HIV - eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Matthias Gerschwitz)

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 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) Die Zeiten haben sich geändert – aber Viele haben es noch gar nicht mit-­‐
bekommen. Es gibt wohl nur wenige Krankheiten, bei denen der medizinische Fortschritt und die gesellschaftliche Wahrnehmung in den letzten zwanzig Jahren so diametral auseinander gedriftet sind wie bei HIV. Was 1981 in Kalifornien unter der Bezeichnung GRID (Gay Related Immune Disease oder Schwulenseuche) seinen Ausgang nahm – was 1982 von Medizinern und Wissenschaftlern in AIDS (Aquired Immune Deficiency Syndrom, Erworbenes Immunschwächesyndrom) umbenannt wurde – was seit 1986, nach Entdeckung des Virus’, mit HIV (Human Immunodeficiency Virus, Menschliches Immundefekt-­‐Virus) bezeichnet wird – ist seit 1996 mit Einführung der antiretroviralen Kombinationstherapie (ART) von einer tödlichen Bedrohung zu einer behandelbaren Krankheit geworden. Zumindest in den Ländern, in denen Medikamente in ausreichender Anzahl zur Verfügung stehen. Selbstverständlich darf man beim Kampf gegen HIV die völlig andere Situation in den sogenannten Hochprävalenz-­‐Regionen – also jenen Teilen der Welt, in denen HIV und AIDS nach wie vor ein hohes Verbreitungspotenzial haben – nicht ausblenden. Wenn ich mich heute auf die heimischen Regionen 1 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) beschränke, liegt das letztlich an der räumlichen Nähe. Denn auch, wenn es in unseren Breitengraden Therapiemöglichkeiten gibt, sind Unwissen, Fehlein-­‐
schätzungen und daraus folgend Diskriminierung und Kriminalisierung HIV-­‐
Positiver nach wie vor an der Tagesordnung. Ich stehe heute vor Ihnen, weil ich zu den leider immer noch viel zu wenigen positiven Menschen gehöre, die sich der Infektion öffentlich stellen. 2009 veröffentlichte ich mit »Endlich mal was Positives« ein Buch über meinen persönlichen Umgang mit HIV, »offensiv und optimistisch«, so der Untertitel. Anfang 2015 folgte ein zweiter Band, untertitelt »Interessant und informativ: Wissenswertes zu HIV & AIDS«, der die aktuelle Lebenssituation HIV-­‐positiver Menschen aufzeigt. Seit Ende 2015 ist mit »Beyond the Virus« auch eine englische Ausgabe weltweit via Amazon erhältlich. Ich habe seit 2010 über 200 Lesungen und Vorträge in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen gehalten, nicht nur in Deutschland, sondern auch hier in Vorarlberg sowie in Tirol. Was ich Ihnen heute an die Hand geben möchte, sind Zahlen, Fakten und Erfahrungswerte, die ich bei diesen Veranstaltungen und bei vielen anderen, auch privaten Gelegenheiten, sammeln konnte. Der Umgang mit HIV war von Anbeginn an von Unwissen und Unsicherheit geprägt. Man wusste nicht, was es war – und man wusste nicht, wie man damit umgehen sollte. Schnell wurde die noch unbekannte Krankheit in die Schub-­‐
lade »schwul« einsortiert, schließlich waren die ersten Erkrankten homo-­‐
sexuell, und man konnte sich auf diese Weise trefflich davon distanzieren. Aber auch in der schwulen Szene herrschte Ratlosigkeit: Im amerikanischen Spielfilm »Abschiedsblicke« aus dem Jahr 1986 will Michael, einer der Protagonisten, einem positiven Freund das Abendessen zubereiten. Dabei schneidet er sich in den Finger. 2 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) … ruft er besorgt aus der Küche. Der Freund hört laute Musik, in der die Frage untergeht. Aus der Nichtbeantwortung kann man einerseits Hilflosigkeit ablesen, andererseits aber auch den schon sehr frühen Hinweis, dass Hysterie oder Panik nicht weiterhelfen. An einer anderen Stelle im Film sagt Richard, ein etwas korpulenteres Mit-­‐
glied der Clique … … und distanziert sich damit, ob aus Unbeholfenheit oder Selbstschutz, von der eigenen peer group. Schutz durch Askese – der einfachste Rückzug in die Risikofreiheit. Kondomen scheint man nicht zu trauen. Richard ist nicht der Einzige, der so denkt. Viele Schwule ziehen sich für einige Zeit aus dem aktiven Sexualleben zurück. Wie kann man der Bedrohung entkommen? Anstatt sich ihr zu stellen und sie zu erkennen und zu bekämpfen, wird das Gefährdungspotential auf an-­‐
gebliche Risikogruppen abgewälzt, wobei man Menschen mit Hämophilie, also Blutern, noch Mitleid und Verständnis entgegenbringt; schwule Männer und Drogenabhängige, die ohnedies nicht dem Weltbild der sogenannten »nor-­‐
malen Mehrheit« entsprechen, werden gerne ein weiteres Mal diskriminiert. 3 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) Tatsächlich sind es in den ersten Jahren fast ausschließlich Homo-­‐ und Bisexuelle, die sich kurz vor ihrem Tod erst als krank und zum Teil auch mit ihrer sexuellen Orientierung outen: Das sind nur vier Beispiele für etwa 40 Millionen Menschen, die seit 1981 an den Folgen der HIV-­‐Infektion verstorben sind. Wohl so ziemlich jeder – zumindest in den so genannten Risikogruppen – hat wohl mindestens einen Bekannten oder Freund an das Virus verloren. 1982 wird in einer Pressekonferenz im Weißen Haus noch über AIDS gespottet, obwohl das Center for Disease Control bereits 600 Fälle notiert hat. In Deutschland wird im selben Jahr in Frankfurt der erste AIDS-­‐Fall diagnostiziert, woraufhin das Robert-­‐Koch-­‐Institut ein AIDS-­‐Register anlegt. Nachdem 1984 der erste HIV-­‐Test vorgestellt wird, regelt die österreichische Regierung 1985 mit einem umfassenden AIDS-­‐Gesetz alles zu Informations-­‐
verhalten, HIV-­‐Screening, Sicherstellung der Testqualität und Befundüber-­‐
mittlung sowie Erfassung der Infektionsfälle. In die frühen 80er Jahre fällt der Blutspende-­‐Skandal – in Deutschland nach der Contergan-­‐Affäre in den 60ern der zweitgrößte Medizin-­‐Skandal. Blut-­‐
4 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) spenden, aus denen Blut-­‐ oder Plasmaprodukte für Hämophile gewonnen werden, die aber auch für Bluttransfusionen verwendet werden, sind mit HIV und einer noch unbekannten, aggressiven Form der Hepatitis verunreinigt. Erst 1989 kann man diese Form endlich als Hepatitis C kategorisieren. Als Folge dieses Blutskandals führen Frankreich und Deutschland als erste europäische Länder 1985 den Pflichttest für Blutspenden ein. Gleichzeitig werden, wie auch in Österreich, Mitglieder der sogenannten Risikogruppen unabhängig von einer Infektion kategorisch von der Blutspende aus-­‐
geschlossen. Dieser Ausschluss gilt noch heute. Dass nicht nur Homosexuelle betroffen sind, beweist der heterosexuelle US-­‐
amerikanische Basketball-­‐Star Earl »Magic« Johnson, als er im November ’91 eine geschockte Öffentlichkeit mit seiner HIV-­‐Infektion konfrontiert. Nach anfänglichem Zögern berichtet er von sexuellen Eskapaden mit Frauen, um als warnendes Beispiel zu dienen. In der öffentlichen Wahrnehmung zu dieser Zeit scheinen sich Heteros nicht mit HIV anstecken zu können, so dass Gerüchte kursieren, Johnson sei homo-­‐ oder bisexuell. Auch wenn er sich erfolgreich dagegen wehren kann – diese Art der Diskriminierung ist auch heute noch weit verbreitet: Bei homosexuellen HIV-­‐Infizierten heißt es sofort »Schwule haben •
sowieso AIDS« – so viele Fehler dieser eine Satz auch enthalten mag. Heterosexuellen Männern wird latente Homosexualität unterstellt – •
besonders perfide ist allerdings die Behauptung, ein infizierter Schwuler hätte sicherlich versucht, »eine Hete zu knacken«. Und infizierte Frauen werden gnadenlos als »Schlampen« abge-­‐ •
stempelt, denn eine »anständige« Frau kann gar kein HIV bekommen. 2015 outet sich Charlie Sheen, in Zeiten von »Two and a half Men« bestbezahlter US-­‐Fernsehschauspieler, als HIV-­‐positiv. In einer mit viel Brimborium angekündigten Exklusiv-­‐Ausgabe des NBC-­‐Magazins »Today« 5 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) enthüllt er dann das, was nicht Wenige schon geahnt haben. Die Resonanz in den sozialen Netzwerken ist vorauszusehen. Von »God bless you« bis »I couldn't care less« in Kurz-­‐ und Langversionen reichen die Reaktionen. Natürlich hat Charlie Sheen viel zu seinem Ruf als – mit Verlaub – »Arschloch vom Dienst« beigetragen; ein ausschweifendes Sexualleben, Gerüchte um Drogenkonsum, unflätiges Betragen und eine aggressive Grundhaltung haben dem Mann, der sich in »Anger Management« quasi selbst spielte, nicht viele Freunde eingebracht. Was hat das mit HIV zu tun? Nichts. Aber man muss bei seiner Fernsehbeichte mit dem Kopf schütteln. Er wurde erpresst, hat Schweigegeld bezahlt und sich bei der Geheimhaltung des Virus’ in ein – wie er sagt – Gefängnis begeben, aus dem er sich mit dem öffentlichen Geständnis nun endlich befreien könne. Beichte, Geständnis, Erpressung, Schweigegeld: Man kommt sich vor wie in einem schlechten Krimi aus spießig-­‐muffigen Zeiten. Sheen versteigt sich zu der Aussage: »Ich habe jetzt eine Verantwortung, mich zu bessern und vielen anderen Menschen zu helfen. Und hoffentlich wird das, was wir heute tun, Menschen helfen, die sich dann an die Öffentlichkeit trauen und sagen, ›Danke Charlie, dass du diese Tür aufgestoßen hast‹.« Nein Charlie, danken muss man Dir nicht. Diese Tür war nämlich schon längst offen. Aufgestoßen von ganz vielen anderen und vor allem unbekannten Menschen, denen man zu Dank verpflichtet sein muss. Du musstest nur noch durch diese Tür hindurchgehen. Mit »Philadelphia« kommt 1993 erstmals ein klassischer Hollywood-­‐Film ins Kino, der sich mit dem Thema AIDS auseinandersetzt, wenn auch zaghaft und 6 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) klischeebeladen: Die Krankheit selbst spielt nur eine Nebenrolle, und die Betroffenen sind natürlich homosexuell – trotzdem darf der Film als Meilenstein gelten; Tom Hanks bekommt für die Darstellung des an den Folgen der Infektion sterbenden Andrew Beckett nicht nur den Oscar®. Nota bene: Auch 2014 geht der Oscar® wieder an ein HIV-­‐Thema: In »Dallas Buyers Club« werden die Grauimporte von HIV-­‐Medikamenten aus Mexico in den 80ern thematisiert. Matthew McConaughy und Jared Leto werden für ihre schauspielerischen Leistungen ausgezeichnet. Werbung oder PR für bzw. gegen AIDS gibt es schon früh. Bereits seit 1985 plakatiert die deutsche Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzGA) ihre »mach’s mit!«-­‐Kampagne, die – immer wieder aktualisiert – auch heute noch läuft. Von Anfang an liegt die Betonung dieser Kampagne auf der Kondomverwendung. Denn: Die seit 1987 jährlich erhobene Repräsentativ-­‐
untersuchung »Aids im öffentlichen Bewusstsein« stellt zu Beginn der 90er Jahre einen Rückgang in der Wahrnehmung der Angebote zur HIV/Aids-­‐
Prävention bei der wichtigen Zielgruppe der 16-­‐ bis 45-­‐jährigen Singles fest. 7 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) Über die Motive lässt sich sicherlich streiten. Aber sie haben zumindest das Bewusstsein geschärft. Umfragen zufolge ist bei den jüngeren Zielgruppen die Kondomverwendung nachhaltig gestiegen. In der Folge wechselt die Präventionsstrategie. In der BZgA-­‐Kampagne »Liebesorte«, wird das Kondom nun jenseits von HIV grundsätzlich als Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten positioniert … … in denen neben – man höre und staune: »AIDS« … ich dachte immer, wir reden bei einer Infektion von »HIV« … auch andere Krankheiten wie Tripper thematisiert werden. Heute sieht die klassische »mach’s mit«-­‐Kampagne unter anderem so aus: Das Konzept zeigt unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Wünschen, wobei Typ und Wunsch bewusst nicht zusammenzupassen scheinen. Ich finde das recht gelungen, denn hier wird die Vielfalt von Menschen abgebildet, die ein gemeinsames Ziel haben: Schutz vor den Krankheiten, die eigentlich kein Mensch braucht … 2010 rückt der Welt-­‐Aids-­‐Tag zusätzlich in den Fokus. Die BZgA initiiert eine Kampagne unter dem Titel »Positiv zusammen leben – aber sicher«, in der sich erstmals positive Menschen mit Statements zu allen Bereichen des Lebens, zum Teil mit Freunden oder Kollegen, ablichten lassen. In der ersten 8 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) Kampagne 2010 gehörte übrigens auch ich zu den Protagonisten, wenn auch nur in zweiter Reihe. Von mir gab es Statements und ein Video auf der Website welt-­‐aids-­‐tag.de der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. 2014 werden die persönlichen Statements zugunsten von Motiven aufge-­‐
geben, die gegen Diskriminierung angehen sollen, auch wenn es nicht immer gelingt. Ein wirklich positives Beispiel ist dieses: … doch wenn es auf einem anderen Motiv heißt »Was würdest Du zu einem HIV-­‐positiven Bäcker sagen? Antwort: Zwei Brötchen bitte!« kann man viel-­‐
leicht verstehen, wenn ich mich da im Zwiespalt befinde … 9 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) Aber es gab auch noch größere Irrungen und Wirrungen: 1992 schocken die italienische Modefirma Benetton und ihr Fotograf Oliviero Toscani die Welt mit dem Bild des im Kreise seiner Familie an AIDS sterbenden David Kirby. Es gab damals eine große Diskussion in Werbe-­‐ wie auch Medizinkreisen. Heute gäbe es wohl einen Shitstorm. Man mag trefflich darüber streiten, ob ein solches Foto moralisch angemessen ist, nicht nur hinsichtlich der Persönlich-­‐
keitsrechte. Aber aufgerüttelt hat es mit Sicherheit. In den Folgejahren behält Benetton das Thema AIDS in der Kommunikation bei, wenn auch weniger drastisch. Hier ein Motiv von 1993: 2009 schockt ein Verein in Deutschland mit einer Kampagne, die die Diskriminierung eher anfacht … 10 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) … und letztlich zur Auflösung des Vereins führt, denn HIV-­‐positive Menschen mit Hitler und anderen Massenmördern wie Saddam Hussein oder Stalin auf eine Stufe zu stellen, hat viele Positive zutiefst verletzt und wird als kontraproduktiv empfunden. Und noch 2013 wird das Kondom als einzig richtiger Schutz positioniert: Dabei sind wir schon deutlich weiter. Das wichtigste Datum in der HIV-­‐
Geschichte stellen die Jahre 1995/1996 dar, als die Kombinationstherapie – zunächst aus zwei, später drei Wirkstoffen – HIV tatsächlich in den Griff zu bekommen scheint. Seit 1987 hatte es bereits Versuche mit Azidothymidin (AZT), einem 1964 gegen Krebs entwickelten Wirkstoff gegeben, der aber so hoch dosiert werden musste, dass nicht wenige Patienten eher an den Nebenwirkungen des AZT als an den Folgen der Infektion verstarben. Dies hat zu der auch heute noch existenten Meinung geführt, dass HIV AIDS gar nicht auslöst und die Therapie erst die Krankheit erzeuge. Dabei ist der Nutzen der Therapie längst belegt. Im Januar 2008 veröffentlicht die Eidgenössische Kommission für Aidsfragen das sogenannte »EKAF-­‐Statement«, in dem es heißt, dass für konsequent antiretroviral therapierte Menschen unter bestimmten Bedingungen Sex auch ohne Kondom möglich sei. Die Bedingungen des EKAF-­‐Statements: •
regelmäßige Statuskontrolle durch den Schwerpunktarzt •
regelmäßige Einnahme der antiretroviralen Therapie (ART) •
Viruslast mindestens 6 Monate unter Nachweisgrenze (<20 copies/ml) •
keine Infektionen mit anderen sexuell übertragbaren Krankheiten 11 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) Zunächst heiß diskutiert – vor allem unter Ärzten sehr umstritten – haben Studien in den letzten Jahren bestätigt, dass die Aussage stimmt: »Therapie als Schutz« ist eine Alternative zum Kondom, denn die Therapie senkt die Virus-­‐
last unter die Nachweisgrenze, so dass die für eine Infektion notwendige Virenmenge gar nicht mehr vorhanden ist – oder, wie es so schön im Medizinsprech heißt: »Es ist kein Fall einer Serokonversion unter ART bekannt«. Wo bei der Schwangerschaft potenziell schon ein Spermium ausreicht, bedarf es für die Weitergabe einer HIV-­‐Infektion einer Mindestmenge an Viren. Und selbst dann findet eine Infektion nicht zwangsläufig statt. Das ist aber draußen noch nicht angekommen. Im Herbst 2015 schrieb ein Mitglied der SchLAu-­‐Initiative NRW – die Abkürzung bezeichnet ein Projekt, mit dem in nordrhein-­‐westfälischen Schulen über Schwule, Lesben, Bisexuelle und trans/interidente Menschen aufgeklärt wird – auf seiner Facebook-­‐Seite, er betreibe Sex trotz HIV ohne Kondom und würde auch seine Partner nicht informieren, da Therapie als Schutz ausreichend Sicherheit bedeute. Natürlich zog das sofort einen Shitstorm nach sich, vor allem von jenen Leuten, die – würde man sie auf der Straße befragen – HIV auch heute noch für tödlich halten. Ist es nicht ein großer Fortschritt, dass auch Positive aktiv zum Schutz negativer Menschen beitragen können? Wenn auch *ironie an* erst seit 20 Jahren *ironie aus*. Des Weiteren gibt es heute eine dritte Schutzmaßnahme: die PrEP oder Prä-­‐
Expositionsprophylaxe. In Frankreich ist sie bereits zugelassen, der Hersteller hat gerade die Zulassung bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA beantragt. Bei einem positiven Bescheid wird die Zulassung in Deutschland wohl erfolgen. Wie Österreich damit umgeht, ist noch nicht klar. Wahrschein-­‐
lich bleibt es beim »Nein«. Die Idee: Ein negativer Mensch nimmt regelmäßig – oder anlassbezogen – ein HIV-­‐Medikament, um sich auch beim ungeschützten Verkehr mit einem positiven Partner nicht zu infizieren. Mit Hilfe des Medikaments werden die Rezeptoren der Immunzellen prophylaktisch verschlossen, um ein Andocken der HI-­‐Viren zu verhindern. Man kann dieser Art des Schutzes gespalten gegenüber stehen. Die ART ist mit ihren 20 Jahren noch recht jung; mittel-­‐ bis 12 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) langfristige Studien über die Auswirkungen der Medikamente liegen noch nicht gesichert vor. Bislang sind aber schon erhöhte Risiken für Herzinfarkt und Schlaganfall festgestellt worden, die auf die Wirkstoffe zurückgeführt werden. Zudem besteht folgende Gefahr: Sollte die PrEP ihren Zweck nicht erfüllen, also eine Infektion doch erfolgen, können Resistenzen gegen den Wirkstoff entstehen, die eine dann notwendige HIV-­‐Therapie negativ beeinflussen. Tatsächlich berichtet die Deutsche Apotheker-­‐Zeitung im Februar 2016 über gestiegene Resistenzen gegenüber dem in Frage kommenden Wirkstoff Tenofovir, auch wenn in Europa die wenigsten Resistenzfälle gezählt werden. Gleichzeitig wird aber darauf hingewiesen, dass Tenofovir-­‐resistente Viren ein Besorgnis erregendes Übertragungspotential aufweisen. Trotzdem ist die PrEP zumindest in der Theorie eine denkbare Alternative für einen kleinen Kreis von Betroffenen, bei denen z.B. Kondomunverträglichkeiten vorliegen. Und: Derzeit laufen Studien mit Vaginalgelen und Vaginalringen, die Frauen vor einer HIV-­‐Übertragung schützen sollen. Laut ersten Berichten von der letzte Woche zu Ende gegangenen CROI – einem der großen AIDS-­‐Kongresse – sind die ersten Ergebnisse nicht sehr ermutigend. Das Zwischenergebnis scheint vor allem deshalb nicht aussagekräftig, weil sich die Teilnehmerinnen offensichtlich nicht genügend an die Vorgaben gehalten haben. Das ist die medizinische und offizielle Seite der HIV-­‐Geschichte. Die gesellschaftliche Wahrnehmung in Form von Diskriminierung sieht leider immer noch anders aus. 13 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) 2012 strahlt das ZDF eine Folge des Freitagskrimis »Der Alte« aus, in der eine HIV-­‐Infektion als Mordmotiv herhalten muss. Ein Journalist infiziert sich bei ungeschütztem Verkehr mit einer Prostituierten und rächt sich nun an diesem Berufsstand, weil die tödliche Infektion sein Leben bedroht. Der Sender findet auf Nachfrage die Darstellung der Situation völlig in Ordnung: Der Journalist wird als studiert, erfolgreich und durchaus clever beschrieben, was angesichts seiner Mordlust nach dem Testergebnis und der falsch wiedergegebenen HIV-­‐Realität nicht glaubhaft rüberkommt. Von Therapie scheint da nämlich noch niemand etwas gehört zu haben. Tatsächlich aber – und das ist das größte Problem an der Darstellung: Das Drehbuch stilisiert den Täter zum Opfer. Ebenfalls 2012 ereignet sich in Berlin ein Vorfall, bei dem sich ein homo-­‐
sexueller Hundehalter dem Zugriff der Polizei dadurch zu entziehen versucht, indem er einem Beamten ins Bein beißt. Er – nicht der Hund! Während sich sogar die Boulevardzeitungen an den knappen Polizeibericht halten, titelt der Polizeireporter der »Berliner Zeitung«: »Polizist in Todesangst – ein HIV-­‐
Infizierter biss ihn«. Angeblich hat er die Information über die Infektion aus einer internen Mitteilung der Berliner Polizei, was die Ordnungshüter aber bestreiten. Aber er schien vom Wahrheitsgehalt seiner Behauptung selbst nicht gänzlich überzeugt zu sein, denn schon in der ersten Zeile des Artikels relativiert er den reißerischen Untertitel und schreibt: »Ein Hundehalter, der möglicherweise mit dem tödlichen HIV-­‐Virus infiziert ist, hat in Schöneberg einem Polizisten ins Bein gebissen.« Drei Fehler auf einmal: Die nicht verifizierte Infektion, die Darstellung des Virus als tödlich und die Bezeichnung »HIV-­‐Virus« – und das alles innerhalb weniger Zeilen. Bezogen auf die Tödlichkeit verwies der Journalist auf Nachfrage »auf die vielen tausend Menschen, z.B. in Afrika, die nicht das Glück haben, so gut medizinisch versorgt zu werden, wie HIV-­‐Infizierte hierzulande.« Zur Erinnerung: Der Polizist erlitt seine Beinverletzung in Berlin und nicht in Afrika … Meine Entgegnung, dann dürfe man auch der Wasserleitung kein Trinkwasser mehr entnehmen, weil es Teile der Welt gebe, in denen die Wasseraufbereitung unzureichend ist, blieb natürlich unbeantwortet. 14 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) Übrigens verfügt die Berliner Polizei tatsächlich über etwa 270.000 Zusatz-­‐
informationen zu Menschen, die z.B. wegen Drogen, Gewalt, Waffenbesitz auffällig wurden. HIV-­‐ oder Hepatitis C-­‐Infizierte werden dort mit dem Zusatz »ANST« für Ansteckungsgefahr geführt. Diese Angaben werden aber nicht öffentlich gemacht – und auch andere Städte führen solche Listen. Auch wer reisen möchte, sieht sich Diskriminierung in Form von Einreise-­‐
beschränkungen ausgesetzt – unabhängig der tatsächlichen medizinischen Realität gilt das Virus als Verbotsgrund. Als Tourist mag die Einreise noch möglich sein, aber was ist, wenn ein Mitarbeiter für seine Firma im Ausland tätig sein möchte oder soll? Müssen er oder sie trotz guter Blutwerte und nicht mehr vorhandener Ansteckungsgefahr dann auf den Job verzichten? Auf der Karte sehen Sie vier Kriterien, nach denen die Welt aufgeteilt ist. •
Blau: Keine Einschränkungen •
Gelb: Widersprüchliche Informationen •
Grau: Keine Informationen •
Rot: Einreisebeschränkungen, wobei nicht spezifiziert ist, ob sie für Touristen mit Aufenthalten bis zu 90 Tagen oder für längere Aufenthalte bzw. Einwanderungen bestehen. 15 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) Hier empfehle ich zur weiteren Information die Website hivtravel.org. Die Seite ist zwar in englischer Sprache und optisch grauenhaft, dafür aber inhaltlich immer auf dem neuesten Stand. Vor wenigen Monaten wurde einem HIV-­‐positiven Touristen in Australien die Einreise verweigert, weil es möglich sei, dass er »medizinische Hilfe in Anspruch nehmen müsse, die mit hohem finanziellen Aufwand für die australische Bevölkerung verknüpft wäre.« Wie Sie sehen, befinden wir uns hier im Königreich des Konjunktivs, da es heißt: »es sei möglich«, »müsse«, »wäre«. Der Mann besucht Australien seit 22 Jahren und musste noch nie medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Von offizieller Seite wurde zwar mitgeteilt, der Fall sei ein bedauerlicher Fehler der Behörden und man entschuldige sich bei dem Betroffenen, aber er wirft doch ein bezeichnendes Licht auf den Umgang mit der realen Situation. Über 70 Länder haben Einreisebeschränkungen für Positive erlassen. Zu den fast 30 Ländern, die HIV-­‐infizierte Ausländer des Landes verweisen, gehören Sri Lanka, Malaysia, die Mongolei, Taiwan, Ägypten, Ungarn [EU!], Jordanien und Jemen. In den USA wurde das Einreiseverbot unter der Regierung Bush wenige Tage vor der internationalen Aids-­‐Konferenz 2008 faktisch auf-­‐
gehoben, aber erst unter Obama wurde das entsprechende Gesetz geändert. Mittlerweile erlaubt sogar China die Einreise HIV-­‐Positiver, allerdings nur als Tourist. Wer länger als sechs Monate im Land bleiben will, muss einen negativen HIV-­‐Test vorweisen. 16 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) Diskriminierung findet sich überall. So sahen sich laut einer Umfrage der Deutschen AIDS-­‐Hilfe 2012 etwa 20% der Infizierten in Deutschland in Arztpraxen, Kliniken oder Pflegeheimen mit Diskriminierung konfrontiert, speziell im gynäkologischen, chirurgischen und pflegerischen Bereich. Bei Zahnärzten sieht es mit dem Wissensstand besonders schlecht aus. HIV-­‐
Infizierte bekommen nur Termine am Ende der Sprechstunde, weil danach die Instrumente angeblich zwei-­‐, drei-­‐ oder sogar mehrfach sterilisiert werden müssen. Liebe Zahnärzte: Wenn die Instrumente nach dem ersten Mal nicht steril sind, braucht man vielleicht einen neuen Sterilisationsapparat … Sätze wie »Ich muss Sie nicht behandeln« eines Zahnarztes oder »Jetzt müssen wir wegen Ihnen den ganzen Rettungswagen desinfizieren« eines Sanitäters zeigen, wo die Defizite liegen. Deswegen freue ich mich, dass heute hier so viel interessierte Menschen zusammengekommen sind. Aber auch am Arbeitsplatz lauert Diskriminierung. Unter dem Deckmantel einer »verminderten Leistungsfähigkeit« werden Ängste vor einer Ansteckung am Arbeitsplatz versteckt, die nach außen – wenn überhaupt – eher als »Schutz von Kunden und Mitarbeitern« kommuniziert werden. Auch wenn man sich im Alltag überhaupt nicht mit HIV infizieren kann, rät der auf den Bereich HIV und Strafrecht spezialisierte Kölner Rechtsanwalt Jakob Hösl von einem Outing am Arbeitsplatz ab. Auch wenn das Versteckspiel schwere psychische Belastung erzeugen kann, wiegen Mobbing, Diskriminierung und eine evtl. Kündigung meist schwerer. Übrigens muss eine HIV-­‐Infektion in Deutschland nicht angegeben werden, da sie zum Bereich der informationellen Selbstbestimmung gehört; ähnlich einer Schwangerschaft darf man z.B. bei einem Einstellungsgespräch darüber ungestraft falsche Angaben machen. Mittlerweile hat das Bundesarbeitsgericht im Falle eines Berliner Chemielaboranten im Jahr 2012 entschieden, dass eine HIV-­‐Infektion als Behinderung im Sinne des Allgemeinen Gleichstellungs-­‐
gesetzes einzuordnen ist. Ich gelte schon seit 2001 als schwerbehindert, und zwar zu 70%. Das bringt mir einen Freibetrag bei der Steuer, verbilligten Ein-­‐
tritt ins Olympiastadion zu Spielen von Hertha BSC und vielleicht mal den Streit um einen Sitzplatz im Bus. Noch ist das nicht passiert, aber man darf gespannt bleiben … 17 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) Nur selten urteilen Richter im Sinne HIV-­‐Positiver. Maßstab der straf-­‐
rechtlichen Beurteilung einer HIV-­‐Weitergabe ist in Deutschland immer noch ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 1988 [sic!]. Zwei wesentliche Voraussetzungen müssen erfüllt sein: •
Die Infektion muss bekannt sein und •
auf Schutzmittel muss verzichtet worden sein. Damals war Stand der Wissenschaft: HIV führt zu AIDS und AIDS führt zum Tod – und als Schutz gibt es nur ein Kondom. Auch wenn diese Kausalität seit der Einführung der antiretroviralen Therapie gar nicht mehr besteht, hat sich an der Strafbarkeit nichts geändert. Die Tatsache, dass unter ART eine Weitergabe so gut wie ausgeschlossen ist und damit eine Körperverletzung gar nicht erst stattfinden kann, wird erst seit kurzem und nur in Einzelfällen berücksichtigt. In den USA dagegen hat sich die Formel »Have Sex, Go to Jail« durchgesetzt. Viele Staaten haben Gesetze zum Schutz der Gesunden vor den Infizierten erlassen. Die Grundlagen sind vielfältig: Mal sind es die Richtlinien gegen den Bio-­‐Terrorismus, mal ist es der Angriff mit einer tödlichen Waffe. Der Umgang mit Schusswaffen dagegen scheint jenseits des großen Teichs viel entspannter zu sein. Die schrägste Idee hatte übrigens ein Farmer aus dem Mittleren Westen: Er wollte einen HIV-­‐infizierten Nachbarn als biologische Kriegswaffe einstufen lassen. Da hatte sogar der Staatsanwalt ein Einsehen … A propos Staatsanwalt. 2010 erregte in Deutschland der Prozess um die »No Angels«-­‐Sängerin Nadja Benaissa Aufsehen. Sie war von einem früheren Lieb-­‐
haber wegen Übertragung einer HIV-­‐Infektion bei ungeschütztem Verkehr angezeigt worden. Da sie beruflich in den USA weilte, als sie zur polizeilichen Vernehmung geladen war, wurde sie nach ihrer Rückkehr bei erstbester Gelegenheit nach einem Auftritt in einer Frankfurter Diskothek verhaftet. Die Staatsanwaltschaft entblödete – bitte verzeihen Sie das Wort, aber anders kann man es nicht formulieren – sich nicht, in einer Presserklärung ihren HIV-­‐Status zu veröffentlichen, was dem Gesetz widerspricht. Sofort wurde sie öffentlich vorverurteilt. Während der Gerichtsverhandlung brüstete sich der infizierte Ex-­‐Freund dann auch noch damit, grundsätzlich ungeschützten Verkehr zu 18 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) betreiben. Der Richter kam zu einer – wie ich finde – salomonischen Entschei-­‐
dung. Er verurteilte die Sängerin zu zwei Jahren Haft auf Bewährung. Allerdings zeichnen sich Silberstreifen am Horizont ab: Vor wenigen Wochen wurde das Land Tirol auf € 35.000,-­‐ Schadenersatz und lebenslangem Aus-­‐
gleich zwischen realem Einkommen und dem Verdienst verurteilt, den ein Mitarbeiter bei einer üblichen Karriere in Landesdiensten erzielt hätte. Die vorzeitige Beendigung des Dienstverhältnisses mit dem homosexuellen und HIV-­‐infizierten Mann gründete sich auf eine Denunziation. Sein Ex-­‐Partner hatte den Mann wegen ungeschützten Oralverkehrs trotz einer HIV-­‐Infektion angezeigt; da keine Ejakulation stattgefunden hatte, wurde der Beklagte freigesprochen. Allerdings bekam er nur 6% seiner Anwaltskosten ersetzt. Der Ex-­‐Partner wollte sich so beim Arbeitgeber für seine Niederlage vor Gericht rächen. Wie geht es jetzt weiter? 2014 wurde bei der Welt-­‐Aids-­‐Konferenz das ehrgeizige Ziel »90-­‐90-­‐90« ausgerufen. Das heißt: Bis 2020 sollen 90% aller Infizierten ihren Status kennen, 90% davon Zugang zu Medikamenten haben und wiederum 90% davon unter der Nachweisgrenze sein. 19 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) Würde das Ziel erreicht, könnte die AIDS-­‐Epidemie im Jahre 2030 ein Ende haben. Das ist allerdings eine Mammutaufgabe: Laut Zahlen von 2012 sind sich weltweit etwa 54% der Betroffenen ihrer Infektion gar nicht bewusst und nur etwa 27% der bekannt Infizierten haben Zugang zu Medikamenten. Nach den aktuellsten Zahlen, die 2015 veröffentlicht wurden, gilt das sehr ambitionierte Ziel in Westeuropa, speziell Deutschland, Österreich und der Schweiz, als fast erreicht. Osteuropa hinkt mächtig hinterher. Übrigens: In den USA liegen die Werte gerade mal bei 86/37/30 – was im Wesentlichen an der unzureichenden Krankenversicherungssituation liegt. Und ganz am Rande: In Griechenland konnte man in den letzten zwei Jahren eine deutliche Zunahme von HIV-­‐Infektionen feststellen. Die Begründung klingt absurd, belegt aber, wie es um die sozialen Aspekte des EU-­‐Staates bestellt ist: Da es keine Grundsicherung, wie z.B. in Deutschland Hartz IV, gibt, infizieren sich Menschen freiwillig mit HIV, weil sie dann vom Sozialsystem unterstützt werden. Sie sehen keinen anderen Ausweg … Trotz aller Präventionsanstrengungen scheinen drei Fehlmeinungen – be-­‐
sonders bei jungen Menschen – nicht aus der Welt zu schaffen zu sein: 20 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) 1.) Ich erkenne Positive aus der Entfernung. Nein. Die Zeit der hohlwangigen Gesichter mit tiefen Augenhöhlen sowie dünnen Ärmchen und Beinchen ist zum Glück schon lange vorbei. Auch kommt die Lipodystrophie – eine Nebenwirkung der Therapie, bei der es zu Fettwanderungen am Körper kommt – nur noch selten vor. Dank einer funktionierenden antiretroviralen Therapie haben sich Lebensqualität und Lebensdauer sehr an die negative »Normalität« angenähert. Nehmen Sie mich als Beispiel. Man sieht’s mir nicht an. Aber gerade, weil man niemandem mehr die Infektion ansieht, ist das Schutzbewusstsein dringender als jemals zuvor. 2.) Ich bin ja nicht schwul. Weiß man’s? Leider gibt es immer noch erstaunlich viele Menschen, die HIV nach wie vor als »Schwulenseuche« bezeichnen. Tatsächlich sind in der sogenannten ersten Welt die meisten Infizierten homosexuell; weltweit beträgt der Frauenanteil an den mit HIV infizierten oder an AIDS erkrankten Menschen aber etwas mehr als 50%. So viel also zur Schwulenseuche! Dafür geht gerade von heterosexuellen Menschen, die sich oft nicht testen lassen, weil sie ja angeblich gar nicht betroffen sind, ein großes Risiko aus. Das Berliner Robert-­‐Koch-­‐Institut schätzt die Dunkelziffer in Deutschland – also Menschen, die das Virus in sich tragen, aber es nicht wissen, weil sie sich nie haben testen lassen – auf etwa 14.000 bis 15.000 Personen. Bei einer Gesamtzahl von 83.000 Infizierten in Deutschland halte ich diese Zahl für äußerst bedenklich! Da das Testverhalten bei homosexuellen Männern deut-­‐
lich ausgeprägter ist als bei ihren heterosexuellen Geschlechtsgenossen, darf man annehmen, dass ein Großteil der Dunkelziffer auf Heterosexuelle entfällt. 3.) HIV ist heilbar, es gibt Medikamente. Ja, es gibt Medikamente, aber nein, HIV ist nach wie vor nicht heilbar. Auch wenn durch die Therapie die Viruslast unter die Nachweisgrenze gedrückt wird, sind immer noch einzelne Viren in sogenannten Reservoirs vorhanden – wie »Schläfer«, die nur darauf warten, dass die Therapie unterbrochen wird 21 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) und sie sich wieder vermehren können. Allerdings reicht auch die Zahl dieser Schläfer-­‐Viren nicht für eine Infektionsweitergabe aus, so dass die Therapie wirklich als Schutzmaßnahme funktioniert. Aktuelle Bestrebungen in der Forschung verlaufen zweigleisig: Auf der einen Seite werden neue Wege der Medikamentation, z.B. durch Spritzen erprobt, die vielleicht – vielleicht! – den Weg zu einer Impfung ebnen können. Auf der anderen Seite wird erforscht, wie man die eben erwähnten »schlafenden Viren« aus ihren Reservoirs locken kann, um sie mit der antiretroviralen Therapie bekämpfen zu können. Ganz frisch – von Ende Februar 2016 – ist die Meldung, dass Forscher aus Hamburg und Dresden einen vielversprechenden Ansatz zur Heilung gefunden zu haben glauben: die molekulare Enzym-­‐Schere, mit der die HIV-­‐
DNA aus den Zellen herausgelöst und abgebaut werden kann. Bereits vor einem Jahr, im Januar 2015, waren entsprechende Versuche bei Mäusen geglückt, nun steht die Erprobung bei HIV-­‐Patienten an. Aber – ein ganz großes Aber: Noch stehen die notwendigen Gelder nicht zur Verfügung – und ob Menschen genau so wie Mäuse reagieren, ist nicht sicher. Leider wurde bei aller Begeisterung in der Presse ein Punkt immer wieder deutlich: Ein »nicht geheilter« HIV-­‐Patient scheint nichts wert zu sein, die ART wird als Fortschritt immer noch nicht anerkannt. Dass sich Lebensqualität und -­‐erwartung dadurch an die »negative« Normalität angenähert haben, wurde auch hier wieder ausgeblendet. 22 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) Die HIV-­‐Infektion hat im Laufe ihrer Existenz viel von ihrem Schrecken verloren. Die Anzahl der Positiven steigt von Jahr zu Jahr, weil immer weniger Menschen an den Folgen einer Infektion sterben müssen. Und von Jahr zu Jahr steigt die Zahl der Positiven, die dank antiretroviraler Therapie die Infektion nicht mehr weitergeben können. Mit Kondom, Therapie und – falls sie offiziell zugelassen wird – der Prä-­‐Expositionsprophylaxe stehen drei Schutz-­‐
maßnahmen zur Auswahl, die sogar kombiniert werden können. Vielleicht kommen in Zukunft noch Vaginalgele oder -­‐ringe dazu. Sexualität ist in meinen Augen ein Teil der zwischenmenschlichen Kommunikation – insofern stellt sich die sexuelle Kommunikation wie folgt dar: Was man daraus macht, sollte jedem selbst überlassen sein. Aber ich verweise immer wieder gerne auf eine Veröffentlichung der Deutschen AIDS-­‐
Hilfe aus dem Jahr 2010: Das »Prinzip der geteilten Verantwortung«. Nicht der Positive ist alleine in der Pflicht, für ausreichend Schutz zu sorgen; jeder hat die Aufgabe, seine eigenen Gesundheitsinteressen wahrzunehmen. Gesundheit ist ein hohes Gut, das man nicht leichtfertig an (vielleicht unbekannte) Partner oder Partnerinnen delegieren sollte. Aus medizinischer Sicht muss heute niemand mehr Angst vor HIV und erst recht nicht vor HIV-­‐Infizierten haben. Respekt genügt vollauf. Allerdings muss man uns Positive auch nicht in Watte packen. Stattdessen sollte man sich lieber informieren. Wer über HIV, die Infektionswege, die Schutzmaßnahmen und die Wirkung der Therapie Bescheid weiß, braucht weder Angst noch Panik zu haben und kann sich auch dramatische Phobien ersparen, wie ich sie 23 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) manchmal in einem HIV-­‐Forum erlebe. Hier haben User alle von Prof. Google und Dr. Wikipedia – wissen wir eigentlich, welche Fachrichtungen diese »Spezialisten« studiert haben? – diagnostizierten Symptome … und sind doch negativ. Auch wenn sie bis zu dieser Erkenntnis manchmal bis zu 20 Tests brauchen. Wer informiert ist, muss auch nicht mehr diskriminieren. Und er kann auch auf so blödsinnige Aktionen verzichten, wie die folgende aus dem September 2014. Unter der Überschrift: »Urin-­‐Skandal beim FC Baden: Du hast dich angesteckt, du hast Aids!« berichtete die Aargauer Zeitung über einen Zwischenfall in der zweiten Halbzeit des schweizerischen Erstliga-­‐Fußballspiels Baden gegen Muri. »Ein Badener Anhänger sprang mehr oder weniger unbemerkt hinter das Tor [...] des Torhüters des FC Muri. Er schnappte sich [dessen] Trinkflasche, schüttete diese aus und urinierte hinein. [Der Torhüter] bemerkte es erst, als er einen Schluck zu sich nahm. ›Ich habe getrunken und gemerkt, da ist etwas nicht gut. Warm, komisch – das ist Urin.‹ Dann hätten die Badener Fans geschrien: ›Du hast dich angesteckt! Achtung, du hast Aids!‹« Ungeachtet der Tatsache, dass dies natürlich kein Infektionsweg ist, war der Vorfall dem Präsidenten des FC Baden »höchst unangenehm«, als »schwerwiegenden Akt« wollte er ihn aber nicht verstanden wissen, das sei – Zitat: »eher in der Kategorie Lausbuben-­‐
streich« anzusiedeln. Naja, Fair Play geht anders … Wie man es nun dreht und wendet, letztlich bleibt es dabei: HIV ist – mit Verlaub – Mist. Aber es ist schon lange kein Grund mehr, zu sterben. HIV ist eine Krankheit, die ihr Gesicht verändert hat. Schauen wir also nicht mehr in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Schöner als die junge Indonesierin Ayu Oktariani kann man den Wunsch nach Normalität nicht formulieren. Beim 24 Matthias Gerschwitz: HIV – Eine Krankheit verändert ihr Gesicht (Bregenz, 4. März 2016) Welt-­‐Aids-­‐Kongress 2014 in Melbourne erklomm sie mit einem Dutzend HIV-­‐
infizierter landestypisch gekleideter Jugendlicher die Bühne und rief: Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht der Wunsch, an einer Welt zu arbeiten, in der alle Menschen – auch jene ohne HIV – überall mit Respekt behandelt werden. Herzlichen Dank. Matthias Gerschwitz betreibt in Berlin eine Werbeagentur und ist Buchautor. 1994 wurde beim ersten Test eine HIV-­‐Infektion festgestellt, die er sich sehr wahrscheinlich bereits 1992 zugezogen hat. Er hat u.a. drei Bücher zum Thema HIV geschrieben: Endlich mal was Positives Band 1: »Offensiv und optimistisch – Mein Umgang mit HIV« Norderstedt (2009), ISBN: 978-­‐3-­‐83911-­‐843-­‐6 Band 2: »Interessant und informativ: Wissenswertes zu HIV & AIDS« Norderstedt (2015), ISBN: 978-­‐3-­‐73473-­‐478-­‐6 Beyond the Virus »HIV infected my blood but not my life« Scotts Valley, CA (2015), ISBN: 978-­‐1-­‐51885-­‐797-­‐3 Die deutschen Bücher sind über den stationären oder den Online-­‐Buchhandel zu beziehen, die englische Ausgabe nur über Amazon. Alle Bücher auch als eBook erhältlich. 25 
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