Johannes Schwarte Dieses Buch verdankt sich der Beobachtung, dass in öffentlichen Debatten, in denen es direkt oder indirekt um Fragen der Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen geht, eine große Diskrepanz festzustellen ist zwischen den Erkenntnissen verschiedener anthropologischer Wissenschaften und dem öffentlichen Bewusstsein. Häufig werden solche Debatten geführt, als gäbe es diese Erkenntnisse nicht. Gemeint sind Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie, der Sozialisationsforschung, Hirnforschung, Bindungsforschung und Moralisationsforschung. In der Perspektive dieser Erkenntnisse ist anthropologische Ignoranz das Hauptmerkmal der erwähnten öffentlichen Debatten. Ziel dieses Buches ist ein Beitrag zur Überwindung der anthropologischen Ignoranz durch anthropologische Aufklärung. Zu diesem Zweck werden die erwähnten anthropologischen Erkenntnisse allgemeinverständlich, aber wissenschaftsnah vorgestellt, gebündelt und in eine einheitliche Perspektive hineingestellt. Sie wird im Buch als sozialisationstheoretische Perspektive bezeichnet. Der Begriff Sozialisation impliziert, dass die Persönlichkeitsentwicklung sehr tiefgreifend von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie sich vollzieht, und von den Erfahrungen, die diese Bedingungen mit sich bringen, mitbestimmt wird. Die sozialisationstheoretische Perspektive widerspricht somit einer naturwüchsigen oder biologistischen Auffassung von der Persönlichkeitsentwicklung, wonach sie analog zu den übrigen Wachstumsprozessen der Natur erfolgen würde und der Entfaltung eines genetischen Programms gleichkäme. Das vorliegende Buch will nicht nur zeigen, wie unangemessen diese Auffassung von der Persönlichkeitsentwicklung angesichts des heutigen anthropologischen Kenntnisstandes ist, sondern auch, wie weitreichend jeweils die Folgen sind: ob man die Menschwerdung des Menschen in quasi-naturwüchsiger oder in sozialisationstheoretischer Perspektive betrachtet. Es plädiert dafür, der Plastizität des Menschen in seiner Entwicklung Rechnung zu tragen, den Prozess der Menschwerdung des Menschen (Sozialisation) als einen ergebnisoffenen und dynamischen zu betrachten und aus der Dynamik dieses ergebnisoffenen und vielfach gefährdeten Prozesses weit reichende Folgerungen für das Menschenbild und das sich daraus herleitende gesellschaftliche Handeln zu ziehen. Die Plastizität des Menschen Johannes Schwarte Die Plastizität des Menschen Ergebnisoffenheit und Beeinflussbarkeit der Persönlichkeitsentwicklung 2., aktualisierte Auflage ISBN 978-3-8487-2208-2 Nomos BUC_Schwarte_2208-2.indd 1 05.11.15 17:19 http://www.nomos-shop.de/24530 Johannes Schwarte Die Plastizität des Menschen Ergebnisoffenheit und Beeinflussbarkeit der Persönlichkeitsentwicklung BUT_Schwarte_2208-2.indd 3 05.11.15 11:20 http://www.nomos-shop.de/24530 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-2208-2 (Print) ISBN 978-3-8452-6303-8 (ePDF) edition sigma in der Nomos Verlagsgesellschaft 1. Auflage 2015 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2015. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. BUT_Schwarte_2208-2.indd 4 05.11.15 11:20 http://www.nomos-shop.de/24530 Vorwort Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine überarbeitete und gekürzte Neuauflage des Werkes „Der werdende Mensch“.1 Mit dieser Neuauflage wird eine andere Zielsetzung verfolgt. Bezugnahmen auf aktuelle Themen werden eingeschränkt. Die Darstellung der anthropologischen Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung tritt in den Vordergrund. Das Buch will eher einen Beitrag zur anthropologischen Aufklärung und damit zur Bewusstseinserweiterung der Öffentlichkeit leisten, als dass es in konkrete aktuelle Debatten einzugreifen und diese zu beeinflussen beabsichtigt. Die sich ergebenden Schlussfolgerungen werden weitgehend dem Leser überlassen. Den Anstoß zu dieser Neuauflage gibt die weiterhin zu beobachtende anthropologische Ignoranz in öffentlichen Debatten, in denen die anthropologischen Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung zur Sprache kommen müssten. Sie werden aber nicht angesprochen, weil sie nicht bekannt, jedenfalls nicht so verinnerlicht sind, dass sie Bestandteil des üblichen Argumentationsarsenals wären. Wie bereits 2002 im damaligen Vorwort festgestellt, ist es weiterhin offenkundig, dass wichtige Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie und der Sozialisationsforschung über Bedingungen und Gefährdungen der Persönlichkeitsprägung des Menschen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts gewonnen wurden, bis heute nicht wirklich vom öffentlichen Bewusstsein rezipiert worden sind. Nach wie vor ist eine Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Kenntnisstand über Bedingungen und Risiken der Persönlichkeitsentwicklung und den Überzeugungen des öffentlichen Bewusstseins in dieser Frage festzustellen. Darum ist es das Hauptziel dieses Buches, wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie, der Sozialisationsforschung, der Bindungsforschung und der Hirnforschung zu bündeln, zu integrieren und sie in möglichst allgemeinverständlicher, aber durchaus wissenschaftsnaher Form in einer einheitlichen Perspektive der Öffentlichkeit vorzustellen. Es erhebt nicht den Anspruch, grundlegend neue Erkenntnisse zu präsentieren. Vielmehr will es auf wichtige Ergeb1 Johannes Schwarte: Der werdende Mensch. Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaft heute. Wiesbaden 2002. 5 http://www.nomos-shop.de/24530 Vorwort nisse aufmerksam machen, die teilweise bereits einige Jahrzehnte alt sind (wie die Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie und der Sozialisationsforschung), teilweise allerdings auch erst in jüngster Zeit gewonnen wurden (wie die Erkenntnisse der Bindungsforschung und der Hirnforschung). Dabei handelt es sich um Erkenntnisse, die für die gesamte Gesellschaft und ihr Überleben von grundlegender Bedeutung sind, aber bisher kaum beachtet wurden. Die erwähnte einheitliche Perspektive der Darstellung ist die von Erkenntnissen der Sozialisationstheorie und Sozialisationsforschung bestimmte, die im Buch der Kürze halber als „sozialisationstheoretische Perspektive" bezeichnet wird. Der Begriff Sozialisation behauptet, dass die Persönlichkeitsentwicklung sehr tiefgreifend von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie sich vollzieht, und von den sozialen Erfahrungen, die diese Bedingungen mit sich bringen, mitbestimmt wird. Ferner impliziert der Begriff Sozialisation, dass die Persönlichkeitsentwicklung im Augenblick der Geburt völlig ergebnisoffen ist und also auch partiell oder sogar total misslingen kann. Auf diesen Sachverhalt wollen die Begriffe Plastizität und Ergebnisoffenheit im Buchtitel aufmerksam machen. Dieser Sachverhalt ist dem öffentlichen Bewusstsein offenkundig zu wenig präsent. Noch immer dominiert wie selbstverständlich eine quasinaturwüchsige Auffassung von der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen: Als ob die „Natur" diese Entwicklung gleichsam „verbürgte" und es somit nur eine Frage der Zeit wäre, bis aus dem neugeborenen Menschenkind ein reifer, mündiger Bürger mit sozial verträglicher Handlungskompetenz und moralischer Verantwortungsfähigkeit geworden ist. Die Öffentlichkeit glaubt anscheinend nicht, „dass Menschsein von der Wurzel her total misslingen kann" (Joachim Illies). Die hier vertretene sozialisationstheoretische Position widerspricht einer naturwüchsigen oder biologistischen Auffassung von der Persönlichkeitsentwicklung, wonach sie analog zu den übrigen Wachstumsprozessen der Natur erfolgen würde und lediglich die Entfaltung eines genetischen Programms darstellte. Diese Auffassung ist − zumeist unausgesprochen und unreflektiert − offenkundig in unserer Gesellschaft noch immer sehr weit verbreitet. Das vorliegende Buch will nicht nur zeigen, wie unangemessen diese Auffassung über die Persönlichkeitsentwicklung angesichts des heutigen anthropologischen Kenntnisstandes ist, sondern auch, wie weitreichend jeweils die Folgen sind: ob man die Menschwerdung des Menschen in qua6 http://www.nomos-shop.de/24530 Vorwort si-naturwüchsiger oder in sozialisationstheoretischer Perspektive betrachtet. Es plädiert dafür, der Plastizität des Menschen in seiner Entwicklung Rechnung zu tragen und den Prozess der Menschwerdung des Menschen (Sozialisation) als einen ergebnisoffenen und dynamischen zu betrachten und aus der Dynamik dieses ergebnisoffenen und vielfach gefährdeten Prozesses weit reichende Folgerungen für das Menschenbild und das sich daraus herleitende gesellschaftliche Handeln zu ziehen. Münster, im Sommer 2015 Johannes Schwarte 7 http://www.nomos-shop.de/24530 Inhaltsverzeichnis Einleitung 23 Erstes Kapitel: Phänomene gestörter Menschwerdung im Lichte der Sozialisations-und Zivilisierungsforschung 35 1. Entzivilisierungsphänomene bei Kindern und Jugendlichen als Indikatoren unzureichender Sozialisation und Anfrage an die gesellschaftlichen Sozialisationsbedingungen 1.1 „Wilde Kinder“ und ihr sozialisationstheoretischer Erkenntniswert 1.2 Neue „Sozialisationstypen“ 1.2.1 Neue Schulkinder 1.2.2 Ausrastende Kinder 1.2.3 Neuer „Täter-Typ“ 1.2.4 „Neue Gehirne“ 2. Entzivilisierungsphänomene im Licht der Zivilisierungstheorie von Norbert Elias 2.1 Besonderheiten des abendländischen Zivilisierungsprozesses 2.2 Folgerungen aus der Zivilisierungstheorie für das Menschen- und Gesellschaftsbild 2.3 Keine Zivilisierung ohne gesellschaftliche Zwänge: „Modellierung“ durch Sanktionen 3. Sozialisationsdefizite als Folge gesellschaftlicher Erziehungsund Sozialisationsvergessenheit 3.1 Elterliche Erziehungsvergessenheit 3.2 Wandel der Erziehungsziele und ihre Problematik 3.3 Gesellschaftliche Sozialisationsvergessenheit 3.3.1 Klärung des Begriffs Sozialisation durch Abgrenzung von Lernen und Erziehung 3.3.2 Sozialverträgliche Handlungskompetenz als Resultat einer Kombination aus Lernergebnissen, Sozialisations- und Erziehungsresultaten 35 36 37 38 39 40 41 45 52 53 55 57 58 61 63 63 71 9 http://www.nomos-shop.de/24530 Inhaltsverzeichnis 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.3.3 Folgen mangelnder Berücksichtigung des Unterschieds von Erziehung und Sozialisation 3.3.4 Folgen der fehlenden sozialisationstheoretischen Perspektive Vernachlässigung der Erforschung der erzieherischen Gesamtsituation Merkmale günstiger Sozialisationsbedingungen 3.5.1 Nachahmung als Triebfeder des Sozialisationsprozesses 3.5.2 Faktoren des Sozialisationsklimas Zum gegenwärtigen öffentlichen Sozialisationsklima Zu den gesamtgesellschaftlichen Sozialisationsbedingungen Möglichkeiten der Verbesserung des Sozialisationsklimas 3.8.1 Zur indirekten Erziehung durch ein günstiges Sozialisationsklima 3.8.2 Sozialisatorische Aufklärung und ihre Auswirkungen 3.8.3 Moralischer Umweltschutz als politische Aufgabe: Plädoyer für Sozialisationspolitik 72 77 79 83 83 84 85 89 92 94 95 98 Zweites Kapitel: Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie und der Sozialisationsforschung über Bedingungen und Gefährdungen der Persönlichkeitsentwicklung („Menschwerdung des Menschen“) 101 1. Erinnerung an ältere anthropologische Weisheiten 101 2. Hinweise auf die Offenheit der Frage nach dem Menschen 104 3. Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts 3.1 Zur Unabschließbarkeit der philosophischen Frage nach dem Menschen 3.1.1 Karl Jaspers: Der Mensch übersteigt sein Verstehen 3.1.2 Entwurf einer „offenen und imperativen Anthropologie“ 3.1.2.1 Zur Unabgrenzbarkeit und Unabschließbarkeit der anthropologischen Frage 3.1.2.2 Frage nach dem Menschen zugleich eine Frage nach Gott und der Welt 10 106 106 106 107 109 109 http://www.nomos-shop.de/24530 Inhaltsverzeichnis 3.2 Vorläufer der modernen philosophischen Anthropologie 3.2.1 Immanuel Kant (1724−1804): Menschwerdung erfordert Erziehung 3.2.2 Johann Gottfried Herder (1744−1803): Menschwerdung durch Umwandlung von Animalität in Humanität 3.2.3 Jean Itard (1774−1838): Menschwerdung des Menschen kein naturwüchsiges Geschehen 3.3 Anthropologische Erschütterungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts 3.3.1 Intensivierung des philosophischen Nachdenkens über den Menschen als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg 3.3.2 Weitere Zuspitzung der anthropologischen Verunsicherung durch den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust 3.3.2.1 Theodor W. Adorno (1903–1969): Fragen nach dem Werdeprozess „der für die Welt von 'Auschwitz' charakteristischen Typen“ erforderlich a) Merkmale der „für die Welt von Auschwitz charakteristischen Typen“ b) Ratschläge zur Verhinderung einer Wiederholung von „Auschwitz“ c) Identifikation mit Werten und Stärkung der Autonomie als wirksamstes Mittel gegen Manipulation 3.3.2.2 Johannes Messner (1891–1984): Widersprüchlichkeit in der menschlichen Existenz 3.3.2.3 Hans Jonas (1903–1979): Geschichte als anthropologische Informationsquelle 3.3.2.4 Thomas Mann (1875–1955): Hitler als „Bruder“, als Anlass zum „Sich-wiederErkennen“ und zur „Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten“ 3.3.2.5 Joachim Fest (1926–2006): Hitlers „paradoxe Modernität“ 110 110 111 112 113 114 116 117 117 118 119 120 121 123 126 11 http://www.nomos-shop.de/24530 Inhaltsverzeichnis 3.3.2.6 Stanley Milgram (1933–1984): Ermittlung eines „fatalen menschlichen Defektes“ a) Ergebnis des Milgram-Experiments: fehlende Standfestigkeit in der Konfrontation mit Autorität b) Anthropologische Bedeutung der Ergebnisse: Labilität als anthropologische Konstante 3.3.2.7 Hannah Arendt (1906–1975): „Eichmann in uns“ 3.3.2.8 Gertrud von le Fort (1876–1971): „Untergang des menschlichen Bildes“ 3.3.2.9 Johann Baptist Metz (geb. 1928): „Zersetzung unseres zivilisatorischen Urvertrauens“ 3.4 Neubesinnung auf den Menschen als neue Aufgabe der philosophischen Anthropologie 3.4.1 Max Scheler (1874−1928): Instinktenthobenheit und Weltoffenheit konstituieren den Menschen als „Neinsagenkönner“ 3.4.2 Ernst Cassirer (1874–1945): Der Mensch ist mehr als ein Vernunftwesen: Er ist ein Symbolwesen 3.4.3 Helmuth Plessner (1892−1985): Exzentrizität des Menschen begründet seine Normierungsbedürftigkeit; Orientierungsbedürftigkeit (Labilität) schließt die Möglichkeit der Desorientierung ein 3.4.4 Arnold Gehlen (1904−1976): Das instinktreduzierte „Mängelwesen“ Mensch braucht Institutionen als Stabilisatoren gegen seine „Ausartungsbereitschaft und Chaotik“ 3.4.5 Adolf Portmann (1897−1982): „Normale Frühgeburt“ des Menschen ermöglicht frühzeitigen Beginn der Menschwerdung des Menschen im „sozialen Uterus“ Familie 3.4.6 Michael Landmann (1913−1984): Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf von Kultur und in polarer Spannung von Kreativität und Modellierbarkeit 3.4.6.1 Ansatz beim Unterschied von Natur und Kultur 3.4.6.2 Folgerungen für die Erziehungsproblematik 12 127 128 128 129 130 132 133 134 138 143 144 146 147 148 154 http://www.nomos-shop.de/24530 Inhaltsverzeichnis 3.4.6.3 „Anthropologischer Ort der Erziehung“ 3.4.6.4 Selbstvollendungsaufgabe des von Natur aus unfertigen Menschen bedingt seine Selbsterforschung und begründet das zentrale Erziehungsziel 3.4.6.5 Folgerungen aus der Freiheit für die Erziehungsproblematik 3.4.6.6 Kulturbegriff und Menschenbild 3.4.6.7 Verhältnis zu bisherigen Entwürfen einer philosophischen Anthropologie Drittes Kapitel: Menschwerdung des Menschen als ergebnisoffener Prozess: Sozialisation in systematischer Betrachtung 1. Geburtszustand des Menschen in sozialisationstheoretischer Perspektive 1.1 Merkmale des „plastischen Organismus“ im Geburtszustand nach Talcott Parsons 1.2 Weitere Merkmale des „plastischen Organismus“ 1.2.1 Nahezu unbegrenztes Potenzial 1.2.2 Plastizität (Formbarkeit) und Formungsbedürftigkeit 1.2.3 Nachahmungsdrang als Triebfeder der Sozialisation 1.3 Plastizität des Menschen umfasst auch Geist, Moral und Gewissen 1.4 Möglichkeit des Scheiterns der menschlichen Entwicklung 2. Begriffliche Klärung des Sozialisationsprozesses 2.1 Sozialisation als Prozess der Ausformung des „plastischen Organismus“ 2.2 Sozialisation als Prozess der Ausformung eines „Sozialcharakters“ 2.3 Sozialisation als Prozess der Persönlichkeitsentwicklung durch Sozialerfahrungen 2.4 Sozialisation als „zweite, sozial-kulturelle Geburt“ 2.5 Sozialisation als gleichzeitige Vergesellschaftung und Individuierung 157 158 160 162 163 165 165 166 168 168 168 169 170 171 173 173 174 174 175 175 13 http://www.nomos-shop.de/24530 Inhaltsverzeichnis 2.6 Sozialisation als Prozess der Angleichung von Persönlichkeitssystem und sozialem System“ und damit zur Herstellung von sozialer Einheit 3. Grundannahmen der Sozialisationstheorie 3.1 Wechselwirkungsverhältnis zwischen Gesellschaftsentwicklung und Persönlichkeitsentwicklung 3.2 Unvermeidbarkeit der gesellschaftlichen Einflussnahme auf die Persönlichkeitsentwicklung 3.3 Differenzierung der Bedürfnisdispositionen und Rollen und damit Einübung in einen elastischen Umgang mit sozialen Rollen 4. Verdeutlichung des Sozialisationsbegriffs durch Abgrenzungen 4.1 Abgrenzung von biologistischen Auffassungen 4.2 Abgrenzung von idealistisch-individualistischen Auffassungen 4.3 Abgrenzung von einseitiger Fixierung auf Erziehung im engeren Sinne 5. Unterscheidung von Einzelaspekten und Phasen des Sozialisationsprozesses 5.1 Soziabilisierung (Vergesellschaftung) 5.2 Enkulturation (Kulturaneignung/Formung durch Kultur) 5.3 Individualisation (Individuierung/Personalisation/ Personwerdung) 5.3.1 Person und Persönlichkeit 5.4 Moralisation (Wertaneignung/Wertbindung/Ausbildung von Moralität und Gewissen) 6. Die epigenetischen Phasen der Sozialisation von Erik H. Erikson 6.1 Phase 1 (1. Lebensjahr): Ur-Vertrauen gegen Ur-Misstrauen 6.2 Phase 2 (2. und 3. Lebensjahr): Autonomie gegen Scham und Zweifel 6.3 Phase 3 (4. und 5. Lebensjahr): Initiative gegen Schuldgefühl 6.4 Phase 4 (6. bis 10. Lebensjahr): Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl 14 176 178 178 178 179 180 180 180 181 182 182 183 184 186 188 190 190 191 192 193 http://www.nomos-shop.de/24530 Inhaltsverzeichnis 6.5 Phase 5 (Pubertät/Adoleszenzphase): Identität gegen Identitätsdiffusion 6.6 Phase 6 (Frühes Erwachsenenalter): Intimität gegen Selbstbezogenheit 6.7 Phase 7 (Erwachsenenalter): Generativität gegen Stagnation 6.8 Phase 8 (Reifes Erwachsenenalter): Integrität gegen Verzweiflung 7. Sozialisationsziel-Kataloge als Perspektiven und Kategorien der Gesellschaftskritik 7.1 Zur Problematik der Entwerfung von Erziehungszielen 7.2 Sozialisationsziele des Zweiten Familienberichts 7.3 Lebenstüchtigkeit als Erziehungsziel (Wolfgang Brezinka) 7.4 Göttinger Aufruf zur „Schaffung von Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche, die ihnen die Entwicklung zu eigenständigen und sozial verantwortlichen Personen ermöglichen“ 7.5 Mündige/r Bürger/in in der Demokratie als Sozialisationsziel (Johannes Schwarte) 7.6 Zur Bedeutung vorformulierter Sozialisations- und Erziehungsziele in der Bildungsdebatte Viertes Kapitel: Aspekte der Identitätsbildung unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen 1. Zur Problematik der Identitätsfindung und zu den Folgen ihres Misslingens 1.1 Zur Aktualität der Identitätsproblematik 1.2 Zur Aktualität der Studie über den „autoritären Charakter“ 1.2.1 Zur Problemstellung (Forschungshypothese) der Studie 1.2.2 Zentrales Ergebnis 1.2.3 Antisemitismus als Ausgangspunkt 1.2.4 Determinanten des Charakters und ideologischer Präferenzen 1.2.5 Zur Bedeutung der Charakterstruktur 1.2.6 Die F(aschismus)-Skala 194 196 197 198 200 200 203 205 206 208 212 215 215 215 216 217 218 218 219 219 221 15 http://www.nomos-shop.de/24530 Inhaltsverzeichnis 1.3 Aktualisierung durch Bezugname auf „Auschwitz“ nach 1945 2. Zur Bedeutung des Identitätsbegriffs und zur Adoleszenzphase 2.1 Identitätsentwicklung nach Erik H. Erikson 2.2 Identitätsproblematik angesichts gesellschaftlicher Wandlungsprozesse 2.3 Kontroverse um die Identitätschancen in der „Risikogesellschaft“ 2.3.1 Extrem negative Position: Identität behindert eine „virtuose Weltteilhabe“ 2.3.2 Gemäßigt optimistische Position: Identität als „Projektentwurf des eigenen Lebens“ (Helmut Fend) 2.3.3. „Identitätsarbeit“ auch „nach Erikson“ ein existenzielles Thema (Heiner Keupp) 2.3.3.1 Die alltägliche Identitätsarbeit nach Heiner Keupp 2.3.3.2 Resultate der Identitätsarbeit: Kohärenz und Anerkennung 3. Gewalttätigkeit als Folge unzulänglicher Identitätsbildung 3.1 Erfahrungsbericht über gewalttätige Hooligans 3.2 Sozialisations- und identitätstheoretische Deutungen der Gewalttätigkeit 3.2.1 Gewalttätigkeit als Suche nach verhaltenssichernden Gewissheiten (Wilhelm Heitmeyer) 3.2.2 Gewalttätigkeit als Folge misslungener Adoleszenzkrisen-Bewältigung (Ulrich Oevermann) 3.2.3 Gewalttätigkeit als Suche nach stabilisierenden Ersatz-Identitäten (Hans-Dieter König) 3.3 Zur öffentlichen Reaktion auf Gewalttätigkeit 3.3.1 Neuer Blick auf Gewalttäter und Uminterpretation ihrer Gewalttaten als angemessene Reaktion 4. Identitätsentwicklungsfördernde Umweltbedingungen 4.1 Merkmale eines der Identitätsentwicklung günstigen Sozialisationsklimas 4.2 Zur Entwicklung des Selbst und zum Verhältnis von Selbst und Ich 16 222 223 224 225 227 228 229 233 239 240 242 242 244 244 246 247 249 250 251 253 255 http://www.nomos-shop.de/24530 Inhaltsverzeichnis 5. Selbstschädigungstendenzen als Folgen ungünstiger Identitätsentwicklung 6. Erkenntnisse der Bindungsforschung 6.1 Entwicklung der Bindungstheorie 6.2 Grundeinsichten der Bindungstheorie 6.2.1 Definition von Bindung und Bindungssystem 6.2.2 Merkmale des Bindungssystems 6.2.3 Feinfühligkeit und Bindungsqualität 6.2.4 Hierarchie der Bindungspersonen 6.2.5 Explorationssystem (Erfahrungs- bzw. Entdeckungssystem) 6.2.6 Wechselwirkung zwischen Bindungssystem und Explorationssystem 6.2.7 Merkmale der Feinfühligkeit 6.2.8 Klassifikation der kindlichen Bindungsqualität 6.2.9 Häufigkeit (Verteilung) der verschiedenen Bindungsmuster 6.3 Zur aktuellen Bedeutung der Bindungsforschungsergebnisse 7. Erkenntnisse der Hirnforschung 7.1 Formbarkeit (Plastizität) des frühkindlichen Gehirns am größten 7.2 Seelische Verfassung der Mütter und Geborgenheitserfahrungen des Kindes 7.3 Mangel an Zuwendung als Hauptursache für Bindungsstörungen 7.4 Sicher gebundene, seelisch gesunde Kinder als wichtigster Zukunftsfaktor 8. Genderismus als ideologische Fehldeutung der menschlichen Plastizität 8.1 Genderismus – eine Rebellion gegen die biologischen Grundlagen der menschlichen Existenz 8.2 Ausbreitung und Etablierung des Genderismus durch Tarnung 8.3 Kritik des Genderismus als Pseudowissenschaft 8.4 Sanktionsandrohungen gegen Kritiker des Genderismus 8.5 Ein „Gender-Manifest“ von 2006 256 263 263 266 266 266 267 268 268 269 270 271 273 273 275 277 281 283 286 288 289 292 294 295 296 17 http://www.nomos-shop.de/24530 Inhaltsverzeichnis 8.6 Untersuchung der Folgen der Genderisierung vieler Wissenschaften als Aufgabe 8.7 Unterschiedliche öffentliche Reaktionen auf den Genderismus in Norwegen und Deutschland Fünftes Kapitel: Moralisation als Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung 1. Grundsätzliches zum Begriff Moralisation und zur Moralisationsproblematik 1.1 Zur Bedeutung und Reichweite der menschlichen Plastizität 1.2 Funktion und Grenzen moralischer Sozialisation und Erziehung 1.3 Moralisation als Teilaspekt der Sozialisation 1.4 Zur Bedeutung der Werte für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesellschaftsordnung 1.5 Zur Moralisationsproblematik in der „Wertewandlungsgesellschaft“ 1.6 Zu den Motiven wertbezogenen Handelns 1.7 Zu den „Erträgen“ wertbezogenen Handelns 1.8 Fragestellungen und Thesen zur Erörterung der Moralisationsproblematik 1.9 Auswirkungen unterschiedlicher Erziehungsstile auf die Moralentwicklung der Kinder 1.10 Zum Multiplikatoreffekt gelingender oder misslingender Moralisation 2. Rückblick auf die Anfänge der systematischen Moralisationsforschung 2.1 Emile Durkheim (1858−1917): Der Mensch wird durch die Gesellschaft nach ihren Persönlichkeitsidealen geformt („sozialisiert“) 2.1.1 Zur grundsätzlichen Bedeutung von Erziehung 2.1.2 Rationalisierung der Moral bedeutet keine Verarmung, sondern Bereicherung 2.1.3 Gesellschaft als Objekt moralischer Handlungen 2.1.4 Zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft 2.1.5 Gesellschaft als Quelle der Moral 18 298 301 305 305 305 306 308 311 313 315 320 322 324 325 326 327 328 331 335 338 340 http://www.nomos-shop.de/24530 Inhaltsverzeichnis 2.2 Sigmund Freud (1856−1939): Kultur und Moral als Folgen von Triebunterdrückung 2.2.1 Über-Ich/Gewissen als Resultat des Kulturprozesses 2.2.2 Das Über-Ich und seine Funktion 2.2.3 Verschiedene Schuldphänomene (Gewissensphänomene) 2.2.4 Verhältnis von Kulturprozess und individuellem Entwicklungsprozess (Sozialisation) 2.2.5 Glücksstreben als zentrales Motiv menschlichen Handelns 2.2.6 Deutung der Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs 2.2.7 Verschiedene Arten der Triebumformung − und ihre unterschiedlichen Folgen 2.3 Jean Piaget (1896−1980): Parallelismus intellektueller und moralischer Entwicklung 2.3.1 Logik und Moral als Erzeugnisse der Gesellschaft 2.3.2 Von der Heteronomie zur Autonomie 2.4 Lawrence Kohlberg (1927−1987): Entwicklungsstufen moralischer Reife und Urteilsfähigkeit als „fortschreitende Grade der Internalisierung moralischer Sanktionen“ 2.4.1 Stellungnahme zu Durkheim und Freud 2.4.2 Differenzierende Stellungnahme zu Piaget 2.4.3 Rückblick auf die bisherige Moralisationsforschung 2.4.4 Sechs Stufen der moralischen Entwicklung 2.4.5 Unterscheidung der Stufen nach Motiven für die Regelbefolgung 2.4.6 Zu den Entstehungsursachen der Moralstufen 2.4.7 Zur Frage nach dem Einfluss der Eltern auf die Moralisation 2.4.8 Zur Forschungsmethode Kohlbergs 2.4.9 Konsequenzen für den Bildungsbegriff und die Moralerziehung 2.5 Aspekte religiöser Sozialisation als Teil der Moralisation 2.5.1 Ur-Vertrauen als Basis von Moralität und Religiosität 2.5.2 Religiöse Entwicklung und religiöse Sozialisation: „lebensgeschichtliche Veränderung“ 2.5.3 Zum Einfluss der Eltern auf die religiöse Entwicklung des Kindes 341 342 344 345 348 349 350 353 355 356 357 359 360 360 363 365 367 368 369 371 373 375 375 379 383 19 http://www.nomos-shop.de/24530 Inhaltsverzeichnis 2.5.4 Kirchenverbundenheit der Eltern als bedeutender Sozialisationsfaktor 3. Zum gegenwärtigen Stand der Moralisationsforschung 3.1 Diskussion im Anschluss an Kohlberg im Überblick 3.2 Einzelaspekte der gegenwärtigen Diskussion 3.2.1 Zur inhaltlichen Bestimmung von Moral und zu ihrer Bedeutung für die Person 3.2.2 Moralität als Folge einer willentlichen Selbstbindung der Person an Werte 3.2.3 Charakterliche Voraussetzungen einer „Signifikanzmoral“ 3.2.4 Zum Verhältnis von Moralität und personaler Autonomie 3.2.5 Zum Zusammenhang von Identitätsbildung und Moralbewusstsein 3.2.6 Moralität als Resultat eines zweistufigen Lernprozesses 3.2.7 Moralisation als vermittelte Verhaltensänderung 3.2.8 Zum Stellenwert moralischer Emotionen 3.2.9 Emotionen als Ursprung der Moralität 4. Zur Bedeutung der neueren Erkenntnisse der Moralisationsforschung 386 388 388 390 390 391 393 396 398 400 405 413 414 420 Schlusskapitel: Plädoyer für anthropologische Aufklärung und eine Dynamisierung des Menschenbildes 423 1. Anthropologische Ignoranz in öffentlichen Debatten 423 2. Überwindung der anthropologischen Ignoranz durch anthropologische Aufklärung 424 3. Auswirkungen einer anthropologischen Aufklärung 430 4. Plädoyer für eine Dynamisierung des christlichen Menschenbildes 4.1 Erste Ansätze im „Entwurf einer offenen und imperativen Anthropologie“ 4.2 Fruchtbarer Ansatz in der „Anthropologie in theologischer Perspektive“ von Wolfhart Pannenberg 20 433 433 434 http://www.nomos-shop.de/24530 Inhaltsverzeichnis 4.3 Auswirkungen einer Dynamisierung des christlichen Menschenbildes 437 Literaturverzeichnis 443 Personenregister 453 Stichwortregister 455 21 http://www.nomos-shop.de/24530 Einleitung Seit einigen Jahrzehnten sind in unserer Gesellschaft verstärkt Persönlichkeitsentwicklungsdefizite zu beobachten. Dabei handelt es sich insbesondere um Aufmerksamkeits-Defizit- und Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS), Mängel in der Sprachfähigkeit (Sprachfähigkeitsdefizite), im Sozialverhalten (Sozialkompentenz-Defizite) oder in der Körperbeherrschung, so dass in einer zunehmenden Anzahl von Fällen z. B. wirkliche Schulfähigkeit nach herkömmlichen Maßstäben nicht gegeben ist. Diese Befunde dürfen nicht lediglich als medizinisches oder pädagogisches Problem gesehen werden, sondern sie müssen in einem tieferen Sinne als Signale verstanden werden, deren Beachtung von grundlegender Bedeutung ist. Sie signalisieren, dass die Persönlichkeitsentwicklung alles andere als „von Natur aus“ gesichert, sondern von einer Vielzahl von Faktoren abhängig und daher ergebnisoffen ist. Diese Einsicht in die Plastizität des (jungen) Menschen, das heißt in den Sachverhalt, dass die Persönlichkeitsentwicklung durchaus kein naturwüchsiger Prozess ist wie etwa das Wachstum der Pflanzen und Tiere oder das körperliche Wachstum des Menschen, ist von grundlegender Bedeutung. Um die Entwicklung der körperlichen Merkmale des Menschen − normale Ernährung vorausgesetzt − braucht sich niemand zu kümmern. Sie ist kaum aufzuhalten. Hier „nimmt die Natur ihren Lauf“. Hier stellt sich dem Menschen kaum eine Gestaltungsaufgabe. Das meint der Begriff Naturwüchsigkeit. Ganz anders − und das ist die zentrale These dieses Buches, aus der sich sehr weit reichende Folgerungen ergeben − verhält es sich mit der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen, verstanden als Entfaltung seiner geistig-seelischen Anlagen, ferner als Ausformung seiner Moral und seines Gewissens, als Entwicklung seiner Urteilsfähigkeit und seiner Handlungskompetenz, verstanden kurzum als Entwicklung seiner Persönlichkeitsstruktur, die man im Begriff Charakter zusammenfassen kann. Persönlichkeitsstruktur oder Charakter eines Menschen sind also keine naturwüchsigen Resultate des menschlichen Wachstums: Der Mensch wird nicht „von allein“ erwachsen oder eine gereifte Persönlichkeit, so wie er irgendwann ausgewachsen ist. Persönlichkeitsstruktur oder Charakter sind vielmehr Resultate der Lebensgeschichte des Menschen, Ergebnisse einerseits der Prägung (das ist die wörtliche deutsche Übersetzung des 23 http://www.nomos-shop.de/24530 Einleitung griechischen Wortes Charakter), die der Mensch im Laufe seines Lebens, insbesondere in seiner Kindheit und Jugend, durch seine nähere und fernere soziale Umgebung (Familie, Spielplatz, Kindergarten, Schule, Vereine, nicht zuletzt Massenmedien) erfährt; Ergebnisse andererseits aber auch der aktiven Auseinandersetzung des jungen Menschen mit den Erwartungen, Forderungen, „Verlockungen“ und Zumutungen dieser näheren und ferneren sozialen Umgebung. Dabei ist der im Begriff der Prägung enthaltene passive Aspekt ebenso von Bedeutung wie der im Begriff Auseinandersetzung sich äußernde aktive Aspekt: Die Persönlichkeitsprägung wird nicht (passiv) „erlitten“ oder „erfahren“, sondern sie wird (aktiv) bewirkt, ja „erarbeitet“. Das bedeutet: Zwar ist der Mensch nicht einfach das Produkt seines Milieus. Aber er bildet seine Persönlichkeit dadurch aus, dass er sie in Auseinandersetzung mit den jeweiligen sozialen Vorgegebenheiten „erarbeitet“, es sei denn, er liefert sich dem sozialen Milieu gänzlich passiv aus (was es als extreme Möglichkeit durchaus auch gibt). Entscheidend ist, dass die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen „nicht nur ein biologischer Entwicklungsvorgang, sondern auch ein kulturbedingter geistiger Aufbauprozess“ ist, wie Heinz Remplein schreibt.2 Und dieser Aufbauprozess ist auf soziale Bedingungen angewiesen, deren „Qualität“ für das Gelingen oder Misslingen der Persönlichkeitsentwicklung von weit reichender Bedeutung ist. Wir sprechen deshalb von gesellschaftlicher Bedingtheit der Persönlichkeitsprägung oder von Sozialisation. Die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen ist durch seine Anlagen zwar mitbestimmt, aber keineswegs vorherbestimmt. Sie ist im Augenblick der Geburt ergebnisoffen. Dieser zentrale Aspekt sei an folgendem Beispiel kurz verdeutlicht: Der Knabe Wolfgang Amadeus Mozart hat ganz gewiss als „Naturanlage“ eine ungewöhnlich reiche musikalische Begabung mit auf die Welt gebracht. Aber ebenso gewiss ist, dass aus ihm kein „Mozart“ geworden wäre, wenn er nicht in einem Milieu aufgewachsen wäre, das in einem ungewöhnlich hohen Maße von Musik geprägt war. Genauso wenig aber, wie aus jedem beliebigen Knaben, unabhängig von seiner jeweiligen musikalischen Begabung, im Milieu des Hauses Mozart ein „Mozart“ hätte werden können, wäre der musikalisch hochbegabte 2 Heinz Remplein: Die seelische Entwicklung des Menschen im Kindes- und Jugendalter. Grundlagen, Erkenntnisse und pädagogische Folgerungen der Kindes- und Jugendpsychologie, München und Basel, 11. Aufl. 1963, S. 130. 24 http://www.nomos-shop.de/24530 Einleitung Knabe Wolfgang Amadeus in einem extrem amusischen Milieu zu „Mozart“ geworden. Zur Verdeutlichung der grundsätzlichen Persönlichkeitsentwicklungsproblematik ist eine Unterscheidung der Begriffe Entwicklung, Reifung und Lernen hilfreich, wie Remplein schreibt. Unter Entwicklung ist eine „fortschreitende (progressive), unumkehrbare (irreversible) Veränderung organischer Gebilde in der Zeit“ zu verstehen.3 Die immanenten Gesetze der Entwicklung sind in der Anlage verankert. „Sie ist somit eine wichtige Bedingung der Entwicklung. Aber nicht die alleinige. Die Erbanlage bedarf nämlich zu ihrer Entfaltung immer der Umwelt. Erst in der Begegnung mit der Umwelt werden die potentiell gegebenen Anlagen aktualisiert. Insofern ist die Umwelt die andere wichtige Bedingung der Entwicklung. Anlage und Umwelt gehören unlöslich zusammen, keine ist ohne die andere denkbar. Es gibt keine Entwicklung ohne Anlage, aber es gibt auch keine ohne Umwelt, und jede Theorie, die eine der beiden verabsolutieren wollte, ist einseitig und falsch. Man kann höchstens fragen, ob eine der beiden Seiten wichtiger ist, wobei das Schwergewicht zweifellos auf die Seite der Anlage fällt; denn sie bestimmt das immanente Gesetz, den Bauplan des Organismus. So wird sich ein Lebewesen, das in sich den Bauplan 'Affe' trägt, immer nur zum Affen entwickeln und nie, auch nicht unter den allergünstigsten Bedingungen, zum Menschen. Aber die Anlage steckt vielfach bloß den Rahmen für die Entwicklung ab, innerhalb dessen dem Ansatz der Umwelt ein gewisser Spielraum für Verschiedenheiten nach Art und Grad der Entwicklung bleibt“.4 Von der Entwicklung mit ihrem Zusammenspiel von Anlage und Umwelt ist die Reifung als Entfaltung von innen, ohne Mitwirkung von Übung und Erfahrung zu unterscheiden. Reifung bedeutet: Organe wachsen und ihre Tätigkeiten steigern sich nach inneren Gesetzmäßigkeiten, unabhängig von äußeren Einwirkungen. „Unter Reifung verstehen wir, biologisch gesehen, einen autonomen, d.h. nach inneren Gesetzen, stufenweise verlaufenden Entwicklungsvorgang psychosomatischer Art, durch den bestimmte Eigenschaften bzw. Funktionen zutage gefördert werden, welche dem Individuum seine volle und endgültige Lebensanpassung vermitteln“.5 Neben den Anlagen, die im erläuterten Sinne reifen, gibt es solche, die zu ihrer Entfaltung der Umwelt bedürfen. Sie sind auf Lernen angewiesen 3 Ebenda, S. 28. 4 Ebenda, S. 31. 5 So Kretschmer, zitiert von Remplein, a.a.O., S. 36. 25 http://www.nomos-shop.de/24530 Einleitung und verlangen vom Individuum aktive Mitwirkung: Leistungen, die nicht von innen her zuwachsen, sondern erst angeeignet werden müssen. Lernen bezieht sich auf Verhaltensweisen (z.B. Radfahren) wie auf Inhalte (z.B. ein Gedicht). Es erfolgt durch Erfahrung (Versuch und Irrtum), Übung, Nachahmung und Einsicht (Intelligenz). Die Entwicklung hat somit zwei Seiten: nämlich das Reifen einerseits und das Lernen andererseits. Sie müssen gedanklich auseinander gehalten werden, wenn sie auch in der Lebenswirklichkeit aufs Engste zusammenwirken. Das Lernen setzt einen bestimmten Reifungsstand der Organe und ihrer Funktionen voraus. Dies sei am Beispiel der Sprachentwicklung verdeutlicht. „Jedes normale Kind beginnt, sobald die Sprachorgane gereift sind, zu lallen, und zwar unabhängig vom Umwelteinfluss: es ist gleichgültig, ob man ihm vorspricht oder nicht, sogar taube Kinder heben mit einer Lallperiode an, die dann allerdings jäh abbricht, weil der Anreiz des Sichselberhörens wegfällt. So werden sie taubstumm. Aber kein Kind würde jemals die Sprache seiner Mitwelt aufgrund bloßer Reifungsvorgänge erlernen; dazu bedarf es der Begegnung mit der Sprache der Mitmenschen“. Ergebnis: „Die Entwicklung der menschlichen Sprache ist ein Lernvorgang, der des Anstoßes von außen bedarf. Freilich setzt sie die Reifung des Sprechapparates und dessen Selbstübung im Lallen voraus“.6 Das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt gilt für die psychische Entwicklung nicht minder als für die physische. Auch im Seelischen zeichnet die Anlage der Entwicklung den Rahmen vor, innerhalb dessen die Umwelteinflüsse wirksam zu werden vermögen. „Von dieser Einsicht aus ist Stellung zu nehmen gegen die alte 'Milieutheorie', die behauptet, der Mensch komme gewissermaßen als unbeschriebenes Blatt zur Welt, und alles, was er werde, sei allein auf die Umwelt zurückzuführen [...]. Nicht minder falsch wäre die 'Vererbungstheorie', die alle Entwicklungsunterschiede allein in der Anlage suchen würde. Sie widerspräche der Einsicht in den Spielraum, den die Anlage der Entfaltung durch die Umwelt bietet. Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Entfaltung geistiger Anlagen in hohem Maße von Bildungseinwirkungen abhängt [...]. Auch Charaktere sind zwar einerseits immer in der Anlage verankert, aber andererseits in hohem Grade auch von Umwelteinflüssen abhängig“.7 Die richtige Auffassung bezüglich des Verhältnisses von Anlage und Umwelt liegt daher in der Mitte zwischen den extremen Standpunkten einer 6 Ebenda, S. 37. 7 Ebenda, S. 38. 26 http://www.nomos-shop.de/24530 Einleitung verabsolutierten Milieutheorie und einer verabsolutierten Vererbungstheorie. Sie wird durch deren Synthese gewonnen. Eine solche liegt etwa in der Konvergenztheorie von William Stern vor, derzufolge Anlage und Umwelt zusammenwirkend an der Gestaltung des endgültigen Entwicklungsergebnisses beteiligt sind. „Seelische Entwicklung ist nicht ein bloßes Hervortretenlassen angeborener Eigenschaften, aber auch nicht ein bloßes Empfangen äußerer Einwirkungen, sondern das Ergebnis einer Konvergenz innerer Angelegtheiten mit äußeren Entwicklungsbedingungen [...]. Bei keiner Funktion oder Eigenschaft dürfte man fragen: 'Stammt sie von außen oder von innen?', sondern: 'Was an ihr stammt von außen und was von innen?', denn stets wirkt beides an ihrem Zustandekommen mit, nur jeweils mit verschiedenen Anteilen'„.8 Zusammenfassend lässt sich daher feststellen: „Die Anlage potenziert, die Umwelt realisiert“.9 Alles in allem ist aber festzustellen, „dass die Wissenschaft in ihrem gegenwärtigen Stand weit davon entfernt (ist), den Anteil von Anlage und Umwelt an der Entwicklung des Menschen eindeutig abgrenzen zu können“.10 Heinz Remplein vertritt die Auffassung, „dass in der Psychoanalyse und Individualpsychologie die Bedeutung der frühen Kindheit oft überschätzt wird“. Die Psychologie des Erwachsenenalters erscheine dann gewissermaßen als die Lehre von Spätwirkungen des Kindesalters und ihren Variationen bzw. pathologischen Abarten. „Dementsprechend werden die ethischen Ideale, die sich ein Mensch gebildet hat, ebenso auf die Identifikation des Kleinkindes mit den elterlichen Autoritäten zurückgeführt, wie die Wurzeln von Sexual- und Sozialneurosen immer in fixierten kindlichen Fehlhaltungen, also Infantilismen, gesucht werden“. Dabei werde die Wandlungsfähigkeit und Plastizität der Seele auch noch im Großkind- und Jugendalter unterschätzt und übersehen, „dass dem hohen Grad von Bewusstheit ethischer Zielsetzungen in der Pubertät und Adoleszenz für den endgültigen Aufbau des Charakters großes Gewicht zukommt“.11 Ausschlaggebend für den Aufbau der reifen Persönlichkeit sei das Jugendalter: „Ob in ihm der bewusste Wille zur Selbstgestaltung und Selbsterziehung erwacht oder nicht, ob sich der Jugendliche nun an hohen Idea- 8 William Stern: Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahr, Heidelberg 7. Aufl. 1952, S. 26; zitiert bei Remplein, a.a.O., S. 38. 9 Ebenda, S. 38. 10 Ebenda, S. 39. 11 Ebenda, S. 54. 27 http://www.nomos-shop.de/24530 Einleitung len oder zweifelhaften Vorbildern orientiert, das prägt seinen Charakter ganz entscheidend“. Darüber hinaus lasse sich nicht leugnen, dass der Mensch auch noch im Erwachsenenalter Einstellungsveränderungen und Gesinnungswandlungen vorzunehmen vermag. „Will man allen diesen Tatsachen gerecht werden, dann wird man wohl vorsichtig formulieren dürfen: in der frühen Kindheit wird das Fundament der künftigen Persönlichkeit gelegt und im Unbewussten weiterwirkende kindliche Erlebnisse gehen in die fernere geistige Aufbauarbeit durchdringend, fördernd und hemmend ein; aber das endgültige Gebäude der reifen Persönlichkeit wird erst später errichtet: auch im Großkindalter läuft der Fremderziehungsprozess weiter, und vom Jugendalter an hat das Ich an der Gestaltung seines Selbst in dem Maße Anteil, als es, von dem Willen zur Selbsterziehung erfüllt, geistige Werte in sich und seine Lebensführung zu verwirklichen trachtet“.12 Es ist heute unbestritten, dass die Persönlichkeitsentwicklung entscheidend mitbestimmt wird durch die Erfahrungen, die der junge Mensch in den ersten Lebensjahren in seiner sozialen Umwelt macht, und durch die Art der Verarbeitung dieser Erfahrungen. Die richtige Antwort auf die alte, teilweise ideologisch belastete Streitfrage, ob der Mensch die Summe der Entfaltung seiner Anlagen oder das Produkt der Prägung durch sein Milieu sei, lautet daher: Weder ist er ausschließlich die Summe der Entfaltung seiner Anlagen, noch ist er ausschließlich das Produkt der Prägung durch das Milieu, in das er hineingeboren wurde, sondern er ist das jeweils einmalige „Resultat“ des Zusammenspiels seiner Anlagen mit den spezifischen Gegebenheiten (seien es Förderungen, seien es Belastungen) seines Milieus. Dabei darf der Begriff Zusammenspiel nicht passiv verstanden werden: als ob es sich dabei um ein Ereignis „am“ jungen Menschen handelte, sondern er ist aktiv zu verstehen, so dass er auch bewusste Wahlentscheidungen des jungen Menschen (für eines, gegen anderes) und auch Auseinandersetzungen (mit Menschen und Sachfragen) einschließt. Was William Stern in seiner Konvergenztheorie zum Ausdruck bringen will, hat Aldous Huxley schlicht und treffend so formuliert: „Was du bist, hängt von drei Faktoren ab: Was du geerbt hast, was deine Umgebung aus dir gemacht hat, und was du in freier Wahl aus deiner Umgebung 12 Ebenda, S. 54 f. 28 http://www.nomos-shop.de/24530 Einleitung und deinem Erbe gemacht hast“.13 Remplein erläutert dieses Zitat von Huxley so: „Der Persönlichkeitsaufbau ist, so gesehen, ein schöpferischer Prozess nicht bloß in dem elementaren Sinne, dass jede durchlaufene Phase neue Züge offenbart − dass ist auch beim Tier der Fall, wie das Hervorbringen des Schmetterlings aus der Raupe zeigt, und trifft schon für die körperliche Entwicklung zu −, sondern in dem viel höheren Sinne, dass die Person in jedem Moment ihre künftige geistige Gestalt neu erschafft. Dadurch kommt in die menschliche Entwicklung ein Unsicherheitsfaktor hinein, dank dessen er sich jeder Vorausberechnung entzieht und, je selbstschöpferischer, das heißt geistig hoch stehender die Persönlichkeit ist, der Prognose um so größere Schwierigkeiten bereitet“.14 Gegenstand dieses Buches ist die von Remplein als Unsicherheitsfaktor bezeichnete Störanfälligkeit und Ergebnisoffenheit der menschlichen Entwicklung. Im Buchtitel wird dafür der Begriff Plastizität verwendet. Kernanliegen ist es, die vielfältigen Aspekte der Plastizität des Menschen, die die philosophische Anthropologie herausgearbeitet hat, aufzuzeigen und sie dem öffentlichen Bewusstsein bekannt zu machen und zu empfehlen, damit sie die einschlägigen öffentlichen Debatten zu relevanten Aspekten stärker als bisher mitbestimmen und stärker als bisher zu handlungsleitenden Kategorien werden. Bezugnehmend auf die Unterscheidung von Reifung und Lernen sei darauf hingewiesen, dass es im Buch nicht um jene Anlagen des Menschen geht, deren Reifung sich unabhängig von der Umwelt vollzieht, sondern um jene, deren Entwicklung Lernen voraussetzt, und zwar speziell soziales Lernen, das als Sozialisation bezeichnet wird. Eine gelingende Sozialisation setzt ein günstiges Sozialisationsmilieu voraus. Das soziale Milieu, in dem der junge Mensch sein Menschsein zu „lernen“ und seine Persönlichkeitsentwicklung zu „leisten“ hat, ist ihm vorgegeben. Es steht nicht zu seiner Disposition. Er kann es nicht selbst gestalten, jedenfalls nicht entscheidend. Es ist für ihn eine nahezu ebenso unverrückbare Vorbedingung wie seine ererbten Anlagen. Den Erwachsenen aber, die für den konkreten jungen Menschen eine besondere Verantwortung haben, ist die Gestaltung des sozialen Milieus oder sozialen Klimas aufgegeben. Für sie ist es eine wichtige Aufgabe. Die entscheidende Verantwortung der Erwachsenen, insbesondere der Eltern, aber nicht nur der Eltern, für das Gelingen der Persönlichkeitsprägung des jungen Menschen besteht darin, dass sie das Milieu als den entscheidenden Bedingungsfaktor der Persönlichkeits- 13 Zitiert bei Remplein, a.a.O., S. 28. 14 Remplein, ebenda. (Hervorhebung J.S.). 29 http://www.nomos-shop.de/24530 Einleitung prägung des jungen Menschen so gestalten, dass es für seine Persönlichkeitsprägung günstig und nicht schädlich ist. Eine der Voraussetzungen dafür, dass Eltern ihrer Verantwortung für die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder gerecht werden können, besteht darin, dass sie einerseits um die entscheidende Bedeutung des sozialen Klimas oder der Atmosphäre der Familie als wesentlichem Bedingungsfaktor für die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder wissen und dass sie andererseits dieses soziale Klima oder die Atmosphäre nicht als eine unveränderbare Naturgegebenheit betrachten, sondern als eine gestaltbare, damit veränderbare und somit ihrer Verantwortung unterliegende Größe. Werden Eltern dieser Verantwortung gerecht, indem sie sich in der Gestaltung des Familienlebens primär von der Frage leiten lassen, was der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder förderlich und was ihr hinderlich oder gar schädlich ist, dann haben sie die allerwichtigste ihrer Erziehungsaufgaben bereits erfüllt. Man nennt diesen Gesichtspunkt der Besorgtheit um ein der Persönlichkeitsentwicklung günstiges soziales Klima auch indirekte Erziehung. Eltern müssen wissen, dass die indirekte Erziehung viel wichtiger ist als die direkte. Kinder gut zu erziehen, ihnen Hilfestellung in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu bieten, bedeutet in erster Linie, ihnen ein der Persönlichkeitsprägung günstiges soziales Klima zu bereiten. Es bedeutet keineswegs in erster Linie die peinlich genaue Beachtung möglichst vieler einzelner „Erziehungsratschläge“ oder die konsequente Durchführung genau definierter „Erziehungsmaßnahmen“. Viel wichtiger als die Beachtung theoretischer Anleitungen der pädagogischen Ratgeberliteratur ist die Bereitschaft der Eltern, ihre Lebensführung an den Erfordernissen der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder auszurichten. Das heißt konkret, dass das gelebte gute Beispiel der Eltern für die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder viel wichtiger ist als alles, was Eltern ihren Kindern sonst noch mit auf den Lebensweg geben oder zu geben sich bemühen. Die einleitend erwähnten Symptome sich ständig verschlechternder Resultate der Persönlichkeitsentwicklung in unserer Gesellschaft müssen als Signale dafür verstanden werden, dass sich die Bedingungen für die Persönlichkeitsprägung der jungen Menschen in unserer Gesellschaft dramatisch verschlechtern. Diese Feststellung betrifft nicht nur die individuellen Lebenschancen einer ständig größer werdenden Anzahl von Mitgliedern unserer Gesellschaft, sondern sie betrifft die Zukunftsfähigkeit der gesamten Gesellschaft. Deshalb ist eine Besinnung auf Möglichkeiten der Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen für die Persönlichkeitsent30 http://www.nomos-shop.de/24530 Einleitung wicklung des gesellschaftlichen Nachwuchses von elementarer Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft. Die Öffentlichkeit muss der gesellschaftlichen Bedingtheit der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen stärker Beachtung schenken und ihr in vielerlei Hinsicht verstärkt Rechnung tragen. Sie muss auf vielfältige Weise berücksichtigen, dass der einzelne junge Mensch auf fundamentale gesellschaftliche Vorbedingungen angewiesen ist, um im vollen Sinne des Wortes Mensch werden zu können, um den Prozess der Menschwerdung des Menschen, Sozialisation genannt, erfolgreich „durchlaufen“ zu können. Weiterhin ergibt sich daraus, dass keineswegs die Eltern allein diese Bedingungen beeinflussen können, sondern dass die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit mit dafür verantwortlich ist, dass der einzelne junge Mensch Bedingungen vorfindet, die ihm seine Menschwerdung ermöglichen, die seiner Persönlichkeitsentwicklung günstig statt hinderlich sind. Wichtig ist die Einsicht, dass sich niemand in der Gesellschaft von dieser Mitverantwortung für die gesellschaftlichen Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen jungen Menschen dispensieren kann. Dieser Gesichtspunkt der Solidarität aller Gesellschaftsmitglieder hinsichtlich der Verantwortung für die gesamtgesellschaftlichen Sozialisationsbedingungen als Bedingungsfaktoren der Persönlichkeitsentwicklung des gesellschaftlichen Nachwuchses wird gegenwärtig sträflich vernachlässigt. Er muss viel deutlicher als bisher akzentuiert werden. Vor allem die Medien müssen sich gerade in dieser Hinsicht stärker ihrer Verantwortung bewusst werden, notfalls auch stärker als bisher speziell unter diesem Gesichtspunkt zur Verantwortung gezogen werden. Jedes Mitglied der Gesellschaft ist „Miterzieher“ der jungen Generation. Deshalb trägt jeder in dieser Hinsicht Mitverantwortung. Die Einsicht in die Plastizität des Menschen und in die sich daraus ergebende Ergebnisoffenheit der Persönlichkeitsprägung des Menschen im Augenblick seiner Geburt wirkt sich zwangsläufig auf das Bild vom Menschen, das Menschenbild aus. Es ist offenkundig, dass es einen Unterschied ausmacht, ob man den Menschen im Augenblick seiner Geburt bereits voll mit allen Merkmalen des Menschseins ausgestattet sieht − oder lediglich mit der Möglichkeit der Menschwerdung, wie es der hier entwickelten Auffassung entspricht, die im Übrigen dem „möglichen Menschen“ im Augenblick der Geburt seine volle Menschenwürde nicht bestreitet, so dass sie etwa im Hinblick auf die Abtreibungsfrage völlig ohne Belang ist: Der werdende Mensch ist durchaus nicht ein Mensch minderen Wertes und Rechtes. Da sich in dieser Hinsicht sehr leicht Missverständ- 31 http://www.nomos-shop.de/24530 Einleitung nisse einschleichen, sei hier zur Vermeidung solcher Fehlschlüsse eine wichtige Feststellung von Romano Guardini zitiert: „Die Personalität kann unbewusst sein wie beim Schlafenden; trotzdem ist sie da und muss geachtet werden. Sie kann unentfaltet sein wie beim Kind; trotzdem beansprucht sie bereits den sittlichen Schutz. Es ist sogar möglich, dass sie überhaupt nicht in den Akt tritt, weil die physisch-psychischen Voraussetzungen dafür fehlen, wie beim Geisteskranken; dadurch unterscheidet sich aber der gesittete Mensch vom Barbaren, dass er sich auch in dieser Verhüllung achtet. So kann sie auch verborgen sein wie beim Embryo, ist aber in ihm angelegt und hat ihr Recht“.15 Obwohl die entscheidenden Erkenntnisse hinsichtlich der Plastizität des Menschen und der sich daraus ergebenden Werdeproblematik hauptsächlich im Laufe des 20. Jahrhunderts durch die philosophische Anthropologie und die Sozialisationsforschung gewonnen worden sind, wurden einige Kerngedanken auch bereits in früheren Jahrhunderten vertreten. So hat etwa der Philosoph und Theologe Johann Gottfried Herder im 18. Jahrhundert den Begriff der Gottebenbildlichkeit des Menschen aus dem biblischen Schöpfungsbericht uminterpretiert, indem er ihn nicht mehr, wie bis dahin und auch heute noch weitgehend üblich, als eine Zustandsbeschreibung des Menschen, gewissermaßen als seine Ausgangsbedingung deutete, sondern als seine Zielbestimmung: Die Gottebenbildlichkeit ist nach Herder das Ziel der menschlichen Entwicklung. Der Mensch selbst hat somit die entscheidende Verantwortung dafür, dass er sich auf dieses Ziel hin entwickelt. Die Befähigung dazu, den „Kompass“ sowie das Wissen darum, dass dies sein Ziel ist, hat er vom Schöpfer erhalten. Die Sorge um die Realisierung dieser Zielbestimmung des Menschen macht seine eigentliche Lebensaufgabe aus. Sie ist nie endgültig „bewältigt“. Der Mensch bleibt lebenslang damit beschäftigt. Konsequenterweise betont Herder daher, „dass wir Menschen noch nicht sind, sondern täglich werden“.16 Würde das christliche Menschenbild diesen Aspekt des werdenden Menschen und die sich daraus ergebende komplexe Problematik der Menschwerdung des Menschen in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit und damit auch in ihrer vielfältigen Abhängigkeit und Gefährdung stärker betonen als bisher − dafür will dieses Buch werben −, so hätte das erhebliche 15 Romano Guardini: Das Recht des werdenden Menschenlebens. Zur Diskussion um den § 218 des Strafgesetzbuches. In: Ders.: Die Sorge um den Menschen, Würzburg 1962, S. 162 ff., hier S. 170. 16 Ausführlicher dazu (mit Belegen) im Schlusskapitel (zu Wolfhart Pannenberg). 32 http://www.nomos-shop.de/24530 Einleitung Konsequenzen für die christliche Verkündigung in ihrer Berufung auf das christliche Menschenbild. Die erläuterten Gesichtspunkte sollen durch die nachfolgende Abbildung veranschaulicht werden: Schema zur Plastizität des Menschen und der sich daraus ergebenden Dynamik der Menschwerdung und des Menschseins „... dass wir Menschen noch nicht sind, sondern täglich werden...“ (Johann Gottfried Herder) Die „Menschwerdung des Menschen“ (Sozialisation) in dynamischer Perspektive: Dynamische Entwicklung der Persönlichkeitsmerkmale durch aktive Verarbeitung sozialer Erfahrungen des werdenden Menschen mit konkreten Mitmenschen im sozialen Umfeld (Sozialisationsmilieu): Persönlichkeitsentwicklung in dynamischer Perspektive „Menschwerdung des Menschen“ (Sozialisation) als ergebnisoffener Prozess Mensch-Sein Persönlichkeit Geburtszustand Unterschiedlicheb Ausprägungsgradeb derb Persönlichkeitsmerkmale sindb Resultateb der „Menschwerdungb desb Menschen“b imb Prozessb derb Sozialisation. Sieb ergebenb unterschiedlicheb Persönlichkeitsstrukturenb undb Gradeb desb Mensch-Seins. Erläuterung des Schemas: Der Mensch im Geburtszustand ist in der dynamischen Perspektive der Sozialisationstheorie wie folgt zu charakterisieren: Er ist ein plastischer 33