Ethische Falldiskussion: Dialyseabbruch Vorgestellt wird der Fall einer 28jährigen Patientin mit systemischem Lupus erythematodes seit dem 16. Lebensjahr, die nach jahrelanger Therapie mit Steroiden und cytotoxischen Substanzen (Cyclophosphamid, Azathioprin) über ein Jahr lang homöopathisch behandelt worden war und in stark reduziertem Allgemeinzustand in die Universitätsklinik verlegt Es blieb die Frage, welchen »Lerneffekt« die Reflexion über derartige Verläufe erbringen könne. wurde. Der Zustand der anfänglich beatmungs-, dialyse- und intensivpflichtigen Patientin konnte zunächst soweit gebessert werden, dass sie entlassungsfähig wurde und in eine Rehabilitationsklinik verlegt werden konnte. Die Dialysepflichtigkeit blieb allerdings bestehen. Eine Nierenbiopsie lehnte die Patientin ebenso ab wie eine Weiterbehandlung mit Cyclophosphamid, der Dialyse hatte sie dagegen stets zugestimmt. Aus der Rehabilitation kehrte die Patientin nach vier Wochen wieder intensivpflichtig ins Klinikum zurück. Unter erneuter Cyclophosphamidgabe kam es zu einer passageren Verbesserung, ehe Leukopenie sowie anhaltende pulmonale Blutungen zu einer weiteren gravierenden Zustandsverschlechterung führten. Zwischenzeitlich ließ sich zudem eine ausgeprägte Hirnschädigung durch Mikrothromben oder Vaskulitis nachweisen. Zur Diskussion gestellt wurde nun das weitere Procedere vor 200 Zuhörern. 38 S38-41.pmd Die große Mehrheit des Auditoriums sprach sich anfangs für eine Fortsetzung der Erhaltungstherapie aus, gerade Experten auch für eine Intensivierung der Immunsuppression. Die Diskussion kreiste thematisch um Fragen der Patientenautonomie, akzentuiert durch die Zusatzinformation, dass die um mehrere Jahre jüngere Schwester, gleichzeitig Betreuerin der Patientin, wiederholt deren mutmaßlichen Willen vehement vertreten hatte, gerade wenn es um die Ablehnung einer cytostatischen Therapie, ja sogar der Gabe von Schmerzmitteln ging, wobei insbesondere letzteres auf Unverständnis beim Auditorium stieß. Eine nochmalige Abstimmung erbrachte eine leichte Verschiebung des Meinungsbilds zugunsten einer eher therapiebegrenzenden Vorgehensweise, bevor der tatsächliche weitere Verlauf zur Diskussion gestellt wurde: Fortsetzung intensivmedizinischer Maßnahmen sowie der Dialyse bis zum unter großen Leiden eingetretenen Tod. Nunmehr eingehende Wortmeldungen favorisierten eindeutig die Reduktion beziehungsweise den Abbruch der Nierenersatztherapie. In den USA resultieren ungefähr 20 Prozent aller Todesfälle bei Dialysepatienten aus dem Abbruch der Therapie (Moss, AH.; 2001). In Deutschland sind solche Fälle (bisher) eher selten, der Jahresbericht 2001/02 von QuaSi-Niere gibt hier 2,4 Prozent an (Frei, U.; Schober-Halstenberg, HJ.; 2002). Es ist allerdings zu erwarten, dass deren Zahl in Zukunft ansteigen wird. Die Diskussion über einen etwaigen Dialyseabbruch, sie wird in den USA seit Jahren geführt, steckt in Deutschland jedoch noch in den Anfängen. Das seltene Vorkommen von Therapieabbrüchen in der Dialyse hierzulande überrascht eigentlich, ist doch der Abbruch anderer therapeutischer Maßnahmen im klinischen Alltag durchaus häufiger. Die ethischen Kriterien für Therapieabbrüche im Allgemeinen sind seit langem definiert (Birnbacher, D.; 1994): Ein Behandlungsabbruch ist möglich, wenn nicht sogar zwingend bei Sinnlosigkeit der Maßnahme, bei einer unausgeglichenen Nutzen-Schadensbilanz für den Patienten, bei Ablehnung durch den Patienten selbst sowie bei mangelnder Verteilungseffizienz, das heißt, wenn eine Knappheit an Ressourcen zur Entscheidung zwingt, wem eine erforderliche Therapie angeboten beziehungsweise vorenthalten werden muss. Wenn unter Ressourcen auch das Personal und dessen Arbeitszeit verstanden werden, ist eine solche Knappheit auch in Deutschland gegeben, die Zahl der vorgehaltenen Dialyseplätze allerdings limitiert aktuell (noch?) nicht die therapeutischen Möglichkeiten. Die gegenwärtige ökonomische Entwicklung lässt indes ahnen, dass sich dies eines Tages ändern könnte. Was macht Entscheidungen zum Therapieabbruch gerade im Dialysebereich so schwierig? Große Probleme entstehen bei der praktischen Umsetzung der oben genannten Kriterien. Die Definition von Sinn beziehungsweise Sinnlosigkeit, die Abwägung von Nutzen oder Schaden für den Patienten können sehr schwierig sein angesichts stark divergierender Erwartungen und Erfahrungshorizonte aller Beteiligten. Die Ablehnung der Therapie durch den Patienten schließlich wirft die Frage auf, wie viel an Autonomie man diesem zubilligen will. Die hohe Bewertung der persönlichen Freiheit in den USA könnte der Grund sein für die dortige große Zahl an Therapieabbrüchen. In den USA wurde 1997 eine Arbeitsgruppe eingesetzt mit dem Ziel, ethische Leitlinien zur Indikationsstellung oder zum Dialyseabbruch zu entwickeln (Moss, AH.; 2001), diese wurden im Jahr 2000 veröffentlicht (»Shared Decision-Making in the Appropriate Initiation of and Withdrawal from Dialysis«). Für das berechtigte Vorenthalten beziehungsweise den berechtigten Abbruch der Nierenersatztherapie werden verschiedene Situationen definiert: Der voll entscheidungsfähige, voll informierte Patient, der auf Dialyse verzichten möchte oder deren Abbruch wünscht. Der nicht mehr entscheidungsfähige Patient, der dies zuvor mündlich oder schriftlich verfügt hat, der nicht mehr entscheidungsfähige Patient, dessen rechtliche(r) Vertreter die Dialyse ablehnen und schließlich der Patient mit irreversibler neurologischer Schädigung, bei dem von einem Fehlen von Denken, Fühlen, sinnvollem Handeln und Wahrnehmung seiner Dialyse aktuell 4/2003 38 27.05.2003, 18:50 Tab.: Kriterien zum Abbruch beziehungsweise zur Nichtaufnahme einer Behandlung (nach Birnbacher 1994) Fazit? Die Diskussion des Themas muss auch bei uns breit geführt werden, wobei hier die in anderen Ländern bereits entwickelten ethischen Standards als Grundlage dienen sollten. Denn es kommt nicht darauf an, in Deutschland das Rad neu zu erfinden, sondern rasch Antworten auf drängende Fragen zu geben. Literatur Birnbacher, D.: Ethische Kriterien des Behandlungsabbruchs, Zentralblatt für Chirurgie 119 (1994), 198 200. Cohen, LM.; Germain, MJ.; Poppel, DM.; Woods, AL.; Pekow, PS.; Kjellstrand, CM: Dying well after discontinuing the lifesupport treatment of dialysis, Archives of Internal Medicine 160(16) (2000), 2513 2518 selbst sowie der Umwelt auszugehen ist. Um sicherzustellen, dass nicht eine vorübergehende Beeinträchtigung des Urteilsvermögens des Patienten dessen Entscheidung beeinflusst, befähigt eine »Checkliste« das nephrologische Team, potentiell reversible Faktoren wie zum Beispiel eine depressive Verstimmung zu erkennen und gegebenenfalls professionelle Hilfe anbieten zu können. Der im Fall des Therapieabbruchs eintretende Tod und die für diesen Fall notwendigen Palliativmaßnahmen finden entsprechend ihrer immensen Bedeutung ausführlich Berücksichtigung. Das notwendige Flüssigkeitsmanagement (möglichst wenig) und die erforderliche Analgesie (möglichst ausreichend) sind ebenfalls Gegenstand der Leitlinie. In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist die Tatsache, dass eine Untersuchung aus den USA den Tod nach Dialyseabbruch in den meisten Fällen als »gut« oder »sehr gut« klassifiziert (Cohen, LM. et al.; 2000). Ist damit in den USA »alles gut« und jeglicher Diskussionsbedarf beseitigt? Bei weitem nicht! Erst kürzlich erntete dort die provokativ aufgestellte These, zu viele zu kranke Patienten würden ins chronische Dialyseprogramm aufgenommen, heftigen Widerspruch (Levinsky, NG.; 2003). Der Autor warnt davor, dass bei der Abwägung von Nutzen und Schaden für den Patienten unbewusst gar ökonomische Faktoren oder persönliche Vorurteile des Arztes mit einfließen könnten, insbesondere, wenn es um die Einschätzung der Lebensqualität des Patienten geht. Diese Einschätzung stehe letztendlich nur dem Patienten selbst zu. Standardisierte, quasiobjektive Tests kämen zu falschen Ergebnissen. Bei allen Unterschieden der Sichtweise scheint sich eine gemeinsame Betrach40 S38-41.pmd tungsweise der Amerikaner herauszukristallisieren: die Betonung der persönlichen Freiheit. Europäische Tradition ist es eher, die Rechte der Gesellschaft zu sehen. Ein italienischer Autor (Rombola, G.; 2002) stellt neuerdings die Frage, ob tatsächlich Dialyse für jeden um jeden Preis der richtige Weg sei. Auf jeden Fall könnten Ärzte nicht annehmen, die beste Lösung sei stets gleichbedeutend mit der Ausdehnung des Lebens des Patienten. Der Autor betont den großen Diskussionsbedarf zu diesem Thema innerhalb der nephrologischen Gemeinschaft und warnt gleichzeitig davor, hier das Feld der Politik zu überlassen auf die Gefahr hin, dass Ärzte zukünftig in eine Vermittlerrolle gedrängt werden könnten zwischen Individual- und Gesellschaftsinteressen mit der Folge, dass sie nicht mehr in der Lage wären, ihren spezifisch ärztlichen ethischen Aufgaben zu genügen. Ausdrücklich wird auf die (oben besprochenen) amerikanischen Leitlinien verwiesen als Grundlage für eine ausführliche Diskussion. Und in Deutschland? Allein eine Internetrecherche zum Stichwort »Dialyseabbruch« erbringt einige wenige Treffer (passend auf eine DIN A4-Seite) und zeigt damit den offensichtlich geringen Stellenwert des Themas in der Öffentlichkeit, auch die Suche im Fachschrifttum ergibt, dass deutsche Autoren sich hier wenig hervortun. Dabei sind solche Themen heute nicht mehr allein im nationalen Rahmen diskutierbar. Zumindest wäre eine Diskussion im europäischen Rahmen zu fordern. In anderen europäischen Ländern scheint man hier schon weiter fortgeschritten (Rodriguez, Jornet A. et al.; 2001). Der durch Therapieabbruch zustande gekommene Anteil aller Todesfälle an der Dialyse wird dort auf 26 Prozent beziffert. Offensichtlich steht auch in Spanien ein Protokoll zur Einleitung beziehungsweise zum Abbruch der Dialysetherapie zur Verfügung. Frei, U.; Schober-Halstenberg, HJ.: Nierenersatztherapie in Deutschland. Jahresbericht Quasi-Niere 2001/2002, Berlin 2002 Levinsky, NG: Too Many Patients Are Too Sick to Benefit Start Chronic Dialysis Nephrologists Need to Learn to »Just Say No«, Con:, American Journal of Kidney Diseases 41 (2003), 728 732 Moss, AH: Shared Decision-Making in Dialysis: The New RPA/ ASN Guideline on Appropriate Initiation and Withdrawal of Treatment, American Journal of Kidney Diseases 37 (2001), 1081 1091 Rodriguez, Jornet A.; Garcia, M.; Hernando, P.; Ramirez, Vaca J.; Padilla, J.; Ponz, E.;Almirall, J.; Rue, M.; Martinez, Ocana JC.; Yuste, E.; Canellas, M.; Ciurana, JM.; Royo, C.; Garcia, Moreno S.: Patients with end-stage chronic renal insufficiency on programmed withdrawal from dialysis, Nefrologia 21(2) (2001), 150 -159 Rombola, G.: Dialysis for everybody? At any cost? Journal of Nephrology 15 Suppl 6 (2002), 33 42. Autoren: Dr. med. Hartmut Winter Internist Mitarbeiter der Sektion Nephrologie Universität Ulm Robert-Koch-Str. 8 89081 Ulm Dr. med. Klaus-Dieter Hanel Internist, Nephrologe Chefarzt Innere Abteilung Klinikum am Eichert Eichertstr. 3 73035 Göppingen Simica Doslic Leitende Krankenschwester der Dialysestation Sektion Nephrologie Universität Ulm Robert-Koch-Str. 8 89081 Ulm Prof. Dr. med. Frieder Keller Internist, Nephrologe Leiter der Sektion Nephrologie Universität Ulm Robert-Koch-Str. 8 89081 Ulm Dialyse aktuell 4/2003 40 27.05.2003, 18:51