Evangelische Sozialethik und Präimplantationsdiagnostik Eine Nachlese zum Besuch Papst Benedikt XVI. in Deutschland im September 2011 Michael Nüchtern zum Gedächtnis Reiner Marquard, Freiburg Der Deutsche Bundestag hat am 7. Juli 2011 das „Gesetz zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsgesetz - PräimpG)“ fraktionsübergreifend und mit deutlicher Mehrheit beschlossen. Gegen ein Verbot, bzw. eine äußerst eingrenzende Zulassung setzte sich die Position einer geregelten Zulassung durch. Im Vorfeld wurde nicht nur kontrovers, sondern geradezu aggressiv debattiert. Der Kölner Erzbischof Kardinal Meisner verstieg sich zu einem Vergleich der PID mit dem Kindermord von Bethlehem (Mt 2, 16-18). Genau wie PID-Befürwortende es beabsichtigten, habe der König Herodes eine Selektion vorgenommen1. Für jeden Christenmenschen und Theologen ist die Latte damit hoch gelegt. Selektion bedeutet aktivische Auswahl und demzufolge Abwahl von etwas, das nicht einer selbstgesetzten Norm entspricht. In Deutschland steht diese Debatte unter einer schweren Hypothek. Im Reichsgesetzblatt 86/1933 erschien am 25. Juli 1933 ein Gesetzestext zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Selektionsvorstellungen jedoch hat der Deutsche Ethikrat mehrheitlich in seiner Stellungnahme ausdrücklich zurückgewiesen2. Der Vorwurf an die PID operiert unzulässig mit einem eugenischen Selektionsbegriff, der auf die unmenschliche Unterscheidung von 'lebenswert' und 'lebensunwert' im Nationalsozialismus abhebt. Die Auswahlentscheidung basiert jedoch nach den Vorstellungen der Mehrheitsentscheidung des Deutschen Ethikrates nicht aufgrund eines eugenischen Referenzrahmens, sondern im Rahmen eines geradezu dilemmatischen Konflikts, den die Eltern in Abwägung der konfligierenden Güter zu treffen haben. Auch das sog. SKIP-Argument3 (Spezies - Kontinuität - Identität - Potentialität) definiert nicht kategorisch die Schutzwürdigkeit des Embryos, sondern bestimmt das respektvolle Niveau der Debatte im Umgang mit Embryonen. Ebenso wenig überzeugt der Vorwurf, eine begrenzte Zulassung der PID befördere Diskriminierung von Behinderung. Sofern der Staat es gestattet, dass Eltern in einer für sie hervorgehobenen Konfliktsituation eine Gewissensentscheidung treffen, kann aus dieser Gestattung kein staatliche Billigung oder Förderung von Diskriminierung abgeleitet werden. So wenig Behinderung einem Menschen zum Vorwurf gemacht werden darf, so wenig darf man verlangen, dass man Behinderung wollen muss4. „PID ähnelt Kindermord von Bethlehem“ – In: F.A.Z. Nr. 303 vom 29. Dezember 2010, S.1. Deutscher Ethikrat: Präimplantationsdiagnostik. Stellungnahme, Berlin 2011, 60-66. 3 Vgl. Deutscher Ethikrat: Präimplantationsdiagnostik, 41-43; Bettina Schöne-Seifert: Grundlagen der Medizinethik, Stuttgart 2007, 157-163. 4 Vgl. Eberhard Jüngel: Beziehungsreich. Perspektiven des Glaubens, Stuttgart 2002, 84. 1 2 2 Naturrecht als das wahre Recht? Vor dem Deutschen Bundestag griff Papst Benedikt XVI. am 22. September 2011 die Entscheidung zur gesetzlichen Regelung der PID indirekt5 auf: „Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen.“6 Was meinte Benedikt XVI., als er daraufhin zwischen „wahrem Recht“ und „Scheinrecht“ unterschied? „Nimm das Recht weg - was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“ - zitierte er Augustinus. Die Voraussetzung, es gäbe eine grundlegende Rechtskonstitution, die aus sich heraus konsistent positives Recht setzt und demzufolge eine entsprechende Moral erwarten darf, hat sich zumindest als Instrument kirchlicher (d.h. römisch-katholischer) Evidenz scheinbar überlebt. „Der Gedanke des Naturrechts - so muss auch Papst Benedikt in seiner Rede vor dem Bundestag enttäuscht feststellen - gilt heute als eine katholische Sonderlehre“7 (dass der Naturrechtsgedanke bereits 1948 durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte den traditionellen Naturrechtsgedanken kirchlicher Provenienz beerbt hatte, hätte nachdenklich stimmen müssen). Der Gedanke des Naturrechts ordnet allen menschlichen Rechtsetzungen „ein dem Menschen von Gott durch die Schöpfung und Offenbarung verbindlich vorgegebenes, präpositives Recht“8 (das sog. Ius divinum) als höherrangig vor9. In der Enzyklika „Evangelium vitae“ (25. März 1995) wendet sich Johannes Paul II. (1920-2005) gegen alle Formen gesellschaftlich sanktionierter Vergehen gegen das Leben. Es wird die Lehre vertreten, „dass die direkte, sei es als Ziel oder als Mittel beabsichtigte Abtreibung immer eine schwere Störung der sittlichen Ordnung darstellt, da sie ja die überlegte Tötung eines unschuldigen Menschen ist. Diese Lehre stützt sich auf das Naturgesetz und auf das geschriebene Wort Gottes. … Keine Bedingung, kein Zweck, kein Gesetz auf Erden kann daher jemals einen Akt erlaubt machen, der seiner Natur nach nicht erlaubt ist, weil er dem Gesetz Gottes widerspricht, das ins Herz jedes Menschen eingemeißelt ist (…).“10 Natur und Sitte bilden im Naturrechtsgedanken eine unauflösliche Einheit, wobei das Naturgesetz das Sittengesetz kategorisch bestimmt. „Das natürliche Gesetz ist … der Inbegriff der natürlichen Sittlich5 Direkt nahm er Bezug auf die PID während der Begegnung mit den Vertretern der EKD in Erfurt am 23. September 2011 (vgl. F.A.Z. Nr. 223 vom 24. September 2011, S. 3): „Demgegenüber müssen wir als Christen die unantastbare Würde des Menschen verteidigen, von der Empfängnis bis zum Tod – in den Fragen von PID bis zur Sterbehilfe.“ 6 Hier und folgend s. Papst Benedikt XVI.: Die Ökologie des Menschen. – In: F.A.Z. Nr. 222 vom 23. September 2011, S. 8. 7 Benedikt XVI.: Die Ökologie des Menschen, ebd. 8 Norbert Witsch: Art. Ius divinum, II. – In: Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, Band 2 (hrsg. v. Axel Freiherr von Campenhausen, Ilona Riedel-Spangenberger, Reinhold Sebott SJ), Paderborn/München 2002, (329-331) 330. 9 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, München 2006, 27. 10 Heinrich Denzinger: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, in deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping hrsg. von Peter Hünermann, Freiburg/Basel/Wien 402005, 4992. 3 keit.“11 Die im Naturgesetz begründeten Gebote des natürlichen Gesetzes entsprechen dem Trieb zur Selbsterhaltung und sind deshalb auf Grund ihrer Vernunftnatur „durch das natürliche Licht der Vernunft erkennbar“12. Gesetze, die diesem Naturgesetz nicht entsprechen, „sind also von Grund auf unvereinbar nicht nur mit dem Wohl der einzelnen, sondern auch dem Gemeinwohl und entbehren daher einen wahren rechtlichen Gültigkeit.“13 In der Argumentationskultur ist jedoch zu beobachten, dass der Naturrechtsgedanke in der PID-Debatte längst nicht mehr lupenrein vorgetragen wird, sondern jeweils in 'gemischten' Argumentationen verwoben ist mit medizinisch-naturwissenschaftlichen (SKIP-Argumentation) oder sozialethischen (Selektionsvorstellungen, Diskriminierungstendenzen) Aspekten. Theologisch- oder philosophisch-normative Rechtsmodelle sind im Gefolge der Aufklärung in Europa nicht mehr ohne weiteres vermittelbar. Die klassische Dyade 'Staat-Kirche' ist (post-)modern in ein triadisches Verhältnis von Staat-KircheGesellschaft überführt worden14. Normative Festlegungen über das, was ethisch gelten soll, müssen heute ausgehandelt werden in einer Pluralität womöglich konkurrierender Ethiken vor dem Forum einer offenen Gesellschaft. Inwieweit es überhaupt eine gemeinsame Substanz festgestellt werden kann, muss auf der Basis des Grundgesetzes jeweils zu den in Geltung stehenden Gewohnheiten formuliert werden können. Die Rede des Papstes erweckte den Eindruck, dass eine solche ethische Standortbestimmung einer „Amputation unserer Kultur“15 gleichkommen müsse. Das, was Menschenwürde ist, entfaltet sich nicht praepositiv, sondern von den ethischen Problemständen her. Dietrich Bonhoeffer gewinnt dieser scheinbar mangelhaften Zuschreibung einen christologischen Mehrwert ab: „Mag in dem, was den Tatsachen vorausgeht, noch so viel menschliches Versagen, Sichverrechnen und Schuld liegen, in den Tatsachen selbst ist Gott.“16 Was der Menschenwürde zugeschrieben wird, muss in der Substanz gegenüber Instrumentalisierungsversuchen widerstandsfähig sein: Was muss abwehrt, ausgeschlossen und verhindert werden, weil es die Würde menschlichen Lebens beschädigen würde?! Dietrich Bonhoeffer nähert sich beispielsweise in seiner „Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943“ in diesem Zusammenhang dem Phänomen der Zivilcourage. „Sie beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht.“17 1933 hatte Bonhoeffer bereits angedeutet, was das im Falle eines hemmungslos versagenden Staates bedeuten kann, nämlich „nicht nur die Opfer unter dem 11 Ernst Wolf: Zur Frage des Naturrechts bei Thomas von Aquin und bei Luther. – In: ders.: Peregrinatio. Studien zur reformatorischen Theologie und zum Kirchenproblem, München 1954, (183-213), 187. 12 Hans Meyer: Thomas von Aquin (1938), Paderborn 21961, 522. 13 Denzinger: Kompendium, 4995. 14 Wolfgang Huber: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1999, 269. 15 Benedikt XVI.: Die Ökologie des Menschen. 16 Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Neuausgabe, München 1970, 214. 17 A.a.O., 15. 4 Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“18 (Bonhoeffer 1965, 48). Bonhoeffers Verständnis von Zivilcourage berührt sich eng mit dem neutestamentlichen Begriff der parrhesia (Freimut). In der griechischen Polis gab die parrhesia dem demokratischen Recht der freien Rede in der Vollversammlung eine moralische Signatur, die sich dieses Recht auch gegen Widerstände erstritt. Der Parrhesiast rückte die Dinge zurecht19. Evangelische Ethik und der magnus consensus Evangelische Sozialethik20 partizipiert innerhalb der „pluralen Struktur des kirchlichen Lehramtes“ am gemeinsamen „Prozess der Konsensbildung“21. Der sog. ‚magnus consensus’ entsteht „im geduldigen Dialog mit den Brüdern und Schwestern, im ständigen Hören auf die Schrift und die Bekenntnisse und im Vertrauen auf den Beistand des heiligen Geistes, der uns in alle Wahrheit führen will (Joh 16,13)“22. Wer sind diese Brüder und Schwestern? Martin Luther behauptete nicht weniger, als dass jeder Christenmensch selbst sprachfähig sein muss gegenüber dem, was das eigene Leben begründet und befördert. Was bedeutet das für die evangelische Sozialethik? Es gehört zum unverrückbaren Gut reformatorischer Erkenntnis, dass Meinungsverschiedenheiten nicht durch einen formalen Rekurs auf ein Lehramt behoben werden können23. Es geht um Identität und Verständigung. Wo diese reformatorische Erkenntnis abhanden kommt, verliert evangelische Sozialethik ihre eigentümliche Aufgabenzuweisung und wird verdunsten24. Die evangelische Theologie hat auf die Karte des Naturrechts nie wirklich ge- 18 Bonhoeffer, Dietrich Bonhoeffer: Die Kirche vor der Judenfrage (1933). – In: Dietrich Bonhoeffer: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Eberhard Bethge. Zweiter Band, München 21965, (44-53) 48. Bonhoeffer 1965, 48 19 Vgl. dazu Michel Foucault: „Die Regierung des Selbst und der anderen“. Vorlesung am Collége de France 1982/83. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder, Frankfurt am Main 2009. 20 Vgl. zum folgenden Reiner Marquard: Ethik in der Medizin. Eine Einführung in die evangelische Sozialethik, Stuttgart 2007, 28-38. 21 Was gilt in der Kirche? Die Verantwortung für die Verkündigung und verbindliche Lehre in der Evangelischen Kirche. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz, Neukirchen-Vluyn 1985, 62. 22 A.a.O.,63. 23 Am 23. Januar 2002 veröffentlichte die FAZ eine Stellungnahme namhafter evangelischer Sozialethiker zur Debatte um die Embryonen- und Stammzellenforschung: „Eindeutigkeit oder gar Einstimmigkeit hat die protestantische Tradition nur selten verlangt, nämlich in den Grundfragen des Glaubens, mit denen die Kirche steht oder fällt. … Aus evangelischer Sicht sind unterschiedliche Antworten auf die derzeit diskutierten Fragen (Embryonen- und Stammzellenforschung R.M.) vorstellbar, die von restriktiven bis zu offeneren Positionen reichen. Wie immer man sich entscheiden möchte: Die Tradition der evangelischen Ethik erinnert uns daran, dass wir in jedem Falle Verantwortung zu übernehmen haben. … Eine evangelische Position steht unabhängig von ihrer Stellung zum konkreten Problem vor der Aufgabe, nicht im leicht generalisierbaren Misstrauen gegenüber dem Neuen zu verharren, sondern sich am Aufbau einer Kultur zu beteiligen, die zwar mit Missbrauch rechnet, aber nicht in der Furcht davor erstarrt“ [Reiner Anselm und Ulrich H.J. Körtner (Hg.): Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen 2003, 197.207f.]. 24 „Evangelisches Ethos und evangelische Ethik werden dann von den unterschiedlich wirkenden Autoritätsmechanismen entweder des katholischen Milieus oder des säkularen Zeitgeistes absorbiert“ [Eilert Herms: Art. Theologie und Ethik (protest. Sicht). – In: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal, Micha H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, (508-513) 512]. 5 setzt. Die Fehlstellungen evangelischer Theologie im Nationalsozialismus wurden in der Barmer Theologischen Erklärung von 1935 mit einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber einer positiven Verhältnisbestimmung von Natur und Gnade beantwortet25. In der Tradition der evangelischen Theologie dominiert deshalb in der heutigen Debatte nicht das schöpfungstheologisch argumentierende Naturrecht, sondern eine christologisch orientierte Anthroporelationalität. In einer Erklärung zur PID hatte sich auch der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) am 15. Februar 2011 weiterhin für ein Verbot der PID ausgesprochen26. Wiewohl sich der Rat gegen eine gesetzliche Zulassung der PID aussprach, sei zu bedenken, ob eine Zulassung der PID mit dem Ziel, lebensfähige Embryonen zu identifizieren, verantwortbar sei. Einige Mitglieder des Rats hielten eine solche Zulassung für ethisch vertretbar. Selbst diese Position einer äußert strengen Regelung der PID war nicht mehrheitsfähig. Die EKD-Stellungnahme spricht auf hohem Niveau über den Wert des Lebens mit Behinderung und stellt fest, „dass Kinder mit und ohne Behinderung willkommen sind“, ohne sich wirklich der Verzweiflung zuzuwenden, die Eltern doch auch empfinden, wenn sie ihr behindertes Kind willkommen heißen. Aus diesem Grund kann man nicht uneingeschränkt glücklich sein über die Stellungnahme des Rates der EKD vom 15. 2. 2011, indem man einerseits das Dilemma zuerkennt, dass ein Verbot der PID Betroffenen „nicht oder kaum Erträgliches zumuten kann“, andererseits aber für ein Verbot der PID plädiert. Es fällt den Kirchen offensichtlich schwer, im fundamentalen Konflikt einer Wertekollision eine theologische Grammatik zu pflegten, die sich auch und gerade dadurch erschließt, als man sich den Nöten und Hoffnungen Betroffener zuwendet. Im Jakobusbrief (2,15f) heißt es: Wenn ein Bruder oder eine Schwester Mangel hätte an Kleidung und an täglicher Nahrung und jemand unter euch spräche: Geht hin in Frieden, wärmt euch und sättigt euch!, ihr gäbt ihnen aber nicht, was der Leib nötig hat - was könnte ihnen das helfen? Was dem Leib billig ist, ist der Seele recht. Im Aufnehmen und Verstehen von Hoffnungen und Ängsten kann man nicht einfach bei seiner Grammatik bleiben, als wäre nichts geschehen, sondern man wird berührt und lässt sich anleiten zu einem tieferen Verstehen dessen, was sich geistlich daraufhin als Aufgabe stellt. Im Grunde geht es genau um das, was Benedikt XVI. in Anspielung auf den jungen Salomon das „hörende Herz“27 (1 Kön 3,9) genannt hat. Das „hörende Herz“ der Kirche schlägt eben auch und gerade für jene, denen das Leben mitunter herzlos vorkommt und die sich danach sehnen, begleitet und verstanden zu werden. Das „hörende Herz“ setzt ein relationales Verständnis von Gott voraus und konstituiert den Menschen selbst als ein Wesen, das immer schon in Beziehung lebt. Dass Gott ist und sich Vgl. Reiner Marquard: Karl Barth (1886-1968). – In: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim (MdKI) 3/2009, 47-54. 26 Hier und folgend: Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Stellungnahme des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Präimplantationsdiagnostik (PID), Hannover 15. Februar 2011 (www.ekd.de). 27 Benedikt XVI: Die Ökologie des Menschen, ebd. 25 6 der Mensch als existent erfährt, setzt für Gott wie für den Menschen voraus, dass Gott sich selbst als beziehungsreicher Gott dem Menschen erschließt. Das ist das Geheimnis der Trinität. Gott ist kein Deus solitarius, sondern ein Deus triunus, „ein Gott in Beziehung“28. Der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff hat sich in diesem Sinne komplementär der evangelischen Ethik zugewandt: „Der Substanzgedanke lässt sich innerhalb einer theologischen Anthropologie nicht als Gegensatz zu einer relationalen Denkform begreifen; er kann innerhalb dieser jedoch die Funktion übernehmen, den schöpferischen Charakter der Anrede Gottes an den Menschen zu unterstreichen.“29 Im Umkehrschluss kann gelten, dass sich der Gedanke der Anthroporelationalität nicht als Gegensatz zum Substanzgedanken begreifen lassen muss. Der Substanz-Gedanke vergewissert sozialethisch, dass die Würde das Seins absolut im Deus triunus begründet ist und daraufhin fundamental durch Beziehung konstituiert ist. Der Lebensschutz-Gedanke in einer anthroporelationalen Ethik könnte bei der Preisgabe einer substanzontologischen Betrachtung überhaupt nicht durchgehalten werden30. Beide Perspektiven müssen sich jedoch Aporien eingestehen, in die sie so oder so geraten. Wer Eltern untersagen möchte, eine Behinderung für das erwartete Kind ausschließen zu wollen, legt ihnen und dem Kind eine schier untragbare Last auf; und wer es den Eltern nicht untersagen möchte, eine Schwangerschaft abbrechen oder einen Embryo detektieren zu lassen, ist belastet mit einem irreversiblen Eingriff in menschliches Leben. Michael Nüchtern hatte früh darauf aufmerksam gemacht, „dass wir nicht mehr im Stande vollkommener Unschuld Regelungen finden können“31. Die Sehnsucht nach Vereinfachungen beschädigt die Nähe zu den Betroffenen. „Was der Debatte Not tut, ist Zurückhaltung gegenüber übersteigerten Ängsten und Heilsversprechen.“32 „Die Evangelischen Kirche - so hat Michael Nüchtern resümierend gesagt - ist nicht der Ort für Absolutheitsansprüche und Unfehlbarkeit, sondern wo Fragen gestellt werden, damit bessere, weniger einschneidende Möglichkeiten gefunden werden.“33 Es geht praktisch und notvoll um die Frage, ob eine PID einer Schwangerschaft auf Probe vorgezogen werden kann, ohne dass der Embryo moralisch zu einem ‚Zellklumpen’ herabwürdigt wird. Es geht im Dilemma auch und gerade um 28 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, Zürich 31969, 128. Eberhard Schockenhoff: Der Anspruch des Wortes Gottes und das Recht zum eigenen Standpunkt. Der Weg der protestantischen Ethik aus der Sicht katholischer Theologie. – In: ZEE (55-66), 62. 30 So hat das englische Unterhaus im Mai 2008 beschlossen, die Kultivierung von Embryohybriden zuzulassen; ebenso hat sich das Unterhaus dafür ausgesprochen, dass sog. ‚Rettungsgeschwister’ durch künstliche Befruchtung gezeugt werden können, deren Gewebeeigenschaften mit denen der kranken Geschwister kompatibel sind. Sie können dann durch ihre genetisch abgestimmte Disposition als Organspender für die Schwester oder den Bruder fungieren30. Durch den Verzicht auf die substanzontologische Perspektive wird das Leben der sog. ‚Rettungsgeschwister’ individualethisch unterlaufen und utilitaristisch instrumentalisiert. 31 Michael Nüchtern: Präimplantationsdiagnostik; Stammzellforschung und die Herausforderung der Ethik. – In: Badische Pfarrvereinsblätter 11/12, November 2001, (245-252) 247. 32 A.a.O., 251. 33 A.a.O., 252. 29 7 eine Entscheidung eines geschärften Gewissens34. PID im Wertungswiderstreit „In aller Deutlichkeit hat … der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 6. Juli 2010 betont, dass ein Verbot der PID einen erheblichen Wertungswiderspruch zum gelten Recht des Schwangerschaftsabbruchs darstellt.“35 Was im einen Fall einer rechtlichen Regelung zugeführt worden war, kann im anderen Fall nicht gänzlich Unrecht sein, wobei im Falle einer PID erschwerend hinzukommt, dass das Ziel des Eingriffs nicht die Verhinderung, sondern die Ermöglichung einer Schwangerschaft ist: einer potentiellen Mutter soll verholfen werden, eine unzumutbare und schwerwiegende Gefahr für ihre seelische Gesundheit abzuwenden mit der Option auf die Geburt eines Kindes. Der Kinderwunsch der Eltern im Sinne des Art. 6 GG impliziert die Reproduktionsfreiheit als Abwehr gegen staatliche Bevormundung wie das Recht, ein eigenes Kind zu empfangen. Unstrittig ist, dass das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit der potentiellen Mutter (Art. 2 GG) zum Lebensrecht des Embryos in einer moralisch unauflöslich dilemmatischen Spannung steht. Es ist unstrittig, dass in diesem Konflikt die Entscheidung gegen den genetisch mit einem Defekt belasteten Embryo in der Folge eine unbedingte Akzeptanz von Menschen mit Beeinträchtigungen aufbrechen kann und die Solidarität ihnen gegenüber nur noch hypothetisch gelebt werden könnte: Unterstützung in der Beeinträchtigung würde in diesem Fall erst dann greifen, wenn die Implantation eines Embryos wider Erwarten nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat und ein genetisch belastetes Kind geboren worden wäre. Ein Verstoß gegen grundgesetzlich garantierte Schutzbestimmungen ist dies gleichwohl nicht. Der Embryo ist verfassungsnormativ nicht Träger fundamentaler Grundrechte, so dass das GG kein kategorisches Verbot der PID erzwingt. Grundrechtsgarantien sind Garantien gegenüber Individuen. Der Embryo ist aber zum Zeitpunkt der PID kein Individuum, sondern ein Dividuum. Deshalb hat die Rechtsprechung von 1975 und 1993 auch den Gebrauch nidationshemmender Mittel unbeanstandet gelassen36. Rechtlich hat sich vielmehr die Problematik der PID auf die Frage reduziert, ob bei künstlicher Befruchtung verboten sein soll, was bei einem natürlichen Zeugungsvorgang erlaubt ist! Darf dem Embryo in vitro ein höherer Schutz zukommen als dem Embryo in vivo? Entsprechen sich 'Zeugung auf ProEbd. Deutscher Ethikrat: Präimplantationsdiagnostik, 88. Vgl. zum BGH-Urteil Reiner Marquard: Zwischen Realismus der Barmherzigkeit und gesellschaftlicher Entsolidarisierung. Präimplantationsdiagnostik im Dilemma. – In: Deutsches Pfarrerblatt 12/2010, 635-640. 36 Darüber hinaus müsste die Erkenntnis, dass auch bei natürlichen Zeugungsvorgängen über 60% der Embryonen die bergende Uteruswand nie erreichen, bzw. verloren gehen, zur Forderungen führen, dass staatlicherseits alle medizinischen etc. Anstrengungen unternommen werden müssten, um der im wahrsten Sinne verschwenderischen Natur eben gerade nicht ihren Lauf zu lassen. Denn jeder Embryo, der demzufolge stirbt, wäre konsequenterweise ihrer Definition und einem Diktum von Richard Schröder zufolge ein Mensch, der nicht geboren worden wäre. 34 35 8 be' und 'Schwangerschaft auf Probe', so dass die Debatte um die PID recht eigentlich im Rahmen des § 218a Abs. 2 StBG geführt zu werden verdient? Eine solche Analogisierung hätte zur Folge, dass die gesetzlichen Vorschriften zum Schwangerschaftsabbruch für alle Embryonen nicht bis zur Nidation gelten (§ 218 Abs. 1 Satz 2 StGB). Die Debatte um die PID muss deshalb wieder auf die zentrale Frage zurückgeführt werden, welchen moralischen Status der Embryo hat. Die Antwort siedelt das GG zwischen ontologischer Zuschreibung und anthroporelationaler Verantwortung an. Mündet der Versuch eines Ausgleichs im Wertungswiderspruch im Ergebnis nicht in einem ethischen Minimum? Das Konzept vom ethischen Minimum ist kein Konzept des ethischen Nullum. Was das GG in weiser Vorausschau quantitativ an Aussagen über die Menschenwürde vermissen lässt, holt es qualitativ ein durch die Festschreibung von Standards, die sich aus der antiken Stoa, dem Juden- und Christentum, der Renaissance und der Aufklärung wie der Weimarer Republik und den Widerfahrnissen des Holocaust herleiten lassen. Das ethische Minimum wird sich effektiv darin zu erweisen haben, dass aus der Pluralität im Meinungswiderstreit bei den unterschiedlichen Seiten „die Einsicht reift, dass jede Position - auch die eigene - nicht zu einer alle befriedigenden und befriedenden Lösung führt“37. Das würde bedeuten, ein ethisch relevantes Gesetz ist dann gut, wenn es alle etwas kostet und allen etwas gibt. Für die Evangelische Theologie liegt deshalb auch kein Anreiz darin, sich als Kirche in die Funktion und Haltung einer Kontrastgesellschaft zu entwickeln. Es liegt aber auch kein Charme darin, die Rolle einer lediglich funktional integrierenden Institution zu wechseln. Zwischen Skylla und Charybdis liegt das weite Feld einer „intermediären Institution“38. Die Kirche bittet im Sinne von 2. Kor 5, 20 die zivilgesellschaftlichen Akteure, einander unter dem für uns gelebten Leben des Gottessohnes wahrzunehmen. „Vielfalt steht nicht im Gegensatz zu Einheit.“39 Dazu muss sie in der Lage sein, die Geschichte dieses Gottes gebührend so erzählen zu können, dass sie noch heute und morgen wie ein bergender Mantel Menschengeschichten umhüllt - und sie muss umgekehrt in der Lage sein, auf Kontexte zu hören, die ihr ein verbessertes Verständnis biblischer Stoffe ermöglichen. Michael Nüchtern nannte diesen Vorgang eine bewusst vollzogene „Säkularisierung“ biblischer Stoffe40. Biblische Stoffe drohen in ihrer Strahlkraft dann zu verkümmern, wenn ihre kulturelle Lebendigkeit lediglich in kirchlicher Überlieferungsgeschichte dosiert und limitiert erscheint. Indem sie auch und gerade als „individuelle und kulturelle Erinnerungen“ präsent sind, haben sie wirkungsgeschichtlich gestaltenden Einfluss „außerhalb des Rainer Wahl: Die Rolle des Verfassungsrechts angesichts von Dissens in der Gesellschaft und in der Rechtspolitik.- In: Giovanni Maio (Hrsg.): Der Status des extrakorporalen Embryos. Perspektiven eines interdisziplinären Zugangs, Stuttgart – Bad Cannstatt, 2007, 551.584. 38 Wolfgang Huber: Kirche in der Zeitenwende, 269. 39 Michael Nüchtern: Kirche in Konkurrenz. Herausforderungen und Chancen der religiösen Landschaft, Stuttgart 1997, 151. 40 Michael Nüchtern: Schöne Verweltlichungen. Biblische Gestalten in der Literatur, Stuttgart 2010, 9 (vgl. dazu auch Reiner Marquard: Vertrauen und Versprechen. Predigten, Leipzig 2011, 9). 37 9 im engeren Sinne religiösen Bereichs“41. In einer solchen hermeneutischen Selbstfestlegung kirchlicher Rede von biblischen Stoffen und kirchlichen Traditionen verbietet sich für die Kirche die „Perspektive des Wächters über den rechten kirchlichen Glauben“42. Vielmehr öffnet sich das, was christlich zu sagen und zu tun ist, dem Dialog (im Sinne des hörenden Herzens [1 Kön 3,9]) mit „kulturellen Eigentheologien“43. Für eine evangelische Sozialethik öffnet sich das weite Feld eines angstfreien und ideologiekritischen Diskurses mit einer pluralistischen Moderne. Beschenkt wird diese Hermeneutik der Verweltlichung mit der Erfahrung, dass „Verweltlichungen … immer auch die Strahlkraft des Heiligen (transportieren)“44. Anlässlich seines Besuches in Deutschland im September 2011 hatte sich Benedikt XVI. am 25. September im Freiburger Konzerthaus ganz und gar gegenläufig geäußert45 und für eine Entweltlichung der Kirche plädiert. Die Kirche findet ihre wahre Nähe zu den Menschen nur, wenn sie in eine tiefe Distanz zu ihnen tritt. Der pontifex maximus erwartet sozusagen, dass man nicht von beiden Seiten die Brücke der Verständigung betritt, sondern dass sie einseitig im Sinne eines Inklusionsmodells von jenen betreten wird, die auf diese Weise heimkehren aus ihrer selbstverschuldeten Verweltlichung in die durch Schrift und Tradition gewollte Entweltlichung. Es kommt also nicht wirklich zu einem Austausch, sondern alle müssen sich dem göttlichen „ungleichen Tausch“ anschließen. „Eine vom Weltlichen entlastete Kirche vermag gerade auch im sozial-karikativen Bereich den Menschen, den Leidenden wie ihren Helfern, die besondere Lebenskraft des christlichen Glaubens zu vermitteln.“ Damit aber wird die Vermittlung für das, was in den biblischen Stoffen der Welt als Heil widerfährt, zur Einbahnstrasse. Das ‚hörende Herz’ (1. Kön 3,9) kann nicht mehr jene wirklich vernehmen, die jenseits des Ufers leben. Die Vorstellung, dass der Stifter der Kirche selbst jenseits des Ufers ist („das mag ein Wechsel sein“ [EG, 27,5]) und Erste zu Letzten und Letzte zu Ersten bestellt sind (Mt 19,30), erscheint unvorstellbar. In diesem Sinne aber übt evangelische Sozialethik ihr Diakonat inmitten von Pluralisierung und Individualisierung aus. Martin Luthers reformatorische Entdeckung der in Gott ruhenden Gewissensfreiheit setzt modern und verweltlicht nicht auf die Entweltlichung einer auf die kirchliche Tradition reduzierten Vermittlung biblischer Stoffe und kirchlicher Gehalte, sondern auf den gewissenhaft für sich selbst bürgenden Menschen. Der Mensch ist jenes Wesen, das in der Selbstbezeugung seines Gewissens zur Verantwortung gerufen ist. Im Gewissen ist der Mensch ganz er selbst und ganz gefragt. Das gilt auch und gerade im ethischen Konfliktfall des Schwangerschaftsabbruchs wie der Präimplantationsdiagnostik. Ebd. A.a.O.,10. 43 A.a.O.,89. 44 A.a.O.,22. 45 Vgl. hier und folgend: Benedikt XVI.: Die Entweltlichung der Kirche. – In: F.A.Z. Nr. 224 vom 26. September 2011, S. 7. 41 42 10