Mitteilungen 97 (September 2002): Selektion und Solidarität

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Selektion und Solidarität
PID - Auf der Suche nach den Tatsachen
Von Wolfgang van den Daele
P
räimplantationsdiagnostik
(PID)
dient dazu, menschliche Embryonen, die bei Verfahren der künstlichen Befruchtung in vitro – also im
Labor – erzeugt werden, zu testen,
bevor sie in die Gebärmutter übertragen werden. So kann man feststellen,
ob ein Embryo Merkmale aufweist,
bei denen eine Schwangerschaft gar
nicht eintreten kann oder mit einer
Fehlgeburt enden muß.
Man kann eine Reihe von genetisch bedingten Krankheiten diagnostizieren, an denen ein Kind, das aus
diesem Embryo hervorgeht, leiden
wird. Man kann auch das Geschlecht
eines zukünftigen Kindes feststellen.
Die Konsequenz aus den Befunden
der PID ist immer Auswahl. „Geeignete“ Embryonen werden eingepflanzt, die anderen werden ausgeschlossen.
trage einige Informationen zusammen, die für die Abschätzung der gesellschaftlichen Folgen von PID relevant sind. Dabei habe ich zwei Fehlentwicklungsszenarien im Auge, die
in der öffentlichen Debatte eine prominente Rolle spielen:
(1) Mit der PID werde sich die Selektion von ungeborenem Leben ausbreiten. Ob ein Kind zur Welt
komme, werde mehr und mehr
davon abhängen, ob es den Vorstellungen der Eltern von Gesundheit und von anderen erwünschten Eigenschaften entspreche (Eugenik von unten).
(2) Die Praxis der vorgeburtlichen Selektion werde das gesellschaftspolitische Klima vergiften und zu
steigender Diskriminierung und
Stigmatisierung chronisch kranker
und behinderter Menschen führen.
Die Realität vorgeburtlicher
Selektion
Zielhorizont der PID ist in aller
Regel die Gesundheit des zukünftigen
Kindes. Tatsächlich aber soll nicht die
Krankheit eines Kindes abgewendet
werden, sondern das Kind selbst, falls
es erblich bedingt an der Krankheit
leiden würde. Das ist nicht ärztliche
Prävention, sondern eugenische Selektion – wie immer der Sachverhalt
mit medizinischer Rhetorik verbrämt
sein mag.
Diese Beschreibung trifft allerdings auch für die selektive Abtreibung nach pränataler Diagnostik zu.
Das Strafrecht konstruiert hier zwar
eine medizinische Indikation, die auf
die seelische Belastung der Frau abstellt. Man darf aber die Begründungs-
Soll PID zugelassen werden? Es ist
zu befürchten, daß die Debatte über
diese Frage sich ebenso im Gestrüpp
unvereinbarer Urteile über den moralischen Status des menschlichen Embryos verheddern wird wie bei der
Stammzellforschung. Aber vielleicht
kann man sich über einige der Tatsachen verständigen, auf die in dieser
Debatte Bezug genommen wird. Solche Tatsachen sind etwa die Struktur
und der soziale Sinn von PID als
Handlung, die möglichen Folgen ihrer Zulassung und die Wertungen, die
bei vergleichbaren Sachverhalten in
der Gesellschaft faktisch akzeptiert
worden sind.
Die Suche nach den Tatsachen ist
riskant. Die Datenlage ist unübersichtlich und unbefriedigend. Ich
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WZB-Mitteilungen 97 · September 2002
Technik – Arbeit – Umwelt
figuren des Rechts nicht mit den Realitäten des sozialen Handelns verwechseln.
Frauen, die selektive Abtreibung
wählen, heilen nicht ihre seelische
Krankheit, sie entscheiden sich gegen das Zusammenleben mit einem
kranken oder behinderten Kind. Der
Schatten vorgeburtlicher Selektion
liegt daher keineswegs nur über den
Behandlungszyklen der medizinisch
unterstützten Fortpflanzung, inzwischen etwa 60.000 Zyklen/Jahr in
Deutschland, sondern über allen
Schwangerschaften, fast 800.000 im
Jahr.
Der Schatten wächst. Die Angst
davor, ein behindertes Kind zu bekommen, ist für fast alle Frauen ein
unabweisbares Motiv für vorgeburtliche Selektion. In über 90 Prozent der
Fälle, in denen pränatal Down-Syndrom (Trisomie 21) diagnostiziert wird,
wird die Schwangerschaft abgebrochen. Dieser Motivlage entspricht
eine latente Nachfrage nach mehr
Diagnostik. Und der Nachfrage entspricht ein rapide wachsendes Angebot.
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gerem Krankheitswert diagnostiziert
werden – beim Klinefelter Syndrom
etwa, einer Störung der Geschlechtschromosomen, die zu Unfruchtbarkeit führt, je nach Qualität der Beratung auf Werte zwischen 35 Prozent
und 72 Prozent.
60.000; gegenwärtig liegt sie deutlich
über 70.000. Ob man umgekehrt den
finanziellen Hebel ansetzen könnte,
um die Nachfrage einzudämmen, ist
allerdings die Frage. Jedenfalls wird
man das Rad der Geschichte nicht
zurückdrehen können.
Auf der anderen Seite ist es unwahrscheinlich, daß Frauen sich Optionen der Diagnostik für Befunde aus
der Hand nehmen lassen, die sie
selbst als gravierend empfinden und
bei denen sie eine Abtreibung wählen
würden. So wurde in den 1980er Jahren die sogenannte psychische Indikation für die pränatale Diagnostik
von jüngeren (in der Regel besser ausgebildeten) Frauen durchgesetzt, bei
denen kein altersbedingt erhöhtes Risiko bestand, daß das Kind eine Chromosomenstörung haben könnte.
Der große und wachsende Bereich der akzeptierten Indikationen
für eine selektive Abtreibung – also
die Diagnostik für schwere, nicht behandelbare Krankheiten oder Behinderungen des zukünftigen Kindes –
wird weiter von den Kassen finanziert
werden müssen. Und die Mehrkosten für Tests, die man dann noch
„einsparen“ könnte, werden bei fortschreitender Automatisierung der
Diagnostik immer weniger ins Gewicht fallen.
Die Frauen hatten Angst und wollten einfach sicher gehen. Anfang der
90er wurden knapp 15 Prozent der
invasiven Untersuchungen nach dieser Indikation durchgeführt. Gegen
solchen Nachfragedruck dürften auch
einschränkende Indikationenkataloge
wenig ausrichten.
Die Genomforschung hat inzwischen für 2.000 genetisch bedingte
Erkrankungen die entsprechenden
Gene bzw. assoziierten Marker identifiziert, mit denen diese Erkrankungen pränatal (und vor der Implantation) diagnostiziert werden können.
Durch Automatisierung (Genchips)
wird die Diagnostik schnell und billig
werden. Ein zusätzlicher Schub ist zu
erwarten, wenn embryonale Zellen
ohne invasiven Eingriff gewonnen
werden können, etwa aus dem mütterlichen Blutserum.
Die Nachfrage nach pränataler
Diagnostik ist durch Beratung nur in
Grenzen zu beeinflussen. Zwar verzichten nach einer Untersuchung von
Irmgard Nippert (Universität Münster) etwa die Hälfte der Frauen, die
wegen diffuser Angst vor einem behinderten Kind die Beratung aufsuchen, schließlich auf die Diagnostik.
Sobald es jedoch konkrete Hinweise
auf ein erhöhtes Risiko gibt, nehmen
fast alle die Diagnostik in Anspruch –
bei auffälligem Ultraschallbefund zu
100 Prozent.
Man erliegt jedoch einer Horrorvision, wenn man prophezeit, in Zukunft würden Eltern vorgeburtliche
Selektion maximieren und niemals
mehr auch nur das geringste Risiko
für das Kind akzeptieren. Das entspricht weder der normalen Interessenlage noch den normalen Wertungen prospektiver Eltern. Diese wünschen sich ein Kind – und gehen dafür im Fall der medizinisch unterstützten Fortpflanzung einen langen, mühseligen Weg.
Die Beratung kann die Illusion
ausräumen (falls irgend jemand sie
hegt), daß vorgeburtliche Diagnostik
absolute Sicherheit biete, ein gesundes Kind zu bekommen. Aber sie
kann Eltern nicht davon abhalten, die
relative Sicherheit zu suchen, die ihnen diese Diagnostik immerhin bietet.
Bei maximaler vorgeburtlicher Selektion wären aber die Chancen,
überhaupt noch ein Kind zu bekommen, vermutlich nicht mehr sehr
hoch. Tatsächlich differenzieren die
Eltern. Die Abtreibungsrate sinkt,
wenn pränatal Merkmale von gerinWZB-Mitteilungen 97 · September 2002
Die Nachfrage nach pränataler
Diagnostik steigt, wenn die Krankenkassen die Kosten übernehmen. Als in
den 90er Jahren nicht-invasive Untersuchungen finanziert wurden, die auf
mögliche Schädigungen beim ungeborenen Kind hinweisen (Ultraschall
und Tripletest), stieg die Zahl der invasiven vorgeburtlichen DiagnoseEingriffe innerhalb von fünf Jahren
um 50 Prozent – von 40.000 auf
Vorgeburtliche Diagnostik wird
Routine in der Schwangerschaftsvorsorge werden, und vorgeburtliche Selektion wird sich als gesellschaftliche
Praxis etablieren. Das wird die Einstellung zur Schwangerschaft und zum
ungeborenen Leben verändern. 90
Prozent der von Irmgard Nippert befragten Frauen, die wegen einer familiären Vorbelastung pränatale Diagnostik durchführen lassen, berichten, daß sie das Gefühl haben, Abstand zu ihrer Schwangerschaft halten
zu müssen. Bei einer PID dürfte diese
Distanz noch deutlicher sein.
„Zeugung auf Probe“ ist eine realistische Beschreibung. Ob der wertende Unterton, der in dieser Beschreibung mitschwingt, berechtigt
ist, steht hier nicht zur Diskussion. Allerdings ist eine Standardindikation
für PID, daß Eltern ein Risiko ausschließen wollen, für das es konkrete
Hinweise gibt, etwa weil Familienangehörige betroffen sind oder sie
schon ein krankes Kind haben.
Diese Eltern werden, falls sie sich
durch ein Verbot der PID nicht von
ihrem Kinderwunsch abbringen lassen, eine Schwangerschaft herbeiführen, bei der sie nach allen Daten, die
wir haben, fest entschlossen sind, vorgeburtliche Diagnostik in Anspruch
zu nehmen und gegebenenfalls abtreiben zu lassen. Das PID-Verbot verschiebt also für diesen Fall das Problem nur von der „Zeugung auf Probe“ zur „Schwangerschaft auf Probe“.
Die Zulassung von PID gilt als
Dammbruch. Ist die Selektion von
menschlichen Embryonen der Anfang
einer Kette von selektiven Strategien,
an deren Ende das Lebensrecht be-
Normbildung und Umwelt
hinderter Menschen zur Disposition
stehen wird? Kritiker der PID sehen
das Menetekel der Naziverbrechen
an der Wand. Die Daten sprechen
eine andere Sprache.
Vorgeburtliche Selektion und
das Lebensrecht behinderter
Menschen
Zunächst zeigt eine einfache Modellrechnung, daß PID kaum das Problem sein kann. Setzt man die Häufigkeit von (mono-)genetisch bedingten Erkrankungen und Chromosomenanomalien bei 15 Fällen auf 1.000
Neugeborene (1,5 %) an, würde flächendeckende PID, die alle diese Syndrome erfaßt, heute rechnerisch in
900 Fällen im Jahr (1,5 % von 60.000
Behandlungen) zur Selektion des untersuchten Embryos führen.
Eine ebenso ausgelegte pränatale
Diagnostik würde dagegen theoretisch bei 12.000 Schwangerschaften
(1,5 % von 800.000 Geburten) einen
Befund ergeben, der möglicherweise
die Abtreibung rechtfertigt. Das selektive Potential der PID fällt neben dem
der Pränataldiagnostik nicht ins Gewicht.
Alle Dammbruchargumente zur
PID arbeiten mit der Prämisse, daß
der gesellschaftliche Umgang mit ungeborenem Leben symbolisch ausstrahlt und prägend für den Umgang
mit geborenem Leben wird. Nichts
spricht für diese Prämisse. Die Freigabe der Abtreibung im Rahmen der
Fristenlösung hat die Tötung ungeborenen Lebens massenhaft zu einer legalen Praxis gemacht, mit schätzungsweise 200.000 Fällen im Jahr in
Deutschland und mehr als einer Million in Europa.
Die rechtliche und soziale Wertung geborener Kinder hat das in keiner Weise berührt. Die Geburt ist eine
moralische Wasserscheide. Nicht nur
nach dem Gesetz, sondern auch im
Bewußtsein des Alltags gilt: Wer geboren ist, hat uneingeschränkt Anspruch auf Achtung seiner Würde
und Schutz seines Lebens.
Allerdings gibt es die Grauzone
der schwerbehinderten Neugeborenen. Hier stehen nach einigen Umfragen große Teile der Bevölkerung einem „Sterbenlassen“ der betroffenen
Kinder positiv bis indifferent gegenüber. Solche Wertungen haben eine
lange Geschichte in vielen Gesellschaften. Sie sind weder ein Erbe der
Wolfgang van den Daele, geboren 1939 in Königsberg/Pr., studierte Rechtswissenschaft und Philosophie. Wissenschaftler am Starnberger Max-PlanckInstitut in den 70er Jahren; Hochschullehrer an der Universität Bielefeld,
Forschungsschwerpunkt Wissenschaftsforschung 1982 bis 1989. Seitdem
Direktor der Abteilung „Normbildung und Umwelt“ des WZB. 1985 Mitglied der Enquête-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“
des Deutschen Bundestags; 1995 Mitglied des Beirats für ethische Fragen im
Gesundheitswesen beim Bundesgesundheitsministerium; 2001 Ernennung
zum Mitglied des Nationalen Ethikrats durch den Bundeskanzler.
Foto: David Ausserhofer
Nazizeit noch eine Auswirkung der
Abtreibungspraxis oder der Pränataldiagnostik. Sie sind auch nicht der
Treibsatz für allgemeine Behindertenfeindlichkeit.
Man kann nicht von der Einstellung gegenüber neugeborenem Leben
auf die Einstellung gegenüber lebenden Personen im allgemeinen schließen. Während sich bis zu 75 Prozent
zustimmend bzw. neutral zur Euthanasie unmittelbar nach der Geburt
äußern, befürwortet so gut wie niemand eine Euthanasie zu einem späteren Zeitpunkt. Diese Einstellungskombination findet sich auch in traditionalen Gesellschaften, die bei schwerbehinderten Neugeborenen Infantizid
praktizieren, aber zugleich die unter
ihnen lebenden Behinderten hoch akzeptieren.
Aber ist es nicht kennzeichnend
für die Mentalität unserer Gesellschaft, wenn den Eltern behinderter
Kinder von ihrer Umgebung entgegengehalten wird, daß man doch
heutzutage so ein Kind nicht mehr
zur Welt bringen müsse? Kennzeichnender als solche Taktlosigkeiten sind
die institutionellen Trends. In allen Industrieländern werden seit Jahrzehnten die Rechte behinderter Menschen kontinuierlich ausgebaut und
mit steigendem Aufwand gefördert.
Hinzu kommt ein bemerkenswerter
Wandel der sozialpolitischen Zielsetzung.
Nicht mehr der Schutz und die
Versorgung behinderter Menschen
steht im Zentrum, sondern deren Autonomie und „Ermächtigung“. Behinderte sollen in die Lage versetzt werden, ein unabhängiges Leben „so normal wie möglich“ zu führen. Aktuell
wird dies gerade beim Recht auf Sexualität verhandelt.
Daß dieses Institutionengerüst einstürzt, ist unwahrscheinlich. Daß es
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einstürzt, weil Pränataldiagnostik und
PID zugelassen werden, ist noch unwahrscheinlicher. Keine noch so perfekte vorgeburtliche Selektion kann
an der Realität behinderten Lebens in
der Gesellschaft Nennenswertes ändern. Von den in Deutschland gegenwärtig registrierten über 1,6 Millionen
Fällen schwerer Behinderung dürften
weniger als zehn Prozent genetisch
bedingt sein, und von denen ist nur
ein Teil vorgeburtlich diagnostizierbar.
Angesichts dieser Zahlenverhältnisse fällt es schwer, Ängste oder
Phantasien ernst zu nehmen, daß die
vorgeburtliche Selektion die Behindertenpolitik aus dem Gleis werfen
könnte. Die Gesellschaft wird nicht
einer Million behinderter Menschen
die Solidarität aufkündigen, wenn sie
in einigen tausend Fällen Eltern gestattet, behinderte Föten abzutreiben
bzw. Embryonen zu selektieren.
Womit man offenbar weiter rechnen muß, ist die Ambivalenz, die Mischung von Empathie und Ablehnung, mit der viele Menschen auf Behinderte – vor allem auf Geistigbehinderte – reagieren. Aber diese Ambivalenz schließt steigende Solidarität keineswegs aus. Die wenigen Zeitreihen,
die wir haben, zeigen, daß Vorschläge, die darauf hinauslaufen, Geistigbehinderte aus der Gesellschaft auszuschließen und sie billig und möglichst unsichtbar zu „verwahren“, immer weniger Resonanz finden.
Der Anteil derjenigen, die für Kinder mit Down-Syndrom einfache Anstaltsunterbringung ohne besonderen
Aufwand befürworten, ist zwischen
1969 und 2000 von neun auf Null
Prozent gefallen (1983: 2%). Gleichzeitig stieg der Anteil der Befürworter
besonderer individueller Fördermaßnahmen von 59 auf 90 Prozent (1983:
73 %). 1969 hielten es nur 18 Prozent
für richtig, die betroffenen Kinder im
Elternhaus zu betreuen, 2000 waren
es 90 Prozent (1983: 43 %).
Integration der Behinderten
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Diese Entwicklung ist vor allem
deshalb von Bedeutung, weil parallel
dazu die vorgeburtliche Selektion von
Föten mit Down-Syndrom ständig zugenommen hat und überwiegend als
richtig akzeptiert worden ist. Die Parallelität belegt, daß Selektion vor der
Geburt und Diskriminierung nach der
Geburt unabhängige Phänomene sind
und das eine nicht auf das andere abfärbt.
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Die zunehmende politische und
rechtliche Integration der Behinderten in die Gesellschaft scheint sich
auch in einer erhöhten Bereitschaft
der Bevölkerung niederzuschlagen,
mit Behinderten zusammenzuleben.
Nach neueren Umfragen haben über
90 Prozent nichts gegen eine Nachbarschaft mit Geistigbehinderten und
über 80 Prozent nichts gegen die gemeinsame Anwesenheit im Urlaubshotel einzuwenden. Im Lichte dieser
Befunde können einige fragwürdige
Gerichtsurteile der jüngsten Vergangenheit schwerlich als Ausdruck
wachsender Behindertenfeindlichkeit
interpretiert werden.
So wurde etwa einem Reisenden
Schadensersatz zugesprochen, weil
sich in dem gebuchten Ferienhotel
unangekündigt auch eine Gruppe
Geistigbehinderter aufhielt. In einem
anderen Fall wurde der Aufenthalt
Geistigbehinderter auf der Terrasse
zeitlich begrenzt, weil die Nachbarn
sich gestört fühlten.
Diese Urteile reagieren auf Interessenkonflikte, die zunächst einmal
eines zeigen: Die Behinderten sind
wirklich in der Mitte der Gesellschaft
angekommen. Wenn man den Umfragedaten glauben darf, würden die
meisten Menschen bei den fraglichen Konflikten stärker als die Gerichte zugunsten der Behinderten entscheiden – realistischerweise wird man
hinzufügen müssen: Solange sie als
Beobachter des Konflikts urteilen und
nicht als Betroffene.
Man kann existentielle Ängste
nicht mit Daten widerlegen. Aber
man kann zeigen, daß nach den verfügbaren Daten kein Anlaß besteht,
als Folge der Zulassung von PID die
Gefährdung der Rechte behinderter
Menschen an die Wand zu malen.
Nach allem, was man sagen kann, ist
es wahrscheinlich, daß vorgeburtliche Selektion sich als Praxis durchsetzt, aber gleichwohl die Solidarität
mit behinderten Menschen kontinuierlich ausgebaut wird.
n
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