[Zitierhinweis: In eckigen Klammern jeweils die Seitenzahlen der Druckfassung] In: Jens Jetzkowitz/ Carsten Stark (Hg.): Soziologischer Funktionalismus. Zur Methodologie einer Theorietradition, Opladen 2003, S. 57- 81 Der verschobene Problemzusammenhang des Funktionalismus: Von der Ontologie der sozialen Zweckhaftigkeit zu den Raum-ZeitDistanzierungen Andreas Reckwitz [Druckfassung: 57] Den 'Funktionalismus' als ein eindeutig bestimmbares, unveränderliches Theorievokabular gibt es nicht. Es fehlt zwar nicht an Versuchen, das funktionalistische Denken auf eine bestimmte historische Phase und einen entsprechenden Schulzusammenhang in der Geschichte der Sozialwissenschaften festzulegen - in der Regel auf die britische Anthropologie der 1920er Jahre um Malinowski und Radcliffe-Brown sowie auf die US-amerikanische Soziologie des 'Strukturfunktionalismus' der 1950er Jahre um Parsons, Merton, Davis, Levy und anderen -, aber damit verdrängt man sowohl die offensiven funktionalistischen Denkfiguren in der Sozialtheorie des 19. Jahrhunderts (Marx, Spencer, Durkheim) wie auch - wichtiger noch - die Rezeption von Elementen des Funktionalismus in der zeitgenössischen, nach-parsonsianischen Sozialtheorie seit den 1970er Jahren. Andererseits scheint es wenig produktiv mit Kingsley Davis zu behaupten, die funktionale Analyse sei derart allgegenwärtig, dass sie letztlich "synonymous with sociological analysis" (1959: 757) erscheine. Das Bemerkenswerte der funktionalistischen Denkfiguren besteht statt dessen offenbar darin, dass sich in der sozialtheoretischen Entwicklung ihre Bedeutung und ihr Problemzusammenhang in erheblicher Weise verschoben haben. Von besonderem Interesse erscheint dabei die Diskussion seit den 1970er Jahren, in der - auch jenseits des kurzen Parsons-Revivals der 80er Jahre - danach gefragt wird, welche Produktivität dem funktionalistische Denken im Rahmen der gegenwärtigen, gegenüber den Schwächen des klassischen Funktionalismus sensiblen Sozial- und Gesellschaftstheorie noch zukommen kann. Das funktionalistische Denken kann man theorielogisch zunächst als eine Antwort auf ein sehr allgemeines Problem verstehen, das die Frage nach der Erklärung des Sozialen aufwirft: Wenn moderne Sozialtheorien versuchen, kollektive Handlungsmuster über den Verweis auf bestimmte, strittige 'Ursachen' oder 'Bedingungen' zu erklären, dann setzt eine solche Fragerichtung stillschweigend voraus, dass es diese Ursachen und 1 Bedingungen sind, die die Sozialwissenschaften zu interessieren haben, wobei es Gegenstand der Diskussion bleibt, ob die Handlungsbedingungen in erster Linie auf der Ebe- [Druckfassung: 58] ne materieller Ressourcen, individueller Interessen, sozialer Normen oder symbolischer Codes zu verorten sind. Beschränkt man sich auf eine derartige Erklärung von kollektiven Handlungsmustern, bleibt jedoch die komplementäre Fragerichtung ausgespart, die nun vom Funktionalismus eingefordert wird: die Frage nach den Folgen, den Konsequenzen, welche die Existenz bestimmter sozialer Formen mit sich bringt. Jenseits aller Differenzen im Einzelnen kann man funktionalistische Theorieelemente als eine Analyseform definieren, die nach den Konsequenzen, den Wirkungen von Handlungsmustern und sozialen Formen fragt, Wirkungen, die sich möglicherweise jenseits der Intentionen und Informationen der Handelnden bewegen. Rekonstruiert man jedoch, in welcher Weise diese allgemeine funktionalistische Denkfigur in der Sozialtheorie des 20. Jahrhunderts rezipiert und systematisiert worden ist, dann kann man zu dem Schluss kommen, dass die Bedeutung dieser Denkfigur sich grundsätzlich gewandelt hat. Zu unterscheiden sind hier zwei diametral entgegengesetzte Interpretationen des funktionalistischen Kerngedankens, zwei verschiedene Problemzusammenhänge, die aufeinander folgen. In einer ersten, klassischen Version dient das funktionalistische Element zur theoretischen Sicherung und Demonstration einer 'Zweckhaftigkeit' und übergreifenden Intelligibilität der Sozialwelt. In einer zweiten Version wird diese soziale Zweckhaftigkeit anti-teleologisch gerade in Zweifel gezogen - das funktionalistische Element dient hier zur Demonstration von Kontingenz, zum Aufzeigen von nichtnotwendigen Konsequenzen. Man kann somit einen teleologischen und einen kontingenztheoretischen Funktionalismus gegenüberstellen. Im Rahmen der klassischmodernistischen Sozialtheorie ist der Funktionalismus eine konzeptuelle 'Sicherungsinstanz', die versucht, auch scheinbar ungeordnete soziale Strukturen 'auf höherer Ebene' als wohlgeordnet und zweckvoll zu interpretieren, was im übrigen durchaus mit einer kritischen Bewertung dieser übergreifenden sozialen Totalität verbunden sein kann. Im Rahmen neuerer Ansätze, im wesentlichen seit den 1970er Jahren, vermag die 'funktionalistische' Analyse 'unintendierter Handlungsfolgen' exakt das Gegenteil zu demonstrieren: die Zufälligkeit, Nicht-Vorhersagbarkeit und Kontingenz der Wirkungen, die von bestimmten sozialen Formen auf die Akteure oder auf andere soziale Formen ausgehen. Während das klassische funktionalistische Verständnis von derart unterschiedlichen Autoren wie Talcott Parsons und Pierre Bourdieu - in einer tendenziell affirmativen und einer kritischen Version - formuliert wird (Teil 1), finden sich die gegenüber dem teleologischen Funktionalismus skeptischen, kontingenztheoretischen Modelle unintendierter Handlungsfolgen in 2 verschiedenen Versionen bei Jon Elster, Niklas Luhmann und Anthony Giddens (Teil 2). An Elemente von Giddens und Luhmann, aber auch an kulturtheoretische Argumentationen anschließend, lässt sich eine solche kontingenztheoretische Analyseform systematisieren, indem man das Bezugsproblem unintendierter Handlungsfolgen für die Moderne in den sozial-kulturellen Wirkungen über räumliche und über zeitliche Distanzen hinweg, mithin auf der Ebene von 'Raum-Zeit[Druckfassung: 59] Distanzierungen' festmacht. Eine kulturalistische Analyse dieser Raum-Zeit-Folgen hebt die kulturellen Differenzen zwischen dem Entstehungskontext und dem Interpretationskontext der Folgen hervor und erklärt die 'Unintendiertheit' und 'Unkalkulierbarkeit' dieser Wirkungen durch 'hermeneutische Applikation' im neuen räumlichen oder zeitlichen Kontext (Teil 3). 1. Teleologischer Funktionalismus: Die wohlgeordnete und die maliziöse Zweckhaftigkeit des Sozialen bei Talcott Parsons und Pierre Bourdieu Der Stellenwert funktionalistischer Denkfiguren in den Arbeiten von Talcott Parsons und Pierre Bourdieu könnte auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein. Parsons formuliert in seinem Frühwerk, insbesondere in "The Structure of Social Action" und in "The Social System", zunächst eine normorientierte Handlungs- und Ordnungstheorie, die auf der analytischen Differenz zwischen Persönlichkeits-, Sozial- und Kultursystemen aufbaut und am Anfang noch ohne funktionalistische Elemente auskommt. Diese führt er im Rahmen des sog. AGIL-Schemas ein und unterzieht sein Theoriesystem damit - wie in der Parsons-Interpretation regelmäßig hervorgehoben worden ist (vgl. etwa Habermas 1981, Wenzel 1990) - einer grundsätzlichen funktionalistischen Wende. Während für das Werk Parsons' zumindest seit den 1960er Jahren der Funktionalismus damit theoriekonstitutiv ist, kann man mit guten Gründen argumentieren, dass für Pierre Bourdieu funktionalistische Denkfiguren nie einen derart zentralen Stellenwert besessen haben. Bourdieus Theorieprojekt ist das einer 'Theorie der Praxis', eines neuen Typus der sozialwissenschaftlichen Kulturtheorie, die jenseits von Strukturalismus und interpretativem Ansatz entwickelt werden soll und die in ihrem Anspruch dezidiert anti-parsonsianisch ausgerichtet ist. Funktionalistische Denkfiguren treten bei Bourdieu nicht im Rahmen dieses expliziten Theorieprojekts, sondern eher implizit, im Zusammenhang seiner empirischen Untersuchungen zu Tage, und zwar insbesondere in den Analysen sozialer Klassen und sozialer Ungleichheit, die er in "Die feinen Unterschiede" bietet. Trotz dieser offensichtlichen Differenzen zwischen dem programmatischen Funktionalisten Parsons und den impliziten funktionalistischen Denkfiguren bei 3 Bourdieu enthalten die funktionalistischen Elemente beider Autoren eine grundsätzliche Gemeinsamkeit: In beiden Fällen wird über den Weg der funktionalen Analyse erklärt, wie die Folgen des Verhaltens partikularer sozialer Systeme bzw. sozialer Klassen auf der Metaebene der Gesamtgesellschaft zu einer unintendierten sozialen Stabilität, zur Reproduktion einer bestimmten sozialen Ordnung beitragen. Allerdings wertet Parsons diese soziale Ordnung als Beispiel gelungener sozialer Integration, während Bour[Druckfassung: 60] dieu sie als problematischen Herrschaftszusammenhang einordnet. Für Parsons dient der Funktionalismus zur Demonstration einer wohlwollenden, bei Bourdieu zur Demonstration einer maliziösen sozialen Teleologie. Die systematische Entwicklung des funktionalistischen AGIL-Schemas bei Talcott Parsons ist - angefangen von den "Working Papers in the Theory of Action" (mit R. Bales und E. Shils, 1953) bis zu "Action Theory and the Human Condition" (1978) vor dem Hintergrund einer zentralen Theoriemotivation zu sehen: Das funktionalistische AGIL-Schema scheint Parsons ein probates Mittel, um zu erklären wie trotz der Differenz zwischen unterschiedlichen Systemen, insbesondere zwischen sozialen Systemen in modernen Gesellschaften, auf der übergeordneten Ebene eine Einheit, das heißt soziale Koordination und Integration, existieren kann. Das Problem der Erklärung sozialer Ordnung motiviert Parsons bereits in seinen frühen Arbeiten, wird aber in der vor-funktionalistischen Phase zunächst noch einer 'handlungstheoretischen' Lösung zugeführt, die allerdings mehr und mehr fragil erscheinen muss. Dieser erste Versuch, die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung zu erklären, meint die Antwort auf das Integrationsproblem in einer Aufeinanderabgestimmtheit von kulturellen, sozialen und Persönlichkeits-Systemen zu finden: Die Internalisierung jener sozialen Normen und Rollenerwartungen des sozialen Systems, die ihrerseits die übergeordneten Werten des kulturellen Systems institutionalisieren, in den Bedürfnisdispositionen der Persönlichkeitssysteme scheint zunächst soziale Geordnetheit zu garantieren (vgl. Parsons 1951). Indem Parsons sein Interesse jedoch zunehmend den besonderen Bedingungen moderner Gesellschaften und ihrer Entstehung zuwendet, verschiebt sich das Problem sozialer Ordnung: Nicht mehr das Verhältnis zwischen Sozialsystemen und Persönlichkeitssystemen - mithin das 'Sozialisationsproblem' -, sondern das Verhältnis zwischen unterschiedlichen sozialen Systemen, die im Zuge des sozialen Differenzierungsprozesses entstanden sind, - mithin das 'Koordinationsproblem' - muss nun als potentielle Bruchstelle für gelingende soziale Integration erscheinen. Parsons hatte zwar mit dem Verweis auf ein 'kulturelles System', dessen grundlegende Werte in allen Sozialsystemen institutionalisiert sein sollen, einen möglichen Mechanismus genannt, wie trotz sozialer Differenzierung soziale Integration denkbar ist; aber diese durchaus traditionelle werttheoretische 4 Denkfigur reicht ihm als Garant sozialer Geordnetheit offenbar nicht aus - das funktionalistische AGIL-Schema setzt genau dieser Stelle ein. Das AGIL-Schema soll demonstrieren, wie die Differenziertheit und damit zunächst Nicht-Koordiniertheit verschiedener Sozialsysteme nicht die Bedingung von sozialer Desintegration, sondern umgekehrt von sozialer Integration darstellt: Soziale Systeme von Parsons in seinen frühen handlungstheoretischen Arbeiten zunächst als rein analytische Größen behandelt - werden nun als 'grenzerhaltende Systeme' (boundary maintaining systems) mehr und mehr 'ontologisiert', das heißt als aktive, sich selbst reproduzierende Einheiten begriffen. Zur gelungenen Reproduktion eines solchen (sozialen) [Druckfassung: 61] Systems scheint Parsons die Erfüllung vier universaler Funktionen notwendig: Anpassung (A), Zielerreichung (G), Integration (I) und latente Mustererhaltung (L). Die eigentliche Pointe gewinnt dieses Schema, sobald man es auf das soziale System 'moderne Gesellschaft' (und in zwei weiteren Abstraktionsschritten auf das allgemeine Handlungssystem und die 'Conditio Humana', vgl. Parsons 1966, 1978) anwendet: Dass die moderne im Unterschied zur traditionalen Gesellschaft nicht mehr ohne weiteres als ein homogenes, in den Persönlichkeitssystemen entsprechend eindeutig verankertes Norm- und Rollensystem erscheint, vielmehr in mehrere Sozialsysteme zerfällt, die letztlich gänzlich unterschiedliche Norm- und Rollensysteme bilden (Politik, Wirtschaft, Familie, Recht, Kultur), muss vor dem Hintergrund des funktionalistischen AGIL-Schemas nicht mehr als Bedrohung sozialer Integration erscheinen. Die auf den ersten Blick in ihrer Normstruktur einander widersprechenden Sozialsysteme lassen sich nun vielmehr als Einheiten interpretieren, die als unintendierte Folge 'arbeitsteilig' jeweils spezifische Beiträge zur gelungenen Reproduktion des Gesamtsystems, der Gesamtgesellschaft liefern. Nicht nur widerspricht die Existenz dieser unterschiedlichen Sozialsysteme nicht der übergreifenden gesellschaftlichen Integration - die Leistungsfähigkeit einer 'Ausdifferenzierung' der Funktionen, ihrer spezialisierten Bearbeitung durch einzelne 'Funktionssysteme' steigert sogar die Selbsterhaltungsfähigkeit der Gesellschaft als ganze. Die funktionalistische Denkfigur in Form des AGIL-Schemas nimmt damit im Rahmen von Parsons' Theoriesystem den Status einer 'Sicherungsinstanz' ein, mit deren Hilfe die Möglichkeit, ja Notwendigkeit einer auf den ersten Blick unwahrscheinlichen gesellschaftlichen Gesamtintegration demonstriert werden soll: Die funktionale Beziehung wird hier konsequent - und der soziologisch-ethnologischen Tradition von Émile Durkheim und Bronislaw Malinowski folgend - als eine Beziehung zwischen einer einzelnen sozialen Einheit und der Metaebene eines gesellschaftlichen Systemganzen konzeptualisiert, wobei die Frage der erfolgreichen Reproduktion dieser 5 Metaebene den Bezugspunkt der funktionalistischen Analyse darstellt. Nachdem Parsons in seinen frühen Arbeiten die beiden Denkfiguren der Kopplung von Persönlichkeits- und Sozialsysteme über Internalisierung und der Kopplung von Sozialund Kultursystemen über Institutionalisierung als Integrationsinstanzen vorgeschlagen hatte, scheint der Funktionalismus damit eine dritte, besonders wirkungsvolle theorielogische Sicherungsinstanz zu liefern, die die scheinbare Desintegration moderner Gesellschaft in eine wohlgeordnete Totalität zu verwandeln vermag. Dass Pierre Bourdieus sozial- und gesellschaftstheoretische Problemstellung wie auch seine Bewertung 'sozialer Integration' der von Parsons diametral entgegengesetzt ist, scheint offensichtlich: Bourdieu interpretiert die moderne Gesellschaft im Kern nicht als eine funktional differenzierte Gesellschaft (obgleich sie dies als Konglomerat 'sozialer Felder' für Bourdieu auf oberflächlicher Ebene zumindest auch ist), sondern als eine Klassenge- [Druckfassung: 62] sellschaft, eine Gesellschaft von Klassen, die sich sowohl in ihrem Habitus als auch in ihrer Kapitalausstattung voneinander unterscheiden. Ähnlich wie Parsons - wenn auch weit weniger systematisch - bedient sich Bourdieu jedoch funktionalistischer Denkfiguren, um zu erklären, wie die Kämpfe und Konflikte der Klassengesellschaft auf der gesellschaftlichen Metaebene nicht zur Transformation derselben, sondern exakt zu ihrer Reproduktion, zur Stabilität sozialer Ungleichheit beitragen. Nun sind es nicht einzelne soziale Systeme, die unabhängig voneinander nützliche Funktionen für den Gesamterhalt der Gesellschaft leisten, nun ist es vielmehr das Verhalten der Klassen, das - unintendiert, teilweise sogar gegen die Intentionen der Akteure - zur Reproduktion eines Herrschaftszusammenhangs beiträgt und einer maliziösen sozialen Teleologie folgt. Bourdieus Lesart unintendierter Handlungsfolgen ist damit weniger von Durkheim als von Marx beeinflusst und weist Parallelen zu Autoren des strukturalen Marxismus wie Louis Althusser (vgl. Althusser/ Balibar 1965/ 68) und Nicos Poulantzas (1973) auf. Vor allem an drei Punkten setzt Bourdieu im Rahmen seiner Klassenanalyse in "Die feinen Unterschiede" (1979) funktionalistische Denkfiguren ein: im Gesetz der 'Entwertung des Begehrten', im Gesetz der 'geliebten Not' und in dem des 'betrogenen Betrügers'. Das Gesetz der 'Entwertung des Begehrten' ergibt sich aus der Annahme, dass die Akteure in den einzelnen Klassen - dies gilt insbesondere für die Mittel- und Oberklasse, in geringerem Maße für die traditionelle Arbeiterklasse - allesamt bestrebt sind ihre - kulturelle, ökonomische, soziale - Kapitalausstattung zu bewahren und zu steigern, dass aber die Tatsache, dass alle Akteure 'in die gleiche Richtung laufen, letztlich zu einer Entwertung der jeweiligen Kapitalsorten führt. Das Ergebnis dieses Klassen-'Wettrennens' ist damit gerade nicht der 'Aufstieg' der unteren und mittleren Klassen, sondern eine Reproduktion der Klassendifferenzen. Bourdieus prototypisches 6 Beispiel stellt die Bildungsexpansion dar: Die soziale Verbreitung höherer Bildungsabschlüsse hat nicht zu einer 'Egalisierung nach oben' geführt, sondern dazu, dass sowohl der Status der einfachen als auch der der höheren Abschlüsse entwertet wurde, letztere nun keine Garantie für 'entsprechende' Arbeitsstellen mehr bieten und sich die Klassendifferenzen letztlich fortsetzen. (vgl. 1979: 210- 276) Das zweite funktionalistische Gesetz, das der 'geliebten Not' oder zur 'Tugend gewendeten Not', ergibt sich aus Bourdieus Annahme einer Abhängigkeit der Habitusformen von der Kapitalausstattung: Indem in jeder Klasse solche Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata ausgebildet werden, die im Prinzip der Kapitalausstattung 'entsprechen', mit dieser 'kompatibel' sind, ergibt sich als unintendierte Folge, dass die Akteure keine 'systemsprengenden' neuartigen Ambitionen und Bedürfnisse zu entwickeln vermögen; vielmehr gilt, 'dass man hat, was man mag und man mag, was man hat'. Auch über diesen Weg trägt das Verhalten der Klassenmitglieder - selbst wenn sie (etwa im proletarischen Habitus) subjektiv eine Widerständigkeit gegenüber dem Lebensstil der Eliten wahrzunehmen meinen letztlich zur Reprodukti- [Druckfassung: 63] on des gesamten Klassensystems bei. (vgl. 1979: 277- 354) Schließlich formuliert Bourdieu ein drittes funktionalistisches Gesetz: das des 'betrogenen Betrügers', welches sich in erster Linie auf das Kleinbürgertum bezieht. Während das gesamte System kultureller Klassen auf einer in der Regel vorbewussten symbolischen Distinktion beruht, versuchen Akteure aus dem Kleinbürgertum oder aus dem 'neureichen' Großbürgertum ihren kulturellen 'Aufstieg' durch demonstrative Distinktion zu betreiben. Diese bewusste Distinktion sichert jedoch gerade nicht den erwünschten Aufstieg, sondern läuft umgekehrt auf dessen Unmöglichkeit heraus. Wie in einem ridikülen Spiegel demonstriert die intendierte symbolische Abgrenzung der Kleinbürger vielmehr, dass jene Distinktion, die von der Oberklasse erfolgreich betrieben wird, allein dadurch effektiv werden kann, dass sie nicht-intendiert und habituiert eingesetzt wird: die bürgerliche Distinktion ist nicht gewollt kopierbar. Ergebnis ist auch hier statt einer Veränderung der Klassenstruktur ihre unintendierte, anscheinend unendliche Reproduktion. (vgl. 1979: 500- 584) Auch wenn man die logische Struktur von Bourdieus funktionalistischen Annahmen mit gutem Grund anzweifeln kann (vgl. Elster 1983: 102ff) - entscheidend ist, dass der Funktionalismus bei Bourdieu vor dem Hintergrund einer Theorie sozialer Klassen und sozialer Ungleichheit einen analogen Status besitzt, wie es für Parsons vor dem Hintergrund einer Theorie funktionaler Differenzierung gilt: Soziale Formen, die vordergründig zueinander in einem desintegrativen Verhältnis stehen - bei Bourdieu soziale Klassen, bei Parsons soziale Systeme - erweisen sich hintergründig gegenüber der Stabilität der Gesamtgesellschaft als funktional. Dass diese wohlgeordnete soziale 7 Integration für Parsons eine glückliche Fügung, für Bourdieu der bürgerliche Herrschaftszusammenhang hingegen ein ideologisch verschleiertes scheinbar 'ehernes Gehäuse' kulturell-ökonomischer Art darstellen, stellen sich als konträre Bewertungen dar, die jedoch insgeheim auf ähnlichen funktionalistischen Elementen aufbauen: Die rhetorische Figur des Funktionalismus ermöglicht Parsons wie Bourdieu (auf den Schultern von Durkheim und Marx) die Sozialwelt als intelligibel und geordnet präsentieren zu können. Diese intelligibilitätsstiftende Bedeutung kommt dem Funktionalismus jedoch im Zuge der Funktionalismuskritiken seit den 1970er Jahren abhanden. 2. Drei Versionen des kontingenztheoretischen Funktionalismus: Jon Elster, Niklas Luhmann, Anthony Giddens Talcott Parsons' Theorie funktionaler Differenzierung und Pierre Bourdieus Klassentheorie stellen sich in mancher Hinsicht als zwei Versionen einer Sozialtheorie der 'organisierten Moderne' (vgl. Wagner 1994) dar, einer Moderne, die - von der 'bürgerlichen' Sozialwissenschaft begrüßt, von der 'kri- [Druckfassung: 64] tischen' beklagt - eine soziale Hyperstabilität entwickelt. Funktionalistische Denkfiguren dienen im Rahmen der verschiedenen Versionen einer Theorie der organisierten Moderne exakt der Demonstration dieser Stabilität auf der gesellschaftlichen Metaebene trotz vordergründigen 'sozialen Wandels' auf der Ebene von Institutionen oder sozialen Gruppen. Wenn seit den späten 60er Jahren der klassische Funktionalismus sich vehementer Kritik gegenübersieht, dann hat dies (neben eher kurzlebigen politischen Konnotationen des 'Konservatismus', dem sich bürgerliche wie marxistische Funktionalisten von Parsons bis Althusser im Kontext der Studentenbewegung gegenübersahen) sowohl eine sozialtheoretische als auch eine gesellschaftstheoretische Bedeutung. Sozialtheoretisch werden die logischen und analytischen Schwächen des Funktionalismus, etwa die Neigung zu unhaltbaren 'funktionalistischen Erklärungen' oder der sich selbst bestätigende 'Modellplatonismus' des AGIL-Schemas, ins Visier genommen. Alle Sozialtheorien, die eine Neigung zur Präjudizierung stabiler sozialer Strukturen haben - dies gilt für den klassischen Funktionalismus wie für den Strukturalismus und das 'normative Paradigma' des Homo sociologicus - sehen sich nun der Kritik durch Ansätze gegenüber, die - von der Rational Choice Theorie über die interpretativen Ansätze bis zum Poststrukturalismus - die (kausale, funktionale, strukturale und teleologische) Unterdeterminiertheit sozialer Formen betonen. Gesellschaftstheoretisch erscheinen jene funktionalen Analysen, die im wesentlichen die Reproduktion einer sozialen Metaordnung zu demonstrieren vermögen, in 8 Gesellschaften, deren 'Funktionssysteme' sich nun Problemen der 'Steuerbarkeit' gegenüber sehen, deren Klassenhierarchien an Festigkeit verloren und die mit selbstproduzierten 'Risiken' als Nebenfolge des Handelns konfrontiert werden, von nur begrenzter empirischer Anschlussfähigkeit. Es ist wohl eine Kombination der sozialtheoretischen mit den gesellschaftstheoretischen Argumenten, die den teleologischen Funktionalismus seit den 1970er Jahren in die Defensive gedrängt haben und jene Versionen eines 'kontingenztheoretischen' Funktionalismus haben entstehen lassen, wie man ihn bei Jon Elster, Niklas Luhmann und Anthony Giddens findet. Die Rational Choice Theorien und Theorien eines 'ökonomischen' methodologischen Individualismus, wie sie sich seit den 1970er Jahren in der Soziologie, Politikwissenschaft und analytischen Philosophie verbreiten, haben durchgängig eine dezidierte Kritik am teleologischen Funktionalismus, gleichzeitig jedoch die Profilierung des Konzepts der 'unintendierten Handlungsfolgen' als funktionalistisches Nachfolgemodell betrieben. Dieses Modell der unintendierten, häufig auch nicht-rationalen Folgen von individuellem und kollektivem Handeln speist sich einerseits aus dem Erbe der frühmodernen Theorien des Utilitarismus und Kontraktualismus, ist andererseits jedoch auch vor dem Hintergrund des neuen Interesses an der 'Begrenztheit' von Handlungsrationalität, wie es die gesamte Diskussion der neueren Rational Choice Theorien und Spieltheorien prägt, zu verstehen. Einerseits ist es bereits für das frühe utilitaristische Denken kennzeichnend, die Ebene des [Druckfassung: 65] Sozialen nicht im Bereich der vorgeblich übersubjektiven Bedingungen des Handelns verschiedener Individuen, sondern auf der Ebene der Folgen des Aufeinandertreffens dieser unterschiedlichen Handlungsakte festzumachen.1 Der zweite Hintergrund des neuen Interesses an unintendierten Handlungsfolgen ist darin zu suchen, dass die neueren Rational Choice Theorien seit den 1970er Jahren vor allem die 'Grenzen' jener subjektiven Rationalität, die der klassische Utilitarismus noch idealtypisch vorausgesetzt hatte, herausarbeiten: Neben der 'bounded rationality' der Handlungsentscheidungen - die etwa in der Unvollständigkeit von Informationen, der mangelnden Konsistenz von Präferenzen und der entscheidungsfreien Routinisiertheit von 'script'-förmigem Handeln festgemacht wird - werden nun die unintendierten und häufig auch kontraintentionalen Folgen individuellen Handelns, vor allem des 1Die Ebene des Sozialen und der Gesellschaft wurde bereits bei Autoren wie Adam Smith oder Bernard Mandeville als eine Serie von 'matching situations' (so die Formulierung Colemans (1987)) interpretiert: Die sozialen Resultate dieses Aufeinandertreffens von subjektiv rationalen Handlungen mögen sich dann - wie in Smiths Vorstellung der 'unsichtbaren Hand' der Marktgesellschaft - als kollektiv 'rational' und dem Gemeinwohl dienlich darstellen, sie können jedoch auch - wie bereits in Hobbes' Gedankenexperiment des 'Kriegs aller gegen alle' oder dem späteren spieltheoretischen 'Gefangenendilemma' - auf sozialer Ebene ausgesprochen irrational und den Interessen der Individuen gegenüber konträr ausgerichtet sein. 9 individuellen Handelns mehrerer Akteure, die sich gegenseitig mit den Konsequenzen ihres Handelns konfrontieren, das bevorzugte Thema von Rational Choice Theorien, insbesondere der Spieltheorien. Diese Analysen unintendierter Handlungsfolgen stehen jedoch den Grundannahmen des klassischen 'teleologischen' Funktionalismus ausdrücklich entgegen. Neben Raymond Boudons Analysen 'perverser Effekte' (vgl. Boudon 1979) hat insbesondere Jon Elster den klassischen Funktionalismus einer Kritik unterzogen und gleichzeitig eine Analyse unintendierter Handlungsfolgen profiliert nun jedoch nicht mehr als Ort der Demonstration einer intelligiblen sozialen Ordnung 'hinter dem Rücken der Akteure', sondern umgekehrt als Ort der Demonstration 'paradoxer' Konstellationen, die sich aus den Differenzen zwischen Wünschen und Effekten ergeben. Jon Elsters Kritik gilt der Tendenz des Funktionalismus, funktionalistische Analysen unter der Hand in funktionalistische Erklärungen zu verwandeln. Der funktionalistische Verweis auf bestimmte nicht-intendierte Folgen von Handeln mündet regelmäßig in den - häufig mehr implizierten als ausdrücklich formulierten - Versuch, das fragliche Phänomen als Produkt dieser nützlichen Folgen zu erklären, damit die Konsequenzen unzulässigerweise letztlich in Ursachen zu transformieren: Die Aussage, dass bestimmte Verhaltensweisen zur Konsequenz haben, die soziale Stabilität zu sichern (oder eine bestimmte soziale Gruppe einen sozialen Vorteil zu verschaffen), kann dann stillschweigend in die 'Erklärung' verwandelt werden, das fragliche soziale Phänomen existiere, weil es die soziale Stabilität sichert (oder weil es [Druckfassung: 66] einer bestimmten Gruppe nützt). Elster wittert hinter dieser Tendenz zur funktionalistischen Erklärung einen letztlich in der religiösen Theodizee verwurzelten intellektuellen Wunsch, das scheinbar Sinn- und Zwecklose doch als verständlich und sinnvoll zu deklarieren. Der eigentliche Stellenwert der Analyse unintendierter Handlungsfolgen ist in Elsters Verständnis jedoch gerade nicht in der 'Soziodizee', sondern umgekehrt in der Demonstration von Paradoxien und gesellschaftlichen Widersprüchen zu sehen. Den aus der marxistischen Tradition stammenden Begriff des 'Widerspruchs' redefiniert Elster unter Verweis auf das Konzept der 'Gegenfinalität' (counterfinality): Soziale Widersprüche entstehen dann, wenn die individuellen Interessen der einzelnen Handelnden und die Ergebnisse dieses Verhaltens auf der kollektiven Ebene unvereinbar sind (vgl. Elster 1978, Kap. 5). Vor allem aber unterzieht Elster das Feld der 'states that are essentially by-products', das heißt, jener Zustände von Personen und Kollektiven, die gar nicht intendiert und bewusst erreicht, sondern per definitionem nur als unintendierte, nicht-bewusste Handlungsfolgen realisiert werden können, einer detaillierten Analyse. Die individuelle und soziale Tragik besteht darin, dass gerade eine Reihe erstrebenswerter Zustände allein nicht-intentional erreicht werden können: 10 Auf der Ebene der Persönlichkeitszustände stellen sich Zustände der Reife (Weisheit, Würde usw.) und solche der Abwesenheit von Bewusstheit (Ungezwungenheit, Schlaf) in diesem Sinne als 'essentially by-products' dar; auf der Ebene sozialer Interaktion lässt sich der Effekt des 'jemanden Beeindruckens' in ähnlicher Weise nur unintendiert erreichen; schließlich gilt auf der Ebene der Gesamtgesellschaft, dass Strukturen wie die einer 'liberalen politischen Kultur' gleichfalls nur schwer als Ergebnis sozialer Planung denkbar sind. (vgl. Elster 1983, Kap. II) Neben der Rational Choice Theorie Jon Elsters setzt sich auch Niklas Luhmanns konstruktivistische Systemtheorie kritisch mit dem klassischen, teleologischen Funktionalismus auseinander und formuliert eine spezifische kontingenztheoretische Alternative. Die Alternative ist für Luhmann ein 'Äquivalenzfunktionalismus', eine 'funktionale Analyse' als Forschungsmethode, die mit der Systemtheorie als Sozialtheorie verknüpft wird. Luhmann steht in einem zwiespältigen Verhältnis zum Parsonsianischen Erbe: Einerseits übernimmt er von Parsons den Leitbegriff des sich selbst erhaltenden Systems und die Unterscheidung zwischen sozialen und psychischen Systemen (die er dann in Anlehnung an die Phänomenologie und den Radikalen Konstruktivismus begrifflich transformiert). Andererseits geht Luhmann auf eine systematisch begründete Distanz zu den funktionalistischen 'Sicherungen' in Parsons Theoriedesign, so dass auch das AGIL-Schema nicht übernommen wird. Luhmanns grundsätzliche Kritik gilt hier dem 'traditionellen ontologischen Kausalverständnis' des klassischen Funktionalismus. Charakteristisch für diese deterministische Codierung von Kausalität, wie sie der Funktionalismus bisher gepflegt hat, ist die Voraussetzung, einzelne Ursachen und einzelne Wirkungen ließen sich eindeutig einander zuordnen: auf [Druckfassung: 67] eine bestimmte Ursache folge eine bestimmte Wirkung. Die gängige funktionalistische Annahme, eine bestimmte soziale Struktur liefere einen 'Beitrag zur Erhaltung des (sozialen) Systems' stellt sich damit nur als spezifische Ausprägung eines vorausgesetzten logischen Schemas der eindeutigen Zuordnung von Ursachen und Wirkungen dar. Exakt eine derartige Transzendierung der analytischen Enge der Kausalerklärung ist es jedoch, die Luhmann der von ihm präferierten, neuen Version der 'funktionalen Analyse' zuschreibt (so dass sich die Kausalerklärung am Ende nur noch als simplifizierender Sonderfall der funktionalen Analyse begreifen lässt): Die neue, eigentliche funktionale Analyse demonstriert gerade nicht die Notwendigkeit bestimmter Folgen oder Ursachen, sondern deren (allerdings nicht grenzenlose) Kontingenz. Dies setzt die funktionale Vergleichbarkeit von sozialen Phänomen voraus und provoziert entsprechende Vergleiche: Nun wird danach gefragt, welche unterschiedlichen sozialen Strukturen eine bestimmte, gleiche Wirkung hervorrufen, 11 mithin welche Phänomene sich als 'funktional äquivalent' darstellen. Umgekehrt kann man fragen, welche unterschiedlichen Wirkungen auf verschiedenen Ebene die gleichen sozialen Strukturen mit sich bringen. Die funktionale Analyse - die allerdings, um anwendbar zu sein, auf die sachhaltige Ergänzung durch die Theorie sozialer Systeme angewiesen ist - vermag damit die Alternativenhaftigkeit, die relative Austauschbarkeit sozialer Strukturen zu demonstrieren und alternative 'Problemlösungen' für bestimmte soziale Strukturprobleme zu liefern. (vgl. Luhmann 1962, 1964, 1984: 83- 91) Wenn die funktionale Analyse auf diese Weise vollständig ihren Charakter als theoretische Sicherheitsinstanz zur Erklärung der Stabilität sozialer Systeme, insbesondere des Gesellschaftssystems, verliert, der ihr bei Parsons noch zukam, so ist es nur konsequent, dass bei Luhmann im Unterschied zu Parsons die einzelnen sozialen Systemen in der 'Gesellschaft' in keinem vorausgesetzten geordneten Verhältnis mehr zueinander stehen und sie streng genommen den Charakter von 'Funktionssystemen' verlieren: Einzelne soziale Systeme unterscheiden sich in ihren Codes und Erwartungen, aber einen eindeutig bestimmbaren funktionalen Beitrag zur Stabilität der Gesamtgesellschaft liefen sie nicht mehr - möglicherweise sogar eher Beiträge zu ihrer Destabilisierung (vgl. Luhmann 1986). Anthony Giddens liefert eine dritte Version der Kritik am klassischen Funktionalismus, die mit einer Reprofilierung des Konzepts 'unintendierter Handlungsfolgen' im Rahmen seiner Strukturierungstheorie verknüpft ist. Giddens ordnet den 'Funktionalismus' als eines der zentralen Merkmale jener in den 1940er, 50er und 60er Jahren die angelsächsische Soziologie dominierenden sozialtheoretischen Ansätze ein, die er unter dem Etikett eines 'orthodoxen Konsensus' zusammenfasst. Im Rahmen dieses orthodoxen Konsensus - deren prominenteste Autoren Parsons und Merton waren, wobei Giddens jedoch gleichzeitig die funktionalistischen Konnotationen im zeitgenössischen Marxismus herausarbeitet - besitzt der Funktionalismus zwei spezifische Schwächen: einerseits neigt er zu teleologischen funktionalistischen Er[Druckfassung: 68] klärungen, andererseits tendiert er zu einer Eliminierung der Dimension der Zeit zugunsten der scheinbar zeitenthoben wirksamen 'Funktionen'. Giddens' Kritik an der Konnotation des klassischen Funktionalismus, Wirkungsanalysen kurzerhand in Ursachenanalysen zu transformieren, läuft der Kritik Elsters' parallel: In der anthropologischen, der normativistischen wie auch in der marxistischen Version werden dem Funktionalismus regelmäßig Erklärungslasten aufgebürdet, die er nicht zu tragen vermag. Der Verweis auf 'Funktionen' sozialer Phänomene läuft auf eine logisch unklare Identifikation der Folgen, 'Zwecke' und 'Ursachen' von sozialen Phänomenen heraus. Gleichzeitig haben gerade die funktionalistischen Theorien eine fatale Neigung, 'Zeit' (und 'Raum') als bloße Randbedingungen abzutun und Funktionen als systemische 12 Konstanten zu begreifen, die scheinbar außerhalb der Zeit, jenseits temporal bestimmbarer Ereignisse existieren. (vgl. Giddens 1979: 111- 115, 198- 201) Das Konzept der 'unintendierten Handlungsfolgen', das Giddens der funktionalistischen Erbmasse entnimmt, kann und soll außerhalb dieser Tradition einen neuen Stellenwert erhalten: Neben den von der Spieltheorie untersuchten Konstellation von kollektiven Effekten verschiedener individueller Entscheidungen hebt Giddens insbesondere die unintendierten Effekte routinisierter sozialer Praktiken hervor, die das implizite Wissen der Teilnehmer übersteigen, aber indirekt und auf unberechenbare Weise doch wiederum in deren 'reflexive monitoring of action' eingehen können. (vgl. Giddens 1984: 62- 65) Prinzipiell geht Giddens davon aus, dass den Akteuren in Form ihres 'praktischen Bewusstseins' eine verhältnismäßig umfassende - und von den klassischen Funktionalisten regelmäßig vernachlässigte - kognitive und methodische Kontrolle über ihre routinisierte Handlungspraxis zukommt. 'Unintendierte Handlungsfolgen' stellen sich bei Giddens nun primär als 'nicht-gewusste Handlungsfolgen' dar: Die Diskrepanzen, die im Rahmen der Strukturierungstheorie für die Analyse von Handlungsfolgen konstitutiv erscheinen, sind weniger die Differenzen zwischen Intentionen und kontraintentionalen Effekten, sondern die zwischen implizitem Wissen und nicht-gewussten Effekten. Entscheidend ist, dass diese Effekte völlig ohne den Rekurs auf 'Funktionen' analysierbar sind, häufig auch keinen identifizierbaren sozialen Zwecken dienen und vor allem auf dem Weg einer 'kausalen Schleife' in manchen Fällen wiederum auf die sozialen Praktiken rückwirken können, indem sie zu 'erkannten Handlungsbedingungen' werden. Wenn das im Grunde hochreflexive, institutionenkritische Verhalten von Arbeiterjugendlichen in der Schule - so das Beispiel von Paul Willis, auf das Giddens zurückgreift - unwissentlich und unintendiert dazu führt, dass sie eine berufliche Position erreichen, die ihrem 'Überlegenheitsanspruch' ganz und gar nicht entspricht, dann kann dieser Zusammenhang den Personen unter bestimmten Umständen später bewusst werden und wiederum in kontingenter Weise auf ihr Handeln - hier etwa in Form politischer Radikalisierung oder Apathie - 'zurückwirken' (vgl. Giddens 1984: 347- 352): diese Wirkungen können aber nur durch die sub[Druckfassung: 69] jektiven 'Gründe der Akteure' hindurch effektiv sein. Es ist diese offene und niemals im Voraus bestimmbare Relation zwischen Nicht-Wissen und dem Wissen um Zusammenhänge und Folgen von Handeln, die es aus Giddens' Perspektive unmöglich machen, unintendierte Handlungsfolgen als 'zwangsläufige' Reproduktionskreisläufe zu analysieren. 13 3. Raum-Zeit-Distanzierungen und hermeneutische Applikationen: Eine kulturtheoretische Adaption des Konzepts unintendierter Handlungsfolgen Im Zuge der Transformation vom teleologischen zum kontingenztheoretischen Modell hat der Funktionalismus Anschlussfähigkeit an die neuere sozialtheoretische Entwicklung gewonnen. Die Kritik am 'Sicherungscharakter' des klassischen Funktionalismus, an dessen Versuch der Demonstration von sozialer Intelligibilität und Stabilität und die Verwandlung der funktionalistischen Denkfigur in eine, die umgekehrt die Unberechenbarkeit und Nicht-Notwendigkeit von Handlungsfolgen herausstellt, ist dabei Teil einer komplexen Transformation der sozialtheoretischen Grundbegrifflichkeit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts - der Begriffe des Handelns, der Identität, der Kultur, der Moral, von Körper und Geist, Raum und Zeit etc. -, die einem übergreifenden Muster folgt:2: Während klassische sozialtheoretische Vokabulare versuchten, mittels verschiedener begrifflicher Vorrichtungen die im[Druckfassung: 70] manente Rationalität der Sozialwelt zu demonstrieren - sei es in den Modellen des Homo oeconomicus oder Homo sociologicus, im Körper/ GeistDualismus, in den Modernisierungstheorien, in der strukturalen Soziologie und Ethnologie, der kognitivistischen Psychologie, in Tendenzen eines sozialen Universalismus (oder auch Naturalismus) und schließlich im teleologischen Funktionalismus -, unterminieren neuere sozialtheoretische Ansätze eine Reihe dieser rationalitätstheoretischen Grundannahmen. Vor allem Ansätze aus dem Feld der 'Kulturtheorien'3 - die hermeneutisch-interpretative, praxeologische, konstruktivistische, neo- und poststrukturalistische, post-wittgensteinianische, post-koloniale und manche feministische 2Ich habe in einer Serie von Aufsätzen versucht, einzelne Aspekte dieser grundbegrifflichen Transfor- mation aufzuzeigen. Vgl. zum Begriff der 'Identität': (2001), Der Identitätsdiskurs. Zum Bedeutungswandel einer sozialwissenschaftlichen Semantik, in: Werner Rammert (Hg.): Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen, Leipzig, S. 21- 38, zu 'kollektiven Identitäten': (2001), Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff: Vom Homogenitätsmodell zum Modell kultureller Interferenzen, in: Berliner Journal für Soziologie, H. 2, S. 179- 200, zur 'Moral': (2001), Die Ethik des Guten und die Soziologie, in: Jutta Allmendinger (Hg.): Gute Gesellschaft? Zur Konstruktion sozialer Ordnungen. Verhandlungen des 21. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Köln 2000, Opladen, Teil A, S. 204- 224, zum 'Handeln': (2002), Toward a theory of social practices. A development in culturalist theorizing, in: European Journal of Social Theory, H. 2, S. 245- 265 und (2003), Die Entwicklung des Vokabulars der Handlungstheorien: Von den zweck- und normorientierten Modellen zu den Kultur- und Praxistheorien, in: Manfred Gabriel (Hg.): Handlungstheorien in der Soziologie, Opladen (i.E.), zum 'Mentalen': (2000), Der Status des 'Mentalen' in kulturtheoretischen Handlungserklärungen. Zum Problem der Relation von Verhalten und Wissen nach Stephen Turner und Theodore Schatzki, in: Zeitschrift für Soziologie, H. 3, S. 167- 185, schließlich zur generellen Rationalitätskritik der neuen Vokabulare: (2003), Die Kontingenzperspektive der 'Kultur'. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm, in: Friedrich Jaeger/ Jörn Rüsen (Hg.): Die Kultur in der Forschungspraxis. Sinn - Kultur - Wissenschaft: Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme, Band III, Stuttgart/ Weimar. 3Zum Profil der sozialwissenschaftlichen Kulturtheorien vgl. Rabinow/ Sullivan (1979), Bohman u.a. (1991), Reckwitz (2000), Jaeger u.a. (2002). 14 Theorien umfassen - haben zur Destabilisierung der rationalitätstheoretischen Grundannahmen beigetragen, indem sie die konstitutive Bedeutung von historisch-spezifischen, kontingenten symbolischen Ordnungen für die Gestalt der Sozialwelt, der sozialen Praktiken und des Subjekts demonstriert haben. Allerdings haben sich kulturtheoretische Ansätze kaum systematisch mit den Möglichkeiten einer produktiven Verarbeitung des funktionalistischen Erbes auseinandergesetzt. Entweder findet hier wie bei Bourdieu, teilweise auch bei Foucault (vgl. Elster 1983: 104) - eine erstaunliche und kaum reflektierte Tradierung von Denkfiguren aus dem Umkreis des teleologischen Funktionalismus statt. Oder aber man geht - wie es bei interpretativen, ethnomethodologischen oder post-wittgensteinianischen Ansätzen häufig beobachtbar ist - zu jeglicher Form des Funktionalismus auf Distanz (was zweifellos auch mit den sozialphilosophischen oder dezidiert ethnographischen Konnotationen dieser Ansätze im Zusammenhang steht). Eine derartige radikale Distanzierung von jeglichem im weitesten Sinne funktionalistischen Denken ist jedoch offensichtlich problematisch: Denn das Vokabular der neueren kulturtheoretischen Ansätze in den Sozialwissenschaften ist zunächst eindeutig auf eine genauere und komplexere Analyse der Bedingungen individuellen und kollektiven Handelns und damit verbunden auch auf eine Reformulierung der Figur des Akteurs und des Handelns selbst ausgerichtet. Damit droht die 'makrosoziologisch' relevante Frage nach den Folgen des Handelns, nach den unintendierten Wirkungen der sozialen Praktiken jedoch marginalisiert zu werden, eine Marginalisierung, die sich für die gesellschaftsanalytische Anwendbarkeit der Kulturtheorien nur als nachteilig herausstellen kann.4 [Druckfassung: 71] Während die Skepsis gegenüber dem teleologischen Funktionalismus nur folgerichtig ist, besteht zwischen einer kulturalistischen, sozialkonstruktivistischen Perspektive auf die soziale Praxis und der Denkfigur des kontingenztheoretischen Funktionalismus jedoch im Grundsatz kein Widerspruch, sondern eine Kompatibilität, ja eine konzeptuelle Wahlverwandtschaft in der Skepsis gegenüber den 'Rationalmodellen' des Sozialen: So wie die Kulturalisten die Kontingenz der Existenz einzelner Handlungsformen durch eine Rekonstruktion der diese ermöglichenden, sehr spezifischen symbolischen Ordnungen, Sinnhorizonte und 4Generell enthalten die Kulturtheorien das Risiko einer analytischen Marginalisierung 'nicht-sinnhafter' sozialer Strukturen. Dies gilt für die Ebene unintendierter Handlungsfolgen ebenso wie für Ressourcen/ Artefakte und für psychisch-unbewusste, affektive Strukturen (vgl. zu dieser Unterscheidung Reckwitz 1997: 145- 167). Versuche zu einer 'Rehabilitierung' von Artefakten/ Ressourcen im Rahmen einer kulturtheoretischen Perspektive finden sich bei Bruno Latour und Friedrich Kittler, eine entsprechende Rehabilitierung unbewusst-affektiver Strukturen im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Psychoanalyse, vor allem der Lacan-Schule. Die Aufgabe der Kulturtheorien bestünde hier darin, das 'Eigengewicht' von Elementen wie unintendierten Handlungsfolgen, Artefakten/ Ressourcen und affektiven Strukturen anzuerkennen, ohne für diese eine Sphäre des 'Vordiskursiven', 'Vorsymbolischen' zu reservieren. 15 Wissensbestände demonstrieren, so demonstriert der kontingenztheoretische Funktionalismus die Nicht-Steuerbarkeit, die Nicht-Determiniertheit der Folgen von Handlungen und sozialen Praktiken. Es ist daher nicht erstaunlich, dass zumindest implizit in kulturtheoretisch motivierten Analysen unintendierten Handlungsfolgen regelmäßig ein prominenter Stellenwert zukommt, ohne dass dies jedoch von entsprechender expliziter Theoretisierung begleitet wird. Vor allem in zwei Kontexten werden aus kulturalistischer Sicht - folgt man den entsprechenden empirischen Analysen - unintendierte Handlungsfolgen relevant, zwei Kontexte, in denen kulturelle Differenzen sichtbar (aber auch leicht verschleiert werden) können: Es handelt sich hier um die Frage nach den unkalkulierbaren Wirkungen von Praktiken, Codes und Ereignissen über räumliche Grenzen sowie die Frage nach diesen Wirkungen über zeitliche Grenzen hinweg. Insbesondere Analysen aus dem Umfeld der 'post-kolonialen' Theorien haben immer wieder - und in einer für die Soziologie und Ethnologie neuartigen Form - die nicht-determinierbaren 'Wirkungen' herausgearbeitet, die Praktiken und Codes aus dem räumlichen Kontext A auf solche in einem entfernten räumlichen Kontext B mit sich bringen; insbesondere die unkalkulierbaren Wirkungen der Aneignung von kulturellen Elementen westlicher Kolonisatoren in Gesellschaften der Dritten Welt sind hier untersucht worden. (vgl. etwa Featherstone u.a. 1995, Werbner/ Modood 1997) Auf der anderen Seite hat die dezidiert 'historistische' und gegenüber modernisierungstheoretischen Geschichtsmodellen skeptische kulturwissenschaftliche Perspektive auf die Geschichte - wie sie etwa im Gefolge von Foucault und der neueren Hermeneutik vertreten worden ist - bevorzugt die unkalkulierbaren und keineswegs in die Form von Entwicklungs-stories zu pressenden 'Wirkungen' von Praktiken und Codes aus dem zeitlichen Kontext A auf einen entfernten zeitlichen Kontext B herausgearbeitet. Von besonderem Interesse sind hier bisher die 'Wirkungen', die bestimmte, am Anfang sehr spezielle Praktiken und Codes aus der frühen Neuzeit und frühen Moderne für die Formierung der scheinbar allgemeingültigen Strukturen der Moderne des 20. Jahrhunderts besitzen.5 Aus kulturtheoretischer Perspektive entwickelt man diese entsprechend weiter - kann das Konzept der 'unintendierten Handlungsfolgen' damit in doppelter Hinsicht ein besonderes Profil erhalten: Erstens kann es an das Bezugsproblem der Raum-Zeit-Distanzierungen (statt der sozialen Integration) gekoppelt werden. Zweitens lassen sich unintendierte Handlungsfolgen aus kulturalistischer Sicht nicht (oder nur simplifizierend) als Ursache-Wirkungs5Klassisches Beispiel für ein derartiges Geschichtsmodell, das die unintendierten Folgen kultureller Strukturen in Form einer späteren 'Uminterpretation' dieser kulturellen Strukturten herausarbeitet, ist wohl Max Webers 'Protestantismusstudie'. Andere Versionen eines solchen kulturwissenschaftlichen Geschichtsverständnisses finden sich in Hobsbawms 'The Invention of Tradition' und in Foucaults 'Sexualität und Wahrheit', Bd. 1. 16 Beziehungen im kausalistischen Sinne, sondern letztlich nur als Prozesse hermeneutischer Applikation von Praktiken, Codes oder Ereignissen in einem interpretativen Kontext begreifen. Aus kulturtheoreti- [Druckfassung: 72] scher Sicht stellt sich damit die Analyseform des kontingenztheoretischen Funktionalismus als kombinierte Theorie kultureller Globalität und kultureller Dynamik dar. Die Arbeiten von Niklas Luhmann und von Anthony Giddens als Repräsentanten eines expliziten anti-teleologischen Funktionalismus können nun tatsächlich Beiträge zu einer derartigen kulturtheoretischen Reformulierung unintendierter Handlungsfolgen liefern, allerdings weniger in ihren expliziten post-funktionalistischen Analyseprogrammen als an anderen Stellen ihres Theoriesystems, die sie selbst nicht ausdrücklich mit der Frage unintendierter Handlungsfolgen verknüpfen: Hier kommen Giddens' Konzept der timespace-distantiation und Luhmanns Konzept der zwischensystemischen 'Resonanz' in Frage.6 Diese beiden Konzeptionen sind dadurch besonders interessant, dass sie eine Alternative zu zwei Festlegungen des klassischen Funktionalismus bieten: Für diesen war die Frage nach den Bedingungen gesellschaftlicher Integration oder sozialer Reproduktion der Bezugspunkt der Analyse unintendierter Handlungsfolgen. Zudem wurde größtenteils eine kausalistische Konzeptualisierung der Relation von 'Ursachen/ Bedingungen' und 'Folgen' betrieben. Die Konzepte der Raum-Zeit-Distanzierung bei Giddens und der systemischen Resonanz bei Luhmann geben nun Mittel an die [Druckfassung: 73] Hand, um ein anderes Bezugsproblem zu wählen und um 'Handlungsfolgen' nicht kausalistisch zu verstehen. Giddens schreibt den Kategorien der 'Zeit' und des 'Raums' einen zentralen Stellenwert für eine Theorie des Sozialen und eine Theorie der Gesellschaft zu. Während Raum und Zeit in traditionellen Sozialtheorien häufig als bloße 'Randbedingungen' marginalisiert werden, koppelt Giddens die beiden Kategorien an die allgemeine Frage nach dem Sozialen: Statt soziale Ordnung als ein Problem der normativen Koordination von Handlungen zu konzeptualisieren, versteht Giddens soziale Institutionen als einen Prozess des 'Bindens von Raum und Zeit' in sozialen Praktiken (1979: 64). In routinisierten sozialen Praktiken gelingt es, über die Sequenz einzelner historischer 6In den explizit formulierten Alternativen zum klassischen Funktionalismus von Luhmann und Giddens, die wir oben dargestellt haben, ergibt sich bei beiden das Problem, dass sie in der Frage der Bezugsebene teilweise doch noch in Kontinuität zum klassischen Funktionalismus stehen. Das Bezugsproblem ist zwar nicht mehr die Metabene einer gesamtgesellschaftlichen Integration oder Reproduktion - aber letztlich wird nun die Frage nach den Folgen für die Reproduktion der instutionellen Komplexe 'unterhalb' der Ebene von Gesellschaft - das heißt von einzelnen sozialen Systemen bzw. einzelnen Komplexen sozialer Praktiken - zum neuen Bezugsproblem: Bei Luhmann ist der Äquivalenzfunktionalismus an den "Bestandsproblemen" von sozialen Systemen orientiert, an der Frage, welche verschiedenen Mechanismen (Ursachen) die Selbstreproduktion (Wirkung) des Systems ermöglichen. Giddens hat eine Tendenz, seine Analyse unintendierter Handlungsfolgen trotz der akteurstheoretischen Revisionen an der Frage nach den "Mechanismen der Reproduktion institutionalisierter Praktiken" (1984: 63) auszurichten. 17 Zeitpunkte und über enge lokale Kontexte der face-to-face-Interaktion hinweg menschliches Verhalten 'auf Dauer zu stellen' und jenseits räumlich 'Anwesender' 'auszudehnen'. (vgl. Giddens 1979: 198- 233; 1984: 161- 213) Das Problem des Bindens von Raum und Zeit stellt sich jedoch nicht nur als von allgemein sozialtheoretischer Relevanz dar, sondern ist auch für die Gesellschaftstheorie bedeutsam: Giddens zufolge lassen sich sog. traditionale und sog. moderne Gesellschaften vor allem anhand ihrer verschiedenartigen Raum/ Zeit-Verhältnisse unterscheiden. Die institutionellen Komplexe der modernen Gesellschaft haben die besondere Eigenschaft, räumliche Begrenzungen transzendieren zu können (was bereits für den Nationalstaat, aber erst recht für die Weltgesellschaft gilt): "The advent of modernity increasingly tears space away from place by fostering relations between 'absent' others, locationally distant from any given situation of face-to-face-interaction" (1990: 18) 'Globalisierung' lässt sich dann als eine Konstellation verstehen, in der nun im Weltmaßstab gilt "the relations between local and distant social forms and events become ... 'stretched'." (1990: 64) Auf der Zeitebene kommt den modernen Gesellschaften das unverbrüchliche Verhältnis zu den rituell wiederholten, die Stabilität der 'kalten Gesellschaften' (Lévi-Strauss) sichernden Traditionen abhanden: es sind gerade die Effekte über räumliche Distanzen in die lokalen bisherigen 'Traditionen' hinein, die zur Auflösung ihrer routinisierten Verbindlichkeit beitragen. (vgl. Giddens 1990: 17- 29, 63- 78; 1994) Bei Luhmann kommen - ganz unabhängig von seinem Modell funktionaler Analyse unintendierte Systemfolgen ins Spiel, wenn er im Rahmen seines systemtheoretischen Konstruktivismus zwischensystemische Verhältnisse konzeptualisiert: Die Relationen zwischen sozialen Systemen, welche anhand bestimmter Codes ihre jeweilige Beobachtung (ihrer selbst und ihrer Umwelt) rekursiv organisieren, lassen sich für Luhmann mit Hilfe des Begriffs der 'Resonanz' verstehen. (vgl. Luhmann 1986: 40- 50) Luhmanns Modell der 'funktionalen Analyse' hatte in seinen frühen Arbeiten bei aller demonstrativen Abgrenzung vom Kausalismus des klassischen Funktionalismus weiterhin kausalistische Konnotationen transportiert: Luhmann ordnete hier zwar nicht mehr einzelne Ursachen einzelnen Wirkungen zu, nahm aber doch für bestimmte Wirkungen potentiell unterschiedliche Ursachen und für ein- [Druckfassung: 74] zelnen Ursachen unterschiedliche Wirkungen an und lehnte sich damit doch wieder an ein Ursache-Wirkungs-Schema an. (vgl. Luhmann 1962: 16- 18) Die Konzeptualisierung von intersystemischen Verhältnissen als solche der 'Resonanz' liefert nun jedoch die eigentliche anti-kausalistische, konstruktivistische Alternative: die Beziehungen zwischen sozialen Systemen lassen sich nicht als input-outputRelationen zwischen 'Trivialmaschinen' begreifen, sondern als solche der unterdeterminierten Irritation und Resonanz zwischen verschiedenen Kommuni18 kationssystemen, die ihre Umwelt und etwaige aus dieser 'eindringende' Ereignisse auf der Basis ihrer jeweiligen kulturellen Schemata beobachten. Wenn ein System A mit Ereignissen konfrontiert wird, die aus einem anderen System B stammen, so können diese nur insofern eine 'Wirkung' erzielen, als sie vor dem Hintergrund der symbolischen Codes von A wahrnehmbar sind: die 'Wirkung' besteht dann darin, dass A auf die Ereignisse aus B reagiert und sie auf seine spezifische Weise interpretiert - eine Interpretation, die jedoch im Grundsatz von der Interpretation innerhalb des Kommunikationskontextes A abweichen kann.7 Das Konzept der Raum-Zeit-Distanzierung auf der einen Seite, ein Konzept der 'Resonanz' oder, wie man im Anschluss an die moderne Hermeneutik formulieren kann, der 'hermeneutischen Applikation' auf der anderen Seite können nun jedoch die beiden Eckpunkte für eine kulturtheoretische Form der Analyse unintendierter Handlungsfolgen liefern. Jede Analyse unintendierter Handlungsfolgen steht vor der Frage, was als informativer Bezugspunkt dieser Untersuchungsform gewählt werden soll: um Folgen wofür soll es ihr gehen? Während der teleologische Funktionalismus die soziale Integration oder Stabilität eines gesellschaftlichen Gesamtsystems als Bezugspunkt der Analyse voraussetzte, stellen sich räumliche Differenzen und zeitliche Differenzen als die beiden Bezugspunkte eines kontingenztheoretischen Funktionalismus dar: Es sind die Beziehungen zwischen sozialen Praktiken an differenten Orten bzw. zu differenten historischen Zeitpunkten, denen das Interesse gilt und die unter dem Gesichtspunkt 'unintendierter Folgen' zu untersuchen sind. Hintergrund einer solchen Analyseform kann ein Modell von 'world-history' sein: Wenn sich die Weltgeschichte aus unterschiedlichen Komplexen sozialer Praktiken, die an verschiedenen geographischen Orten und in der zeitlichen Sequenz aufeinander folgend existieren, zusammensetzt, so lassen sich gesellschaftstheoretisch die beiden miteinander verbundenen - Bruchpunkte markieren, an denen sich die zeitlichen Strukturen und die räumlichen Strukturen grundsätzlich verändern und Platz für eine Explosion unintendierter Handlungsfolgen schaffen: In Bezug auf die Zeitverhältnisse ist dies der Übergang von einer im Lévi-Strauss'schen Sinne 'kalten' Gesellschaft, die sich historisch nur mit äußerst geringen Veränderungen reproduziert, und einer 'heißen', im engeren Sinne 'geschichtlichen' Gesellschaft, [Druckfassung: 75] (vgl. Lévi-Strauss 1962: 282- 310) die vor allem durch die Schrift und andere Kommunikationsmedien ermöglicht wird und in der eine beschleunigte kulturelle 'Evolution' stattfindet, das heißt, in der sich kulturelle Neuinnovationen und die Chancen ihrer Rezeption potenzieren. In Bezug auf die Raumverhältnisse ist dies der Übergang von einer 7Luhmann diskutiert diese zwischensystemischen Verhältnisse meistens, indem er auf den etwas unglücklichen Begriff der 'Interpenetration' zurückgreift. (vgl. 1984, Kap. 6) 19 Parallelexistenz unterschiedlicher sozialer Praxiskomplexe ('Kulturen'), die an unterschiedlichen geographischen Orten ohne Kontakte zueinander existieren, zur kulturellen 'Globalität',8 zu einer Weltgesellschaft, in der räumlich entfernte Praktiken füreinander erreichbar und beeinflussbar sind.9 Historizität und Globalität stellen sich in diesem Sinne als Bedingungen dar, unter denen unintendierte Handlungsfolgen in Gesellschaften eine außergewöhnliche Relevanz erlangen. In den 'kalten', sich über mündliche Traditionen und Interaktionen unter Anwesenden reproduzierenden und lokal beschränkten Gesellschaften (die in gewissem Sinne jeweils ihre eigene Weltgesellschaft bildeten) ist die Bedeutung von unintendierten Handlungsfolgen, die sich aus zeitlich-historischen und räumlichen Differenzen ergeben könnten, gering: Die räumliche Separiertheit der 'Kulturen' und die Bindung von Praktiken an face-to-face-Interaktionen beschränken die Möglichkeit nicht-intendierter Handlungsfolgen über 'räumliche Grenzen'. Das weitgehende Fehlen eines mit 'Geschichte' konfrontierenden Kommunikationsmediums (Schrift) und die innovationsarme Reproduktion der gleichen Praxiskomplexe reduzieren in diesen Gesellschaften gleichzeitig die Möglichkeit unintendierter Handlungsfolgen über 'zeitliche Grenzen' hinweg, das heißt, Wirkungen aus einer etwaigen 'fremden' Vergangenheit. Beides ändert sich für die 'modernen' sozialen Praktiken in den 'heißen', historischen und sich globalisierenden Gesellschaften einschneidend: Im Zuge der Entstehung von institutionellen Komplexen, die lokale Begrenzungen überschreiten (Reiche, 'Kirchen', Märkte, Nationalstaaten etc.), vor allem aber in Folge einer Vernetzung zwischen geographisch ehemals separierten Kollektiven potenzieren sich unintendierte Folgen von Praktiken, Diskursen und Ereignissen über räumliche Grenzen. Eine Mobilität von Elementen auf drei Ebenen ist für eine derartige spacedistantiation und eine entsprechende Ausbreitung unintendierter Handlungsfolgen verantwortlich: eine Mobilität von Personen ('Expeditionen', Kolonialisierung, Migration, Tourismus etc.), eine Mobilität von Objekten (Waren auf dem Markt, technische Artefakte etc.), schließlich und vor allem eine Mobilität von Zeichen und Interpretationen über den Weg entsprechender Kommunikationsmedien (Schrift, Buchdruck, audiovisuelle Medien, Internet etc.). [Druckfassung: 76] Die Möglichkeit der 'Speicherung' von Zeichen und Interpretationen in Kommunikationsmedien jenseits von Körper und Geist stellt gleichzeitig die entscheidende Bedingung für eine 'Historisierung' der Gesellschaften 8Der Begriff der 'Globalität' scheint hier angemessener als der der 'Globalisierung', da er eine bestimmte Raum-Struktur bezeichnet, während letzterer auf einen historischen (und mittlerweile abgeschlossenen) Prozess hinweist, an derem Ende die Weltgesellschaft steht. 9Vgl. zu einem ähnlichen Verständnis von Weltgesellschaft Stichweh (2000). 20 und für die Möglichkeit kultureller 'Evolution' im Sinne ungerichteter, unintendierter kultureller Wandlungsprozesse dar: Das Kommunikationsmedium der Schrift sowie die neuen Kommunikationsmedien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts10 machen es möglich, Zeichen und Interpretationen - jenseits der Mündlichkeit der face-to-faceInteraktion - in der historischen Sequenz in die Zukunft zu 'transportieren' bzw. umgekehrt aus der Perspektive der Gegenwart eine 'Vergangenheit' sichtbar zu machen, die in den tradierten Texten entsteht. Die zeitliche Distanz zwischen der Produktion der 'Texte'11 und ihrer Interpretation, die historische Differenz zwischen Kontexten der symbolischen Produktion und der interpretativen Rezeption, die durch die Kommunikationsmedien ermöglicht wird, ist nun jedoch Bedingung für eine beschleunigte kulturelle Dynamik, die die Form ungeplanter Prozesse annimmt: In den modernen Gesellschaften, in denen die Sinnoptionen der Vergangenheit über 'Texte' präsent gehalten werden bzw. wieder zugänglich gemacht werden können, vermögen diese historischen Sinnoptionen im Zuge ihrer Neuinterpretation Wirkungen zu erzielen, die sich völlig unabhängig vom historischen Kontext der Entstehung dieser Sinnoptionen ergeben.12 Wenn - wie die Theoretiker sozialer und kultureller Evolution betonen - kulturelle Evolution von einer institutionalisierten Differenz zwischen den Kontexten der 'Variation' kultureller Möglichkeiten und deren 'Selektion' (und 'Retention') abhängt (vgl. Luhmann 1997, Kap. 3), dann ermöglicht die historische Differenz zwischen der Produktion und der Rezeption von Texten, die timedistantiation, eine solche Differenzierung. Die 'Wirkungen' von symbolischen Ordnungen in der historisch-zeitlichen Sequenz liefern damit neben den 'Wirkungen' über räumliche Grenzen hinweg den [Druckfassung: 77] zweiten Komplex kontingenter und ungeplanter Folgen von sozialen Praktiken, die in der Moderne aus systematischen Gründen potenziert auftreten. 10Ähnlich wie im Falle der Raum-Distanzierung wird auch die Zeit-Distanzierung nicht allein von den raum-zeit-kreuzenden Kommunikationsmedien, sondern auch von Artefakten und Personen ermöglicht: Artefakte überqueren als 'Monumente' (Assmann), etwa in Form von Bauwerken, überlieferten Kunstwerken, Werkzeugen etc., zeitliche Grenzen. Personen ermöglichen eine Überquerung zeitlicher Distanzen und eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit erst in dem Moment, in dem Differenzen zwischen 'Generationen' wahrnehmbar werden (was erst für die Hochkulturen, gesteigert für die Moderne gilt). Insgesamt stellt sich die Entstehung und Veränderung der Kommunikationsmedien - das heißt vor allem der Schrift und des Buchdrucks, schließlich auch die neuen Medien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (vgl. hierzu die Arbeiten von Kittler) - jedoch als die zentrale, entscheidende Bedingung von Raum-Zeit-Distanzierung, von kultureller Globalisierung und beschleunigter kultureller Dynamik und damit von einer Explosion ungesteuerter Handlungsfolgen dar. 11'Texte' sollen hier nicht allein im engeren Sinne schriftsprachliche Texte, sondern alle zeichenförmigen Objekte - etwa auch die Produkte der audiovisuellen Medien - umfassen. 12Diese Veränderung von Textbedeutungen qua Temporalität bzw. Geschichte ist in zwei theoretischen Kontexten in extenso thematisiert werden: im Poststrukturalismus (insbesondere bei Derrida) und in der modernen Hermeneutik (Gadamer, Ricoeur). Diese Texttheorien lassen sich als wegweisende Theorien ungesteuerter, 'unintendierter' Prozesse interpretieren. 21 Statt der sozialen Integration eines Gesamtsystems, wie es die teleologischen Funktionalisten voraussetzten (aber auch statt des Verhältnisses zwischen Intentionen und Folgen wie in der Rational Choice Theorie oder der Austauschbarkeit von äquivalenten Ursachen bezüglich der Folgen für den Systembestand beim frühen Luhmann), können auf diese Weise räumliche Differenzen und zeitliche Differenzen die Bezugspunkte für eine Analyse unintendierter Handlungsfolgen liefern. Eine solche Analyseform wird jedoch erst dadurch 'kontingenztheoretisch' fruchtbar, dass kulturtheoretischen und sozialkonstruktivistischen Grundannahmen folgend - die Relationen zwischen den sozialen Praktiken unterschiedlicher Räume und Zeiten nicht als Ursache-Wirkungs-Sequenzen verstanden werden können, sondern als Prozesse nicht-determinierter 'hermeneutischer Applikation' (oder - mit Luhmann formuliert solche der sozialen 'Resonanz'). Es ist gerade diese hermeneutische Applikation, die eine 'Wirkung' unintendiert und unkalkulierbar macht: Wenn man davon ausgeht, dass zu verschiedenen historischen Zeiten und an verschiedenen geographischen Räumen Komplexe sozialer Praktiken existieren, die jeweils vor dem Hintergrund sehr spezifischer Sinnhorizonte vollzogen werden, so können weder aus der Vergangenheit noch aus räumlich entfernten Orten 'fremde' Praktiken (oder auch nur einzelne soziale 'Ereignisse') Wirkungen unabhängig von den spezifischen Interpretationskontexte erzielen, in denen diese Praktiken rezipiert werden. In der modernen Hermeneutik - beispielhaft bei Gadamer - wird in Bezug auf zeitlichhistorische Differenzen herausgearbeitet, wie Sinnoptionen der Vergangenheit (bevorzugt solche, die in Form schriftlicher Texte vorliegen) eine 'Wirkung' auf die Gegenwart allein über den Weg einer interpretativen 'Applikation' auf die Rezeptionssituation der Gegenwart, damit vor dem Hintergrund des jeweils gegenwärtigen Sinnzusammenhanges erzielen. (vgl. Gadamer 1960) Die historische 'Wirkung' ist damit nicht als der 'Transport' eines vergangenen Sinnkomplexes in die Gegenwart zu verstehen, bei dem das 'transportierte' Element identisch bliebe, sondern besteht immer nur in der hermeneutischen, den Sinn verschiebenden Applikation des in der Vergangenheit produzierten Sinnelements; dies gilt etwa für politische Verfassungen und Rechtsnormen so wie für religiöse, ästhetische oder intellektuelle 'Traditionen'. Begreift man kulturelle Dynamik als einen Prozess unintendierter Handlungsfolgen in diesem Sinne, dann geht es nicht darum, lediglich zu konstatieren, dass historische Elemente auf die Gegenwart 'Wirkungen erzielen', sondern um die Frage danach, wie die historischen Elemente zu einem späteren Zeitpunkt interpretativ angeeignet werden und somit ihren 'alten' Sinn möglicherweise zu einem 'neuen' Sinn verschieben: darum, wie beispielsweise der Protestantismus des 16. Jahrhunderts, die politischen Institutionen des 18. Jahrhunderts, die Strukturen der Privatsphäre der 22 Romantik und des Bürgertums des 19. Jahrhunderts oder die Jugendbewegungen des [Druckfassung: 78] 20. Jahrhunderts in den sozialen Praktiken des 21. Jahrhunderts nicht kurzerhand konstatierbare 'unintendierte Wirkungen' entfalten, sondern wie diese Wirkungen durch sehr spezifische Neuinterpretationen in neuen, andersartigen Interpretationskontexten erzielt werden.13 So wie für zeitlich-historische Differenzen gilt diese Konstellation hermeneutischer Applikation jedoch auch für räumliche Differenzen: Die 'Wirkung' von Praktiken oder kulturellen Objekten, die in einem bestimmten räumlichen Kontext produziert werden, in einem anderen räumlichen, zeitgleichen Kontext, in den sie - über den Weg von Kommunikationsmedien oder auch infolge der Mobilität von Artefakten oder Menschen - 'transportiert' werden, ist nicht als ein output-input-Prozess, sondern als ein solcher hermeneutischer Applikation zu verstehen. Die Praktiken, Ereignisse oder Gegenstände der 'Anderen' werden vor dem Hintergrund der 'eigenen' Sinnhorizonte interpretiert und können auf diese Weise tatsächlich unintendierte, unkalkulierbare Wirkungen erzielen. Somit genügt es in Bezug auf räumliche Differenzen - etwa mit Blick auf das Verhältnis zwischen Europa und den afrikanischen Kolonien im 19. Jahrhundert oder zwischen den USA und Japan der Gegenwart - nicht, bestimmte 'Wirkungen' festzustellen, die durch einen Transport von Praktiken oder Diskursen von den einen in den anderen räumlichen Kontext unintendiert erzielt worden wären. Auch hier geht es vielmehr darum zu rekonstruieren, wie im neuen räumlichen Kontext das 'fremde' kulturelle Material angeeignet und dessen Sinn spezifisch verschoben wird: die 'Wirkungen' westlicher politischer Verfassungen in Japan, Indien oder Afrika, von indischer Spiritualität oder afrikanischer Musik in europäischen Mittelschichts-Teilkulturen, von USamerikanischer massenmedialer Populärkultur im arabischen Raum oder von römischkatholischer Religion in Lateinamerika sind immer als spezifische hermeneutische Applikationen im neuen Kontext zu analysieren, so dass der Rezeptionssinn vom Produktionssinn deutlich abweichen kann.14 13Eine solche Form der Analyse kultureller Dynamik im Sinne hermeneutischer Applikationen entspricht damit weder dem Muster einer Analyse der 'Kontinuität von Traditionen' noch einer Forschungsrichtung, in deren Zentrum die Konstatierung radikaler historischer 'Brüche' steht (wie in Foucaults 'Die Ordnung der Dinge'). Anregungen für eine solche alternative Analyseform könnten konstruktivistische Versionen der sozialwissenschaftlichen 'Theorien sozialer Evolution' liefern, insbesondere der Grundgedanke, dass die Differenz zwischen der Entstehung von Sinnoptionen ('Variation') und deren sozialer Rezeption ('Selektion') die Ungeplantheit kulturellen Wandels plausibel machen kann (vgl. Burns/ Dietz 1995, Luhmann 1997, Kap. 3). Allerdings haben sozialwissenschaftliche Evolutionstheorien häufig - etwa bei Parsons - der Tendenz zur Formulierung von Fortschrittsgeschichten und zur Konstatierung 'evolutionärer Universalien' als Ergebnis unilinearer Entwicklungen nicht entgehen können und sich somit auf dem Pfad der klassischen Modernisierungstheorie bewegt (vgl. kritisch Giddens 1984, Kap. 5). 14Jene Zweige der Globalisierungsforschung, die der Vorstellung einer kulturellen 'Diffusion' nicht gefolgt sind, haben einen solchen Analysetypus voran gebracht; vgl. etwa Pieterse (1995). Giddens' Globalisierungstheorie neigt im Gegensatz dazu jedoch zur impliziten These einer kulturellen Diffusion 23 [Druckfassung: 79] Wenn man die unintendierten Handlungsfolgen, die sich aus den Raum-Zeit-Distanzierungen, insbesondere denen seit dem 16. Jahrhundert, ergeben, in einem derartigen kulturalistischen Theorierahmen untersucht, der statt einer Konstatierung von 'Wirkungen' auf fremde Kontexte für die unberechenbaren hermeneutischen Applikationen in den jeweiligen räumlich oder historisch entfernten Kontexten sensibel ist, ergibt sich jedoch ein ganz spezifisches, kontingenztheoretisches Bild der Globalität wie der Geschichte: Globalität bedeutet keinesfalls zwangsläufig 'Homogenität'; Historizität bedeutet keinesfalls zwangsläufig 'Kontinuität'. Wenn man unintendierte Handlungsfolgen im Raum als einfache Ursache-Wirkungs-Relationen analysierte, dann riskiert man den Kurzschluss, Globalisierung mit Homogenisierung zu identifizieren: Globalisierung kann dann leicht als eine unintendierte 'Diffusion' bestimmter Praktiken - bevorzugt solcher westlichen Ursprungs - über räumliche Distanzen, mithin als Homogenisierung missverstanden werden. Wenn man unintendierte Handlungsfolgen in der Zeit als einfache Ursache-Wirkungs-Relationen begreifen würde, dann riskiert man den analogen Kurzschluss, dass bestimmte Praktiken und Codes aus der Vergangenheit zu späteren Zeitpunkten 'selegiert' und in identischer Form 'übernommen' werden, dass mithin eine unintendierte 'Kontinuität' dieser Elemente von der Vergangenheit in die Gegenwart existiert. Sobald die interpretativen Differenzen zwischen den Kontexten, von denen die 'Wirkungen' unintendiert ausgehen und jenen Kontexten, in denen die 'Wirkungen' erzielt werden, in den Vordergrund rücken, werden die Voraussetzungen der Homogenisierung im Raum und der historischen Kontinuität in der Zeit jedoch brüchig. Die möglichen Differenzen zwischen Entstehungskontext und Wirkungs/ Rezeptionskontext legen statt dessen nahe, dass unintendierte Handlungsfolgen im Raum auch Heterogenitäten befördern, dass unintendierte Handlungsfolgen in der Zeit auch mit Diskontinuitäten verbunden sein können: Die 'Verschiebung' von Sinn zwischen dem Entstehungs- und dem Wirkungskontext ermöglicht derartige Heterogenitäten und Diskontinuitäten (ohne dass letztere nun ihrerseits verabsolutiert werden könnten).15 Damit hat sich die Bedeutung der funktionalistischen Denkfigur selbst in nicht unerheblichen Maße verschoben: Die funktionalistische Frage nach den nichtwestlicher Institutionen und Codes und interessiert sich kaum für die unterschiedlichen lokalen Interpretationskontexte (vgl. auch kritisch Featherstone/ Lash (1996): 3f). 15Auf der Ebene der Raumstrukturen wird die These, dass kulturelle Globalisierung auch kulturelle Heterogenisierung bedeutet, von Robertson (1995) ausgeführt, der im Konzept der 'Glokalisierung' einen Ausweg zwischen pauschalen Homogenisierungs- und Heterogenisierungsthesen sucht. Auf der Ebene der Zeitstrukturen hatte Foucault - allerdings in einer überpointierten und anti-hermeneutischen Form die zunächst gleichwohl innovative These historischer 'Diskontinuiäten' gegen den Mainstream der Voraussetzung der Kontinuität von Traditionen in der Kulturgeschichte stark gemacht (vgl. Foucault 1969: 9- 30) 24 geplanten, nicht-bewussten Folgen von Handeln oder Praktiken hat sich [Druckfassung: 80] vom Problemkontext der Demonstration von gesellschaftlicher Integration oder Reproduktion 'hinter dem Rücken der Akteure' gelöst und kann eine neue Bedeutung im Rahmen von Theorien kultureller Globalität und kultureller Dynamik erhalten, welche nicht-determinierte Sinnverschiebungen rekonstruieren. Ohne Zweifel entspricht dies nicht mehr den Intentionen der klassischen Funktionalisten. Aber gegen diese unintendierten Folgen ihrer Vokabulare werden auch sie sich nicht wehren können. 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