriffliche Existenz
ist fiktional oder konventionell (was nicht ausschließt, dass sie von einigen
fälschlicherweise als real gedeutet wird): Wir tun so, als ob es Mengen, Relationen, Funktionen, Zahlen, logische Strukturen, Propositionen, Theorien, Paradigmata etc. gäbe und vereinbaren, daß sie in bestimmten Kontexten existieren,
d.h. nicht isoliert, sondern eingebunden in mehr oder weniger integrierte Systeme von Ideen. Z.B. existieren Zahlen in der Mathematik, nicht aber in
Mythen, und Wilhelm Tell existiert im Tell-Mythos, nicht aber in der Mathematik, der Begriff eines konkreten „Systems“ existiert in der Ontologie und in vielen Faktenwissenschaften und der Begriff Atom in physikalischen Theorien.
Ideelle Gegenstände werden geschaffen, indem selbstwissensfähige Lebewesen
sie als ideelle Gegenstände (als Ideen) denken, wobei Denken ein Vorgang im
Gehirn ist. Entsprechend haben sie keine von solchen Lebewesen unabhängige
Existenz, wie es absoluten oder objektiven Idealisten wie Plato, Hegel, Bolzano,
Frege oder Husserl vorschwebt. Die neuronalen Netze, die die Komponenten
der Denkakte bilden, in denen wir „Begriffe verwenden“ und „Propositionen
bilden“, sind die real existierenden Dinge, die – mit jedem Gedanken neu –
unsere begrifflichen Fiktionen in Form fingierter begrifflicher (ideeller) Dinge
hervorbringen und als Dinge einer besonderen Art anerkennen, und die Sequenzen der Aktivierung der Netze sind die Prozesse, die den Denkakten entsprechen.
277
WERNER OBRECHT
Ideen (zum Beispiel Durkheim, Weber, Parsons) oder ideelle Prozesse
sind (Luhmann), aus dieser Sicht keine realen Referenten.
Entscheidend für den Systembegriff ist der Begriff der Emergenz, der
wie folgt definiert werden kann: „P ist eine emergente Eigenschaft eines
Dinges b wenn und nur wenn entweder b ein komplexes Ding (System)
ist, von dessen Komponenten keine P besitzt, oder b ein Individuum ist,
dass P dank dem Umstand besitzt, dass es Komponente eines Systems
ist (das heißt b würde P nicht besitzen wenn es unabhängig oder isoliert
wäre)“ (Bunge 1996, 18). Sozialwissenschaftliche Beispiele für das erstere sind die funktionale Differenzierung, die Differenzierung in Statussubsysteme und der Grad der Kristallisation zwischen Statussubsystemen, die Kohärenz, der Typ des politischen Systems und die Geschichte
eines sozialen Systems. Beispiele für letzteres sind: Rollen, Statuskonfigurationen, die Interaktionsdichte, Bürgerrechte oder Knappheit und
Preis. Entscheidend für den systemistischen Begriff der Emergenz ist,
dass er Emergenz als eine konkrete Folge der Interaktion der Komponenten versteht und nicht als etwas, was, wie Holisten und holistische
Systemtheoretiker es wollen, zu den Komponenten hinzutritt und womöglich erst ihre Integration in ein System ermöglicht oder erzwingt
(vgl. zum Beispiel Luhmann 1984, 43).60
Je nach ihren bindungsstiftenden Eigenschaften und äußeren Bedingungen können Systeme durch Selbstvereinigung ihrerseits zu Komponenten (und damit zu Subsystemen) von Systemen höherer Ordnung werden, und falls mehrere Niveaus existieren, ist jedes System Mitglied eines Niveaus oder einer integrativen Schicht im Rahmen einer
Niveaustruktur. Ein Niveau (eine Ebene, ein level) kann dabei „als eine
Menge von Dingen aufgefasst werden, die bestimmte Eigenschaften
umfasst und von Gesetzen geregelt wird. Ein Niveau hat Vorrang vor
einem anderen, wenn die Dinge, die zu ihm gehören, Bestandteile von
Dingen sind, die ein nachrangiges Niveau konstituieren” (Bunge 1989,
91f). Was folgt, sind einige elementare Hypothesen auf der Grundlage
dieser (und weiterer) Begriffe:
(1) Die Welt besteht aus sich selbst heraus, das heißt unabhängig davon,
ob man an sie denkt (oder sie erforscht).
60 Zum theologischen Ursprung solcher Vorstellungen vgl. Wagner 1993.
278
SOZIALE SYSTEME, INDIVIDUEN, SOZIALE PROBLEME UND SOZIALE ARBEIT
(2) Die Welt (die Wirklichkeit, der Kosmos) besteht ausschließlich aus
konkreten „Dingen“, wenn auch nicht nur aus einer einzigen Art, wie
dies der materialistische Physikalismus behauptet, sondern aus verschiedenen (vgl. Punkt 7).
(3) Jedes Ding ist entweder ein System oder eine Komponente eines
Systems; davon ausgenommen ist nur das Universum, weil es keine
Umwelt hat.
(4) Jedes Ding, ob einfach oder komplex, hat eine Reihe von Eigenschaften und diese sind so real wie die Dinge selbst („Formen“ sind solche Eigenschaften und keine aus sich selbst heraus existierenden (platonischen) Ideen); jedes komplexe Ding oder System verfügt dabei über
einige Eigenschaften, die nur ihm, nicht aber seinen Komponenten zukommen und die im Zuge der Integration seiner Komponenten zu einem
System entstanden sind.
(5) Alle Dinge gehorchen in ihrem Aufbau und ihrem Verhalten Gesetzen (es gibt zufälliges Zusammentreffen aber keine Wunder).
(6) Jedes System ist über (schwächere) Beziehungen, die mindestens einige seiner Komponenten auch zu Komponenten in seiner Umwelt unterhalten (externe Struktur), mit seiner Umwelt verbunden. Alle Systeme, außer dem Universum, unterliegen deshalb äußeren Einflüssen und
verhalten sich dabei selektiv; es gibt weder ganz offene noch ganz geschlossene (isolierte) Systeme, sondern nur Systeme mit unterschiedlichen Graden an Offenheit.
(7) Es gibt gegenwärtig, zumindest auf der Erde, verschiedene Arten
von konkreten Systemen (Niveaus oder Systemebenen), die ihrerseits
zu Bündeln von Systemebenen zusammengefasst werden können, nämlich physikalische, chemische, biologische, psychische und soziale. Die
Komponenten eines sozialen Systems sind physikalischer, chemischer,
biologischer beziehungsweise biopsychischer Natur, die eines chemischen System sind physikalischer und chemischer Natur und die eines
physikalischen nur physikalischer. Innerhalb dieser Arten gibt es eine
Vielzahl unterschiedlichster Systeme, einige von ihnen wandeln sich
schnell, andere nur langsam; einige vereinigen sich selbst, andere sind
(von anderen Systemen) mit Absicht gemacht; einige sind geschlossen
(aber nicht isoliert) und selbstreguliert, die meisten sind weder das eine
noch das andere, einige haben eine räumliche Gestalt beziehungsweise
geometrische Grenzen, andere nicht – und so weiter.
279
WERNER OBRECHT
(8) Alle Dinge verändern sich: Sein heißt werden.
(9) Jedes System einer bestimmten Art (Ebene) ist ein Glied in einer
evolutionären Kette und hat sich durch Selbstvereinigung von Dingen
der vorhergehenden Ebene (Klasse von Dingen) gebildet, das heißt jedem System einer bestimmten Art (Ebene) gehen dessen Komponenten
zeitlich voraus.
(10) Kein Ding entsteht aus nichts und kein Ding verschwindet ohne
Spur in andern; Systeme zerfallen in ihre Komponenten und verändern
darüber hinaus durch die dabei frei werdende Energie ihre Umgebung,
oder sie werden als Komponenten in neue Systeme einbezogen; je komplexer ein System ist, desto zahlreicher sind die Schritte bei dessen Bildung und desto zahlreicher die Wege, auf denen es zusammenbrechen
kann.
(11) Mit den plastischen, das heißt den lernfähigen Nervensystemen ist
eine neue Art von Fakten, nämlich erfahrungsabhängige Gehirnzustände, in die Welt gekommen, das heißt Wissen im Sinne von Selbst- und
Umweltbildern und begrifflichen Systemen (kognitive Codes), sowie –
auf ihrer Grundlage – eine neue Art von Prozessen, nämlich Phänomene
(Erleben) und später bei Menschen – Erfahrung (reflektiertes Erleben)
und methodisch kontrolliertes Erkennen (Philosophie und Wissenschaft).61 Mit ihnen in Koevolution sind humane Sozialsysteme entstanden, die einige Eigenschaften mit den Sozialsystemen von anderen höheren Primaten teilen, während andere für sie spezifisch sind (zum Beispiel artikulierte Sprache, Selbstbewusstsein i.e.S. und symbolische
Kultur beruhend auf symbolischen Systemen, Multininiveau-Struktur
der sozialen Systeme, explizite Normen und auf ihnen beruhende Technik und Technologie.
61 Die Vorgänge in komplexen Nervensystemen weisen eine Reihe von emergenten Eigenschaften auf, die dem entsprechen, was wir innerhalb unseres Erlebens als psychische Prozesse erfahren: Was wir – zusammen mit den älteren
Gehirnfunktionen der Affekte – „Psychen“ nennen, sind m.a.W. keine körperlosen Wesenheiten, die in mysteriöser Weise auf den Körper ihrer „Träger“ Einfluß nehmen und von ihm beeinflußt werden (psychophysischer Interaktionismus), sondern Klassen von Vorgängen in Gehirnen von Lebewesen mit plastischen Nervensystemen (Identitätstheorie; vgl. dazu z.B. Bunge & Ardila,
1990).
280
SOZIALE SYSTEME, INDIVIDUEN, SOZIALE PROBLEME UND SOZIALE ARBEIT
Der Begriff des Systems, wie er im Emergentistischen Systemismus definiert ist, unterscheidet sich radikal von den beiden formalen Systembegriffen, die in der General Systems Literatur und in an sie anschließenden Theorien benutzt werden, in welchen Systeme entweder definiert werden als Mengen von interrelierten Elementen oder als
Relationen (Müller 1996: 199ff.). Da jedoch Mengen wie auch Relationen (im Sinne von Beziehungen zwischen Mengen), begriffliche Objekte sind, beziehen sich solche Theorien auf keinerlei konkrete Referenten.
Die beiden herausragenden methodologischen Implikationen der Systemkonzeption des Emergentistischen Systemismus liegen auf der Hand
(dazu Bunge 1989, 92).
(1) Jedes Niveau ist eine eigenständige „Beschreibungsebene“ und sollte per se untersucht werden, da es durch seine besonderen Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten charakterisiert wird. Theorien, die Eigenschaften des selben Niveaus verknüpfen sind Beschreibungs-, phänomenologische oder Black-Box-Theorien.
(2) Jedes Niveau sollte in seiner Beziehung zu dem umgebenden (höheren oder niedrigeren) Niveau untersucht werden, um zu klären, inwieweit und auf welche Weise die Prozesse eines bestimmten Niveaus aus
Prozessen eines darunter liegenden Niveaus hervorgehen, und wie sie
durch Prozesse beeinflusst werden, die sich auf einer höheren Ebene abspielen. Theorien, die zwei (oder mehr) Niveaus verknüpfen sind erklärende oder mechanismische oder Erklärungstheorien.
Holisten und holistische Systemtheoretiker aller Schattierungen eint die
ausschließende Betonung des ersten Ziels und die mit ihm verbundene
(funktionalistische) Vorstellung, dass sich die Dynamik von Systemen
allein aus ihnen innewohnenden Tendenzen zur Selbsterhaltung o.ä. erklären lässt.62
2. Menschliche Sozialsysteme
Soziale Systeme sind eine der fünf übergeordneten Klassen von konkreten Systemen;63 in Termini des ontologischen Systemismus können sie
folgendermaßen definiert werden: „Ein soziales System ist ein konkretes
62 Vgl. z.B. Luhmanns Begriff des sozialen Systems.
63 Vgl. Punkt 7 der ontologischen Hypothesen in II.1.
281
WERNER OBRECHT
System, das zusammengesetzt ist aus geselligen Tieren, die (a) eine gemeinsame Umwelt teilen und die (b) auf andere Mitglieder des Systems
auf Arten einwirken, die zumindest in einer Hinsicht kooperativ sind.
Ein menschliches Sozialsystem ist ein soziales System, das gebildet wird
aus menschlichen Individuen und ihren Artefakten“ (Bunge 1996, 271).
Eine spezielle Form sozialer Systeme sind Netzwerke: „Ein soziales
Netzwerk wird gebildet aus geselligen Tieren (zum Beispiel Menschen)
und Artefakten (zum Beispiel Kollektionen von nahen und entfernten
Verwandten, Freundschaftscliquen, Clubs, wissenschaftlichen Communities, das Internet). Ein soziales Netzwerk wird zusammengehalten
durch prosoziale Gefühle (zum Beispiel Freundschaft oder Solidarität)
und Akte der Reziprozität, statt Beziehungen der Dominanz: es ist informell und nichthierarchisch. Alle Netzwerke sind Systeme, doch das
umgekehrte ist falsch. Zum Beispiel ist eine formale Organisation ein
System, aber kein Netzwerk. Desgleichen ein Markt …“ (Bunge 1996,
271).
Natürliche soziale Systeme wie Familien, Sippen oder Stämme sind das
ungeplante emergente Ergebnis der spontanen Interaktionen ihrer Komponenten. Im Unterschied zu solchen Systemen sind formale Organisationen wie Schulen, Kirchen oder Regierungsdepartemente Systeme,
die, mit einem bestimmten Ziel vor Augen, mittels eines expliziten
Plans absichtsvoll aufgebaut, gestaltet und gelenkt werden.
Davon ausgehend ist ein soziales Faktum entweder ein Zustand eines sozialen Systems in Termini seiner kollektiven, das heißt aggregierten und
emergenten Eigenschaften, oder eine Veränderung eines solchen Systems als Folge des Verhaltens mindestens einer seiner Komponenten.
„Soziale Fakten treten auf im Verlaufe sozialer Interaktionen – wie kooperieren oder konkurrieren, Güter oder Informationen austauschen, an
Ritualen teilnehmen oder spielen – die zur Entstehung, der Aufrechterhaltung oder der Veränderung irgendeines sozialen Systems beitragen“
(ibid, 44f.). Ein sozialer Prozess schließlich ist eine Abfolge von Zuständen als Folge von sozialen Aktivitäten innerhalb eines sozialen Systems.
Zusammengehalten oder auseinandergerissen werden soziale Systeme
durch Gefühle wie Liebe, Freundschaft und Wohlwollen, Verpflichtung
und Hingabe, Missgunst und Hass, durch Überzeugungen wie beschreibendes, erklärendes und prognostisches Wissen über Herkunft und Zustand des Systems und die Prozesse, die es in Gang halten und verändern,
282
SOZIALE SYSTEME, INDIVIDUEN, SOZIALE PROBLEME UND SOZIALE ARBEIT
durch Ideale, durch informelle (moralische) und gesetzliche Normen
und darauf beruhende Erwartungen, durch Fertigkeiten, durch Interessen und das Verfügen über für die Befriedigung von Bedürfnissen unmittelbar relevante oder instrumentelle Ressourcen „und schließlich und
ganz besonders durch soziale Handlungen oder Interaktionen wie Teilen
und Kooperieren, Austauschen und Informieren, Diskutieren und Befehlen, Belohnen und Bestrafen (Drohen sowie Erzwingen, Verletzen
oder Ermorden), Ehrerbieten und Rebellieren“ (Bunge 1996, 21). Alle
diese Handlungen sind insofern soziale Handlungen, als sie andere Individuen involvieren, und sie sind insofern und insoweit dynamisch, als
sie über längere Zeit ausgeführt werden, die involvierten Akteure affizieren und in ihrer Intensität variieren. Dabei involvieren Rollen innerhalb arbeitsteiliger Sozialsysteme meist verschiedene Arten von sozialen Handlungen beziehungsweise Beziehungen; so informiert und diskutiert zum Beispiel eine Organisatorin, kooperiert und kämpft, überzeugt und verführt, verspricht und droht, belohnt und bestraft. Soziale
Handlungen der beschriebenen Art sind determiniert durch den Ort, den
ein Individuum innerhalb der Gesellschaft innehat, sowie durch seine
genetische Disposition, seine Erfahrung und seine Erwartungen.
DIE
II. SOZIALE SYSTEME, SOZIALE FAKTEN UND
ROLLE VON INDIVIDUEN BEI IHRER ERKLÄRUNG
All dies zeigt: In einer systemistischen Sicht sind soziale Systeme erstens konkrete Systeme einer eigenen Art und nicht bloße Ansammlungen von Individuen oder aggregierte Folgen ihres Handelns, wie es ontologische und methodologische Individualisten wollen, doch sind ihre
Komponenten Individuen und nicht Rollen o.ä. (Durkheim), Handlungen (Weber, Parsons) oder gar Kommunikationen (Luhmann64). Damit
sind zweitens soziale Fakten, das heißt Zustände von und Prozesse in sozialen Systemen, zwar „suprabiologisch (und im besonderen suprapsychologisch), obgleich sie gleichzeitig biologische Prozesse involvieren.
(...) Obwohl verschieden, sind die beiden Kategorien durch das folgende
Prinzip relationiert: Jedes soziale Faktum involviert ein natürliches,
aber nicht umgekehrt” (ibid, 44). Dabei sind drittens psychische Fakten
eine spezielle Art von biologischen Fakten, nämlich solche in menschlichen Nervensystemen (Bunge & Ardila 1990; Obrecht 1996b). Kurz,
283
WERNER OBRECHT
das menschliche Zusammenleben ist ein Prozess innerhalb sozialer Systeme und soziale Systeme sind konkret.
Dies ist die ontologische These des Systemismus in Bezug auf den sozialen Wirklichkeitsbereich; ihre methodologischen Implikationen sind
die folgenden: Er anerkennt die Existenz von Systemen mit emergenten
Eigenschaften und erklärt Existenz, Struktur und Verhalten von Systemen aus der Interaktion (und damit den Eigenschaften) ihrer Komponenten und das Verhalten der Komponenten aus deren intrinsischen Eigenschaften sowie ihrer Stellung innerhalb des Systems (= emergente
Eigenschaften der Komponenten). Damit unterscheidet er sich von seinen beiden Konkurrenten,
• dem ontologischen und methodologischen Individualismus, der nur
Resultanten individueller Handlungen ohne eigenen ontologischen
Status als Dinge anerkennt und sich so auf bottom-up-Erklärungen
beschränkt (Abwärtsreduktionismus),
• wie auch vom ontologischen und methodologischen Holismus, der
umgekehrt die Existenz von Systemen mit emergenten Eigenschaften anerkennt und das Verhalten des Systems aus den dem System innewohnenden Tendenzen zur Selbsterhaltung (Selbstorganisation,
Autopoiese) erklärt und jenes der Komponenten durch das System,
64 „Soziale Systeme (bestehen) aus Kommunikation … und aus nichts als
Kommunikation – nicht aus menschlichen Individuen, nicht aus bewußten mentalen Zuständen, nicht aus Rollen und nicht einmal aus Handlungen. Kommunikationen produzieren dabei Kommunikationen durch sinnhafte Referenz auf
Kommunikationen“ (Luhmann 1987, 113). Aus systemistischer Sicht können
gegen diesen Begriff eines sozialen Systems folgende Einwände erhoben werden: Erstens ist Kommunikation eine Beziehung und Beziehungen existieren
nicht unabhängig von ihren Relata, die in diesem Falle menschliche Individuen
sind; zweitens sind Kommunikationen Vorgänge und keine konkreten (materiellen oder ideellen) Dinge bzw. Systeme; diese Systemkonzeption ist also eventistisch; drittens gibt es keine Kommunikation ohne Lebewesen mit plastischen
Nervensystemen, die fähig sind Signale zu erzeugen, die Mitteilungen tragen,
und umgekehrt Signale zu decodieren, die Mitteilungen anderer kommunikationsfähiger Lebewesen tragen; dieser Systembegriff ist also holistisch; viertens
wird in den Sozialwissenschaften angenommen, dass sie von konkreten Menschen und sozialen Systemen handeln (die z.B. Handel treiben oder Krieg führen) und nicht von entkörperlichten (ideellen) Entitäten; dieser Systembegriff
ist deshalb im ontologischen Sinne idealistisch.
284
SOZIALE SYSTEME, INDIVIDUEN, SOZIALE PROBLEME UND SOZIALE ARBEIT
oder anders gesagt, der top-down-Erklärungen privilegiert (Aufwärtsreduktionismus).
Demgegenüber gibt es im Systemismus statt einem oder zwei zu untersuchenden Links deren vier: i) einen Makro-Makro-, ii) einen MakroMikro-, iii) einen Mikro-Mikro- und iv) einen Mikro-Makrolink und damit vier Arten von Hypothesen, die, in unterschiedlichen Kombinationen, je Elemente der drei ontologisch-methodologischen Doktrinen des
Individualismus, Holismus und Systemismus sind (nach Bunge 1996,
149) :
Abbildung 2: Kombination von Mikroerklärung (top-down) mit Makroerklärung (bottom-up)65
M1
Makroniveau
Mikroerklärung
Mikroniveau
i)
ii)
M2
iv)
m1
m2
Beschreibung
Makroerklärung
Beschreibung
iii)
Der erste oder allenfalls die ersten beiden Links sind die Links des Holismus, der dritte ist der Link der Psychologie und im besonderen des
homo oeconomicus, des homo politicus und des homo sociologicus (das
heißt der soziologischen „Handlungs- oder Akteurtheorie”), der dritte
und der vierte sind die Links des methodologischen Individualismus,
während alle zusammen die Links des sozialwissenschaftlichen Systemismus sind.
Diese Konfiguration von methodologischen Links bezieht sich auf den
Fall interindividueller Systeme; im Falle intersozietaler Systeme ersetzt
der M-M-Link der als Komponenten analysierten Sozialsysteme den in65 Nicht zu verwechseln sind die Richtung der Erklärung und die Richtung der
Reduktion. So wird in der Mikroerklärung das Mikro erklärt, und zwar durch
das Makro, d.h. es handelt sich um eine Top-down-Erklärung und damit um eine
Makroreduktion, d.h. eine Reduktion des Mikro auf das Makro. Alle Terme finden in der methodologischen Diskussion Verwendung.
285
WERNER OBRECHT
traindividuellen m–>m-Link der sozialwissenschaftlichen Akteurtheorien. Umgekehrt kann der m®m-Link im Rahmen eines psychobiologischen, nichtmentalistischen Akteurmodelles als M–>M-Link gedeutet
werden, der über M–>m, m–>m- und m–>M-Verknüpfungen erklärt
werden kann. Eine solche Analyse geht weit über die beiden klassischen
Typen von Akteurmodellen hinaus, in denen Individuen entweder als
Black-Boxes gesehen wurden, wie im Behaviorismus, oder aber als Träger immaterieller mentaler Strukturen oder Systeme mit Motiven (Weber, Schütz), Werten und Normen (Parsons, Garfinkel) oder Begriffen
beziehungsweise Deutungsmustern o.ä. (Mead, Blumer, Cicourel, Oevermann) als Komponenten.66 Dies, indem sie affektive (motivationale)
und (selbstbewusste wie nicht bewusste) kognitive Prozesse als Gehirnund damit als konkrete und gesetzmäßige Bioprozesse analysiert.
Aufgrund seines Systembegriffes verlangt der Systemismus nach Erklärung durch Mechanismen. Da die Operationen des Erklärens nicht auf
ein Niveau beschränkt sind, ja deren Qualität mit der Zahl der Niveaus
steigt, die sie einbezieht, ist Systemismus nicht nur verträglich mit der
Vorstellung der Existenz interner Prozesse und im besonderen der Existenz und sozialwissenschaftlichen Bedeutung von Bedürfnissen (Motivation) und internen Modellen individueller Akteure. Vielmehr postuliert er die Existenz solcher Strukturen und Prozesse als Ausdruck der
Existenz und Aktivität biologischer, das heißt konkreter Komponenten
solcher Systeme, auf die die Operationen des Erklärens in der Folge erneut angewendet werden können. In grafischer Darstellung (und in Erweiterung von Bunge 1996, 276):
66 Zur Kritik der verschiedenen Akteurmodelle der Soziologie vgl. Lindenberg
1985, sowie Esser 1993, S. 231-250.
286
SOZIALE SYSTEME, INDIVIDUEN, SOZIALE PROBLEME UND SOZIALE ARBEIT
Abbildung 3: Ein realistisches Modell einer Gesellschaft mit selbstwissensfähigen Biosystemen als Komponenten (jedoch ohne
physische Umwelt und Artefakte).
Realität (R)
Gesellschaft
Ontologie: Emergentistischer Systemismus
System
KompoIndivid. Akteure mit
nenten (Ak- Selbst- & Gesellschaftsmodellen, Beteure)
dürfnissen & Fertigkeiten
Subsystem
(Steuerung)
Gehirnprozesse
bzw. - funktionen
Theorie (T )
R
Theoriebildung
Soziologie
Theoriebildung
Psychologie,
Soziologie
Theoriebildung
Psychobiologie
Modell der Gesellschaft
mit Akteuren mit Gesellschaftsmodellen, Bedürfnissen und Fertigkeiten
als Komponenten
Modell von Akteuren mit
Selbst- & Gesellschaftsmodellen, Bedürfnissen und
Fertigkeiten
PSYBIEHM
Modell des Gehirns und der
Gehirnfunktionen, insbesondere von Bildern, Codes, Bedürfnissen und Fertigkeiten
Realistische Erkenntnistheorie: Wissenschaftlicher Realismus
III. MENSCHLICHE INDIVIDUEN
ALS SELBSTWISSENSFÄHIGE BIOSYSTEME
Menschlichen Individuen kommt, wie gezeigt, in der Sicht des sozialwissenschaftlichen Systemismus eine zentrale Rolle in der Dynamik sozialer Systeme und damit bei deren Erklärung zu. Individuelle soziale
Akteure erscheinen dabei – im Unterschied zu den bekannten soziologischen Akteurmodellen oder homo sociologicus – als (sozialisierte)
selbstwissensfähige Biosysteme, die gekennzeichnet sind durch i) eine
Reihe von im Gehirn verankerten allgemeinen Antrieben (biologische,
biopsychische und biopsychosoziale Bedürfnisse), ii) ein kognitives
System, repräsentiert in der Struktur des Cortex‘ (Kognition67) sowie
iii) ein u.a. in der Struktur des Cortex gründenden Vermögens der Hand67 Für einige funktional besonders relevante Wissensformen vgl. Obrecht
1996a.
287
WERNER OBRECHT
lungssteuerung auf der Grundlage der verfügbaren Fertigkeiten (Handlung).68
Eine grundlegende Beziehung zwischen diesen funktionalen psychischen Subsystemen ist die: Bestimmte biopsychische Bedürfnisse motivieren Individuen fortlaufend dazu, Bilder oder „interne Modelle“ ihrer
selbst in ihrer näheren und weiteren Umwelt zu erzeugen, insbesondere
aber von Situationen und Ressourcen, die für die Befriedigung ihrer biologischen, biopsychischen und biopsychosozialen Bedürfnissen von
Bedeutung sind. Dabei werden diese Bilder über verschiedene Mechanismen wie motorisches Verhalten und interpersonelle oder Massenmediale Kommunikation, laufend modifiziert, ganz besonders schnell auf
dem Wege sensumotorischer Rückkoppelung im Bereich der sich mit
dem Verhalten des Akteurs verändernden Nahumgebung.69 Die Funktion interner Modelle besteht in der Steuerung der Handlungen, die ihren
Trägern die Befriedigung ihrer Bedürfnisse ermöglichen, was insbesondere auch die Produktion oder Modifikation von Dingen und Situationen, natürlichen wie sozialen, mit einschließt, die Bedürfnisbefriedigung auf Dauer sicherstellen (vgl. dazu Esser 1995).
Die beiden allgemeinsten Formen interner Modelle sind ikonische
(Wahrnehmungen) und begriffliche Bilder, über die sich verschiedene
Arten von instrumentellen Handlungen definieren lassen:70 Während
Routinehandlungen nur Wahrnehmungen, affektive Bewertungen und
exekutive Funktionen involvieren, involvieren selbstbewusste Handlungen darüber hinaus begriffliche Bilder und weitere, an sie anschließende kognitive Operationen, und rationale (professionelle) Handlungen schließlich verlangen darüber hinaus, dass die Bilder, auf die sie
sich stützen, explizit und in Termini von Begriffen aus wissenschaftlichen Theorien formuliert und dass ihre Items über Hypothesen aus diesen Theorien miteinander verknüpft sind (vgl. Kap. IV).
Notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für das Auftreten
komplexerer Formen von Handlungen ist das Verfehlen vitaler Ziele im
Zusammenhang mit der Bedürfnisbefriedigung und -vorsorge mit den
68 Für die Grundzüge eines biopsychosozialen Erkenntnis- und Handlungsmodelles (PSYBIEHM) mit diesen Funktionsbereichen vgl. Obrecht 1996b.
69 Zur Bedeutung interner Modelle innerhalb der Evolution der Wirbeltiere vgl.
Jerison 1994.
70 Für die wichtigsten Dimensionen interner Modelle vgl. Obrecht 1996a.
288
SOZIALE SYSTEME, INDIVIDUEN, SOZIALE PROBLEME UND SOZIALE ARBEIT
Mitteln einfacherer Handlungsmodi; dessen selbstbewusstes Registrieren entspricht dem Auftreten eines praktischen Problems, das heißt einer
bewussten Diskrepanz von Ist- und Sollzustand beziehungsweise von
Zielen und Mitteln. Probleme sind emotio-kognitive Spannungszustände, die falls sie die Befriedigung vitaler und nachhaltig versagter inelastischer Bedürfnisse betreffen, über die Folgen der Nichtbefriedigung der
Bedürfnisse hinaus das Wohlbefinden und die Handlungsfähigkeit der
betreffenden Individuen reduzieren. Primäre praktische Probleme sind
von (sekundären) kognitiven zu unterscheiden, die in Fragen nach den
Ursachen des praktischen Problems und den Möglichkeiten seiner Lösung mit anderen als den zuhandenen Mitteln besteht; im günstigen Fall
ermöglicht die Lösung kognitiver die Lösung praktischer Probleme oder
vermag zu deren Verbesserung beizutragen (Obrecht 1996b).71
Probleme können nach der Art der Systeme unterschieden werden, auf
die sich die Ziele beziehen, also physikalische, chemische, biologische,
psychische und soziale, wobei kognitive Probleme ein Spezialfall von
psychischen Problemen sind. Soziale Probleme, das heißt Probleme im
Zusammenhang mit der Befriedigung sozialer Bedürfnisse,72 sind dabei
unter den praktischen Problemen aus einer Reihe von Gründen von
übergeordneter Bedeutung. So ist i) ihre erfolgreiche Bewältigung überlebensnotwendig, gibt es doch kaum ein Überleben außerhalb von sozialen Systemen, ii) sind sie für jenes Maß an Wohlbefinden von zentraler
Bedeutung, das die Lösung der täglich anfallenden nichtsozialen Probleme voraussetzt, über deren erfolgreiche Bewältigung die soziale Integration erhalten bleibt (soziale Deklassierung und Isolation sind pathogen). Schließlich ist iii) die Lösung der nichtsozialen Probleme für
die Lösung sozialer Probleme insofern instrumentell, als das Maß an sozialer Integration, das ein Individuum in einem aktuellen sozialen Be71 Auf diesem Beitrag der Lösung kognitiver für die Lösung praktischer Probleme beruhen alle Professionen, wobei diese sich bei der Lösung der praktischen Probleme ihrer Klienten – neben anderem – auf Situationsanalysen
(begriffliche Bilder) und Systeme von Interventionsregeln stützen, die auf der
Basis von wissenschaftlichen Theorien erzeugt worden sind, die das betreffende
kognitive Problem zum Gegenstand haben (mehr dazu in Kap. IV).
72 Nämlich der Bedürfnisse nach emotionaler Zuwendung, spontaner Hilfe,
sozial(kulturell)er Zugehörigkeit, Unverwechselbarkeit, Autonomie, sozialer
Anerkennung und nach (Austausch-)Gerechtigkeit.
289
WERNER OBRECHT
zugssystem zu erreichen und aufrechtzuerhalten vermag, vom Ausmaß
abhängt, in dem es ihm gelingt, die innerhalb des Bezugssystems institutionalisierten Standards der Produktion (Rollenperformanz) und des
Konsums (Lebensstil) zu erbringen.73
Auf der anderen Seite sind diese Leistungen innerhalb bestimmter struktureller Umgebungen des Bezugssystems zu erbringen und können solche Umgebungen der Erbringung diese Leistungen förderlich oder hinderlich sein. So hinderlich, dass es zu einer gegenseitigen Verstärkung
und damit einer Kumulation von Problemen von physikalischen, biologischen, psychischen und sozialen Problemen kommen kann und damit
zu einer psychosozialen Konstellation, die einem Individuum das Aufrechterhalten eines nachhaltigen Niveaus sozialer Integration nicht
mehr erlaubt, sondern den Beginn eines Prozesses darstellt, der in Richtung zunehmender Desintegration verläuft. Dass die punkto sozialintegrativer Nachhaltigkeit problematischen strukturellen Lagen mit abnehmender Position innerhalb sozialer Systeme, bei Statusunvollständigkeit und bei fehlendem Mitgliedschaftsstatus zunehmen und dass diese
strukturellen Problemlagen kumulieren und sich in ihrer Wirkung verstärken können, ist bekannt; es ist eine Aufgabe der Sozialarbeitswissenschaft, diese allgemeinsten Hypothesen der Theorie sozialer Probleme in Kooperation mit anderen Wissenschaften zu differenzieren.
IV. DIE FUNKTION SYSTEMISTISCHER THEORIEN SOZIALER
UND PSYCHISCHER SYSTEME UND DER THEORIE SOZIALER
PROBLEME IN DER HANDLUNGSTHEORIE DER SOZIALEN ARBEIT
Die metatheoretischen Komplemente der hier diskutierten systemistischen Ontologie sind eine realistische Theorie des Erkennens und Wissens74 und der Wissenschaft (zum Beispiel Bunge 1996), und eine mit
ihr harmonierende (normative) Theorie rationalen Handelns, wie sie im73 Zu beachten ist der Unterschied zwischen einem Problem und seinen Determinanten. So können soziale Probleme durch soziale Prozesse wie sozialen
Wandel oder aber auch durch ökologische Veränderungen oder angeborene biologische Gegebenheiten bedingt sein; umgekehrt können soziale Gegebenheiten
und Probleme Determinanten psychischer und biologischer Veränderungen und
davon ausgehend entsprechender Probleme sein.
290
SOZIALE SYSTEME, INDIVIDUEN, SOZIALE PROBLEME UND SOZIALE ARBEIT
plizit allen Professionen zugrunde liegt.75 Danach ist professionelles
Handeln eine spezielle Form problemlösenden Handelns (vgl. III), das
sich von den anderen Formen von Handlungen durch die Konjunktion
dreier Eigenschaften unterscheidet: Es ist erstens selbstbewusst, zweitens auf ein explizites praktisches Ziel gerichtet und es erreicht drittens
das Handlungsziel dadurch, dass es in seinem Verlauf eine ganz bestimmte Abfolge von aufeinander bezogenen kognitiven Problemen
löst, die alle der Entwicklung, Steuerung und Bewertung von zielführenden Verhaltensschritten dienen. Eine Handlung, die diese Kriterien
erfüllt, ist rational und damit im vollen Sinne professionell. Die kognitiven Probleme, die jede solche Handlung zu lösen hat, sind in vereinfachter und linearer Darstellung die folgenden:
0. Feststellen eines praktischen Problems (P0) als Beschreibungsanlass
–>
1. Beschreibung (mittels Information [Daten], Begriffen aus nomologischen Hypothesen und Theorien = nichtintegriertes begriffliches Bild)
–>
2. Erklärung (mittels nomologischen Hypothesen und Theorien = erklärtes, das heißt integriertes begriffliches Bild) –>
3. Prognose (mittels erklärtem Bild und nomologischer Theorie = Zukunftsbild) –>
4. praktisches Problem (Vergleich Prognose mit Soll-Wert: Differenz
= Problem P1) –>
5. Handlungsziel (mittels Prognose, Werten und situativ mutmaßlich
effektiven Regeln der Intervention [Methoden] und Wissen über externe Ressourcen = Bild eines gewünschten zukünftigen Zustandes) –>
6. Handlungsplan (mittels Gegenwartsbild, Ziel sowie Interventionsregeln [Methoden]) –>
7. Realisation (mittels Gegenwartsbild, Ziel, Handlungsplan, Fertigkeiten und Wissen über externe Ressourcen) –>
74 Für eine Darstellung in gedrängter Form vgl. Obrecht, 1996b; eine Reihe
elementarer Formen von Wissen findet sich in Obrecht 1996a.
75 Dazu und für das Folgende vgl. Obrecht 1996a.
291
WERNER OBRECHT
8. Evaluation (Vergleich zwischen dem neuen Gegenwartsbild und
dem Ziel sowie Erklärung von Abweichungen mittels nomologischer
Theorie).
Rationales Handeln ist m.a.W. eine Abfolge von (durch bewusste Werte
getriebenen und durch Emotionen gesteuerten) kognitiven Operationen,
die ihrerseits Sequenzen von zielorientierten Handlungen steuern. In
diesen Operationen spielen – nebst Informationen über psychische und
soziale Fakten und expliziten Werten – nomologische Theorien als kognitive Ressourcen eine entscheidende Rolle, denn sie sind eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung sowohl für die Erzeugung von Bildern aller Art wie auch von Systemen wissenschaftsbasierter Interventionsregeln (technologische oder professionelle Handlungstheorien).76 Unmittelbar gesteuert werden rationale Handlungen jedoch
nicht über nomologische Theorien, sondern über ikonische (Wahrnehmungen) und begriffliche Bilder, das heißt über Beschreibungen von gegenwärtigen, zukünftig erwarteten (Prognose) und gewünschten Zuständen (Ziele) sowie über Systeme wissenschaftsbasierter Interventionsregeln (technologische oder professionelle Handlungstheorien). Eine herausragende Rolle spielt dabei das (erklärte) Gegenwartsbild (vgl. oben,
Schritte 1 und 2) als Ausgangspunkt aller weiteren Operationen und mit
ihm die nomologische Theorie, aus der die begrifflichen Mittel der Beschreibung und die Hypothesen für die Erklärung stammen.
Die Gegenstände Sozialer Arbeit als Profession sind in der Sicht des soziologischen und sozialarbeiterischen Systemismus oder anders gesagt,
des „systemischen Paradigmas der Sozialen Arbeit“, Individuen als
Komponenten sozialer Systeme und soziale Systeme mit menschlichen
Individuen als Komponenten, ihr primäres praktisches Problem sind soziale Probleme von Individuen, ihr Ziel ist deren Verhinderung, Linderung und Lösung auf dem Wege mikrosozialer (Einzelfall, Arbeit mit
Familien und Gruppen) oder makrosozialer Intervention (Gemeinwesen) und ihr Problemlösungsmodus ist professionelles Handeln auf der
Grundlage einer allgemeinen (normativen) Handlungstheorie der sozialen Arbeit (Obrecht 1996b). Die Rolle der nomologischen Theorie als
76 Für die Rolle von nomologischen Theorien bei der Erzeugung von wissenschaftlichen Interventionstheorien (= technologischen oder Handlungstheorien)
vgl. Obrecht 1996a, Kap. II.7.
292
SOZIALE SYSTEME, INDIVIDUEN, SOZIALE PROBLEME UND SOZIALE ARBEIT
Mittel der Bilderzeugung innerhalb dieser Handlungstheorie übernimmt
nun im systemischen Paradigma der Sozialen Arbeit die (systemistische) Theorie sozialer Probleme,77 wodurch sie – und mit ihr die systemistische Ontologie – innerhalb der allgemeinen Handlungstheorie der
Sozialen Arbeit eine zentrale pragmatische Funktion erhält.
Um die Nutzung der Theorie sozialer Probleme innerhalb der Handlungstheorie zu systematisieren und dadurch zu erleichtern, müssen die
Operationen der „Fallbeschreibung“ (Stufe 1 und 2 oben) in ihren
Grundzügen standardisiert werden. Eine solche Standardisierung beruht
auf dem Prinzip, dass solche Größen in den Kanon der Bildvariablen
aufgenommen werden, die aus der Sicht der verwendeten Theorie einen
mittel- oder unmittelbaren Bezug zur Existenz von sozialen Problemen
von Individuen und den klienten- und sozialarbeitsseitigen Ressourcen
ihrer Lösung haben. Gemäß der umrissenen Theorie sozialer Probleme
sind dies im Falle der sozialarbeiterischen Handlungstheorie insbesondere zwei Gruppen von Variablen, nämlich:
(1) Relationale (emergente) Dimensionen, welche die Stellung des Klientsystems innerhalb seiner physischen und sozialen Umwelt charakterisieren und mit Bezug auf die letztere ihre Mitgliedschaften in relevanten Systemen, die Position, die sie innerhalb solcher Systeme einnehmen
(Statuskonfiguration), ihre Stellung innerhalb von Interaktionsnetzen
sowie die mit dieser Stellung verbundene Art und Intensität ihrer Austauschbeziehungen.
(2) Intrinsische Dimensionen, die sich auf ihre internen Zustände und
Prozesse beziehen, wie ihr Selbst- und Umweltbild, insbesondere ihr
Bild ihrer Position innerhalb ihrer Umwelt (vgl. [1] und des Problems,
das Anlass der Interaktion mit SozialarbeiterInnen wurde; ihre Erklärungen der wichtigsten Fakten ihres Bildes, ihre Werte, ihre Wünsche
und Ziele und die damit verbundenen Spannungen, ihre Modalitäten des
Erlebens, insbesondere in Bezug auf menschliche Individuen und soziale Systeme, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten etc.
77 Dies im Unterschied zum älteren und in der Soziologie verbreiteten Begriff
sozialer Probleme als Rate von Mitgliedern eines Systems, die den Zustand des
Systems in mindestens einer Hinsicht als problematisch betrachten. Diese Rate
ist eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung dafür, dass es in einer
Gesellschaft zur Institutionalisierung professioneller Sozialer Arbeit kommt.
293
WERNER OBRECHT
Eine ausführlichere Diskussion der relevanten Bildvariablen als Grundlage einer Standardisierung findet sich bei Staub-Bernasconi (1998),
eine Standardisierung in Form eines „Instruments der praxisbezogenen
Problem- und Ressourcenanalyse” bei Geiser (2000). Eine systematische Darstellung der systemistischen Theorie sozialer Probleme bleibt
zu leisten; desgleichen die Analyse der zweiten Funktion dieser Theorie
als Mittel der Erzeugung von auf spezifische Formen von sozialen Problemen bezogenen Methoden und Arbeitsweisen der Sozialen Arbeit;
eine erste Stufe der Kodifizierung hat Staub-Bernasconi (1998) vorgelegt.
294
Paradigmen der Sozialen Arbeit – Ein Vergleich
Rita Sahle
1. EINLEITUNG
Es war eine niederschmetternde Bilanz, die Helmut Lukas vor mehr als
zwanzig Jahren aus einer vergleichenden Diskussion der Paradigmen
der Sozialen Arbeit zog:
„Mit diesem Ergebnis lässt sich die Aussage stützen, dass derzeit die Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft dem Typus der nichtparadigmatischen
Wissenschaft zugehört. Sie erfüllt genau die Kriterien, die MASTERMAN
für diesen Typus aufzählt: alle Tatsachen sind in gleicher Weise relevant,
jeder Wissenschaftler beginnt die Arbeit wieder von vorne, ohne auf eine terminologische oder inhaltliche Vorklärung aufzubauen, und … viele ‚Schulen‘ liegen im Wettstreit, ohne dass ein Fortschritt deutlich wurde, von einem
wissenschaftlichen ‚Durchbruch‘ ganz zu schweigen. Die wissenschaftliche
Erklärung des Untersuchungsgegenstandes wird bei diesem Typus von Wissenschaft noch mit der ‚Philosophie des Gegenstandes‘ verwechselt. Ein theoretischer Fortschritt in Richtung auf den nach dieser Ansicht höherentwickelten Typus einer mehrfach-paradigmatischen Wissenschaft deutet sich
noch nicht an.“ (1979, 221 f.)
Der systematische Paradigmenvergleich von Lukas ist meines Wissens
der erste gewesen und er ist bis heute auch der einzige geblieben. Das
steht in auffallendem Gegensatz zur häufigen Rede von stattgehabten
oder notwendigen Paradigmenwechsel in der Sozialen Arbeit (Niemeyer 1998, 252). Nach fünfundzwanzig Jahren ist also ein neuer Vergleich
überfällig und seine Ergebnisse werden hier vorgestellt. Dabei geht es
nicht primär darum, einzelne Paradigmen hinsichtlich ihres Status als
Paradigma zu bewerten, sondern es sollen mit Hilfe eines differenzierten Begriffsverständnisses Gemeinsamkeiten und Unterschiede identifiziert und Möglichkeiten der Kooperation zugunsten der disziplinären
Entwicklung aufgezeigt werden.
2. WAS IST EIN PARADIGMA?
Der Paradigmenbegriff wird gewöhnlich auf die wissenschaftstheoretische Methode bezogen, die Theorien und Konzepten zugrunde liegt.
295
RITA SAHLE
Auch Lukas hat die sozialarbeitswissenschaftlichen Zentraltheorien
nach dem methodologischen Kriterium unterschieden und ein hermeneutisches, ein empirisch-analytisches, ein dialektisch-kritisches, ein
funktionalistisches sowie ein dialektisch-materialistisches Paradigma
identifiziert. Ich beziehe mich auf ein differenzierteres Begriffsverständnis, das auf Thomas Kuhn zurückgeht und das neben der metatheoretischen Ebene weitere Ebenen systematisch berücksichtigt.
In seinem berühmten Essay: „Die Struktur wissenschaftlicher Revolution“ (1967) vertrat Kuhn bekanntlich die These, dass wissenschaftliche
Disziplinen durch die Vorherrschaft eines Paradigmas charakterisiert
seien und die wissenschaftliche Entwicklung durch die Ablösung eines
bisher gültigen Paradigmas durch ein neues „revolutionäres“ stattfinde.
Sein empirisches Fallbeispiel dafür war die Physik.78 Kuhn beschrieb
ein „Paradigma“ zunächst recht vage als „allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen …, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft
von Fachleuten Modelle und Lösungen liefern“ (a.a.O., 11). Das ließ
zahlreiche Lesarten zu. In der Folgezeit präzisierte er den Begriff und
definierte ihn als eine disziplinäre Matrix, die Kerngesetze von Theorien, Modelle für die erweiterte Anwendung der Theorien, erfolgreiche
empirische Musterbeispiele sowie gemeinsame Werte enthält (Schurz
1998, 9). Gerhard Schurz hat die Definition von Kuhn expliziert (1998,
8 ff.), er schlägt vor, ein Paradigma als ein kognitives System aufzufassen, das die folgenden vier Komponenten (sowie verschiedene Subkomponenten) enthält: eine theoretische, eine empirische, eine methodologische und eine programmatische. Ich stelle im folgenden die einzelnen
Komponenten kurz vor und erweitere sie im Hinblick auf die charakteristische Eigenart der Sozialen Arbeit, ein normativer Anwendungsbereich beziehungsweise eine integrative Handlungswissenschaft mit normativen Zielvorstellungen zu sein. Das bedeutet, die theoretische Komponente kann sich nicht allein auf deskriptive (wertfreien) Aussagen
78 Kuhn’s Beispiel der Physik scheint eher die Ausnahme als die Regel zu sein.
Betrachtet man andere wissenschaftliche Disziplinen, dann findet sich hier
„eine lang anhaltende Koexistenz von Paradigmen über ein- und denselben
Gegenstandsbereich, in ein und demselben Fachgebiet(,) ... die gemeinsame
‚Ziele‘ mit verschiedenen ‚Mitteln‘ verfolgen“ (Schurz 1998, 4; i. Orig. hervorgehoben).
296
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
beschränken, sondern sie muss immer auch Aussagen normativer Art
enthalten, beispielsweise darüber, welcher Zustand erreicht werden soll.
(1) Die theoretische Komponente enthält einen Theoriekern (nicht unbedingt eine ausformulierte Theorie), der durch Hilfshypothesen und
Spezialgesetze und -modelle angereichert werden kann. Der Theoriekern enthält zwei Bestandteile: Charakteristische Gesetzeshypothesen
von allgemeiner und zumeist theoretischer Natur (in der Regel handelt
es sich dabei um die wissenschaftliche Erklärung des Untersuchungsgegenstandes) sowie Modellvorstellungen über grundlegende Mechanismen und Entitäten (sie sind oft bildhaft, stellen einen ontologischen
Rahmen zur Verfügung und ermöglichen Analogien für eine Ausweitung der Theorie in neue Anwendungsfelder).
Erweiterung: Der Theoriekern schließt normative Axiome ein, die auf
zugrunde liegende Wertbezüge und Zielvorstellungen verweisen (zum
Beispiel Menschenbilder).
2. Die empirische Komponente bezieht sich auf Beispiele für erfolgreiche und anerkannte Leistungen des Theoriekerns, also exemplarische
Anwendungen eines Paradigmas. In ihnen wird erkennbar, dass sich die
theoretischen Annahmen und Modelle empirisch bewähren. Für die Soziale Arbeit sind das insbesondere die erfolgreichen Praxisbeispiele.
3. Die methodologische Komponente enthält fachspezifische und metawissenschaftliche, das heißt weltanschauliche Anteile. Schurz nennt
drei Subkomponenten: methodische Regeln darüber, wie der Forschungsgegenstand zu untersuchen ist; erkenntnistheoretische Annahmen, zum Beispiel über die Beziehung zwischen Beobachter und Beobachtungsobjekt sowie Annahmen über das jeweilige Forschungsinteresse.
Erweiterung: Die methodischen Regeln der Untersuchung des Gegenstandes schließen handlungstheoretische Annahmen über die Bearbeitung von Problemlagen ein.
4. Die programmatische Komponente enthält ein Forschungsprogramm,
das durch analogisierende Generalisierung des exemplarischen Anwendungsbereichs gewonnen wird. Es enthält die Hoffnung und ein – weitgehend uneingelöstes – Versprechen, bei fortgesetzter Arbeit alle Phänomen einer umfassenden Phänomenklasse erfolgreich erklären und –
erweitert – verändern zu können.
297
RITA SAHLE
Schurz veranschaulicht sein Paradigmenverständnis mit einigen Beispielen. Hier kann abschließend nur das Paradigma der behavioristischen Lerntheorie wiedergegeben werden (1998, 12).79 Kernhypothese
ist die Annahme, dass Verhalten durch Konditionierung spezifischer
Stimulus-Response-Paare gelernt wird. Gemäß der Kerntheorie des
„operanten“ Konditionierens werden von zunächst zufällig auf bestimmte Stimuli geäußerte Verhaltensweisen jene bevorzugt geäußert,
die durch die Reaktionen der Umwelt positiv verstärkt werden (und umgekehrt). Auf diese Weise bilden sich konditionierte Stimulus-Response-Paare heraus. Diese Gesetzeshypothese kann qualitativ formuliert sein oder in quantitativen Gleichungen ausgedrückt werden. Die
dazugehörige Modellvorstellung ist die eines Agenten, der sein zunächst zufällig geäußertes Verhalten aufgrund positiver oder negativer
Umweltreaktionen anpasst. Das Forschungsprogramm der behavioristischen Lerntheorie bestand in dem Versprechen, alle Lernprozesse auf
diese Weise erklären zu können. Methodologisch ging es um die Formulierung von Hypothesen über empirisch beobachtbare Reize und Reaktionen von Menschen und Tieren. Das bedeutete auch Verzicht auf
Hypothesen über psychische Prozesse, über innere Einstellungen oder
kognitive Modelle, die empirisch nur schwer zu überprüfen sind.80
3. PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN ERSTER ÜBERBLICK
Bezogen auf den handlungswissenschaftlichen Charakter Sozialer Arbeit lassen sich gegenwärtig fünf Paradigmen identifizieren.81 Einige
79 Die anderen sind das psychoanalytische, das Newtonische und das Darwinsche Paradigma (1998, 11 ff.).
80 Zu den Erfolgen und Mißerfolgen von Paradigmen vgl. Schurz 1998, 18f.
81 Ein entscheidendes Kriterium für die Identifizierung war, ob in den behaupteten Paradigmen die professionelle Ebene berücksichtigt wird. So interessant
beispielsweise die inzwischen zahlreich vorliegenden und sehr differenzierten
systemtheoretischen Funktionsbestimmungen Sozialer Arbeit auch sind (z.B.
Baecker 1994; Bommes/Scherr 1996, 2000; Merten 2000), sie wurden nicht
berücksichtigt, weil sie alle nicht ihre gesellschaftstheoretischen Annahmen in
Bezug setzen zur individuellen Lebens- und zur professionellen Praxis (zu diesem zentralen Desiderat der Systemtheorie auch Scherr 2001, 71).
298
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
wurden in anderen Disziplinen entwickelt und adaptiert, andere sind originäre Leistungen der Sozialarbeitswissenschaft.
1. Das Alltagsparadigma:
„Alltag meint einen Modus des Handelns, eine spezifische Art, Wirklichkeit
zu erfahren, sich in ihr zu orientieren, sie zu gestalten.“ (Thiersch 1995b, 46).
„Alltagsorientierung“ ist ein Rahmenkonzept, das unterschiedliche theoretische und praktische Entwürfe der Sozialarbeit (Richmond, Salomon)
und der Sozialpädagogik (Pestalozzi, Natorp, Nohl), phänomenologische
und interaktionistische Ansätze, Ressourcen- und Milieutheorie, der kritischen Alltagsdiskussion sowie verschiedene sozialwissenschaftliche
Thesen zu Prozessen der Institutionalisierung und Spezialisierung zusammenfügt. Es bezieht sich auf die Formen der Bewältigung von Anforderungen und der Verarbeitung von Problemen in der Lebenswelt der
Adressaten. Die Begriffe Lebenswelt- und Alltagsorientierung werden
synonym verwendet, sie besagen, dass Menschen nicht abstrakt sondern
in ihren konkreten Lebensverhältnissen gesehen werden müssen. Das Paradigma wurde von Hans Thiersch über mehrere Jahrzehnte ausgearbeitet
(1986, 1993, 1995a, 1995b, 2. Aufl., 1998).
2. Das systemische Paradigma:
„(Soziale) Probleme sind in Sprache, Bilder, Begriffe erfasstes und bewertetes stummes, subjektives Leiden von Menschen in und an der Gesellschaft
und Kultur, die auf unerfüllte Bedürfnisse als auch unerfüllbare Wünsche
zurückgehen.“ (Staub-Bernasconi 1995, 105)
Das systemische Paradigma integriert verschiedene Theorien (Theorie
sozialer Probleme, Bedürfnistheorie, systemische Metatheorie), Forschungsbefunde und Konzepte aus unterschiedlichen Disziplinen sowie
die theoretische und praktische Tradition der Sozialarbeit zu einem
transdisziplinären erkenntnis- und handlungsleitenden Modell, das die
heterogene und komplexe Wirklichkeit der Sozialen Arbeit erfasst. Es
bezieht sich auf die Grundbedürfnisse der Menschen und die Notwendigkeit der Bedürfnisbefriedigung angesichts knapper Ressourcen.
Auch dieses Paradigma wurde über zwei Jahrzehnte kontinuierlich ausgearbeitet, von Silvia Staub-Bernasconi in den theoretischen Grundzügen (1983, 1986, 1991, 1994a, 1994b, 1995, 1996), von Werner Obrecht
metatheoretisch ausformuliert (1994, 2000, 2001) und von Ruth Brack
und Kaspar Geiser (2000) für die professionelle Praxis präzisiert.
299
RITA SAHLE
3. Das Paradigma der alltäglichen Lebensführung:
„Das Leben lebt sich nicht von alleine, sondern muss aktiv gelebt werden“
(Voss 1991, 257).
„Alltägliche Lebensführung“ ist ein sozialwissenschaftliches Konzept
zur Analyse der praktischen Alltagsorganisation, das im Rahmen der
sozialwissenschaftlichen Arbeits- und Berufsforschung entwickelt wurde (Bolte 1983; Kudera/Voss 1988, 1990; Voss 1991). Es bestimmt formal-definitorisch die wesentlichen Merkmale alltäglicher Lebenspraxis, die operationalisiert und in ein empirisches Forschungskonzept
übersetzt werden. Der Fokus liegt auf den praktischen Tätigkeiten einer
Person, die sich alltäglich wiederholen und ein funktional differenziertes strukturiertes Tätigkeitssystem bilden. Eingang in die Soziale Arbeit
fand die „alltägliche Lebensführung“ durch Reiner Feth (1996, 1998),
der darin den disziplinären Gegenstand sieht. Albert Mühlum (1994b)
und Wolf Rainer Wendt (1994) haben eine erste Beschreibung der Lebensführung aus der Perspektive der Sozialen Arbeit vorgenommen, sie
sprechen allerdings von „Lebensbewältigung“.
4. Das ökosoziale Paradigma:
„Lebenszusammenhänge (sind) ökologisch aufzufassen, um damit ihrer
Komplexität, ihrer Vielseitigkeit, ihrem systemischen Eingebundensein in
situ gerecht zu werden“ (Wendt 1986, 50)
Dass eine ökosoziale Betrachtungsweise bereits den Pionierinnen der
Sozialen Arbeit vertraut war, sich in der Berufsgeschichte aber nicht als
dominierende theoretische und professionelle Orientierung durchsetzen
konnte, haben mehrere Autoren gezeigt (zum Beispiel Oppl 1986;
Wendt 1986; Staub-Bernasconi 1995; Mühlum 1996). Die gegenwärtige
Renaissance dieses Ansatzes ist eingebettet in eine generell gewachsene
Aufmerksamkeit für ökologische Probleme. Das Paradigma erweitert
die lange Zeit dominante psychosoziale Perspektive der Sozialen Arbeit
und fokussiert den komplexen Wirkungszusammenhang aus sozialen,
ökonomischen, kulturellen und natürlichen Aspekten der Umwelt, die
Störungen in den Mensch-Umwelt-Transaktionen auslösen und die Alltagsbewältigung erschweren können. Vertreter dieses Paradigmas sind
Albert Mühlum (1994a, 1996), Hubert Oppl (1986), Wolf Rainer Wendt
(1982, 1986, 1990, 1998).
300
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
5. Das subjekttheoretische Paradigma:
Das „sozialpädagogische Problem tritt als ein Problem des Individuums und
seiner Individualität auf“ (Winkler 1988, 124).
Das Paradigma sieht im Subjektbegriff den Sinnkern sozialpädagogischen Denkens. Er führt einerseits zu den Gefährdungen der Moderne
hin, die das neuzeitlich-bürgerliche Individuum in der ihm zugedachten
Existenz als Subjekt be- beziehungsweise verhindern. Andererseits
macht dieser Begriff das problemlösende sozialpädagogische Handeln
begreifbar, nämlich unter spezifischen Bedingungen und mit spezifischen erzieherischen Interventionen dem Individuum sein Subjekt-werden zu ermöglichen. Weil die Rede vom Subjekt immer Erziehung zur
Subjektivität impliziert, wird Sozialpädagogik zum Spezialfall des Normalfalls Erziehung erklärt. Das Paradigma wird insbesondere in der sozialpädagogischen Traditionslinie der Sozialen Arbeit vertreten. Michael Winkler hat es in seinem Theorieentwurf eingehend ausgearbeitet
(1988, 1995), Heinz Sünker (1995) und Hauke Brunkhorst sind weitere
Vertreter.
4. DER VERGLEICH
Zunächst eine Vorbemerkung: Die Paradigmen zu rekonstruieren fällt
nicht ganz leicht. Generell sind die sozial- und geisteswissenschaftlichen Paradigmen wesentlich unschärfer formuliert als die der Naturwissenschaften. Ein eigentlicher Theoriekern ist nur schwer auszumachen.
Die „Wortmusik“, die Karl-Dieter Opp seinen Standeskollegen, den Soziologen, vorhält, ist in den sozialarbeitswissenschaftlichen Paradigmen
vielleicht noch eindrucksvoller. Die Sprache ist oft vage und bildhaft,
die intendierten Unterscheidungen sind wenig ausgearbeitet, sie lassen
zahlreiche Lesarten zu, und es fällt schwer, einen spezifischen Bedeutungsgehalt zu identifizieren. Das Risiko des Missverstehens und der
Fehlinterpretation ist also groß und die gewünschte inhaltliche Aufklärung lässt sich nicht immer erreichen.
Ich beginne mit einer Gegenüberstellung der Phänomenklasse, auf die
sich die verschiedenen Paradigmen beziehen. Daran anschließend werden die paradigmatischen Komponenten diskutiert: der Theoriekern, der
exemplarische Anwendungsbereich, die Methodologie und die Programmatik.
301
RITA SAHLE
4.1 Die Phänomenklasse: Schwierigkeiten
der alltäglichen Lebensgestaltung
In den meisten Wissenschaften lässt sich nicht nur ein vorherrschendes
Paradigma finden, wie Thomas Kuhn annahm, sondern es sind in der
Regel mehrere Paradigmen, die über lange Zeiträume miteinander koexistieren und rivalisieren (Schurz 1998, 4). Sie verfolgen ein gemeinsames Ziel, nämlich die bestmöglichen Antworten auf die wissenschaftlichen Fragen und die weitreichendsten Erklärungen für die Phänomene
eines Gegenstandsbereichs oder eines Fachgebietes zu geben. Dabei
setzen sie ihre spezifischen Mittel ein, das sind die jeweiligen Annahmen und Hypothesen, um die disziplinären Probleme zu lösen und ihre
größere Leistungsfähigkeit gegenüber konkurrierenden Paradigmen
nachzuweisen. Paradigmen lassen sich also nur miteinander vergleichen, wenn sie sich auf ein- und denselben Gegenstandsbereich beziehen beziehungsweise sich wenigstens teilweise überlappen. Folglich
muss zuerst gefragt werden: Auf welche Phänomene beziehen sich die
oben genannten Paradigmen? Sprechen sie von derselben Sache? Und
wird der Umfang der für die Soziale Arbeit relevanten Phänomene einheitlich bestimmt?
Die fünf sozialarbeitswissenschaftlichen Paradigmen beziehen sich –
wenn auch unterschiedlich explizit und mit verschiedenem Vokabular –
auf die Schwierigkeiten und Probleme im Alltagslebens der Menschen.
Es geht um die „normalen Schwierigkeiten der Lebensgestaltung und
Lebensbewältigung“ (Alltagsparadigma); um die „alltägliche Bewältigung des Lebens“ (subjekttheoretisches Paradigma); um das „System
der alltäglichen praktischen Tätigkeiten spezifischer Adressaten“ (Paradigma der alltäglichen Lebensführung); um Störungen in den MenschUmwelt-Transaktionen im „Interaktionsraum alltäglicher Lebensführung“ (ökosoziales Paradigma). Das systemische Paradigma bezeichnet
die sozialarbeitsrelevanten Phänome zwar als „soziale Probleme“. Diese werden aber nicht im Sinne der Soziologie verstanden,82 sondern als
Probleme, „die Menschen in ihrem Alltag allein oder mit anderen Menschen in bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten zusammen zu lösen haben und an denen sie auch scheitern können. Dazu
gehören Probleme des Erkennens und Handelns und die Berücksichtigung der Beschränkungen, Verzerrungen und sonstigen Unzulänglichkeiten, die dem Alltagswissen und -handeln anhaften.“ (Staub-Bernas302
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
coni 1994a, 76 f.). Ausgehend von der Unterscheidung zwischen sozialarbeitsrelevanter Phänomenklasse und paradigmatischer Erklärung/
Beschreibung dieser Phänomene nehmen die erstgenannten Paradigmen
das „natürlich/selbstverständlich“ Gegebene und Erfahrene des Alltags
zum Bezugspunkt ihrer theoretischen Analysen, während die systemische Argumentation allem Anschein nach Objektbereich und theoretische Konzeptualisierung in eins zu setzen scheint. Die Phänomenklasse
wird mit einem theoretischen Begriff (soziale Probleme) bezeichnet.
Letztlich beziehen sich die Paradigmen aber auf einen identischen Phänomenbereich.
Was ist nun Alltag? Von einem übereinstimmenden Verständnis kann
nicht die Rede sein. Mit Ausnahme des Paradigmas der alltäglichen Lebensführung werden die speziellen Sichtweisen auf das Alltägliche wenig expliziert, so dass der Alltag im wesentlichen eine Blackbox bleibt.
Das Alltagsparadigma hebt das „spezifische Verständnis- und Handlungsmuster der Menschen“ hervor, das sich auf die kleinen, sich wiederholenden und zu bewältigenden Anforderungen und Aufgaben richtet, die den Bestand von Lebensvollzügen sichern (Kap. 4.2.1). Im Paradigma der alltäglichen Lebensführung liegt der Schwerpunkt auf den
Tätigkeiten der Person. Alltag ist das, was die Menschen tagtäglich machen und tun müssen, eine durchaus banale aber praktisch unausweichliche und bedeutungsvolle Angelegenheit (Voss 1991, 257). Das ökosoziale Paradigma spricht von der obersten und besonderen Wirklichkeit
des Alltags, einer Welterfahrung, die im Erleben der Menschen gleichsam „natürliche Einstellungen“ hervorbringt und die Seinsvorrang vor
allen anderen Handlungs- und Erlebnissphären hat (Oppl 1986, 108).
Das systemische Paradigma kritisiert die Verwendung der Alltagskategorie. Obwohl unmittelbar plausibel, verdunkle sie eher den Blick für
die Schwierigkeiten der Klienten und für die Notwendigkeit, das problemerzeugende mikro- und makrosoziale Bedingungsgefüge zu erklären (Staub-Bernasconi 1986, 34 ff.).
82 „Als s.P. bezeichnet man soziale Bedingungen und Ereignisse, die größere
Gruppen bzw. Kategorien von Gesellschaftsangehörigen (vielleicht sogar die
Gesamtbevölkerung) in ihrer Lebenssituation beeinträchtigen, öffentlich bzw.
von Teilen der Öffentlichkeit als veränderungsbedürftig definiert und zum
Gegenstand von politischen Programmen und Maßnahmen gemacht werden.“
(Wörterbuch der Soziologie, 506)
303
RITA SAHLE
Unterschiede zeigen sich in der Bestimmung des Umfangs der Phänomene. Hier sind beide bekannte Positionen vertreten, die universalistische, die von der Normalisierung der Sozialen Arbeit ausgeht und „Hilfe
für alle“ sein will, und die partikulare, die auf die Randständigkeit der
Sozialen Arbeit hinausläuft, weil sie sich vornehmlich mit dem klassischen Klientel der alten Armenfürsorge sowie weiteren spezifisch belasteten Zielgruppen befasst. Die erste Position wird vom Alltagsparadigma vertreten, das von den ganz „normalen Schwierigkeiten der Lebensgestaltung“ spricht. Weil generelle Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse die traditionellen gesellschaftlichen Strukturen und
Ordnungsmuster des Alltags aufbrechen, werden die Lebensverhältnisse
offen und riskant und die Lebensführung für jedermann schwierig, so die
These.83 Etwas widersprüchlich ist das ökosoziale Paradigma. Einerseits bezieht es sich auf solche Transaktionen zwischen Menschen untereinander und zwischen Menschen und Umwelt, die die Bewältigungskapazität der Betroffenen übersteigen und Hilfe erfordern (Oppl 1986,
112) und impliziert damit eine universalistische Orientierung der Sozialen Arbeit. Anderseits lässt sich die Auffassung von Mühlum auch der
partikularistischen Position zuordnen, wenn er die ökosoziale Praxis als
Prävention und Intervention in schwierige Lebenssituationen, benachteiligte Lebensbedingungen und unwirtliche Lebensverhältnisse versteht (1994, 12).
Alle anderen Paradigmen vertreten die partikulare Auffassung. Ausgehend von einem allgemeinen Alltagsverständnis wird der für die Soziale
Arbeit relevante Wirklichkeitsausschnitt spezifiziert. Typischerweise
wird dabei verwiesen auf spezifische Adressaten und spezifische Merk83 Einmal unterstellt, dass die Individualisierungsthese den Zustand der modernen Gesellschaft angemessen beschreibt, um Rückschlüsse für die Sozialarbeit
daraus zu ziehen müssen immer noch die unterschiedlichen Ressourcen der
Bewältigung der ganz normalen Lebensprobleme in Rechnung gestellt werden.
Die Gegenthese wäre: Die meisten Menschen bewältigen ihre Probleme nach
wie vor ohne die Hilfe der Sozialarbeit. „Obwohl kaum aktuelle empirische
Untersuchungen vorliegen, kann nach wie vor davon ausgegangen werden, dass
der statistisch wahrscheinliche Klient Sozialer Arbeit unterdurchschnittlich
qualifiziert ist, über ein durchschnittlich geringeres Einkommen verfügt und/
oder mit einer spezifischen sozialen Problemsituation konfrontiert ist.“ (Bommes, Scherr, 21). Es bedürfte empirischer Untersuchungen, um die eine oder
andere These zu widerlegen.
304
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
male (individuelle Handicaps und Defizite) und/oder auf strukturelle
Faktoren, die die Bewältigung der Forderungen des Alltags erschweren
(benachteiligende Lebensbedingungen oder andauernde Schieflagen
der Lebensbewältigung) oder auf eine besondere Qualität der Schwierigkeiten. So spricht beispielsweise das systemische Paradigma von kumulativen sozialen Probleme, also Mehrfachproblematiken, und von
der gesellschaftlichen Peripherie als gesellschaftlichem „Ort“ der Sozialen Arbeit.
4.2. Die theoretische Komponente
Schurz unterscheidet hier zwischen einem „harten“ Theoriekern und
den Ausprägungen einer Theorie, das sind Anreicherungen und Erweiterungen des Kerns durch Hilfshypothesen und Spezialgesetze (1998,
14). Diese Unterscheidung ist wichtig für die empirische Überprüfung
von Theorien und Hypothesensystemen. Widersprechen die ermittelten
Daten dem theoretischen Gesamtsystem, so sind zuerst Korrekturen an
den Theorieerweiterungen vorzunehmen, um den paradigmatischen
Kern so lange wie möglich zu retten (Schurz nach Lakatos, 15). Ob die
Unterscheidung zwischen Theoriekern und Theorieausprägungen auch
für die Soziale Arbeit als transdisziplinäre Wissenschaft bedeutsam ist
oder ob sich hier beide ununterscheidbar vermengen, ist eine offene Frage. Thiersch nimmt beispielsweise an, dass anders als in den Einzelwissenschaften der Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit nicht in detaillierten Hypothesen repräsentierbar sei (1998, 87). In jedem Fall muss
der theoretische Kern Wirkungszusammenhänge beschreiben und erklären, die die alltägliche Lebenspraxis in einem Maße erschweren, dass
die Intervention der Sozialen Arbeit notwendig wird. Letztlich geht es
um die Aufdeckung einer funktionalen Problematik, für die Soziale Arbeit zuständig ist und – damit zusammenhängend – um Aussagen darüber, wie alltäglich erfahrene und den Betroffenen unüberwindbar erscheinende Schwierigkeiten erfolgversprechend gelöst werden können.
4.2.1 Gesetzeshypothesen und Modellvorstellungen
Was sind die Kernaussagen für die Entstehung, Struktur und für die Bearbeitung der Phänomene, mit denen sich die Soziale Arbeit beschäftigt? Wie werden die „Schwierigkeiten und Probleme der alltäglichen
Lebensgestaltung“ erklärt? Formulieren die Paradigmen spezifische
305
RITA SAHLE
Hypothesen über Wirkungszusammenhänge und sind hier nennenswerte Unterschiede festzustellen?
Das Alltagsparadigma
Der Theoriekern besteht aus einer Beschreibung charakteristischer
Merkmale des „Alltags“, erweitert um makrosoziologische Hypothesen, die die Normalität von Schwierigkeiten bei der Bewältigung von
Alltagsanforderungen erklären. „Alltag“ ist eine spezifische Verstehens- und Handlungsweise neben andern (zum Beispiel religiöse, künstlerische, technische Handlungsmuster und Weltbezüge). Er wird von
den Subjekten in Zeit, Raum und sozialen Bezügen unterschiedlich erlebt, gedeutet und bewältigt. Spezifische Merkmale alltäglichen Handelns sind Pragmatik, Routine und Typisierungen. Die alltäglichen Verhältnisse sind durch objektive Strukturvorgaben geprägt. In ihnen müssen sich die Individuen nach ihren besonderen Möglichkeiten tagtäglich
behaupten, sie können ihnen widerstehen oder sich arrangieren, sie gestalten und modifizieren. Das wird mit einer Metapher veranschaulicht.
Das alltägliche Handeln ist vorstellbar als „Bühne, auf der Menschen
nach bühnenspezifischen Regeln agieren innerhalb der Vorlagen, die ihnen – in den Rollen, den Bühnenbildern und dem Stück – vorgegeben
sind“; zu fragen ist nach dem Stegreifspiel, dass unter den gegebenen
Bedingungen möglich ist (Thiersch 1998, 290). Die täglichen Aufgaben, die zu bewältigen sind, stellen sich in einem Geflecht von verschiedenen kleinen Lebensräumen wie Familie, Schule, Nachbarschaft etc.
Der theoretische Kern des Paradigmas wird angereichert durch soziologische Hypothesen (Individualisierungs- und Pluralisierungsthese, soziale Ungleichheit und ungleiche Verteilung von Lebenschancen). Sie erklären auf der Makroebene, warum der Alltag und die Bewältigung der
kleinen, oft unscheinbaren Aufgaben generell schwierig geworden ist
(Kap. 4.1). Die Modellvorstellung geht vom Anspruch des Menschen
aus, sich in seinen Verhältnissen als Subjekt seiner selbst zu erfahren.
„Eigensinn“ und die Fähigkeit zum (bornierten oder gelingenderen) Arrangement sind die beiden Bestimmung des Subjektmodells.
Das systemische Paradigma
Die theoretische Komponente enthält eine entwickelte Theorie sozialer
Probleme. Die Kernhypothese besagt, dass soziale Probleme aus anhal306
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
tend unerfüllten Grundbedürfnissen der Menschen resultieren. Bedürfnisse sind organismischer Natur, ihre Befriedigung ist für das menschliche Wohlbefinden unverzichtbar. Ob und wie weitgehend Bedürfnisse
befriedigt werden hängt von der Leistungsfähigkeit und den Ressourcen
eines sozialen Systems und von den individuellen Fertigkeiten ab. Die
entscheidende Frage ist, ob ein bestimmtes soziales System oder Teilsystem für seine Mitglieder und seine Umwelt wertschöpfend und -erhaltend oder wertzerstörend ist (Staub-Bernasconi 1986, 18). Probleme
sind somit „soziale“, wenn sie gesellschaftlich hergestellt sind. Soziale
Arbeit hat es mit kumulativen sozialen Problemlagen zu tun, die Kumulation wird nicht weiter erläutert. Soziale Probleme bilden sich in vier
Dimensionen ab: der Ausstattung individueller Akteure84 und des Austausches mit anderen Menschen, der Macht sowie der Werte im Mikround Makrobereich. Die Modellvorstellung geht von Menschen als Individuen aus, die zugleich Elemente sozialer Systeme sind. Als Individuen
sind sie: 1. Biosysteme (mit biologischen, psychischen und sozialen Bedürfnissen) und 2. selbst-bewusst und lernfähig. Einem biopsychosozialen Erkenntnis- und Handlungsmodell zufolge nehmen sie Informationen aus der Umwelt auf, verarbeiten diese zu bewussten und unbewussten Bildern, die Gedanken und Gefühle auslösen; diese werden bewertet
und erzeugen Motivationen, die Handlungen auslösen. Der grundlegende Mechanismus ist die Beseitigung organismischer Ungleichgewichte
durch Bedürfnisbefriedigung. Individuen können nur in sozialen Organisationsformen existieren, sie stehen in Beziehung mit anderen und bilden soziale System, die sich selbst organisieren und gegen eine Umwelt
abgrenzen.
Das Paradigma der alltäglichen Lebensführung
Der theoretische Kern enthält eine formal-definitorische Festlegung der
Alltagspraxis als synchroner Zusammenhang von praktischen Tätigkeiten. Er enthält keine Annahmen über das Gelingen beziehungsweise
Scheitern im Alltag. Das alltägliche Leben wird nicht primär als Sinn84 Hier werden körperliche und sozioökonomische/sozioökologische Ausstattung, Ausstattung mit erkenntnis- und wissensbezogener Kompetenz, mit
Handlungskompetenz sowie mit sozialen Beziehungen genannt; vgl. StaubBernasconi 1994, 15 ff.
307
RITA SAHLE
zusammenhang gesehen sondern als Praxis. Die Menschen antworten
auf die gesellschaftlichen Anforderungen, die sich ihnen in den verschiedenen Lebensbereichen stellen (zum Beispiel Erwerbsarbeit, Familie,
Freizeit etc.) in Form eines komplexen Tätigkeitssystems. Der synchrone Zusammenhang ergibt sich aus dem Zusammenwirken der Tätigkeiten der Person als „spontane Ordnung“, als sich selbst organisierender
systemischer Prozess, eigenlogisch, funktional differenziert und mit einer gewissen Regel-Mäßigkeit, die dem Leben Stabilität und Kontinuität
verleiht. Steigerung der Umweltautonomie ist die entscheidende personale Funktion des Systems Lebensführung. Veränderungen und Probleme in der Lebensführung werden durch endogene und exogene Faktoren
ausgelöst (zum Beispiel veränderte Erwartungen der Person an ihr Lebenskonzept; kontinuierliche oder plötzliche Veränderungen in den Bedingungen eines Lebensbereichs). Das soziologische Konzept der alltäglichen Lebensführung wird für die Soziale Arbeit von Reiner Feth
eingegrenzt auf die Lebensführungsprobleme spezifischer Adressatengruppen und Soziale Arbeit als Hilfe zur Selbsthilfe bei der alltäglichen
Lebensführung dieser Zielgruppen verstanden (1996, 1998).
Die Modellvorstellung ist subjektorientiert (Bolte 1983). Eine zentrale
Annahme ist, dass die sozialen Bedingungen nicht die Handlungen determinieren, sondern das Subjekt zu aktivem Handeln veranlassen. Die
Person formt mit ihren besonderen kognitiven und normativen Konzepten, ihren personalen und sozialen Ressourcen die situativen und sozialen Anforderungen, die Bedingungen „an sich“, in ihr System alltäglicher Praxis um zu personaler Lebenstätigkeit. Erst durch die aktive Umformung der objektiven Welt in Handlungen entfalten sich Lebenschancen und Zwänge für die Person. Wie die gesellschaftlichen Bedingungen
wirken hängt somit von den Aneignungs- und Bewältigungsweise der
Person ab. Der grundlegende Mechanismus ist der sogenannte Modus
operandi. Das sind latente Regeln oder Eigenlogiken, die die alltagspraktischen Tätigkeiten in einen bestimmten Zusammenhang bringen. Sie
sind Ergebnis beziehungsweise emergente Folge der Tätigkeiten der
Person und ihrem Bewusstsein nur schwer zugänglich.
Das ökosoziale Paradigma
Der theoretische Kern bezieht sich auf den Menschen in seinem Eingebettetsein in eine Umwelt. Die soziokulturelle Umwelt besteht aus den
308
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
Daseinsgrundfunktionen (Arbeit, Wohnen, Versorgung, Erziehung etc.)
und ist ihrerseits in die natürliche Umwelt eingebettet. Fokussiert wird
der Handlungszusammenhang zwischen Mensch und Umwelt, durch
die eine bestimmte Qualität des Aufeinander-abgestimmt-Seins (Germain/Gitterman 1988) erzeugt wird. Ökologische und soziale Ungleichgewichte in den Transaktionen werden zum ursächlich/mitursächlichen
Wirkungszusammenhang für Probleme der Lebensbewältigung. Es sind
Störungen in den wechselseitigen Anpassungsprozessen, Diskrepanzen
zwischen menschlichen Bedürfnissen und Anpassungsmöglichkeiten
auf der einen Seite und bestimmte Beschaffenheiten der Umwelt auf der
anderen Seite. Solche Diskrepanzen entstehen Germain/Gitterman zufolge insbesondere im Zusammenhang mit lebensverändernden Ereignissen, in Situationen mit besonderem Umweltdruck und im Bereich interpersonaler Prozesse (1988). Soziale Arbeit interveniert bei solchen
Störungen, die die naturwüchsigen Bewältigungsmöglichkeiten der
Menschen überschreiten und Hilfe erfordern (Oppl 1986) oder wie Albert Mühlum schreibt, „in schwierigen Lebenssituationen, benachteiligten Lebensbedingungen und unwirtlichen Lebensverhältnissen“ (1994a,
12). Als vermittelnde Konzepte zwischen der Mikroebene des Individuums und der Makroebene der Umwelt werden die Lebenslage, der Haushalt und die individuelle Situation eingeführt.
In der Modellvorstellung wird der „Mensch als raumbeanspruchendes,
mittelverzehrendes, zuwendungsheischendes, interagierendes Subjekt“
(Mühlum 1994a, 9) in Situationen betrachtet, die sich als ökologische
Systeme, als „geordnete Gestalt“ (Wendt) spezifisch konfigurieren, und
die in ihrer Ganzheit erfasst werden müssen: Person-am-Arbeitsplatz,
Jugendlicher-im-Freizeitheim, Familie-in-Wohnung etc. Der grundlegende Mechanismus ist die gegenseitige Anpassung zwischen aktiven,
Umwelt gestaltenden Individuen und sich verändernden Eigenschaften
der Umwelt, die wiederum reziproke Anpassungsleistungen auslösen.
Der Prozess ist zirkulär, Ursache und Wirkung fallen zusammen. Anpassung ist dabei ein funktionaler Begriff, der alle Handlungs- und Reaktionsweisen zulässt.85 Es geht um die Stabilisierung der System-Umwelt-Differenz durch „Vorgehensweisen und Strategien, mit denen ein
System ... Umweltanforderungen“ bewältigen kann (Miller 1999, 42).
85 Natürlich werden die Anpassungshandlungen unterschiedlich bewertet!
309
RITA SAHLE
Das subjekttheoretische Paradigma
Der theoretische Kern beschreibt den Konstitutions-Prozess des bürgerlichen Subjekts. Im Verhältnis zur Welt der objektiven Gegenstände konstituiert es sich selbst durch tätige Aneignung der Welt und wandelt sich
darin zur neuen Ausgangsbedingung für weiteres Aneignungshandeln.
Subjektivität ist ein dynamischer Modus der Auseinandersetzung mit der
Umwelt, ein Objektivität einschließendes und durch Handeln vermitteltes Verhältnis. Die Struktur der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft
gefährdet zugleich den Subjektstatus der Menschen. Die Individuen müssen ihr alltägliches Leben in heterogenen und widersprechenden Situationen bewältigen, sie werden „mit unvereinbaren Anforderungen konfrontiert, in denen kein gemeinsames, Gesellschaft verbürgendes Prinzip
erfahren werden kann“ (Winkler 1988, 122). Konkretisiert wird diese Gefährdung mit dem Hinweis auf die individualisierende Lebensform in der
Moderne und der Forderung zivilisierten und vernünftigen Verhaltens
(Norbert Elias). Sie behindern die Auseinandersetzung der potentiellen
menschlichen Subjekte mit ihren Lebensbedingungen und lassen sie die
Kontrolle über sich und ihre Verhältnisse verlieren. Das sozialpädagogische Problem ergibt sich dann, wenn der Subjektmodus als mißglücktes
Aneignungshandeln, als nicht vollzogene Aneignung charakterisiert ist
und dieser Zustand nicht nur ein vorübergehend ist (Winkler 1988, 152).
Es ist ein Modus der Differenz im Unterschied zum Modus der Identität
als Folge gelingenden Aneignungshandelns. Kriterien der Identifizierung
des Differenz-Modus sind die Kontrolle des Subjekts über die eigenen
Lebensbedingungen sowie die Selbstbehinderung im Hinblick auf die
künftige Entwicklung zur Subjektivität.
Wie der Name des Paradigmas besagt, geht die Modellvorstellung vom
Subjekt aus, das sich auf seine individuelle Weise erkennend und handelnd mit der Welt der objektiven Gegenstände auseinandersetzt. Das
Subjekt ist Urheber der Aktivität, die Tätigkeiten, mit denen es die Welt
modifiziert und durch die es sich selbst verändert, gehen von ihm aus.
Es ist autonom und selbstverantwortlich. Es verarbeitet die Aneignungsakte als Erfahrungen und hebt sie in (Lebens)Geschichte auf. Der
zugrunde liegende Mechanismus ist Aneignungshandeln. Vorausgesetzt sind auf Seiten des Subjekts ein bestimmtes Können im Sinne von
Fähigkeiten und Fertigkeiten und auf Seiten der Welt ein externes materielles Substrat, das für Aneignungsakte verfügbar ist. Aneignungs310
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
handeln ist das Referenzsystem für den jeweils erreichten konkreten
Modus der Subjektivität.
Zusammenfassende Diskussion
Nur das systemische Paradigma enthält im theoretischen Kern eine Erklärung der sozialarbeiterischen Phänomene, die sich zu der folgenden
Gesetzeshypothese86 umformulieren lässt: „Wenn anhaltend Grundbedürfnisse der Menschen unerfüllt bleiben, dann entstehen soziale Probleme.“ Das Paradigma der alltäglichen Lebensführung bestimmt zwar
die allgemeine Funktionslogik der alltäglicher Lebensführung, es spezifiziert aber nicht diejenigen Formen der Lebensführung, die für die Soziale Arbeit handlungsrelevant sind. Die übrigen Paradigmen konzentrieren sich vorwiegend auf die Analyse der strukturellen Bedingungen
des Alltagslebens im allgemeinen beziehungsweise auf die strukturellen
Determinanten von Problemlagen. Dazu werden vor allem soziologische und gesellschaftstheoretische Hypothesen herangezogen. Das ökosoziale Paradigma integriert darüber hinaus theoretische Konzepte wie
etwa die Lebenslage, die zwischen der Mikro- und Makroebene vermitteln. Die aufgezeigten allgemeinen Wirkungszusammenhänge für die
Entstehung, Entwicklung und Bewältigung von Problemen des Alltags
werden nicht zu spezifischen Funktionsmodellen weiterentwickelt. Das
mag zu dem Eindruck beitragen, dass die Paradigmen im theoretischen
Kern relativ unspezifisch sind. Die Wichtigkeit von Funktionsmodellen
auf der Mikroebene, die nicht zu verwechseln ist mit der fallspezifischen Ebene der professionellen Praxis, geht aus dem Hinweis von Bolte hervor, dass gleiche gesellschaftliche Strukturen trotz ihrer grundsätzlich prägenden Kraft nicht die gleiche Bedeutung für die von ihnen
Betroffenen haben. „Je nach den spezifischen ‚Formungen und Zumutungen‘, die bestimmte Menschen dadurch erhalten, dass sie auch in andere strukturelle Bezüge verflochten sind (eine bestimmte Erziehung erhalten haben, in bestimmten Familienformen leben, bestimmte politi86 Opp definiert ein Gesetz als „eine empirische Aussage, die 1. ohne raumzeitlichen Bezug ist, in der 2. allen Elementen (mindestens) einer unendlichen
Menge von Objekten (mindestens) ein Merkmal zugeschrieben wird, die 3. als
Wenn-dann- oder Je-desto-Aussage formuliert werden kann und die 4. sich
empirisch relativ gut bewährt hat“ (Opp 1995, 36).
311
RITA SAHLE
sche Orientierungen haben usw.), werden sie innerhalb eines
bestimmten betrachteten strukturellen Rahmens mehr oder weniger verschieden reagieren und agieren, womit sie in spezifischer Weise strukturprägend wirken.“ (1983, 29).
Die Modellvorstellungen beziehen sich auf einen bestimmten Akteurstypus und auf das Verhältnis Individuum-Gesellschaft/Umwelt. Die
Akteure sind immer Individuen,87 die als Subjekte aufgefasst werden.
Mit Ausnahme des subjekttheoretischen Paradigmas wird der Subjektbegriff aber nicht erläutert. Angenommen wird, dass die Indiduen frei
sind und sich entscheiden können, so oder anders. „Kein Mensch muss
müssen.“ (G. E. Lessing). Individuelle Freiheit und Selbstbestimmung
sind aber nicht absolut sondern relativ. Kein Paradigma geht von der
Vorstellung isolierter Einzelwesen mit vollkommener Selbstbestimmung aus. Das Vokabular variiert zwar, die Auffassungen sind aber
identisch. Menschsein heißt immer „Mensch-in-der-Gesellschaft-sein“
(Staub-Bernasconi in: Lewkowicz 1991, 17). Die Akteure sind eingebunden – die Bezeichnungen variieren – in gesellschaftliche Verhältnisse, in vorgegebene Rollen und Kulissen auf der Bühne des Alltags, in
soziale Systeme/funktionale Teilsysteme, in eine ökosoziale Umwelt, in
die Welt objektiver Gegenstände. Sie wirken aktiv handelnd auf diese
ein und werden rückwirkend durch diese verändert. Wie es in diesem
wechselseitigen Konstitutions- und Bedingungsverhältnis um das Ausmaß an individueller Freiheit und determinierendem Eingebundensein
bestellt ist, bleibt offen. Während das Alltagsparadigma – wiederum metaphorisch – hier vom Stegreifspiel der Akteure spricht, heißt es im systemischen Paradigma, dass Menschen „teilweise selbst- und teilweise
fremdgesteuert“ sind. „Die Bestimmung des Ausmaßes an Freiheit und
sozialem Eingebundensein ist eine empirische und ethische Frage.“
(Staub-Bernasconi 1991, 17).
Einige Paradigmen setzen im Verhältnis Individuum-Gesellschaft allerdings die Akzente unterschiedlich. Im Zentrum des subjekttheoretischen
Paradigmas bildet das Subjekt mit seinem Aneignungshandeln den Ausgangs- und Bezugspunkt der Argumentation. Ähnlich ist es im Paradigma der alltäglichen Lebensführung. Hier erscheinen die funktional ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilbereiche als soziale Randbedin87 Vgl. hierzu auch die Kritik von Falck an dem individualisierenden Zuschnitt
der Sozialarbeitstheorie (1986).
312
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
gungen beziehungsweise Strukturvorgaben, die von der Person aktive in
der Lebensführung verarbeitet werden müssen. Demgegenüber fokussiert das ökosoziale Paradigma die Transaktionen zwischen den Lebenserscheinungen und gibt damit weder dem Individuum noch den objektiven Verhältnissen den Vorrang. Das systemische und das Alltagsparadigma scheinen hier unentschieden zu sein im Sinne einer sowohl-alsauch-Position.
Die zugrunde liegenden Mechanismen fügen sich in das Verhältnis von
individueller Praxis und gesellschaftlicher Struktur ein. Sie werden beschrieben als Dialektik von objektiver Struktur und subjektivem Handeln (Alltagsparadigma); als Aneignungshandeln (subjekttheoretisches
Paradigma); als wechselseitige Anpassungsprozesse im Rahmen von
Transaktionen (ökosoziales Paradigma); als latente Regeln (Modi operandi) der alltäglichen Lebensführung. Im systemischen Paradigma ist
der grundlegende Mechanismus im Individuum lokalisiert, es geht um
die Reduktion der organismischen Spannung durch Bedürfnisbefriedigung.
4.2.2 Normative Axiome: Soziale Gerechtigkeit
und autonome Lebensgestaltung
Soziale Arbeit ist ein normativer Anwendungsbereich, der nur mit Bezug auf bestimmte Wertvorstellungen die ihn interessierenden Phänomene als unproblematisch oder interventionsbedürftig beschreiben
kann. Warum Individuen ihr alltägliches Leben in den Griff bekommen
sollen ist eine andere Frage als zu erklären, warum sie die Anforderungen des alltäglichen Lebens nicht aus eigenen Kräften bewältigen können. Welche normativen Aussagen enthalten also die theoretischen
Komponenten der verschiedenen Paradigmen? Und welche Menschenbilder liegen ihnen zugrunde?
Die Sollensvorstellungen beziehen sich in allen Paradigmen auf das Einzelwohl und das Gemeinwohl. Sie entsprechen darin den beschriebenen
theoretischen Wirkungszusammenhängen, auch wenn – wie angemerkt
– die Mikroebene noch zu wenig expliziert wird. Der Zentralwert auf der
Makroebene ist übereinstimmend soziale Gerechtigkeit beziehungsweise die sozial gerechte Gestaltung und Veränderung der Lebensverhältnisse. Das entspricht der starken Betonung gesellschaftlicher Bedingungen und ihres Einflusses auf die Alltagsbewältigung mit der impliziten
313
RITA SAHLE
Annahme, dass die Behebung ungleicher und benachteiligender Lebensbedingungen auch die alltäglichen Schwierigkeiten und Problemlagen
reduziert. Soziale Gerechtigkeit ist im Alltagsparadigma und im systemischen Paradigma distributive Gerechtigkeit (Staub-Bernasconi 1994;
Thiersch 1995a). Alle anderen Paradigmen enthalten keine Begriffsexplikation. Das Alltagsparadigma und das Paradigma der alltäglichen Lebensführung begründen die Gerechtigkeitsforderung mit dem Sozialstaatspostulat (Feth 1996, 103) beziehungsweise mit dem Selbstanspruch der Gesellschaft nach sozialer Gerechtigkeit, den Soziale Arbeit
einzulösen hat (Thiersch 1995b, 25 ff.). Das systemische Paradigma fordert die Veränderung behindernder und illegitimer Machtstrukturen, die
Menschen von der gesellschaftlichen Teilhabe ausschließen und die Bedürfnisbefriedigung beeinträchtigen. Gerechtigkeit wird hier beschrieben als fairer Ausgleich von Rechten und Pflichten zwischen Menschen
und sozialen Gruppen (Staub-Bernasconi 1994, 24 ff.). Im subjekttheoretischen Paradigma wird die Orientierung an sozialer Gerechtigkeit und
Behebung gesellschaftlich hergestellter Ungleichheit rückbezogen auf
den gesellschaftlich vermittelten Bildungsprozess des Subjektes (Sünker 1995, 87). Entsprechend dem erweiterten konzeptionellen Bezugsrahmen bestimmt das ökosoziale Paradigma auch diese normative Orientierung umfassender als andere: Wiederherstellung einer Gesellschaft
von Bürgern, „die mit ihren Rechten auch ihre Pflichten ausdifferenzieren und denen soziale Verantwortung einen neuen Sinnhorizont öffnet“
(Mühlum 1994, 14).
Ähnlich übereinstimmend sind auch die normativen Aussagen auf der
Mikroebene. Die konkreten Sollzustände beziehen sich auf einen Wert,
der für moderne Gesellschaften konstitutiv ist, nämlich Autonomie beziehungsweise Selbstverantwortlichkeit der Menschen. Im Alltagsparadigma wird der Alltag in der Ambivalenz von Gegebenem und Möglichem gesehen. Weil der Alltag immer auch einhergeht mit bornierter
Enge, Leere, Vorurteilsprägung und Ausgrenzung, muss diese PseudoKonkretheit (Kosik) aufgebrochen und bezogen werden auf den Entwurf glücklicherer Verhältnisse, auf ein gelingenderes Leben, in dem
die Menschen als Subjekte ihrer Lebenspraxis Anerkennung finden.
Das Paradigma der alltäglichen Lebensführung spricht von der autonomen Lebensführungskompetenz als Handlungsziel. Und im ökosozialen
Paradigma wird die Befähigung zu künftiger Selbsthilfe postuliert,
Selbstbestimmung und die Ermutigung zur Übernahme von Verantwor314
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
tung gegenüber anderen Geschöpfen, der Umwelt und der Zukunft
(Mühlum 1996, 208). Ähnlich entschieden wie das Paradigma der alltäglichen Lebensführung thematisiert auch das subjekttheoretische Paradigma die Verantwortung des Handelnden für sein Handeln/Nichthandeln. Beide erkennen noch in den zwingendsten Situationen einen
personalen Entscheidungsspielraum. „Leiden, Not, Probleme und
Schwierigkeiten (sind) als Ausdruck von Subjektivität“ zu begreifen,
die nicht auf gesellschaftliche Bedingungszusammenhänge reduziert
werden dürfen (Winkler, 1988, 151). Mag Subjektivität auch noch so
gering und beschädigt erscheinen, die konkrete Person darf nicht auf die
Rolle eines Opfers der Verhältnisse reduziert werden sondern ist als verantwortlich handelndes Subjekt anzuerkennen. Es geht folglich um die
Überwindung der Opferrolle und um ein selbstbestimmtes Leben. Für
das Paradigma der alltäglichen Lebensführung und für das subjekttheoretische Paradigma gilt uneingeschränkt Viktor Frankl‘s entschiedener
Ausspruch: „Der Mensch ist das Wesen, das immer entscheidet, was es
ist.“ (2002, 213; Hervorhebung im Original). Etwas unklar sind die Ausführungen des systemischen Paradigmas, das kaum explizite Aussagen
zur Frage individueller Autonomie und Verantwortung macht. Während
einerseits die Modellvorstellung von Individuen als selbst-bewusste und
lernfähige Wesen ausgeht (was ihre Verantwortlichkeit einschließt),
liegt andererseits der Schwerpunkt der Erklärung für die Entstehung sozialer Probleme auf den gesellschaftlichen Verhältnissen und deren
Leistungsfähigkeit für die Befriedigung der Grundbedürfnisse (was die
Lesart zulässt, dass Individuen eher als Opfer von Verhältnissen betrachtet werden).
Die Frage der Vereinbarkeit von sozialer Gerechtigkeit und individueller
Autonomie wird kaum diskutiert, so dass der zwischen beiden bestehende grundlegende Widerspruch weitgehend unaufgedeckt bleibt (Ignatieff 1993, 16). Nur im Alltagsparadigma wird dieser Wertekonflikt diskutiert. Angesichts der Puralisierung von Lebenslagen und der Individualisierung von Lebensführungsmustern, die die Unterschiedlichkeit,
Offenheit und Eigensinnigkeit der Lebensentwürfe und –verhältnisse
mehr und mehr betonen, stellt sich die Frage, ob „das an Gleichheit orientierte Prinzip der sozialen Gerechtigkeit … diesen neuen situativ-individuellen Verhältnissen gerecht werden“ kann? Und weiter: „Wird der
Widerspruch des allgemeinen Prinzips sozialer Gerechtigkeit und der
Lebensverhältnisse nicht um so dramatischer, je präventiver, alltagsna315
RITA SAHLE
her, nachgehender und individualisierender Soziale Arbeit agiert?“
(Thiersch 1995a, 37).
4.3 Der exemplarische Anwendungsbereich
Die empirische Basis ist in allen Paradigmen auffallend schwach ausgebildet. Nur selten werden die theoretischen Ausführungen empirisch geprüft. Auch werden kaum Praxisbeispiele genannt, die die Leistungsfähigkeit der Paradigmen bestätigen. Am weitesten scheint hier das Alltagsparadigma vorangeschritten zu sein. In einer Zwischenbilanz zum
Stand lebensweltlicher Forschung verweist Hans Thiersch auf verschiedene Untersuchungen zur Lebenswelt der Adressaten, deren Verhältnis
zur Sozialen Arbeit und zu den pädagogischen Inszenierungen in den Institutionen der Sozialen Arbeit, nicht ohne auf die Dringlichkeit weiterer
Praxisbeispiele im Kontext des Alltagsparadigmas hinzuweisen (1998,
90 ff.). Es bedürfte einer genaueren Prüfung, für welchen speziellen Anwendungsbereich die genannten Arbeiten stehen, welche Ausprägungen
der paradigmatische Kern implizit oder explizit darin erfährt und ob sie
allgemein als erfolgreiche Musterbeispiele gelten können. Für die Arbeit
mit Familien im Rahmen der sozialpädagogischen Familienhilfe können
jedenfalls die drei Fallstudien von Astrid Woog (1998) als erfolgreiche
Musterbeispiele betrachtet werden. Dabei handelt es sich um solche Familien, in denen das Wachstum der Mitglieder durch das jeweilige familiäre Alltagsarrangement behindert wurde, und die ausdrücklich eine
professionelle Begleitung und Unterstützung wünschten. Es waren keine
Familien mit einer gravierenden Vernachlässigungsproblematik beziehungsweise Kindeswohlgefährdung oder mit strukturellen Mehrfachproblematiken wie sie in sogenannten Multiproblemfamilien vorzufinden sind. Die Familien gerieten mit öffentlichen Institutionen in Schwierigkeiten, der Schule, Polizei oder dem Jugendamt. Sie hielten an
tradierte Vorstellungen und Verhaltensweisen fest, was zu Belastungen
in der Familienentwicklung und zur erheblichen Rückbeziehung auf sich
selbst führte. Und sie konnten die Hemmnisse nicht erkennen und selbst
beseitigen. Die unterschiedlich weit reichenden Veränderungen faßt
Woog wie folgt zusammen:
„Der nunmehr gelingendere Alltag hat sie (die Familien, R.S.) ihrem Ziel,
ein freundliches Zusammenleben zu erreichen, einen Schritt näher gebracht.
Es ist ihnen möglich, zu anderen Menschen Beziehungen aufzunehmen und
316
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
Ressourcen zu aktivieren. Der Erfahrungsraum vergrößerte sich und die
Leistungsfähigkeit der Familien nahm zu. Die erzieherischen Kompetenzen
der Eltern sind gewachsen, und sie achten auf die Bedürfnisse und Wünsche
ihrer Kinder. Die oftmals spannungsgeladene Familienatmosphäre beruhigte
sich. Die Fähigkeit zum Suchen und Finden von Lösungen zur Bewältigung
unliebsamer Ereignisse ist bei den Familien deutlicher als zuvor ausgeprägt.
Es gelingt den Eltern heute besser, die an sie gestellten Anforderungen mit
ihren eigenen Vorstellungs- und Verhaltenstraditionen in Einklang zu bringen und den Alltag lebbarer zu machen.“ (1998, 176).
Obwohl das systemische Paradigma an verschiedenen Hochschulen gelehrt und vertreten wird finden sich kaum allgemein zugängliche Dokumentationen von Praxisbeispielen, die die Leistungsfähigkeit dieses Paradigmas belegen. Die an den Hochschulorten vorhandenen Praktikumsund Prozessberichte gleichen dieses Kommunikationsdefizit in der scientific community nicht aus.88 Mit dem Stadtteilentwicklungsprojekt
Trier-Nord liegt jedoch ein erfolgreiches und gut dokumentiertes Musterbeispiel für das systemische Paradigma vor (Elsen/Löns/Ries/Steinmetz 1999; Ries 1997; 2000, 2001). Hier waren die sozialen Probleme
eines Wohnquartiers Gegenstand eines gemeinwesenorientierten Arbeitsansatzes. Sie stellten sich als massive Ausstattungsdefizite sowohl
des Territoriums als auch seiner Bewohner dar, mit der Folge, dass zentrale Grundbedürfnisse wie Wohnen, Arbeiten und Partizipation nicht
beziehungsweise unzureichend befriedigt wurden und die Teilhabe der
Bewohner „bezogen auf alle Lebensbereiche nahe bei Null (lag), jedenfalls weit unter dem Bevölkerungsdurchschnitt der Stadt“, in der sie
wohnten (Ries 2001, 52). In einem mit wirtschaftlichen Mitteln vorangetriebenen Entwicklungsprozess konnte die nach unten gerichtete Abwärtsspirale aus Arbeitslosigkeit, Armut, Perspektivlosigkeit, sozialer
Ausgrenzung und Wohnungsnot unterbrochen werden. Die Ausstattungsprobleme wurden nachhaltig reduziert durch Sanierung des Wohnraums, Schaffung von Arbeitsplätzen für Stadtteilbewohnerinnen, Teilhabe an materiellem Besitz durch genossenschaftliches Wohneigentum
etc. Die Zwischenbilanz der professionellen Akteure: „Komplexe, soziale, ökonomische und kulturelle Veränderungen in gewachsenen sozialen Strukturen sind nur als langfristiger und vielschichtiger Prozess vorstellbar. Dabei bedingen und verstärken sich die Ebenen und Bereiche
88 Persönliche Mitteilung Staub-Bernasconi.
317
RITA SAHLE
der Veränderung gegenseitig. Sichtbare Verbesserung im Lebensumfeld
der BewohnerInnen wirken sich unmittelbar auf ihr Verhalten aus und
Verhaltensänderungen müssen in den Köpfen der Menschen stattfinden,
die über lange Zeit gelernt haben, dass es für sie in dieser Gesellschaft
kein Anrecht auf Teilhabe gibt. Langjährige Kränkungen und Dequalifizierungen heilen nicht in kurzer Zeit.“ (Elsen, Löns, Ries, Steinmetz
1999, 47).
Das Paradigma der Lebensführung ist auf Einsichten in die Mikrototalität und Funktionslogik der Alltagspraxis angelegt. Es wartet mit empirischen Untersuchungen zur praktischen Alltagsorganisation von
Menschen aus verschiedenen Berufs- und Tätigkeitsfeldern auf, mit Arbeiten zur familiären und kindlichen Lebensführung sowie zur Lebensführung Jugendlicher (Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“
1995; Voss/Weihrich 2001; Weihrich/Voss 2002). Von besonderem Interesse sind hier empirische Untersuchungen zur Lebensführung in der
Arbeitslosigkeit und zum „Penneralltag“ (Jochum 1996). Auch unter extrem reduzierten Lebensbedingungen ist der Alltag von männlichen
städtischen Wohnungslosen – trotz aller Unterschiede in der konkreten
Gestaltung – durch ausgeprägte Routinen und Regelmäßigkeiten bestimmt. Als Hauptproblem erweist sich der sinnvolle Umgang mit der
Ressource Zeit. Zeit-haben bedeutet „in der Regel ein ‚Nichts-zu-tunHaben‘. Zum einen fehlt ein längerfristiges ‚Tun‘, eine Arbeit, die dem
Leben eine Struktur geben könnte. Zum anderen fehlt auch jegliches
‚Haben‘ – seien dies nun Frau, Wohnung oder Besitztümer wie Fernseher –, so dass viele Betätigungsmöglichkeiten dem Stadtstreicher verschlossen sind.“ (Jochum 1996, 212). Dokumentationen über erfolgreiche praktische Veränderung von Arrangements der alltäglichen Lebensführung stehen noch aus.
Ein erfolgreiches Musterbeispiel für das ökosoziale Paradigma ist die
Untersuchung sogenannter Multiproblemfamilien im Rahmen der Sozialpädagogischen Familienhilfe von E.M. Schuster (1997). Anders als in
der Arbeit von Woog geht es hier um Familien mit chronischer Mehrfachproblematik, deren familiales Funktionsniveau seitens der Sozialen
Dienste als unzureichend und nicht mehr tolerierbar bewertet wurde.
Und anders als bei Woog waren diese Familien erst unter erheblichem
Druck zur Zusammenarbeit mit der Familienhelferin bereit. Die Komplexität des ökosozialen Wirkungszusammenhanges wurde für die Intervention einerseits reduziert auf die räumlichen und sozialen Prozesse
318
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
und die personale Ebene, andererseits erweitert um eine Typologie familialer Konfliktbewältigungsmuster, die Analyse des Mikrogeschehens und die Interventionsentscheidungen steuern half. In einem mehrjährigen Arbeitsprozess konnte ein akzeptables familiales Funktionsniveau erreicht werden. Die Intervention orientierte sich an aktivem
Handeln der Familienmitglieder und Erfüllung gemeinsam getroffener
Vereinbarungen, Ressourcenentwicklung und -aktivierung sowie Aufbau eines Netzwerkes, dem nicht nur vorübergehend entlastende Funktionen zukam. Angesichts „der erheblichen Konfliktfülle der untersuchten Familien (muss) bei Wegfall des Netzwerkes mit schweren Einbrüchen in das familiale Gleichgewicht gerechnet werden. Die Kontinuität
des individuell am familialen Bedarf orientierten Netzwerkes ist zwingende Voraussetzung zur Sicherung der erreichten Aktivierung der untersuchten Familien. Der Fortbestand des Netzwerkes ist deshalb auch
über den Zeitraum der Hilfeleistung durch die SPFH hinaus zwingend.“
(Schuster 1997, 206).
Bleibt als Fazit der Betrachtung der empirischen Komponente, dass alle
Paradigmen ein erhebliches Defizit an empirischem Gehalt aufweisen.
Paradigmen der Sozialen Arbeit führen offenbar ein Eigenleben in den
Studierstuben und den Diskursen der Wissenschaftler, es wird nicht geprüft ob sich ihre Annahmen und Modelle empirisch bewähren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann daher weder gesagt werden, dass sie sich
bewähren, noch können sie als widerlegt gelten. Die vereinzelten Hinweise in der Literatur, dass in der Sozialen Arbeit offenbar mehr geforscht als publiziert wird oder dass die Leistungsfähigkeit in zahlreichen Praxisberichten etc. dokumentiert ist, relativieren diesen ernüchternden Befund nicht. Für das wissenschaftliche System existieren Erkenntnisse und Problemlösungen nur, wenn sie kommuniziert werden
und den Mitgliedern der wissenschaftlichen Gemeinschaft prinzipiell
zur Kritik zur Verfügung stehen.
4.4 Die methodologische Komponente
Soziale Arbeit als wissenschaftliche Disziplin kann konzeptuell in zwei
Varianten ausbuchstabiert werden. Die eine ist am klassischen Wissenschaftsverständnis orientiert und ausschließlich mit der Produktion von
Wissen befasst, die andere betrachtet die Soziale Arbeit als einen transdisziplinären Anwendungsbereich, der Erkenntnis und Intervention mit319
RITA SAHLE
einander verbindet. Idealtypisch betrachtet lässt sich der ersten Variante
das Korrespondenzkriterium der Wahrheit zuordnen: Eine Aussage ist
wahr, wenn sie der objektiven Wirklichkeit entspricht; und der zweiten
Variante ein pragmatisches Wahrheitskriterium: Eine Aussage ist wahr,
wenn ihre praktische Wirksamkeit nachgewiesen wurde (Kvale 1995,
428 ff.). In den hier untersuchten Paradigmen sind beide Wissenschaftsauffassungen vertreten.
4.4.1 Methodik
Die methodischen Ausführungen des Alltagsparadigma sind nicht eindeutig einem bestimmten Wissenschaftsverständnis zuzuordnen, obwohl dem Paradigma selbst ein handlungswissenschaftliches Verständnis der Sozialen Arbeit zugrunde liegt. Der Forschungsprozess geht vom
Einzelfall aus, er soll die vielfältigen Aspekte des komplexen Untersuchungsgegenstandes entweder kaleidoskopartig in vielfältig neben- und
gegeneinanderstehenden Rekonstruktionen deutlich machen oder aber
zu einer „dichten Beschreibung“ i.S. Clifford Geertz’ (1983) kondensieren (Thiersch 1998, 87 f.). Das rekonstruktiv-hermeneutische Vorgehen
schließt das gesamte Spektrum qualitativer Methoden ein (Interviews,
teilnehmende Beobachtung, Dokumentenanalyse). Standardisierte Forschungsmethoden werden nicht erwähnt.
Im Hinblick auf die Intervention wird angenommen, dass in den offenen
Strukturen der Lebenswelt generelle Muster weniger zählen als die je individuelle Situation, in der Lösungen mit den Alltagsakteuren ausgehandelt werden müssen. Entsprechend können auch nur die Konturen eines
Grundmusters sozialpädagogischen Handelns bestimmt werden. Sie orientieren sich an der Problemsicht der Adressaten, einem ganzheitlichen
Problemverständnis und an den Ressourcen der Lebenswelt. Das Setting
ist alltagsnah und fordert ein Agieren in den gegebenen Problemen und
alltäglichen Lebensräumen. Zwei zentrale Handlungsprinzipien (Ganzheitlichkeit und kommunikatives Aushandeln von Problemlösungen/
Verhandeln) sowie verschiedene handlungsleitende Strukturmaximen
(Prävention, Regionalisierung, Alltagsnähe, Integration, Partizipation,
Vernetzung, Einmischung) werden benannt. Darüber hinausgehende
Handlungs-„vorschriften“ verstärken die Gefahr eines nur selbstreferentiellen Bezuges der Sozialen Arbeit auf sich selbst (Thiersch 1998, 293)
und der Kolonialisierung des Alltags durch die Professionellen und ihrer
Institutionen, so jedenfalls die These. Dass es trotz der berechtigten Kri320
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
tik an der methodischen Offenheit des Paradigmas möglich ist, die Alltagsorientierung praktisch auszubuchstabieren, zeigt die oben erwähnte
erfolgreiche Arbeit von Woog.89 Allerdings bleibt diese Übersetzung etwas geheimnisvoll.
Im systemischen Paradigma wird Praxis als wesentlicher Teil der Forschung und systematische Erkenntnisgewinnung als Teil der Praxis verstanden. Die Problemkarte (Staub-Bernasconi 1994) beziehungsweise
die prozessual-systemische Denkfigur (Geiser 2000) eignen sich nicht
nur als diagnostische Instrumente zur Beurteilung konkreter Fallsituationen, sondern sie fördern auch eine theoretisierende Praxis, die Formulierung komplexer theoretischer Fragestellungen und Hypothesen und
den kollegialen und wissenschaftlichen Dialog mit Vertretern verschiedener Humanwissenschaften (Staub-Bernasconi 1994, 78 f.). Darüber
hinaus werden qualitative und quantitative Forschungsansätze gefordert, die allerdings nicht weiter diskutiert werden.
Praktische Problemlösungen müssen der angenommenen Mehrdimensionalität und prozessual-systemischen Beschaffenheit der Wirklichkeit
Rechnung tragen. Dabei sind von besonderem Interesse die neuen
(emergenten) Eigenschaften der sozialen und individuellen Systeme,
die durch Umbildungs- und Interventionsprozesse entstehen. Entsprechend den Dimensionen sozialer Probleme werden als problembezogene Arbeitsweisen bestimmt: Ressourcenerschließung, Bewusstseinsbildung, Modellveränderung, Training von Handlungskompetenz, Soziale
Vernetzung, Umgang mit Macht, Öffentlichkeitsarbeit und Sozialmanagement (Staub-Bernasconi 1994, 57 ff.). Gegenüber dem nur wenig
konturierten Grundmuster sozialpädagogischen Handelns im Alltagsparadigma, das in der besonderen Fallsituation konkretisiert werden muss,
beschreibt das systemische Paradigma sehr präzise die Grundstruktur
methodischen Handelns. In allen Arbeitsweisen sind Hypothesen zu
formulieren, die über allgemeine Prinzipien und Postulate hinausgehen.
Sie sollen den empirisch und wertmäßig begründbaren Zusammenhang
herstellen zwischen Zielen beziehungsweise Absichten von Menschen
und den Rahmenbedingungen, Ressourcen und Verfahrensregeln zur
Herbeiführung der gewünschten Sachverhalte (Staub-Bernasconi 1995,
167). „Wenn das Problem P vorliegt und aufgrund von Problem-Erklärung E und dem Wert W die Arbeitsweise A gewählt wird, die aus dem/
89 Vgl. Kraimer 1998, 173.
321
RITA SAHLE
den Verfahren V besteht, dann ergibt sich eine hohe Wahrscheinlichkeit, das Ziel Z zu erreichen …“ (Staub-Bernasconi 1986, 54).
Das formale Rahmenkonzept der alltäglichen Lebensführung wurde in
ein empirisches Forschungskonzept übersetzt, um
• die empirischen Arrangements alltäglicher Lebensführung zu beschreiben und zu verstehen,
• spezifische Konfigurationen als Typus zu rekonstruieren,
• ihre Entstehung und Funktionsbedingungen zu erklären,
• ihre historische Bedeutung herauszuarbeiten sowie
• die soziologische Bedeutung der Lebensführung im Kontext soziologischer Theorien zu verankern (Kudera 1995, 48 f.).
Die Forschungsmethodik ist qualitativ und lebensweltlich ausgerichtet,
sie setzt an den Handlungen von Personen und deren Regelhaftigkeit an,
nicht an den subjektiven Motiven, Deutungen und Orientierungen. Die
Methoden der Datenerhebung sind Beobachtung und Befragung, die Instrumente sind teilnehmende Beobachtung und das themenzentrierte, erzählungsgenerierende Interview. Letzterem liegt ein Interviewleitfaden
mit thematisch gebündelten Fragen zugrunde, die den Untersuchungsgegenstand in seinen verschiedenen Dimensionen umreißen (Kudera
1995, 55 ff.). Die Datenauswertung fordert tiefenhermeneutische Interpretationsverfahren, weil die operative Tiefenstruktur (die modi operandi) der Lebensführung, die latenten Regeln, die der Praxis als vereinheitlichende Prinzipien zugrunde liegen, den Akteuren nicht mehr oder nur
mit großem reflexivem Aufwand zugänglich sind und sich auch der Beobachtung entziehen (Voß 1991, 278 f.). Angestrebt wird die Bildung
von Typen der Lebensführung, in denen Ähnlichkeiten in der subjektiven Verarbeitung sozialer Faktoren durch Lebensführung aufgehoben
und an soziale Momente zurückgebunden werden.
Gegenüber dem auf Erkenntnisgewinnung ausgerichteten Interesse der
soziologischen Lebensführungsforscher stellt Feth das Konzept in den
handlungswissenschaftlichen Rahmen der Sozialen Arbeit. Wie im systemischen Paradigma wird auch hier das professionelle Handeln als Forschungshandeln verstanden, „das sich explorierend, interpretierend, rekonstruierend, deutend und evaluierend in der Praxis bewegt, um Veränderungen im Lebenszusammenhang spezifischer AdressatInnen auszulösen“ (1996, 102). Einen angemessenen Zugang zum Interventionsge322
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
schehen und zur alltäglichen Lebensführung spezifischer Adressaten eröffnen qualitative Forschungsverfahren aus dem Bereich der Grounded
Theory (A. Strauss).
Auch das ökosoziale Paradigma bezieht sich auf ein handlungswissenschaftliches Verständnis der Sozialen Arbeit. Die methodische Komponente enthält primär handlungstheoretische Aussagen. Fragen der Erkenntnisgewinnung im Kontext dieses Paradigmas werden demgegenüber vernachlässigt. Gleichwohl kann auch hier angenommen werden,
dass die Erforschung des „Interaktionsraumes alltäglicher Lebensführung“ (Schuster) nur mit qualitativen Erhebungs- und Auswertungsverfahren erfolgversprechend erscheint. Beispielsweise stützt sich die Untersuchung von Schuster auf einen Mehrmethodenansatz mit den qualitativen Erhebungsinstrumenten narratives Interview, teilstrukturiertes
Interview sowie teilnehmende Beobachtung (1997, 104 f.).
Handlungstheoretisch wird die Einflussnahme auf Verhalten und Umwelt gefordert als angemessene Antwort auf die Annahmen des Paradigmas. Soziale Arbeit muss sich dabei vorwiegend auf die unteren Interventionsebenen, den mikro- und mesosozialen Raum, konzentrieren
(Mühlum 1996, 206). Auch die Komplexität des ökosozialen Bedingungsgefüge muss pragmatisch reduziert beziehungsweise verkürzt
werden (Schuster 1997, 93), sie bleibt aber als eine auf Ganzheitlichkeit
zielende Denk- und Analyserichtung beibehalten. Durch die Stärkung
des Anpassungspotentials der Menschen und die Beeinflussung der
Umwelt soll das Gleichgewicht in den Transaktionen beziehungsweise
die Qualität des Aufeinander-abgestimmt-Seins gefördert werden. Konkret sind das die Aktivierung und Verbesserung des Bewältigungsverhaltens der Individuen einerseits und die Erschließung sozialer Unterstützung und Ressourcen andererseits. Als dem ökosozialen Paradigma
nahestehende Praxismodelle werden insbesondere der Lebenswelt-,
Netzwerk- und Soziotopansatz genannt (Mühlum 1994; Oppl 1986).
Die handlungstheoretischen Annahmen des subjekttheoretischen Paradigma bleiben sehr abstrakt und „sie müssen vom Sozialpädagogen stets
‚divinatorisch‘ (vorahnend, sehend, R.S.) in eine Anschauung der aktuellen Realität übersetzt werden“ (Winkler 1988, 269). Die Grundbestimmung ist hier die Kategorie des „Ortes“. Die besondere Bedeutung des
Ortes ergibt sich aus der systematischen Betrachtung von Lebensräumen
und Lebensvoraussetzungen, die Aneignungsprozesse behindern oder
fördern und Subjektivität beschädigen können (ebd. 267). Neben einer
323
RITA SAHLE
Typologie der sozialpädagogischen Orte (ebda, 296 ff.) werden für das
praktische Handeln zwei methodische Prinzipien formuliert: Schaffung
von Lebensorten, in denen die Subjekte angemessene Lebens- und Aneignungsmöglichkeiten finden und das Aufsuchen der Subjekte in ihrer
einmaligen und unverwechselbaren Subjektivität (Fallspezifizität). Mit
acht Kategorien wird das sozialpädagogische Handeln strukturiert (ebd.
270 ff.):
• die Normalität des Unterschiedes in der individuellen Existenz der
Subjekte,
• die Selbsttätigkeit des Subjektes, die einer individuellen Entwicklungslogik gehorcht,
• eine aus den Aktivitäten von zwei Akteuren bestehende Handlungsstruktur: die Intentionen und das Tun des Erziehers vollenden sich
nur durch die Aktivität des Zöglings,
• der Bezug zur gesellschaftlichen Realität mit dem Ziel, ihm ein Leben in der Gesellschaft zu eröffnen,
• die realen Bedingungen der Lebenslage des Zöglings und deren subjektive Reflexion als Gestaltungsraum des Erziehers für die Eröffnung künftiger Möglichkeiten des Zöglings,
• die Strukturierung der Gegenwart des Subjekts, die eine offene Zukunft für dieses entstehen lassen,
• ein auf Zukunft gerichtetes sozialpädagogischen Handelns, das vom
Subjekt selbst verantwortlich verwirklicht und gestaltet werden
muss,
• die Schaffung von sozialpädagogischen Orten als freie, von den Subjekten gestaltbare Räume sowie als existenzielle Sicherheit gebende
Räume.
Sozialpädagogisches „Ortshandeln“ (Winkler) manifestiert sich in Situationen. Situationen sind Struktur und Handlung zugleich, als pädagogische werden sie zwar vom Erzieher vorbereitet, erhalten aber erst
durch das Aneigungshandeln des Zöglings ihre Gültigkeit. Dynamik
und qualitativer Umschlag von Situationen werden mit einem Kondensator verglichen. „Über einen gewissen Zeitraum wird ein Geflecht von
Beziehungen mit Spannungen, Widersprüchen und Anforderungen energetisch aufgeladen, um in einem bestimmten Augenblick schlagartig
324
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
die Energie so abzugeben, dass sich ein veränderter Zustand im System
der sozialen Beziehungen ergibt. – Aber diese explosive Umschaltung
selbst kann im pädagogischen Zusammenhang weder herbeigeführt,
noch gesteuert werden. Sie hängt von der strukturellen Eigengesetzlichkeit ab, die eine Situation aufgrund ihrer konkreten Bedingungen gewinnt.“ (ebd. 325).
4.4.2 Epistemologie
Die erkenntnistheoretischen Annahmen des Alltagsparadigmas beziehen sich implizit auf das sozialwissenschaftliche interpretative Paradigma. Die soziale Welt ist eine Welt der Bedeutungen, die von den Subjekten in interpretationsgeleiteten Interaktionsprozessen fortlaufend
hervorgebracht und bestätigt werden und die umgekehrt einen objektiven Bedingungsrahmen für die subjektiven Interpretationen und Handlungen bilden. Weil Bedeutungen nicht von vornherein feststehen und
in – zu testenden – Hypothesen repräsentiert werden können, entwickelt
sich lebensweltorientierte Forschung „im offenen Suchen, im Prozess,
in der immanenten Strategie von Entwurf, Korrektur und neuem Entwurf, in Stufen allmählicher Annäherung an den Gegenstand“ (Thiersch
1998, 87). Die Forschungsbeziehung ist eine kommunikative, in der
Forscher und Adressaten gemeinsam in der Situation die Daten erzeugen. Im Verhältnis zum Wissenschaftler sind Klienten und Sozialarbeiterinnen mitforschende Subjekte.
Das systemisches Paradigma enthält eine ausgearbeitete Wirklichkeitsund Erkenntnistheorie als metatheoretischen Bezugsrahmen (Obrecht
2002). Das Wirklichkeitsverständnis ist ein ontologisches. Die Welt
existiert aus sich selbst heraus, unabhängig davon, was wir über sie denken. Sie kann beschrieben und erkannt werden. Diese Wirklichkeit besteht aus konkreten Dingen mit realen Eigenschaften, die sich zu Systemen vereinen und Komponenten eines Systems sind. Sie ist mehrdimensional, die ontologischen Niveaus sind physikalisch, biologisch, psychisch, sozial und kulturell und evolutionär auseinander hervorgegangen. Jedes Niveau bildet eine eigenständige Untersuchungsebene, die in
Beziehung zu den umgebenden Niveaus erforscht werden muss. Soziale
Arbeit erschließt die Ebene der gesellschaftlichen Struktur, die soziale
Wirklichkeit beziehungsweise die Wirklichkeit der sozialen Probleme
(Obrecht 1996, 2000; 2002; Staub-Bernasconi 1995). Im Unterschied
zur soziologischen Systemtheorie (Luhmann 1984) wird der Systembe325
RITA SAHLE
griff nicht nur als Sinnzusammenhang beziehungsweise Sichtweise auf
die Welt verstanden. Systeme sind immer konkrete materiell-stoffliche
Entitäten. Ein soziales System ist ein konkretes System und seine Komponenten sind konkrete menschliche Individuen. Systemhaftigkeit ist
eine Eigenschaft, die sich auf allen Ebenen der Wirklichkeit zeigt und
die ein Ding oder ein Mensch „hat“ (Hollstein-Brinkmann 2000, 51).
Die übrigen Paradigmen enthalten keine explizit formulierten erkenntnistheoretischen Aussagen.
4.4.3 Forschungsinteresse
Nicht alle Paradigmen enthalten hierzu Aussagen. Das Alltagsparadigma will die Handlungs-, Deutungs-, Lern- und Bewältigungsmuster der
Adressaten im Alltag und ihre Reaktionen auf Soziale Dienstleistungen
beschreiben und verstehen/erklären können. Das systemische Paradigma will für alle Bereiche der Sozialen Arbeit wissenschaftliches Wissen
erzeugen und daraus alltags- und wertbezogene Handlungsanweisungen
ableiten. Das sozialarbeitswissenschaftliche Programm im Kontext des
Paradigmas der alltäglichen Lebensführung zielt auf die generelle,
nicht nur auf Defizite und Randständigkeit reduzierte empirische Untersuchung der Mikrototalität der Lebensführung, der Verhältnisse und der
Lebensweise einzelner Menschen und sozialer Gruppen im Gemeinwesen (Wendt 1994, 16 f.).
4.5 Die programmatische Komponente
Programmatische Ansprüche erheben diejenigen Paradigmen, die auch
ein eigenes Forschungsinteresse formulieren. Die Forschungsprogramme werden allerdings nicht im oben definierten Verständnis formuliert,
also als analogisierende Generalisierung des exemplarischen Anwendungsbereichs. Der programmatische Bezug auf erfolgreiche Musterbeispiele fehlt. Statt dessen finden sich Hoffnungen und Zielvorstellungen allgemeiner Art. Sie betreffen vor allem die disziplinäre und professionelle Weiterentwicklung der Sozialen Arbeit. So geht es dem Alltagsparadigma um Gesellschaftsanalyse und sozialarbeiterische Programmatik einerseits sowie interne Kritik/Selbstkritik in Verbindung
mit weiterführenden besseren Handlungsprogrammen andererseits. Das
systemische Paradigma insistiert auf die disziplinäre Eigenständigkeit
326
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
der Sozialen Arbeit und in diesem Rahmen auf die Entwicklung problembezogenen Wissens. Das Paradigma der Lebensführung will die
Dichotomie von Struktur und Subjekt überwinden, es konzentriert sich
auf die strukturbildenden und strukturvermittelnden Aspekte personalen
und sozialen Handelns (Kudera 1995, 49), die das System der alltäglichen Lebensführung als grundlegendes Vermittlungsmoment zwischen
Individuum und Gesellschaft, als „missing-link“ soziologischer Theoriebildung fundieren können.
5. KOOPERATION UND KONKURRENZ – SOZIALE ARBEIT
WEG ZU EINER MULTI-PARADIGMATISCHEN WISSENSCHAFT
AUF DEM
Seit der Untersuchung von Helmut Lukas sind fast 25 Jahre vergangen
und anders als sein Resumee stimmt das Ergebnis meines Vergleichs sozialarbeitwissenschaftlicher Paradigmen einigermaßen hoffnungsvoll.
Der hier verwendete Paradigmenbegriff von Schurz erlaubt ein differenziertes und durchaus positives Urteil über den gegenwärtigen Stand der
disziplinären Entwicklung. Die Sozialarbeitswissenschaft ist ein gutes
Stück vorangekommen. Sie ist dabei, ihren Platz im Wissenschaftssystem zu finden und ihr Feld analytisch und praktisch auszufüllen. Es kann
nicht mehr davon gesprochen werden, dass die wissenschaftliche Erklärung des Untersuchungsgegenstandes mit der „Philosophie des Gegenstandes“ verwechselt wird, wie Lukas noch feststellte. Alle Paradigmen
suchen nach spezifischen Erklärungen beziehungsweise beschreiben
Wirkungszusammenhänge im Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit,
der hier als „Schwierigkeiten der alltäglichen Lebensgestaltung“ bezeichnet wurde. Nur in der Bestimmung des Umfanges dieser Phänomenklasse zeigen sich Unterschiede. Die Entwicklung in Richtung einer
mehrfachparadigmatischen Wissenschaft ist unübersehbar.
Natürlich sind die fünf Paradigmen unterschiedlich weit ausgearbeitet
und auch in den einzelnen Komponenten verschieden gewichtet. Nur
das systemische Paradigma und das Alltagsparadigma decken alle
Komponenten und fast alle Subkomponenten ab, was auch darauf zurückzuführen ist, dass beide seit mehr als zwei Jahrzehnten kontinuierlich und beharrlich ausgearbeitet werden. Noch nicht hinreichend gediehen sind das subjekttheoretische Paradigma sowie die sozialarbeitswissenschaftliche Adaption des soziologischen Konzepts der alltäglichen
327
RITA SAHLE
Lebensführung. Die Defizite sind insbesondere in den methodischen
Subkomponenten festzustellen. Dennoch ist es müßig, über den Status
dieser beiden Paradigmen zu streiten.
Sehr viel problematischer ist das in allen Paradigmen festzustellende eklatante Empiriedefizit. Zum einen fehlen erfolgreiche Praxisbeispiele,
die die Leistungsfähigkeit eines Paradigma für die Lösung der praktischen Probleme unter Beweis stellen. Es fehlt aber auch der empirische
Nachweis, dass die theoretischen Annahmen die Genese der Alltagsschwierigkeiten beziehungsweise Teile dieser Phänomenklasse erfolgreich erklären. Mit dem offenkundigen Empirieproblem zusammen hängen möglicherweise auch die zumeist nur wenigen und relativ allgemein
gehaltenen Ausführungen zur Forschungsmethodologie. Gerade weil
die Paradigmen mehrheitlich von einer transdisziplinären handlungswissenschaftlichen Konzeption der Disziplin Soziale Arbeit ausgehen,
kann der Hinweis auf traditionelle Forschungsansätze und -instrumente
nicht genügen. Diese wurden in solchen Einzelwissenschaften entwickelt, die auf Erkenntnisgewinnung spezialisiert sind, unabhängig von
Ansprüchen praktischer Problemlösungen. Das gilt auch für die mehrheitlich favorisierten qualitativen Forschungsansätzen. Die hier dargestellten erfolgreichen Musterbeispiele lassen jedoch vermuten, dass die
eigentliche Quelle der Erkenntnis für die Soziale Arbeit dort ist, wo Forschung und Intervention zusammentreffen, jedenfalls wenn es um die
Aufklärung der Schwierigkeiten der Alltagsbewältigung und ihrer
Überwindung geht. Was das erkenntnistheoretisch und methodologisch
bedeutet wird jedoch in keinem Paradigma diskutiert, geschweige denn,
dass Lösungen für die daraus resultierenden Probleme vorgeschlagen
werden. Nimmt man hinzu, dass demgegenüber handlungstheoretische
Aussagen über die Veränderung von Alltagsproblemen weitaus umfassender ausfallen, jedenfalls im systemischen und im Alltagsparadigma,
dann liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Paradigmen trotz gegenteiliger Aussagen faktisch einem klassischen Wissenschaftsverhältnis
anhängen, das zwischen Erkenntnisgewinnung einerseits und Praxis anderseits trennt. Die konsequente Umsetzung der spezifischen disziplinären Gestalt der Sozialen Arbeit als transdisziplinärer Anwendungsbereich steht somit noch aus (hierzu auch Sahle 2001).
Auch die theoretische Komponente erscheint in allen Paradigmen noch
wenig befriedigend. Ich möchte das für einen Ausschnitt aus dem komplexen Phänomenbereich verdeutlichen, in dem es um die Strukturierung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft geht. Die
328
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
Probleme der Alltagsbewältigung werden übereinstimmend lokalisiert
im Raum zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Makro- und
Mikrostrukturen. Annahmen, die die Person oder die gesellschaftlichen
Verhältnisse als problemverursachend betrachten, finden sich keine.
Auffallend ist aber das eigentümliche Missverhältnis zwischen den oft
weit ausholenden gesellschaftstheoretischen Erklärungen und Beschreibungen und der geringen Thematisierung der Rolle des autonomen Individuums in diesem Verhältnis. Gewiss geben die makrotheoretischen
Hypothesen Einblick in die Rahmenbedingungen der alltäglichen Lebensführung, die sich erschwerend oder unterstützend auf die Bewältigung der Forderungen des Alltags auswirken können. Diese Bedingungen determinieren aber nicht die Handlungen der Subjekte, wie das
Konzept der alltäglichen Lebensführung mit Recht annimmt, sondern
sie lösen sehr unterschiedliche individuelle Antworten und Reaktionen
aus. Um die spezifischen Mechanismen des Bewältigens und Nicht-Bewältigens der Forderungen des Alltags aufzudecken, muss der Fokus
der Erklärungen und Beschreibungen stärker die Mikroebene einbeziehen. Er muss das Zusammenspiel der personalen und sozialen Determinanten der Alltagsschwierigkeiten beleuchten und makrotheoretische
Hypothesen mit mikrotheoretischen Annahmen zur Lebenspraxis verschränken.90 Denn wenn es stimmt, dass die Soziale Arbeit unvermeidlich zwischen Person und Gesellschaft gestellt ist, ja geradezu die
Schnittstelle ist, die zu einem subjektiven und objektiv befriedigenden
Zusammenwirken beider beitragen soll (Mühlum 1996, 201), dann ist
es auch ihre ureigene disziplinäre Aufgabe, diese Verschränkung theo90 Das Material dafür ist in der Wirklichkeit selbst, also vor allem in der professionellen Praxis und der Begegnung mit der Alltagspraxis zu finden. Die
oben erwähnte Untersuchung von Eva Maria Schuster, die als Musterbeispiel
für das ökosoziale Paradigma im Anwendungsbereich der Arbeit mit Familien
mit chronischen Strukturkrisen vorgestellt wurde (Kap. 4.3), macht die Notwendigkeit der Verschränkung von Sozialem und Personalem deutlich. Erst mit der
Einbeziehung einer psychosozialen Typologie familialer Konfliktbewältigungsmuster, die die individuell-lebensgeschichtliche, familiendynamische und
gesellschaftlich-institutionelle Sinnebene erfasste, war eine angemessene Sicht
auf die familialen Probleme möglich, die Annahmen des ökosozialen Paradigmas allein hätten dafür nicht ausgereicht. Gleichzeitig konnten die Konfliktmuster zugleich erfolgreich als Navigator im Interventionsprozess genutzt werden (Schuster 1997, 62 ff.).
329
RITA SAHLE
retisch zu beschreiben. Noch überwiegen aber Absichtserklärungen und
der Gebrauch allgemeiner Formeln oder metaphorischer Umschreibungen wie „Schnittstelle zwischen objektiven Strukturen und subjektiven
Verständigungs- und Bewältigungsmustern“, „gegenseitige Beeinflussung“, „Kreisprozesse“, „Wechselbeziehung“, etc. Sie sind kaum geeignet die Dichotomie aufzulösen. Eine Ausnahme stellt allein das sozialwissenschaftliche (!) Konzept der alltäglichen Lebensführung dar, dass
in der Vorstellung eines eigenlogisch operierenden Tätigkeitssystems
der Lebensführung die individuelle Praxis mit der gesellschaftlichen
Struktur verbindet.
Zu dem für die Soziale Arbeit entscheidenden und von ihr aufzuklärenden Raum zwischen Individuum und Gesellschaft „paßt“ das im wesentlichen identische Menschenbild, das allerdings nicht immer explizit gemacht wird. Hier steht die Vorstellung von der „relativen Autonomie“
des Menschen im Mittelpunkt. Handeln und Verhalten unterliegen nicht
bestimmten Gesetzmäßigkeiten sondern sind selbstbestimmt, eigensinnig und eigenlogisch. Der Mensch ist ein aktiv handelndes und seine
Welt gestaltendes Wesen. Er ist fähig, sein Tun zu reflektieren, daraus
zu lernen und sein Verhalten zu verändern. Daraus ergibt sich seine Verantwortung für sein Handeln. Er ist eingebunden in soziale und gesellschaftliche Bedingungen, die ihn prägen. Und er ist gleichzeitig frei,
sich diesen Bedingungen gegenüber zu verhalten. Entsprechend diesem
Menschenbild beziehen sich die normativen Axiome auf der Mikroebene übereinstimmend auf die (Wieder-)Herstellung der Autonomie der
Lebenspraxis. Auf der Makroebene geht es immer um die Herstellung
sozial gerechter Verhältnisse. Soziale Gerechtigkeit wird dabei als eine
wesentliche Voraussetzung für einen gelingenderen Alltag angenommen. Umgekehrt wird die ungerechte Verteilung von Chancen und Gütern als Erschwernis alltäglicher Lebensführung und als mitursächlich
für die Entstehung von Problemen, die nicht mehr mit eigenen Ressourcen bewältigt werden können, betrachtet.
Dass die einzelnen Paradigmen nicht sehr spezifisch erscheinen, hat vor
allem mit ihrer Erklärungsschwäche in der theoretischen Komponente
tun. Wenn man so will haben sie noch nicht das Stadium erreicht, in dem
sie auf Grund widersprüchlicher oder signifikant verschiedener Annahmen miteinander konkurrieren könnten. Lediglich in der methodologischen Komponente sind klare Differenzen zwischen den handlungstheoretischen Annahmen des Alltags- und des systemischen Paradigmas zu
330
PARADIGMEN DER SOZIALEN ARBEIT – EIN VERGLEICH
identifizieren. Ausgehend von der offenen Struktur der Lebenswelt
glaubt das Alltagsparadigma, über allgemeine Prinzipien hinaus keine
handlungstheoretischen Festlegungen vornehmen zu können. Die Lebensweltorientierung der Sozialen Arbeit insistiert darauf, „dass Soziale
Arbeit in den gegebenen, nicht schon institutionell-professionell verstellten Problemen agieren muss und ihre Hilfskonzepte auf die gegebenen Ressourcen und die in ihnen gegebenen Lebensentwürfe zu beziehen hat“ (Thiersch 1995a, 219). Das Interventionshandeln bleibt somit
bewusst unbestimmt und dem einzelnen Professionellen überlassen, wie
er die allgemeinen Prinzipien in der konkreten Situation praktisch ausfüllt. Demgegenüber fordert das systemische Paradigma für alle professionellen Arbeitsweisen ein hypothesengeleitetes Vorgehen. Indem ein
Zusammenhang hergestellt wird zwischen den Handlungsabsichten,
den Rahmenbedingungen, den Ressourcen und Verfahrensweisen und
den Zielen, die erreicht werden sollen, wird ein höheres Maß an Transparenz und Rationalität in den professionellen Veränderungsprozessen
erreicht.
Bleibt festzuhalten, dass die Gemeinsamkeiten zwischen den Paradigmen größer sind als die Unterschiede. Von einer echten Konkurrenz und
Rivalität zwischen ihnen kann nicht die Rede sein. Positiv gewendet
heißt das auch, dass die Disziplin Soziale Arbeit nicht wirklich zerrissen
wird von theoretisch begründeten tiefen paradigmatischen Spaltungen.
Dafür fehlt es den Paradigmen an Spezifik. Die Koexistenzweise ist
eher eine der gegenseitigen Anteilnahmslosigkeit (Schurz 1998, 29).
Eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung und Kooperation findet
bisher kaum statt.
Angesichts der Komplexität des Wirklichkeitsausschnittes, auf den sich
sozialarbeitswissenschaftliche Paradigmen beziehen, stellt sich die Frage nach Möglichkeiten ihrer Zusammenarbeit. Insbesondere dann,
wenn Paradigmen durch Schwerpunktsetzungen nur einzelne Aspekte
des Gegenstandsbereiches ausleuchten oder bestimmte Komponenten
beziehungsweise Subkomponenten relativ vernachlässigen, müsste untersucht werden, ob und auf welcher Ebene sie sich komplementär zueinander verhalten und ihre Zusammenführung zu einem echten Erkenntnisgewinn führen kann (Schurz 1998, 22 ff.). Zwei Hinweise dazu
müssen hier genügen. Die hier untersuchten Paradigmen gehen überwiegend von Subjekten als Akteure aus, auch wenn die damit verbundenen Annahmen nicht immer erläutert werden. Durch die Integration
331
RITA SAHLE
einzelner Bestimmungen des Subjektbegriffs, wie sie im subjekttheoretischen Paradigma dargelegt werden, in die eigenen Annahmen ließe
sich der jeweilige Theoriekern und die Modellvorstellung präzisieren,
ohne damit in unauflösbare Widersprüche zu den eigenen Kernannahmen zu geraten. Im Hinblick auf die oben bemängelte unzureichende
Strukturierung des Verhältnisses von gesellschaftlicher Struktur und
subjektiver Praxis könnte die Kooperation darin bestehen, dass Paradigmen, die vom Subjekt ausgehen (so das Paradigma der alltäglichen Lebensführung und das subjekttheoretische Paradigma) mit solchen Paradigmen zusammenarbeiten, die sich eher auf makrotheoretische Erklärungen konzentrieren. In eine ähnliche Richtung zielt auch der folgende
Hinweis von Albert Mühlum: „Und wenn ein subjekttheoretisch begründeter Zugang eher individuumbezogen, ein ökosozialer Ansatz eher
umfeldorientiert ansetzen sollte, hätte doch Soziale Arbeit genau die
Balance zwischen beiden zu wahren, wenn sie den Schwierigkeiten und
möglichen Verwicklungen des einzelnen in seinem sozialen Kontext gerecht werden will.“ (1996, 204). Vielleicht gelingt es den Paradigmen,
diese Balance in naher Zukunft herzustellen und zu wahren.
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Die Autorinnen und Autoren
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Fachhochschule Frankfurt
Engelke, Ernst (1941), Prof. Dr. theol.
Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt
Erath, Peter (1952), Prof. Dr. paed.
Katholische Universität Eichstätt, Fakultät für Sozialwesen
Feth, Reiner (1943), Prof. Dipl. Soziologe
Katholische Hochschule für Sozialwesen Saarbrücken
Göpel, Eberhard (1947), Prof. Dr. med.
Fachhochschule Magdeburg
Göppner, Hans-Jürgen (1943), Prof. Dr. phil.
Katholische Universität Eichstätt, Fakultät für Sozialwesen
Klüsche, Wilhelm (1939), Prof. Dr. phil.
Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach
Mühlum, Albert (1943), Prof. Dr. phil.
Fachhochschule Heidelberg
Obrecht, Werner (1942), Lic. phil., Dozent
Hochschule für Soziale Arbeit, Zürich
Pfaffenberger, Hans (1922), Prof. em., Dr. phil.
Universität Trier
Sahle, Rita (1942), Prof. Dr. phil.
HTWK-Leipzig
358
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
Sommerfeld, Peter (1958), Prof. Dr. rer. soc.
Fachhochschule Solothurn
Staub-Bernasconi, Silvia (1936), Prof. Dr. phil. habil.
Technische Universität Berlin, Institut für Sozialpädagogik
Wendt, Wolf Rainer (1939), Prof. Dr. phil.
Berufsakademie Stuttgart
359
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