Die Würde des endlichen Menschen

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Die Würde des endlichen Menschen - Menschenbilder in der Medizin
TeilnehmerInnen:
Prof. Dr. Elisabeth Beck-Gernsheim
Institut für Soziologie, Universität Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner
em. Leiter der Westfälischen Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie, Gütersloh
Dr. Dr. Martin Dornberg
Stellv. Leiter des Zentrums für Geriatrie und Gerontologie der Universitätsklinik,
Lehrbeauftragter für Philosophie, Universität Freiburg
Prof. Dr. Walter M. Gallmeier
Institut für Medizinische Onkologie und Hämatologie und Ärztlicher Direktor, Klinikum
Nürnberg
Dr. Ellis Huber
Präsident der Ärztekammer Berlin
Prof. Dr. Jürgen Hübner
Theologische Fakultät der Universität und Forschungsstätte der Evangelischen
Studiengemeinschaft, Heidelberg
Sylvia Matthies
Freie Journalistin, Icking
Prof. Dr. Dietmar Mieth
Katholisch-Theologisches Seminar und Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, Universität
Tübingen
Prof. Dr. Bruno Reichart
Direktor der Herzchirurgischen Klinik, Klinikum Großhadern, Ludwig-Maximilians-Universität
München
Dr. Stella Reiter-Theil
Zentrum für Ethik und Recht in der Medizin, Universitätsklinik Freiburg
Prof. Dr. Dr. Horst-Eberhard Richter
em. Direktor des Zentrums für psychosomatische Medizin, Universität Gießen
Prof. Dr. Richard Riess
Fachbereich Praktische Theologie, Augustana-Hochschule Neuendettelsau
Berichterstatterin:
Dr. Anja Haniel
Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften an der Universität München
Moderation:
Dr. Christoph Meier
Studienleiter
Evangelische Akademie Tutzing
Thesen und Fragestellung zur Ausschreibung der Denkwerkstatt
‘Die Würde des endlichen Menschen – Menschenbilder in der Medizin’
„Zeitenwende - Horizonte öffnen“, so lautet das Oberthema zu den Werkstattgesprächen dieses
Tages. Es setzt voraus, daß die aktuelle Gegenwart eine Umbruchzeit ist, in der alte Horizonte
verschwimmen oder sich verschließen und deshalb neue geöffnet werden müssen. Eine
Schlüsselfrage, die sich dabei stellt, ist die nach dem Menschenbild: Wie sieht und versteht der
Mensch sich selbst in seiner Welt und welche Verhaltens- bzw. Handlungskonsequenzen zieht er
daraus?
Besonders virulent wird die Frage nach dem Menschenbild im Bereich der Medizin. Deshalb
sollen „Menschenbilder in der Medizin“ exemplarisch diskutiert werden. Der Plural in dieser
Themenformulierung setzt voraus, daß es ein allgemein gültiges Menschenbild, auf das sich
zumindest eine Mehrheit der Beteiligten und Betroffenen gemeinsam beziehen kann, heute nicht
mehr gibt. Daß man sich aber auf ein solches (oder wenigstens auf Kernelemente eines solchen)
verständigen muß, wenn die Medizin weiterhin und auf Dauer menschlich bleiben soll, ist eine
der Ausgangsthesen für das Werkstattgespräch. Im Oberthema „Die Würde des endlichen
Menschen“ ist eine weitere These angedeutet: Die Begrenztheit und schließlich die Endlichkeit
des Menschen ist nicht in jeder Hinsicht ein Übel, das mit allen Mitteln bekämpft werden muß,
sondern sie gehört konstitutiv – und damit in gewissem Sinne auch positiv – zur menschlichen
Existenz, ja ist genuiner Bestandteil der Menschenwürde.
Wie haltbar und tragfähig diese Thesen sind und welche Verhaltens- und Handlungskonsequenzen, speziell im Bereich der Medizin, sich daraus ergeben, soll im Werkstattgespräch
zunächst diskutiert werden. Weitere Punkte werden sich im weiteren Verlauf ergeben.
Christoph Meier
Anja Haniel
Die Würde des endlichen Menschen - Menschenbilder in der Medizin
Die Diskussionen um High-Tech-Medizin, Sterbehilfe, Kostendämpfung im Gesundheits-wesen
oder genetische Eingriffe münden nicht selten in die Frage nach dem Menschenbild, das
ärztlichem Handeln zugrunde liegt.
In unserer christlich geprägten Kultur herrscht das auf der Gottebenbildlichkeit und damit einer
ganz spezifischen, jedem Menschen zugesprochenen Würde beruhende Menschenbild vor. Nach
diesem christlichen Menschenbild gehören Leid und Endlichkeit zur Natur des Menschen. Doch
werden oft Bedenken geäußert, die darauf abzielen, daß das Tun der Medizin und der
biomedizinischen Forschung mit diesem Menschenbild nicht mehr vereinbar seien. Die Medizin
vermittele bzw. verstärke heute oft eine „säkularisierte Unsterblichkeitsvorstellung“, die ein
Streben nach einem leidfreien Leben und einer leidfreien Gesellschaft begünstige. Demgegenüber
gilt es, „die Würde des endlichen Menschen“ zu bewahren, wie es der Berliner Bischof Wolfgang
Huber bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing einmal formulierte. Die
Themenstellung für das Werkstattgespräch war von daher angeregt.
Das christliche Menschenbild und damit die Würde des Menschen seien unteilbar, so der
Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter in seinem Eingangsstatement zum Werkstattgespräch.
Damit sei auch eine Unteilbarkeit der Hilfeverpflichtung gegenüber anderen verbunden. Die
hochtechnisierte Medizin erfordert aber einen ständig wachsenden Kostenaufwand und kommt
deshalb nur einer Minderheit, nämlich der reichen Bevölkerung der Industrieländer, zugute. Die
Unteilbarkeit der Menschenwürde werde damit praktisch aufgehoben, denn zunehmende Kosten
für die sogenannte High-Tech-Medizin führten auch dazu, daß weniger finanzielle Mittel für die
Entwicklungshilfe und damit die medizinische Versorgung der Dritten Welt zur Verfügung
stünden. Schon seit mehreren Jahren sei dort ein Wiederaufflackern an sich leicht beherrschbarer
Epidemien zu verzeichnen.
Genetische Eingriffsmöglichkeiten, die vorgeburtliche Diagnostik oder auch zukünftig denkbare
Interventionen zur „Verbesserung“ des Erbguts, seien Symptome einer Gesellschaft, die nach Leidfreiheit strebe. Sie entferne sich dabei immer weiter vom christlichen
Menschenbild - und dies nicht nur, weil gottgegebenes Leben bis in seinen bisher unverfügbaren
Kern hinein manipuliert werde, sondern auch, weil sich diese Eingriffe wiederum nur eine
Minderheit werde leisten können. „Verbirgt sich hinter diesem elitären Allmachtsdenken nur ein
größenwahnsinniger Übermut, oder ist es doch eher die manische Abwehr einer Angst, die mit
dem Verlust der Geborgenheitsgewißheit in einer von Gott verlassenen Welt zusammenhängt? Ist
es der verzweifelte Drang, sich ein Maß an Macht zu verschaffen, das ein Leiden ohne Hoffnung
auf Trost und Erlösung ersparen soll? Sollte endgültig das Wissen verloren gehen, daß das
Schicksal des einzelnen mit dem der Mitmenschen in allen Teilen der Welt unlösbar
zusammenhängt und daß der Mensch zur Natur und diese nicht ihm gehört?“, so fragte Richter
eingangs der Diskussion.
Aus der Erfahrung klinischer Praxis wurde dagegen eingewandt, daß nicht Allmachtstreben der
Medizin für die Entwicklung in der Intensiv- und Apparate-Medizin sowie gentechnische
Eingriffe verantwortlich seien. Es sei vielmehr die „unendliche Last des Nicht-Heilen-Könnens“,
die der Arzt täglich zu tragen habe, und der starke Wunsch zu helfen, die dazu führten, daß ein
unendlicher Forschungsdrang entstehe. Es sei für den Arzt auch schwer denkbar, vor einem
leidenden Patienten ein Menschenbild zu vertreten, das den Menschen als einen im Angesichte
Gottes Leidenden beschreibe. In der Bevölkerung sei ein Menschenbild weit verbreitet, das zwar
von der Endlichkeit der anderen, nicht aber von der eigenen ausgehe.
Der Last des „Nicht-Heilen-Könnens“ auf seiten des Arztes steht das Leid der Patienten und
Angehörigen gegenüber. Beide Perspektiven hängen zusammen und dürfen nicht gegeneinander
ausgespielt werden. Den Patienten geht es nicht um „ewiges Leben“, sondern vor allem darum,
„nicht jetzt und nicht so“ zu sterben. Im Blick darauf hat die Medizin der Gesellschaft gegenüber
einen Auftrag, den sie erfüllen muß. Schwarz-Weiß-Malerei mit einer fordernden Gesellschaft
auf der einen Seite und einer Medizin mit Allmachtsphantasien auf der anderen Seite wird der
Problematik nicht gerecht, sondern führt zu einer unfruchtbaren Polarisierung.
Auf weitgehende Zustimmung stieß die Anregung, Entscheidungen jeweils möglichst nah am
konkreten Fall, unter Einbeziehung der Betroffenen, zu treffen. Für alle (Ärzte, Patienten und
Angehörige) sei es hierbei hilfreich, sich klar zu machen, daß die medizinischen Ziele „Heilen Bessern - Lindern“ im Sinne ihrer tatsächlichen Erreichbarkeit besser in der umgekehrten
Reihenfolge formuliert werden müßten: Lindern sei fast immer, Bessern selten und Heilen fast
nie möglich. Diese realistischere Formulierung der Ziele schütze den Arzt vor unrealistischen
Erwartungen der Patienten und Angehörigen und verhelfe ihm auch selbst zu einer
differenzierteren Sichtweise seines Tuns.
Einhellig war die Meinung, die Medizin sei eine „Beziehungswissenschaft“. Als solche sei
sie keine Disziplin, in der allein naturwissenschaftliche Kenntnisse anzuwenden seien.
Maßgeblich sei vielmehr die Beziehung zwischen Arzt und Patienten, für die aber in der
täglichen Praxis häufig zu wenig Zeit bleibe. Menschliche Parameter seien jedoch für eine
therapeutische Entscheidung wesentlich. Im Idealfall sollte der Arzt nur gemeinsam mit einem
über das Nutzen/Risiko-Verhältnis einer Behandlung voll aufgeklärten Patienten entscheiden.
Dabei sei eine ganzheitliche Sichtweise wichtig. Der Patient dürfe nicht auf sein physisches
Problem reduziert werden, sondern seine psychische Befindlichkeit müsse mit berücksichtigt
werden.
Gerade in der Intensivmedizin ergeben sich aber für den Arzt Probleme, da der Patient oftmals
nicht mehr in der Lage ist, sich an der Entscheidung zu beteiligen. Der Arzt steht dann häufig vor
dem Dilemma, daß es sein Auftrag ist, Leben zu erhalten und dementsprechend Maßnahmen
einzuleiten, die möglicherweise Leben verlängern, aber nicht Leiden vermindern. Damit
widersprechen sie unter Umständen dem Wunsch des Patienten. Wenn dieser Wunsch des
Patienten („mutmaßlicher Wille“!) auch im Gespräch mit Angehörigen nicht klar zu eruieren ist,
sei es eine Frage an das Gewissen und die Erfahrung des Arztes, wie er entscheide. Letztlich seien
solche Entscheidungen eine Frage des Menschenbildes, das der Arzt habe. Doch gebe es im
Medizinstudium derzeit keinen oder viel zu wenig Raum für die Auseinandersetzung mit Fragen
des Menschenbildes und der Ethik im allgemeinen.
Dietmar Mieth, Leiter des Zentrums für Ethik in den Wissenschaften an der Universität
Tübingen, unternahm den Versuch, verschiedene Menschenbilder nach Kategorien zu ordnen.
Dabei unterschied er zwischen integrativen, symbolisierenden, differenzierenden und ethischreligiösen Menschenbildern. Integrative Menschenbilder betonen ein Gemeinsames im
Wesenskern des Menschen. Dies kann objektivistisch gedacht sein, z.B. im Sinne eines
teleologisch verstandenen Naturrechts oder auch im Sinne der biologischen Natur. Hierher gehört
u.a. das naturwissenschaftliche Menschenbild, das den Menschen anhand objektivierbarer
Parameter zu beschreiben versucht. Viele Fragen des menschlichen Lebens seien jedoch nicht
objektivierbar; so scheitere die Naturwissenschaft bereits daran, genau zu definieren, wann
menschliches Leben beginne, ob mit der Verschmelzung der Keimzellen oder erst mit der
Einnistung des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut. Ein zweites integratives Menschenbild
baut auf der formalen Würde des Menschen im Kant’schen Sinne auf. Auch hier sind jedoch
ethische Fragen keineswegs eindeutig geklärt, da in vielen Situationen umstritten ist, auf wen
diese Würde anzuwenden ist, und da manchmal auch Würde gegen Würde steht. So betonten
z.B. die anwesenden Ärzte, daß in ihrer täglichen Arbeit mitunter ihr eigenes
Selbstbestimmungsrecht und ihre Würde mit den Erwartungen der Patienten und Angehörigen
und deren Vorstellungen von Würde nicht in Einklang zu bringen seien.
Symbolisierende Menschenbilder bauen laut Mieths Schema auf der Verhaltenssteuerung des
Menschen durch Bilder auf. So sind Entscheidungen und Handlungen des Arztes
beispielsweise einerseits von seinem Selbstbild abhängig, aber auch das Bild vom anderen
entscheidet über das ihm gegenüber gezeigte Verhalten. Wird der Embryo im Reagenz-glas etwa
als himbeerartiger Zellhaufen betrachtet, wird mit ihm anders verfahren, als wenn man darüber
staunt, daß das gesamte menschliche Potential bereits bei ihm vorhanden ist. Differenzierende
Menschenbilder stellen auf die Differenz zwischen den Men-schen ab, z.B. auf die der
Geschlechter, auf interkulturelle Unterschiede usw. Ethisch-religiöse Menschenbilder schließlich
legen nach Mieths Zuordnung Wert auf die moralische und religiöse Identität heute. Im
Unterschied zu teleologisch verstandenen Identitätskonzepten ist dabei der Gedanke wichtig, daß
sich Identität in Beziehung konstituiert. So wird z.B. bei einer Geburt nicht nur das Kind neu
geboren, sondern auch die Mutter, nämlich in ihrer Eigenschaft als Mutter. Von diesem
Menschenbild führt ein direkter Weg zum Konzept einer Beziehungsmedizin, das sich als ein
„roter Faden“ durch die gesamte Diskussion des Werkstattgesprächs zog.
Dieser Überblick über mögliche Kategorien von Menschenbildern wurde intensiv diskutiert.
Dabei herrschte allerdings die Meinung vor, daß die theoretische Beschäftigung mit
unterschiedlichen Menschenbildern nur schwer in konkrete Entscheidungen in der täglichen
Praxis umzusetzen sei. Auch seien Menschenbilder in der Regel eher „mosaikhaft“. Damit aber
führt die allgemeinere Frage nach gemeinsamen „anthropologischen Grundwerten“, die eine
„menschlichere Medizin“ ermöglichen, vielleicht weiter als die nach einem konkreten
gemeinsamen Menschenbild.
Die Medizinethik, die sich ja mit Fragen einer menschlicheren Medizin beschäftigt, sei
hierzulande noch nicht ausreichend institutionalisiert, so wurde festgestellt. Es seien jedoch
Bestrebungen zu verzeichnen, Medizinethik als Lehrfach in das Medizinstudium zu integrieren.
Hierbei gehe es weniger darum, ein allgemein gültiges, in der Praxis anwendbares Menschenbild
zu formulieren. Lernziele müßten vielmehr eine Sensibilisierung für die Probleme, eine
Orientierung über Werte und Normen in ihrer Pluralität, das Relativieren der eigenen Meinung,
die Fähigkeit zu argumentieren, ein bewußteres Vorbereiten von Entscheidungen und
Handlungen sowie Dialogbereitschaft sein. Wichtig sei auch die Erkenntnis, daß der persönliche
Lebenszusammenhang über Werte und Normen entscheide, denn diese seien nicht objektiv
vorgegeben. Die im Gesundheitswesen Tätigen bringen ihre persönliche Grundhaltung zu Leben,
Leiden und Sterben in die Beschreibung eines ethischen Problems meist unbewußt mit ein. Es ist
deshalb notwendig, sich dieser Grundhaltung bewußt zu werden. Dies ist gerade dann
unverzichtbar, wenn in komplizierten Problemsituationen einzelne menschliche Belange und
Werte miteinander konkurrieren und eine Entscheidung möglicherweise nur für das geringere
Übel getroffen werden kann.
Konkret verdeutlicht wurde eine solche Problemsituation am Beispiel eines jungen Patienten mit
chronischer Leukämie, der bei herkömmlicher Therapie eine mittlere Lebenserwartung von fünf
bis acht Jahren habe. Hier stehe man oft vor der Entscheidung, ob
man eine Knochenmarktransplantation wagen solle, die eine 20prozentige Mortalitätsrate, aber
auch eine 50prozentige Heilungschance böte, wobei allerdings Spätfolgen nicht auszuschließen
seien. Die Entscheidung für eine solche Therapie verstoße folglich mit recht großer
Wahrscheinlichkeit gegen das ärztliche Gebot des Nicht-Schadens. In der konkreten Praxis spiele
bei solch weitreichenden Therapieentscheidungen die Erfahrung des Arztes in bezug auf die
Prognose des jeweiligen Patienten faktisch oft eine größere Rolle als ethische Grundsätze.
Dagegen stand die These, daß gerade für solch schwierige Einzelentscheidungen andere als nur
ärztliche Instrumente nötig seien, die durch eine gezielte Einbeziehung von Medizinethik
vermittelt werden könnten. So tauchten oft gerade in der Intensivmedizin scheinbar unlösbare
Probleme auf, bei denen Prinzipien wie Patientenautonomie und die Verpflichtung des Arztes,
Leben zu sichern, kollidieren. Häufig könnten solche Probleme jedoch „umformuliert“ und damit
lösbar gemacht werden. Insbesondere auch bei sich offenbar widersprechenden Ansprüchen der
Angehörigen und des Arztes könne eine Beratung durch neutrale Dritte oft zu einer
Problemlösung führen. Die Funktion des Beraters bei der Umformulierung des Problems mache
aber die ethische Ausbildung der Ärzte mit den bereits genannten Lerninhalten nicht überflüssig,
da in der Akut-Medizin Entscheidungen meist sehr rasch getroffen werden müssen. Externe
Beratung in ethischen Entscheidungen könne jedoch bei längerfristigen Behandlungen
außerordentlich hilfreich sein, da sie neue Perspektiven zur Problemlösung beitragen könne. In
Deutschland gebe es aufgrund der geringen Institutionalisierung der Medizinethik jedoch noch zu
wenige Stellen, die entsprechende Kompetenz hätten.
Die ethische Reflexion sollte kontinuierlich in die tägliche Arbeit einbezogen werden. Als
positives Beispiel wurde die Art und Weise genannt, in der die Bundesärztekammer ihren
Richtlinienentwurf zur ärztlichen Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung
zunächst einmal in der Öffentlichkeit zur Diskussion stellt. Die Beteiligung der Öffentlichkeit an
der Formulierung solcher Handlungsrichtlinien sei wünschenswert, da Medizin als
Beziehungswissenschaft nur dialogisch funktioniere, also mit dem Verständnis und dem
Einverständnis der Patienten.
Am Ende des Werkstattgesprächs herrschte Übereinstimmung darüber, daß die Auseinandersetzung mit ethischen Aspekten des ärztlichen Tuns und dem dahinterstehenden
Menschenbild in unserer heutigen Zeit wohl notwendiger denn je sei. Gegen Tendenzen zur
Reduktion auf eine rein naturwissenschaftliche Sicht des Menschen müsse die Medizin eine
Beziehungswissenschaft bleiben (oder wieder werden), die ihr Augenmerk verstärkt auf den
„Umgang des Menschen mit dem Menschen“ richtet. Wichtig sei dabei auch die Untersuchung
der psychologischen Grundlagen moralischen Handelns. Beispielsweise sei aus den Erfahrungen
der NS-Medizin deutlich geworden, daß es Bedingungen gebe, unter denen das Verhältnis von
Wissen und Gewissen nicht zu funktionieren scheine. Folglich sei es auch notwendig,
Bedingungen im Medizinbetrieb, die unethisches Verhalten fördern, abzubauen. Vor allem aber gelte es, eine primär an der zwischenmenschlichen Beziehung orientierte Grundhaltung zu bewahren oder wieder zu gewinnen.
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