882 Forschung & Lehre 12|09 WIE LERNT DER MENSCH? Was heißt es, etwas verstanden zu haben? Menschliches Lernen aus der Sicht der Psychologie | R A L P H S C H U M A C H E R | Es gibt verschiedene Formen des menschlichen Lernens wie beispielsweise die der Konditionierung.Welche Grenzen hat diese Art des Lernens? Wie funktioniert „verstehendes Lernen“, und wie lässt sich Gelerntes auf neue Situationen übertragen? Neue Erkenntnisse der psychologischen Lehr- und Lernforschung. ir Menschen teilen einige eine Ratte in einem Versuch einen beFormen des Lernens mit stimmten Hebel und wird daraufhin mit anderen Lebewesen. Dies Futter belohnt, so wird durch diesen gilt für die klassische Konditionierung, verstärkenden Reiz die Häufigkeit diebei der ein zunächst neutraler Reiz ses Verhaltens erhöht. Das operante durch assoziatives Lernen mit bestehenKonditionieren spielt auch beim Menden Verhaltensweisen verknüpft wird. schen eine Rolle, wenn es beispielsweiEin berühmtes Beispiel ist der Pavlovse darum geht, erwünschtes Verhalten sche Hund, der so konditioniert wurde, durch positive (Belohnung) oder negatidass nicht erst die Präsentation von Futve Verstärkung (Entzug unerwünschter ter (unkonditionierter Reiz), sondern Reize) aufzubauen. bereits das vorangehende Klingeln einer Glocke »Dem Lernen als Konditionierung (konditionierter Reiz) zu sind klare Grenzen gesetzt.« vermehrter Speichelproduktion führte. Beim Menschen spielt die klassische KonditionieBeide Formen des Lernens durch rung unter anderem bei der Gestaltung Konditionierung zeigen sich stets in von Signalen eine Rolle, indem durch Verhaltensänderungen. Zudem werden assoziatives Lernen beispielsweise Verdurch sie keine gänzlich neuen Verhalkehrsschilder mit bestimmten Reaktitensweisen erzeugt, sondern nur besteonsmustern verbunden werden. hende Reaktionsmuster an neue Reize Auch das operante Konditionieren gebunden bzw. die Häufigkeit von zählt zu den Formen des Lernens, die spontan gezeigtem Verhalten verändert. Menschen und anderen Lebewesen geAber nicht alle Formen menschlichen meinsam sind. Dabei wird die HäufigLernens lassen sich auf diese Weise bekeit von ursprünglich spontanem Verschreiben. Denn erstens finden sich bei halten durch verstärkende oder abMenschen Lernprozesse, die sich nicht schwächende Reize verändert. Drückt durch Konditionierung herbeiführen lassen. Zum Beispiel kann man durch AUTOR Konditionierung niemanden zu der Einsicht bringen, warum ein kleines Stück Dr. Ralph Schumacher, Eisen im Wasser untergeht, während Institut für Verhaltenswissenein großes Schiff aus Stahl schwimmt. schaften, gehört zum LeiStattdessen sind dafür Instruktionen tungsteam des MINT-Lernwie Erklärungen erforderlich. Zweitens zentrums der ETH Zürich. Bei den MINT-Fächern handelt es gibt es für uns Menschen typische Forsich um Mathematik, Informen des Lernens, die nicht zu Verhalmatik, Naturwissenschaften tensänderungen führen: So schlägt sich und Technik. die Einsicht in die Newtonschen Axio- W me nicht in Verhaltensänderungen nieder. Dem Lernen als Konditionierung sind also klare Grenzen gesetzt, denn verstehendes Lernen lässt sich damit nicht erfassen. Aus diesem Grund ist es wichtig, zwischen Lernen als Verhaltenssteuerung und Lernen als Wissenskonstruktion zu unterscheiden. Das Besondere am menschlichen Lernen liegt darin, dass Lernprozesse wie das Verstehen von Konzepten und Zusammenhängen nicht als Veränderung des Verhaltens, sondern nur als aktive Konstruktionsprozesse beschrieben werden können, bei denen im Zuge der Umstrukturierung des Begriffswissens geistige Repräsentationen verändert werden. Dies gilt besonders für das schulische Lernen. Intelligentes Wissen als Lernziel Was heißt es, etwas verstanden zu haben? Eine Anforderung besteht darin, dass man das betreffende Konzept beschreiben und mit Beispielen erläutern kann. Geht es um die „Goldene Regel der Mechanik“, wonach man bei einer einfachen Maschine wie dem Hebel das beim Weg zusetzen muss, was an Kraft eingespart wird (und umgekehrt), dann muss man in der Lage sein, diesen physikalischen Zusammenhang darzustellen und an Beispielen zu erläutern. Eine weitere Anforderung liegt darin, dass man dieses Konzept unter Bezug auf andere Konzepte erklären kann. In dem vorliegenden Fall bedeutet dies, dass man unter Bezug auf das Konzept der mechanischen Arbeit als dem Produkt von Kraft und Weg erklären kann, warum bei gleichbleibender Arbeit der Weg größer werden muss, wenn man die Kraft verringert. Zudem sollte das Wissen flexibel einsetzbar und auf ober- 12|09 Forschung & Lehre WIE LERNT DER MENSCH? 883 Die Balkenwaage als geistiges Werkzeug beim Verstehen des Konzepts der Dichte: Geistige Werkzeuge erleichtern es, Gemeinsamkeiten zwischen oberflächlich unterschiedlichen Aufgabenstellungen zu erkennen – und ermöglichen so den Wissenstransfer. (Siehe: Hardy, I., Schneider, M., Jonen, A., Möller, K. & Stern, E. (2005). Fostering diagrammatic reasoning in science education. Swiss Journal of Psychology, 64, 207-217.) flächlich unterschiedliche Fälle wie den problemlösungsrelevanter Kriterien rewissen aktiv umzugestalten. Ein wichtiFlaschenzug oder die schiefe Ebene präsentiert wird. Dies bedeutet beiger Ansatz besteht darin, die Lernenden übertragbar sein. spielsweise, dass Kinder lernen, dass mit Aufträgen zur Erklärung von KonDie entscheidende Voraussetzung Gewicht nicht das ist, was sich schwer zepten und Zusammenhängen dazu zu für die Übertragung von Gelerntem auf anfühlt, sondern was sich mit einer bringen, den Lernstoff gezielt zu durchneue Situationen besteht darin, dass die Waage messen lässt. Wer verstanden denken. Mit solchen Aufträgen können gemeinsamen Elemente in der Lernhat, dass es sich bei Schall und Licht um sie zum Beispiel angeleitet werden, die und Anwendungssituation erkannt werWellen handelt, der wird trotz oberPerspektive anderer Personen zu überden. Allerdings ist die nehmen und zu überlemenschliche Kognition gen, wie sie einen an»Das Lernziel lautet, intelligentes Wissen auf- spruchsvollen Zusamin hohem Maße bereichsspezifisch, so dass menhang jemandem erzubauen, das die Übertragung von Lösungsein spontaner Wissensklären würden, der nicht strategien auf neue Situationen ermöglicht.« transfer zwischen verüber ihr Wissen verfügt. schiedenen InhaltsbereiAuch Misskonzepte laschen nicht stattfindet. Der Transfer flächlicher Unterschiede in der Lage sen sich damit produktiv in den Unterbleibt aus, weil die Gemeinsamkeiten sein, den Doppler-Effekt vom Schall auf richt einbeziehen, indem man den Lerder Lern- und Anwendungssituation das Licht zu übertragen. nenden den Auftrag gibt darzustellen, nicht gesehen werden. Das Lernziel inswie man jemandem, der eine bestimmte besondere beim schulischen Lernen beDie Förderung schulischen Fehlvorstellung hat, etwas richtig erklästeht deshalb darin, intelligentes Wissen Lernens durch kognitiv aktiren würde. Besonders wichtig ist, dass aufzubauen, das die Übertragung von vierende Lernformen die Aufträge inhaltlich auf den Lernstoff Kenntnissen und Lösungsstrategien auf Die psychologische Lehr- und Lernforabgestimmt sind und das richtige Anneue Situationen ermöglicht. schung hat eine Reihe von Lernformen spruchsniveau haben. Generell gilt, dass Wichtig ist dabei die Umstrukturieentwickelt, mit denen sich der Aufbau solche Lernformen nicht als allgemeine rung des Begriffswissens: Begriffliches intelligenten Wissens im Unterricht förRegeln, sondern nur eingebettet in die Wissen muss so verändert werden, dass dern lässt. Sie werden als kognitiv aktiUnterrichtsinhalte vermittelt werden es nicht nach Oberflächenmerkmalen, vierend bezeichnet, weil die Lernenden können: Lernstrategien sind zwar lernsondern anhand theoriegeleiteter und durch sie angeregt werden, ihr Begriffsbar, aber nicht abstrakt lehrbar.