I. Faktoren erweiterter Sicherheit Aufstieg und Niedergang des

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I. Faktoren erweiterter Sicherheit
2. Regionalanalyse
Stephan Rosiny
Aufstieg und Niedergang des Islamischen Staats
Im Frühsommer 2014 stieß die jihadistische Miliz Islamischer Staat im Irak und in Scham
(Großsyrien) (ISIS), aus Syrien kommend, in den Nachbarstaat Irak vor und eroberte
innerhalb weniger Tage große Teile des Landes. Am 29. Juni 2014 rief sie ein Kalifat und
einen Islamischen Staat aus. Die Namensänderung von ISIS hin zu der Islamische Staat
(IS) drückt den universalen Machtanspruch der Organisation aus, von diesem
Territorium aus eine islamische Weltherrschaft zu errichten. (Reader Sicherheitspolitik
Ausgabe 2/2015)
Der militärische Vorstoß des IS auf Bagdad und Erbil, das brutale Vorgehen gegen
religiöse Minderheiten und die Drohung, weitere Staaten anzugreifen, riefen zugleich
umfangreiche Gegenwehr auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene hervor. Ein
internationales Bündnis kam im August 2014 der irakischen Regierung und der
kurdischen Autonomieregierung zu Hilfe. Unter Führung der USA finden seitdem
Luftschläge gegen IS-Ziele im Irak und in Syrien statt. Beide Regierungen erhalten
zudem umfangreiche Waffenlieferungen, auch aus Deutschland.
Das selbsternannte Kalifat hält sich dennoch erstaunlich zäh und hat mit seinem
religiösen Anspruch tausende neue Kämpfer angelockt. Seit Ende 2014 zeigt der IS
allerdings auch Zeichen der Schwäche: bereits eroberte Territorien gehen verloren,
Kämpfer desertieren und Einnahmen etwa aus dem Ölgeschäft nehmen ab. Es ist
deshalb wohl keine Frage des Ob, sondern des Wann der IS seinen Territorialstaat
verlieren wird. Die Gruppierung hat sich mit ihrem brutalen Vorgehen und ihrem
religiösen Alleinvertretungsanspruch mächtige Feinde geschaffen. Der IS kann jedoch
nicht allein mit militärischen Mitteln besiegt werden, und seine Zerschlagung als
Territorialstaat dürfte auch nicht das Ende des Jihadismus als besonders radikale und
gewaltbereite Ideologie bedeuten. Es bedarf vielmehr einer umfassenden Strategie, um
die strukturellen Ursachen der Radikalisierung in der Region zu beseitigen, die
politische Instrumentalisierung des Jihadismus durch verschiedene Regierungen zu
beenden und auch das Umfeld und die Sympathisanten der Jihadisten in
1 Lösungsanstrengungen einzubinden, um zu verhindern, dass sie sonst als Terroristen
weiter morden werden.
Salafismus und Jihadismus: eine begriffliche Klärung
In den Medien werden die Begriffe Salafismus und Jihadismus häufig unklar verwendet,
was auch damit zu tun hat, dass die Grenzen zwischen ihnen fließend sind. Salafismus
im weitesten Sinne bezeichnet islamische Denker und Bewegungen, die den
ursprünglichen Islam Muhammads und seiner frühen Gemeinde (as-Salaf as-Salih, die
aufrechten Altvorderen) zum Vorbild haben. Dies kann, wie im Reformislam des 19.
Jahrhunderts, durchaus fortschrittlich verstanden werden, indem – vergleichbar mit der
Reformation im Christentum – überkommene, abergläubische Vorstellungen und
Praktiken überwunden und etablierte Autoritäten hinterfragt werden. Im engeren
Sinne versteht man unter Salafismus heute jedoch eine fundamentalistische Deutung
des Islam, die eine buchstabengetreue Befolgung der „authentischen“ Regeln des Islam
verlangt, ohne diese zeitgemäß zu deuten. Diese Strömung im zeitgenössischen Islam ist
in der Regel sehr intolerant gegenüber anderen Islam-Interpretationen, die sie für
Abweichungen vom „wahren Islam“ oder sogar für Apostasie (Glaubensabfall) erklären.
Dieser Salafismus stützt sich maßgeblich auf den Theologen Muhammad Ibn Abd alWahhab, der im 18. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel wirkte. Mit Bezugnahme
auf ihn wird die Richtung auch abfällig als Wahhabismus bezeichnet. Seine Lehren
bestimmen seitdem das staatliche Islamverständnis von Saudi-Arabien, genießen aber
auch hohes Ansehen in Katar und einigen anderen Golfmonarchien.
Demonstration von Jesiden
Der Krieg in Syrien und im Irak
strahlt bis nach Deutschland aus.
Jesiden, Eziden, Aleviten und
Kurden haben im August 2014 in
Hannover gegen die
Terrorgruppe Islamischer Staat
(IS), demonstriert.
Foto: Bernd Schwabe/ Wikimedia
Commons Jihadisten sind eine politisch radikalisierte Ausprägung des Salafismus. Sie verstehen
unter Jihad, das wörtlich Anstrengung bedeutet und im Islam sehr unterschiedliche,
auch friedliche Formen annehmen kann, vorwiegend den bewaffneten Kampf im Sinne
2 eines heiligen Kriegs. Dieser kann sich gegen die Besatzung islamischen Territoriums,
gegen unislamische Herrscher oder gegen die Ungläubigen richten. Immer wird der
Gegensatz aber religiös gedeutet und der bewaffnete Kampf als religiöse Pflicht
interpretiert. Jihadisten sehen sich als avantgardistischer Teil eines globalen, ja
kosmischen Kampfes zwischen Gut und Böse, Glauben und Unglauben, der sich heute in
seiner entscheidenden Phase befinde. Salafisten des Mainstream sind zurückhaltender
in ihrer Zeitdiagnose eines unmittelbar bevorstehenden Zeitenendes, gemäßigter in
ihren Methoden und graduell toleranter Andersgläubigen gegenüber. Salafisten und
Jihadisten bilden eine Untergruppierung des politischen Islam oder Islamismus. Längst
nicht alle Islamisten sind aber Salafisten oder Jihadisten.
Jihadismus und die regionale (Un)Ordnung des Nahen und Mittleren Ostens
Die Ursprünge der meisten jihadistischen Bewegungen, so auch des IS, reichen in den
Afghanistankrieg von 1979 bis 1989 zurück. Damals kämpften die Mujahedin (heute
würden wir sagen: Jihadisten) gegen die kommunistische Regierung und die sowjetische
Besatzung des Landes. Saudi-Arabien unterstützte sie darin finanziell, personell und
ideologisch, Pakistan logistisch und mit Training, und die USA mit Waffen und
Nachrichtentechnik.
Im Kalten Krieg hielt der gemeinsame Feind des Kommunismus diese unheilige Allianz
zusammen. Zahlreiche arabische Freiwillige aus Ägypten, Saudi-Arabien, Syrien und
vielen anderen arabischen Staaten schlossen sich diesem Jihad an. Viele von ihnen
gingen dort durch die Trainingslager der 1987 gegründeten Organisation al-Qaida, die
der saudische Staatsbürger Usama bin Ladin zu einer Basis des weltweiten Jihads
entwickelte. Eher als Nachzügler kam 1989 auch Abu Mus’ab az-Zarqawi nach
Afghanistan, ein vom drogenkonsumierenden Kleinkriminellen zum streng gläubigen
Salafismus konvertierter Kämpfer aus Jordanien, der später den Vorläufer von IS
gründen sollte.
Viele dieser arabischen Afghanen kehrten nach dem Abzug der Sowjettruppen und dem
Sieg über den Kommunismus in ihre Heimatländer zurück, wobei ihre Kampferfahrung
und die in Afghanistan geknüpften Netzwerke zu ihren wesentlichen Ressourcen
wurden. Einige begannen in den 1990er Jahren Aufstände gegen ihre eigenen
gottlosen Regime; so etwa in Algerien und in Ägypten. Andere zogen als JihadVagabunden an weitere Kriegsschauplätze, etwa nach Tschetschenien, Kaschmir oder
Bosnien, seit 2003 vermehrt in den Irak, und seit 2011 nach Syrien. Ihre wichtigste
Bastion jedoch blieb − bis zum Sturz der Taliban 2001 − Afghanistan. Nach der
3 Zerstörung ihrer Trainingslager und Bastionen im Afghanistankrieg von 2001
entwickelte sich al-Qaida zu einem eher losen Netzwerk, das mehr einem FranchiseUnternehmen glich. Zarqawi unterhielt seinerzeit nur lose Kontakte zu Usama bin
Ladin, als er 2002 in die kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak weiterzog. Dennoch
diente er US-Außenminister Colin Powell in seiner Rede vor dem VN-Sicherheitsrat
am 5. Februar 2003 als Personifizierung einer mutmaßlichen organisatorischen
Verbindung zwischen al-Qaida und Saddam Hussein und diese als Rechtfertigung für die
anschließende Invasion in den Irak. Powell hob den zuvor eher unbekannten Warlord in
den Rang des wichtigsten Jihad-Anführers im Irak, obwohl dieser seinerzeit weder ein
Teil von al-Qaida war noch Kontakte zu Saddam Hussein unterhielt. Seine
Kampfgruppe, die mehrfach ihren Namen und ihre Zusammensetzung wechselte,
schloss sich erst 2004 al-Qaida an und nannte sich dann al-Qaida im Zweistromland oder
al-Qaida im Irak (AQI).
Moschee in Fallujah
Foto: Ryan M. Blaich, U.S.
Marine Corps/Wikimedia
Commons Saudi-Arabien, einer der engsten Verbündeten der USA, hatte eigentlich weit mehr mit
den Anschlägen von 9/11 zu tun als Saddam Hussein, da 16 der 19 Attentäter saudische
Staatsbürger waren und die Ideologie des Jihadismus maßgeblich vom Salafismus, dem
offiziellen Islamverständnis der Monarchie, geprägt ist. Saudi-Arabien betreibt seit den
1960er Jahren eine weltweite Werbemission für den wahhabitischen Salafismus mit
Koranschulen und Kulturinstituten, die es seit den rasant steigenden Einnahmen aus
dem Öl-Geschäft der 1970er Jahre weiter ausbaute. Zunächst richtete sich die saudische
Mission gegen den säkularen Arabischen Nationalismus des damaligen ägyptischen
Präsidenten Gamal Abdel Nasser sowie die Expansion des Kommunismus; seit 1979
zudem gegen den Export der schiitisch geprägten Islamischen Revolution Irans. Diese
Missionstätigkeit erklärt die rasante weltweite Ausbreitung des Salafismus. Seine
textfundamentalistische Deutung des Islam und seine xenophobe Einstellung anderen
4 Richtungen im Islam, insbesondere den Schiiten und dem Sufismus (Mystik), und
anderen Religionen gegenüber, machen ihn zu einer Bedrohung für multiethnische und
multikonfessionelle Gesellschaften wie Indonesien, Malaysia, Pakistan, Libanon, Syrien,
Irak, Bahrain, Ägypten und viele weitere asiatische, arabische und afrikanische
Gesellschaften. Da die Mission mit Bildungsangeboten und sozialkaritativer Hilfe
einhergeht, können sich die betroffenen ärmeren Länder kaum der finanzstarken Hilfe
verwehren. Salafistisches Satelliten-TV aus den Golfstaaten und das Internet tun das
übrige, den Salafismus zu bewerben und seine globale Vernetzung zu fördern.
Mittlerweile sind von dieser Missionstätigkeit geprägte salafistische Milieus in vielen
Ländern zu einem Rekrutierungsfeld für jihadistische Bewegungen geworden, die sich
sogar gegen ihre einstigen Finanziers wenden, weil sie die Golfmonarchien für nicht
islamisch genug halten.
Der Sunna-Schia-Gegensatz als regionalpolitischer Marker
Die Stärkung des Schia-feindlichen Salafismus hatte ein weiteres Ziel: Das (sunnitische)
wahhabitische saudische Königshaus und der (schiitische) Iran stehen sich seit der
Islamischen Revolution in Iran von 1979 in einem bis heute andauernden Machtkampf
gegenüber, der stark konfessionalistische Züge trägt. Beide sehen sich als regionale
Führungsmächte, legitimieren ihre Herrschaft auf unterschiedliche Weise islamisch und
beziehen regional und global meist konträre politische Positionen. Diese Konkurrenz
stülpte sich vielen Konflikten im Nahen Osten über und prägt als Sunna-SchiaGegensatz maßgeblich die öffentliche Wahrnehmung der regionalen Allianzbildung.
Während Saudi-Arabien den Status Quo der ölreichen Monarchien verteidigt und sich
politisch und militärisch im Lager des Westens verortet, versteht sich Iran als Speerspitze
einer Achse des Widerstands gegen die US-amerikanische Dominanz im Nahen Osten
und den Staat Israel. Iran unterstützt deshalb die schiitisch-libanesische Hizb Allah in
ihrem Islamischen Widerstand gegen Israel ebenso wie die sunnitische palästinensische
Hamas. Zudem hatte Iran noch in den 1980er Jahren offen den Sturz der konservativen,
prowestlichen Regime in der Region propagiert. Obwohl Teheran den versuchten
Revolutionsexport Anfang der 1990er Jahre offiziell einstellte, misstrauen die
sunnitischen Herrscher Iran und mobilisieren gegen diese Bedrohung auch mit
antischiitischen und antipersischen Ressentiments. Der jordanische König Abdallah II
brachte die Furcht in einem Interview in der Washington Post vom 8.12.2004 in die
Formel des „Schiitischen Halbmonds“, der von Iran ausgehend die Schiiten im Irak, das
(alawitisch)schiitisch dominierte syrische Regime und die libanesische Hizb Allah, aber
auch die (eigentlich sunnitische) Hamas umfasse und das sunnitisch arabische Kernland
5 bedrohe. Der damalige ägyptische Präsident Hosni Mubarak äußerte sich im April 2005
ähnlich, indem er den arabischen Schiiten unterstellte, sie seien primär Iran gegenüber
loyal, und nicht ihren arabischen Heimatländern. Beide Politiker bedienten sich
Luftschläge von Saudi Arabien,
den Emiraten und der US-Air
Mächte und eine Bedrohung für die sunnitischen
Araber.
Force
gegen von IS
kontrollierte Ölraffinerien in
Syrien.und jihadistische Gruppen im
Eben dieses Feindbild machen sich auch salafistische
gängiger Klischees: Schiiten seien keine echten Muslime, sondern Agenten fremder
irakischen und syrischen Bürgerkrieg zunutze. Sie
sehen
sich in ihrem Kampf gegen die
Quelle:
http://www.defense.gov/news apostatischen, schiitisch dominierten Regime Syriens und des Irak als die Verteidiger des
wahren, d.h. sunnitischen Islams. Abu Mus’ab az-Zarqawi und die irakische al-Qaida
machten den Hass auf Schiiten zum Markenzeichen ihrer Verschwörungsideologie, nach
der Schiiten, und nicht die westlichen Besatzungstruppen, die wahren Feinde der
(sunnitischen) Muslime seien. Sie gingen damit selbst der Qaida-Zentrale zu weit. Usama
bin Ladin und sein Stellvertreter Aiman az-Zawahiri ermahnten Zarqawi vergeblich, er
solle anstelle der irakischen Schiiten die US-amerikanische Besatzungsmacht bekämpfen.
Der Aufstieg des Islamischen Staats und die Ausrufung des Kalifats
Zarqawi, der sich mit seiner selbst gegen sunnitische Zivilisten rücksichtslosen
Gewaltstrategie zunehmend isolierte, starb am 7.Juni 2006 bei einem Luftschlag der USArmee im Irak und wird seitdem von seinen Anhängern als Märtyrer und als Imam
verehrt. Auch sein Nachfolger, Abu Umar al-Baghdadi, fiel am 18.April 2010 einer
gemeinsamen amerikanisch-irakischen Militäroperation zum Opfer. Den Aufstieg des
Islamischen Staats hat dies indes nicht aufhalten können.
6 Bereits am 15.Oktober 2006 hatte der irakische al-Qaida-Ableger die Gründung eines
Islamischen Staates Irak (ISI) verkündet und damit den Anspruch erhoben, als
kämpfende Avantgarde den Grundstein für ein wieder zu errichtendes islamisches
Weltreich zu legen. Bis Sommer 2014 blieb dieser Staat allerdings ephemer, auch wenn
er bereits eigene Ministerien und eine Regierung besaß. Abu Bakr al-Baghdadi, seit
2010 neuer Anführer des ISI, änderte die bisherige Strategie, indem er gezielt
ehemalige baathistische Kader aus dem Sicherheitsapparat des Regimes von Saddam
Hussein rekrutierte. Diese Irakisierung der ISI-Führungsriege förderte in zweierlei
Hinsicht dessen weiteren Aufstieg: Zum einen konnte sich ISI fortan auf persönliche
Netzwerke, militärische Erfahrung, Waffenbestände und kontrabandistische
Infrastruktur des ehemaligen irakischen Regimes stützen. So übernahm er etwa
Schmuggelpfade für Ölverkäufe, die zu Zeiten des Wirtschaftsboykotts gegen den Irak
etabliert worden waren. Zum anderen erhielt die Gruppierung dadurch einen
patriotischen Anstrich und sah sich nicht länger dem Verdacht ausgesetzt, durch alQaida und ausländische Anführer ferngesteuert zu sein.
Ausgerechnet der Arabische Frühling, der 2011 große Hoffnungen auf ein Ende der
autoritären Herrschaft und eine Demokratisierung im Nahen Osten geweckt hatte,
führte in einigen Staaten zum Wiedererstarken des Jihadismus. Die Vorstellung der
Jihadisten, dass die ungläubigen arabischen Regime nur durch gewaltsamen Jihad
gestürzt werden könnten, schien durch die Massenproteste und den Wahlsieg gemäßigt
islamistischer Parteien in Ägypten, Tunesien und Marokko zunächst widerlegt zu sein.
Doch schon bald stellte sich die Hoffnung auf einen friedlichen Systemwandel als
utopisch heraus. Im Jemen zerfiel der Staat zwischen verschiedenen Gewaltakteuren. In
Bahrein schlug das Königshaus mit Unterstützung Saudi-Arabiens eine von der
schiitischen Bevölkerungsmehrheit getragene Protestbewegung gewaltsam nieder. In
Ägypten putschte das Militär gegen den gewählten Präsidenten der
Muslimbruderschaft, Muhammad Mursi. In Syrien glitt der anfangs noch weitgehend
gewaltfreie Protest gegen das Regime von Baschar al-Assad angesichts massiver
Repression immer mehr in einen konfessionellen Bürgerkrieg ab. Da das Regime von
schiitischen Alawiten dominiert ist und die Rebellen überwiegend sunnitische Araber
sind, entwickelte sich Syrien zur Kampfarena eines Stellvertreterkriegs zwischen Iran
und schiitischen Milizen aus dem Libanon und Irak, die zu Baschar al-Assad halten, und
den sunnitischen Regionalmächten, vor allem Saudi-Arabien, Katar und Türkei, die
verschiedene Milizen der Aufständischen unterstützen, darunter auch salafistische und
jihadistische. Auch im Irak forcierte sich der konfessionalistische Gegensatz:
7 Überwiegend sunnitische Araber in den westlichen Provinzen protestierten seit 2011
Militärische Ausrüstungsgüter,
Waffen und Munition sind auf
dem Flughafen
Erbil/Irakund einen autoritären
Premierminister Nuri al-Maliki eine Diskriminierung
der Sunniten
eingetroffen. Sie sind bestimmt
Führungsstil vor. Der reagierte mit teils massiver Repression.
für die kurdische PeschmergaArmee.
gegen den von Schiiten dominierten Saat und seine Sicherheitsorgane. Sie warfen
Foto: Bundeswehr/Sebastian Wilke
Syrien und der Irak boten deshalb ideale Voraussetzungen für ein Erstarken des
Jihadismus: Im Irak hatte schon Zarqawi den Konfessionshass gegen die schiitische
Bevölkerungsmehrheit geschürt, um ISI als Schutzmacht der arabischen Sunniten zu
präsentieren. Nun stellte sich ISI erneut als Beschützer der Sunniten dar und beteiligte
sich an bewaffneten Aufständen. Am 21.Juli 2013 stürmten ISI-Kämpfer die Gefängnisse
von Abu Ghraib und al-Taji und verhalfen rund 600 gefangenen Jihadisten zur Flucht.
Bereits Ende 2011 hatte Abu Bakr al-Baghdadi zudem seine syrischen Kämpfer in ihr
Heimatland zurück entsandt und Abu Muhammad al-Jaulani zu ihrem Befehlshaber
bestimmt. Die Nusra-Front, wie sich der neue syrische Zweig von al-Qaida fortan nannte,
entwickelte sich schnell zur eigenständigen Bewegung, deren Verbindung zu al-Qaida
und Herkunft aus dem ISI seinerzeit noch nicht bekannt gegeben wurde. Mit einigen
spektakulären Bombenanschlägen und Selbstmordattentaten gelang es ihr, die
militärische Übermacht zugunsten des Regimes zu reduzieren. Salafistische und
jihadistische Milizen erhielten in Syrien wegen solcher Erfolge und aufgrund ihrer
finanziellen und militärischen Unterstützung aus den Golfstaaten immer mehr Zulauf.
Der syrische Jihad lockte zudem ausländische Kämpfer an, deren Zahl heute auf 18.000
geschätzt wird; 3.000 stammen allein aus Europa. Für sie ist Syrien nur ein Baustein
eines umfangreichen religiösen Heilsnarratives. Denn in Scham (Großsyrien), das die
heutigen Länder Syrien, Libanon, Jordanien, Palästina/Israel und Teile der Türkei
umfasst, soll die endzeitliche Schlacht zwischen Gläubigen und Ungläubigen beginnen,
und von hier aus soll der Eroberungszug zur islamischen Weltherrschaft einsetzen.
8 Dabei ist zu wissen, dass Jerusalem als drittheiligste Stadt im Islam und Damaskus als
ehemalige Hauptstadt des Kalifats (661-750) wichtige Bezugspunkte für Muslime sind.
Diese Attraktivität der syrischen Jihad-Arena wollte Abu Bakr al-Baghdadi verstärkt für
sein eigenes Image nutzen. Im Frühjahr 2013 schickte er seine Kämpfer nach Syrien und
gab den Zusammenschluss von ISI mit der Nusra-Front, also eigentlich der
Wiedervereinigung des irakischen mit dem syrischen Zweig von al-Qaida, zum
Islamischen Staat im Irak und in Scham (ISIS) bekannt. Al-Jaulani, Emir der Nusra-Front,
und Aiman az-Zawahiri, Oberhaupt von al-Qaida, lehnten dies umgehend ab und
verlangten den Abzug von Baghdadis Truppe nach Irak. Es kam zum Bruch der beiden
Lager, der im Februar 2014 sogar im Ausschluss von ISIS aus al-Qaida gipfelte, und zu
heftigen Kämpfen zwischen den Rivalen führte, dem bereits tausende Menschen zum
Opfer fielen.
Mit seinem Überraschungsangriff auf den Irak, der Eroberung von Mosul und Tikrit
Anfang Juni und der Ausrufung des Kalifats am 29. Juni 2014 trat Baghdadi in dem
Machtkampf quasi die Flucht nach vorn an. Indem er sich zum Kalifen erklären ließ,
beansprucht er die oberste religiöse und politische Autorität über alle Muslime und
verlangt deren Unterwerfung. Die Ausrufung des Kalifats im Verständnis von Kalif
Ibrahim, wie er sich mittlerweile nennt, ist quasi eine Lizenz zum Töten, da jeder
Ungehorsame zugleich ein Glaubensabtrünniger ist, der getötet werden darf. Gestärkt
mit von der irakischen Armee erbeuteten Waffen und der religiösen Autorität des
Kalifentitels, zogen die Kämpfer des IS im Juli 2014 erneut nach Syrien und eroberten
auch dort große Territorien hinzu, vorwiegend indem man anderen Islamisten ihre
Pfründe entriss. Ende 2014 kontrollierte der IS in Syrien und im Irak ein Territorium von
der Größe Großbritanniens.
Der Niedergang des Kalifats und die Anschläge von Paris
Der Islamische Staat gleicht einer apokalyptischen Endzeitsekte. Er versteht sich als
Avantgarde eines heiligen Kriegs (Jihad) gegen die abtrünnigen Schiiten, die
ungehorsamen Sunniten, die christlichen Kreuzritter, die Juden und die Ungläubigen
anderer Religionen, dessen Ausgang – der Sieg der aufrechten Gläubigen – von Gott
bereits versprochen sei. Solange dieses Erfolgsnarrativ durch neue Eroberungen und
Beutezüge bestätigt wurde, stärkte es den Kampfgeist und lockte neue Anhänger an.
Allerdings geriet die erfolgreiche Offensive mittlerweile ins Stocken und kehrt sich ins
Gegenteil um.
9 Vor der Presse
Bundesverteidigungsministerin
Es scheint, als wenden sich die einstigen Erfolgsfaktoren
nun gegen den Islamischen
Ursula von der Leyen und
Staat: Ein Territorialstaat muss verwaltet, kontrolliert
und gegen Angriffe
Bundesaußenminister
Frank- von außen
Walter
Steinmeier
informieren
verteidigt werden, was viele Ressourcen bindet.
Luftschläge
einer
von den USA
über deutsche
angeführten Militärallianz und der iranischenUnterstützungsleistungen
Luftwaffe, die wiedererstarkte
irakische
für
den Irak im August 2014.
Armee, irakisch-kurdische Peschmerga, syrisch-kurdische PYD-Kämpfer, sunnitische
Foto: Bundeswehr/
Bienert
Stammesmilizen und vom Iran unterstützte schiitische
Milizen
haben den Vormarsch des
IS gestoppt und ihn bereits aus manchen Territorien
zurückgedrängt. Da er nicht mehr
expandieren kann, fehlen ihm Einnahmen aus Kriegsbeute, so dass er vermehrt
Abgaben von der Bevölkerung erheben muss. Auch mit seinem Anspruch auf
unbeschränkte Macht über alle Muslime dürfte sich der selbsternannte Kalif
übernommen haben, denn bislang haben nur wenige sunnitische Gruppen ihm
gegenüber den Treueeid, die so genannte bai`a, abgelegt. Im November 2014 erklärten
zwar Gruppierungen aus Algerien, Ägypten, Libyen und Jemen ihren Beitritt zum
Kalifat, doch ist fraglich, ob diese symbolischen Treuebekundungen den territorialen
Niedergang aufhalten können.
Am meisten dürfte sich al-Qaida über die symbolträchtige Expansion ärgern, die sich
nach wie vor mit dem IS in einem Machtkampf befindet. Es mag zynisch klingen, aber
der Anschlag in Paris vom 7. Januar 2015 durch die Kouachi-Brüder auf die
Satirezeitschrift Charlie Hebdo, zu der sich al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel
(AQAH) bekannte, hat vermutlich weniger mit der vermeintlichen Beleidigung des
Propheten Muhammad durch die Cartoonisten als mit dem Kampf um den
Führungsanspruch innerhalb der jihadistischen Szene zu tun. Angesichts der enormen
weltweiten Aufmerksamkeit, die das Attentat erlangte, kann al-Qaida es als Erfolg für
sich verbuchen. Am 9. Januar verübte Amedy Coulibaly einen Anschlag auf ein
koscheres Lebensmittelgeschäft in Paris und ermordete dabei vier Juden. Der Attentäter
10 kannte die Brüder Kouachi und will die Taten mit ihnen abgestimmt haben. Er
bekannte sich allerdings zum IS, was angesichts der Konkurrenz der beiden
jihadistischen Gruppierungen verwundert. Möglicherweise handelte er nicht im
direkten Auftrag des Kalifen, da der Anschlag eher al-Qaida nutzte. Kaum
Aufmerksamkeit im Westen erzielten hingegen der am 7. Januar verübte
Selbstmordanschlag von AQAH in Sanaa im Jemen, bei dem über 40 Muslime umkamen,
und am 10. Januar zwei Selbstmordanschläge des syrischen al-Qaida-Ablegers, der
Nusra-Front, in einem libanesischen Café, bei denen neun muslimische Zivilisten starben.
Fazit
Der irakische und syrische Bürgerkrieg haben sich mittlerweile von Stellvertreterkriegen
sunnitischer und schiitischer Akteure um regionale Vormacht in einen Flächenbrand
entwickelt. Salafistische und jihadistische Milizen wie der Islamische Staat stellen eine
ernsthafte Gefahr für den Nahen Osten, aber auch für den Westen dar. Sie bedrohen
mittlerweile selbst jene Staaten, die sie aus ideologischen, konfessionalistischen oder
machttaktischen Überlegungen gefördert haben. An erster Stelle ist dies Saudi-Arabien,
dessen Monarchie der IS unmittelbar herausfordert, indem er die Befreiung der Heiligen
Stätten in Mekka und Medina propagiert. In den meisten Golfmonarchien existieren
bereits große Sympathien für den IS. Gleiches gilt für andere sunnitische Länder wie
Jordanien, die Türkei, Ägypten und Tunesien. Rückkehrer aus dem Jihad in Syrien und
Irak können dieses Milieu weiter stärken und möglicherweise zum bewaffneten
Aufstand lenken. In Libyen und im Jemen ist der längst im Gange.
Der Westen hat zu lange zugeschaut, wie seine Verbündeten, die Türkei, Saudi-Arabien
und Katar, die Eskalation der Kämpfe gefördert haben. Es ist an der Zeit, dass der
Westen diese Staaten und ihre syrischen Stellvertreter unter Druck setzt, einem Ende
der Kämpfe und einer verhandelten politischen Lösung zuzustimmen, so wie dies
Russland und Iran umgekehrt mit dem syrischen Regime erreichen müssen. Der syrische
Bürgerkrieg kann nur durch ein verhandeltes Machtteilungsarrangement zwischen den
verschiedenen Gruppen beendet werden, da keine Seite in der Lage ist, den Gegner
militärisch zu besiegen. Von der Pattsituation, das haben die vergangenen Monate
gezeigt, profitieren einzig extremistische Gruppierungen, die das Machtvakuum für ihre
Expansion nutzen. Im Irak scheinen die meisten politischen Verantwortlichen dies
mittlerweile einzusehen. Die neue Regierung unter Haidar al-Abadi setzt sich jedenfalls
für eine stärkere Machtbeteiligung der Kurden und sunnitischen Araber ein. Die
gemeinsame Bedrohung des außer Kontrolle geratenen Islamischen Staats könnte
11 möglicherweise sogar zu einer Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Iran führen,
was den politischen Sunna-Schia-Gegensatz und die meisten regionalen Konflikte zu
entschärfen würde.
Autor
Dr. Stephan Rosiny, Jahrgang 1962, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut
für Nahost-Studien in Hamburg und Leiter des von der Volkswagenstiftung geförderten
Forschungsprojekts „Machtteilungsarrangements in multi-ethnischen Gesellschaften des
Nahen Ostens“. Zuvor unterrichtete er Islamwissenschaft an der Freien Universität
Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören der politische Islam (Islamismus)
sowie Politik und Gesellschaft in ausgewählten Ländern der arabischen Welt.
Literatur
Christoph Günther, Ein zweiter Staat im Zweistromland? Genese und Ideologie des
Islamischen Staates Irak, Würzburg 2014
Stephan Rosiny, Des Kalifen neue Kleider: Der Islamische Staat in Irak und Syrien,
Hamburg, GIGA Focus Nahost 2014/6, http://www.gigahamburg.de/de/system/files/publications/gf_nahost_1406.pdf
Stephan Rosiny, Syrien: Vom Bürgerkrieg zum regionalen Flächenbrand?, Hamburg,
GIGA Focus Nahost 2013/8, http://www.gigahamburg.de/de/system/files/publications/gf_nahost_1308.pdf
Behnam Said, Islamischer Staat: IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden, München 2014
Weiterführende Links
GIGA Institut für Nahost-Studien
http://www.giga-hamburg.de/de/giga-institut-für-nahost-studien
Bundeszentrale für Politische Bildung
http://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/190499/der-islamische-staat-im-irakund-syrien-isis
Deutschlandfunk/Themendossier
http://www.deutschlandfunk.de/is-terror-bedrohung-und-machtfaktor-innahost.2220.de.html
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