1 Erschienen im: 82. Schopenhauer-Jahrbuch (2001), S. 11-29 Roswitha Dörendahl (Berlin) Über die Bedeutung der Langeweile in Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung von 1819 Im Werk Schopenhauers stellt die Langeweile eine besondere Form des menschlichen Leidens dar. Es handelt sich dabei weder um ein „Epiphänomen“ noch um einen „Spezialfall“1 im menschlichen Leben. Vielmehr universalisiert Schopenhauer die Langeweile und erhebt sie in den Status einer conditio humana, wenn er sie in seinem ‘Pendelmodell’ gleichberechtigt neben der Not und der Sorge des Menschen plaziert. Schopenhauer selber entwirft allerdings sein Konzept der Langeweile eher skizzenhaft. Gleichwohl hat dieses Konzept in seinem Werk eine strategische Bedeutung inne: es weist der Langeweile einen anthropologischen Stellenwert zu. Langeweile kann als Grundstimmung im Werk Schopenhauers aufgefaßt werden, die sich als solche von Gefühlen und Affekten unterscheidet. Schon die Affekte beinhalten gegenüber den Gefühlen ein reflexives Moment - das „reflexive Fühlen von Gefühlen“ 2 - und verweisen so auf einen ausgezeichneten Subjektbezug, der auch als „praktisches Sich-zu-sich-verhalten“3 verstanden werden kann, indem zugleich mit dem „Was“ auch das „Wie“ des je eigenen Erlebens erschlossen wird. Die Erschließungsmöglichkeit in den Stimmungen geht noch entschieden darüber hinaus: Sie sind nicht-intentionale und „affektive Gesamtdispositionen“ 4 und konfrontieren den Menschen jeweils mit seiner gesamten Lebenssituation. Stimmungen bringen so ein „präreflexives Selbstverhältnis“5 zum Ausdruck. In der Grundstimmung der Langeweile erschließt sich ‘Dasein als solches’6. Wird nun die Langeweile, so wie Schopenhauer sie vorstellt, unter Berücksichtigung ihrer Erschließungsfunktion für das menschliche Dasein präzisiert, so kann der Versuch gewagt werden, die Langeweile als eine von Schopenhauer intendierte, wenngleich nicht ausgearbeitete Erkenntnismöglichkeit darzulegen. 1Barbara Neymeyr: Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analyse zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik. Berlin/New York 1996, S.139 bzw. 345. 2Hinrich Fink-Eitl: Affekte. Versuch einer philosophischen Bestandsaufnahme. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 40, 1986, S. 530. Ich schließe mich hier der von Fink-Eitl vorgenommenen Differenzierung zwischen Gefühlen und Affekten an. Fink-Eitl deklariert die Affekte in Abgrenzung zu den Gefühlen als Bewußtseinsphänome. In den Affekten verhalte man sich zu seinen Gefühlen oder Trieben: „Ich verbrenne meine Hand an einer heißen Herdplatte und verspüre zusätzlich zur heftigen Schmerzempfindung und mit ihr vermischt den Affekt Wut. Die Wut ist meine höchstpersönliche, emotionale Reaktion auf dies Ereignis; sie beinhaltet meine Ansicht (die ich auch sehr heftig äußere), daß die heiße Herdplatte mir geschadet hat.“ (528) 3Ernst Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Ffm. 1979, S. 30. 4Fink-Eitl, a.a.O., S. 533. 5Ebd. 6Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. In: Ders.: Gesamausgabe. Ffm. 1977, 1. Abt. Bd. 2., § 29. 2 Einleitung I Schopenhauers Philosophie ist gekennzeichnet durch eine dualistische Betrachtung der Welt: einerseits als Vorstellung, andererseits als Wille. Welt als Vorstellung und Welt als Wille stehen sich jedoch nicht gleichberechtigt gegenüber. Der Dualismus wird auf eine monistisch verfaßte Willensmetaphysik zurückgeführt, aus deren Blickwinkel sich die Welt als Vorstellung als eine nur abkünftige Welt erweist. Sie hat ihren Grund nicht aus sich selbst, sondern erhält ihren Antrieb durch einen unverfügbaren blinden Willen, dessen Objektivationen die Erscheinungswelt ausmachen. Die dualistische Struktur der Welt als Wille und Vorstellung setzt sich im Menschen fort. Dieser zerfällt zum einen in ein Subjekt des Willens (Willensträger), indem der ganze Wille widergespiegelt wird. Schopenhauer geht hier von der leiblichen Erfahrung des Menschen aus: Der Leib selbst ist schon die Objektivation des Willens und stellt den Menschen unter das Diktat seiner Erhaltung. Er ist der Ort der unmittelbaren Willensregungen wie Hunger, Geschlechtstrieb und Bewegungsdrang sowie der auf ihn aufbauenden affektiven Begehrungsarten.7 Zum anderen ist der Mensch Subjekt der Erkenntnis, dem die Welt der Vorstellung als das von ihm Erkannte gegenübersteht. Durch den Verstand als Vermögen der anschaulichen, d.h. sinnlichen Erkenntnis, ist die Art, wie der Mensch die Dinge erkennt, bereits vorstrukturiert. Erst durch die apriorischen Anschauungsformen von Raum, Zeit und der damit verbunden Kausalität erscheint die Welt als Vorstellung für das erkennende Subjekt. Eben diese Anschauungsformen - Schopenhauer nennt sie auch den „Schleier der Maya“ begründen das „principium individuationis“ und dadurch die Vereinzelung des Menschen. Wille und Erkenntnis stehen jedoch nicht in einem gleichberechtigten Verhältnis, vielmehr wurzelt der Intellekt im Willen. Es handelt sich also um ein Herrschaftsverhältnis, in dem die Erkenntnis im „Sklavendienst des Willens“ steht. (280)8 Der Wille ist charakterisiert durch blindes, zielloses Streben, welches das eigentliche Wesen des Menschen ausmacht. Der Wille selbst wird jedoch erst an den Motiven erkannt, durch die er in Erscheinung tritt. Die Motivsuche ist die Aufgabe des Intellekts, der als „Medium der Motive“ für den gefühlten Willensdrang das passende Objekt finden muß und, auf diese Weise instrumentalisiert, die „Laterne“9 des Willens darstellt. 7Walter Schulz: Philosophie des Übergangs. Grundtendenzen in Schopenhauers Ethik. In: Wolfgang Schirmacher (Hrsg.): Zeit der Ernte. Studien zum Stand der Schopenhauer Forschung. Festschrift für Arthur Hübscher zum 85. Geburtstag. Stuttgart - Bad Cannstatt 1982, S. 31. 8Die Zahlen in Klammern bezeichnen die Seitenangaben der folgenden Ausgabe: Arthur Schopenhauer: Welt als Wille und Vorstellung I. In: Ders.: Sämtliche Werke, Hrg. v. Freiherr v. Löhneysen, Ffm. 1986, Bd. 1. 9Obwohl Schopenhauer den Anspruch der Aufklärung an die höchste Vernunft negiert, indem er die Vernunft entthront und an ihre Stelle den Willen als das Primäre setzt, gebraucht er dennoch deren Metaphern. Das Licht der Aufklärung findet sich in der „Laterne“ wieder. Das Bild ist vielsagend, ist doch die Laterne nur ein Hilfsmittel, gebraucht von ihrem Träger. Dagegen vergleicht Schopenhauer den Intellekt des Genies mit der Sonne selbst, welches einer Emanzipation des Intellektes vom Willen gleichkommt und der traditionellen Auffassung des Geniebegriffs der Aufklärung entspricht: „Während dem gewöhnlichen Menschen sein Erkenntnisvermögen die Laterne ist, die seinen Weg beleuchtet, ist es dem Genialen die Sonne, welche die Welt offenbart.“ (269) 3 In dieser Doppelstruktur besteht das eigentliche Dilemma des Menschen : Während es aus der Perspektive des Willens unerheblich ist, was gewollt wird, es nur darauf ankommt, „daß überhaupt gewollt wird“ (448) und dieses Daß des Willens ein endloses, nie zu befriedigendes ist, erkennt der Intellekt, im Dienste des Willens stehend, nur immer die Relationen, „das Wo, das Wann, das Warum und das Wozu“ in den Dingen; das „Was“ (257) 10 bleibt ihm hingegen verschlossen. Daraus resultiert, daß der Mensch stets etwas will, daß er Ziele hat, obwohl zielloses Streben sein Wesen ist. „Diesem allem zufolge weiß der Wille, wo ihn Erkenntnis beleuchtet, stets was er jetzt, was er hier will; nie aber was er überhaupt will: jeder einzelne Akt hat einen Zweck; das gesamte Wollen keinen [...].“ (241) Für Schopenhauer sind es nur scheinbare Ziele, die den Menschen mit dem Versprechen der Befriedigung und Ruhe locken; dennoch ist er bemüht, diesen Schein in der Erfahrung des Menschen nachzuweisen. Im folgenden soll gezeigt werden, daß der Mensch in der Langeweile tatsächlich die Erfahrung der Daßhaftigkeit 11 seines Strebens machen kann und damit, daß es für ihn kein Dasein außerhalb dieses Strebens gibt. In der Langeweile nämlich erfährt der Mensch nach Schopenhauer seine eigene Nichtigkeit. II Etymologisch birgt das deutsche Wort Langeweile spätestens seit Mitte des 18 Jhds. in sich zwei Bedeutungen: Zunächst die im Wort selbst schon angelegte Bedeutungsrichtung, die das Langwerden der Zeit, die ‘lange Weile’, akzentuiert. Daneben entwickelt es im Laufe seiner Geschichte zunehmend ein Moment von Verdruß und Überdruß, welches dem französischen Wort ennui entstammt. Beide Begriffe nähern sich in ihrer Wortgeschichte 12 einander so sehr an, daß seit dem 18. Jhd. sich in beiden sowohl das Überdrußmoment finden läßt als auch der explizit zeitliche Bezug. Erst im Zusammenfall beider Bedeutungen ist es möglich, von der Langeweile als einem Lebensgefühl zu sprechen. Beide Momente lassen sich in Schopenhauers Verwendung des Wortes wiederfinden, wobei jedoch die Erscheinungsweise 10Das „Was“ der Dinge ist nur der reinen, vom Willen befreiten Erkenntnis zugänglich und kann vom Menschen in der Kontemplation, dem großen Ausnahmezustand, ästhetisch, in Form von Ideen erkannt werden. Schopenhauer greift hier Schellings Unterscheidung zwischen Daß und Was, zwischen Existenz und Wesen auf: Während das Wesen der Dinge durch die Vernunft erfaßt werden kann, ist das Daß der Existenz ausschließlich der Erfahrung zugänglich. Schopenhauer radikalisiert Schelling nun dahingehend, das auch das Was der Vernunft nicht zugänglich ist, sondern nur intuitiv erkannt werden kann. 11Die Faktizität der eigenen Existenz tut sich dem Individuum durch sein Streben kund. Der Mensch sei sich seiner selbst nur als Wollender bewußt, schreibt Schopenhauer in seiner Freiheitsschrift über das Selbstbewußtsein des Menschen. (Schopenhauer: Preisschrift über die Freiheit des Willens. In: Ders.: a.a.O., Bd. 3.) Auch hier greift Schopenhauer Schellingsches Gedankengut auf, insofern hier Wollen als ein Ursein zu verstehen ist. Der Existenz liegt ein unverfügbares Daß zugrunde, dessen vom Menschen feststellbare Qualitäten sich zunächst auf die des Nicht-Habens, des Mangel und des Hungers, beschränken. Das Daß des Hungers ist für Schopenhauer unhintergehbar und verweist so auf das Wesen des die Existenz begründenden ontologischen Prinzips.(Vgl. Lore Hühn: Die intelligible Tat. Zu einer Gemeinsamkeit Schellings und Schopenhauers. In: Selbstbesinnung der philosophischen Moderne. Beiträge zur kritischen Hermeneutik ihrer Grundbegriffe. FS Michael Theunissen. Hrg. Christian Iber und Romano Pocai, Cuxhaven 1998, S. 66ff. 12Vgl. hierzu die Arbeit von Ludwig Völker über die Langeweile. Er stellt dort die geschichtliche Entwicklung des Wortes und seiner Bedeutung dar. Ludwig Völker: Langeweile. München 1975. 4 der Zeit in der Langeweile im Rahmen der Schopenhauerschen Zeitphilosophie eine besondere Bedeutung zukommt. Daher erscheint es zunächst sinnvoll, die Schopenhauersche Zeitphilosophie zu umreißen. Im ersten Buch der Welt als Wille und Vorstellung, das auch als Schopenhauers Erkenntnistheorie bezeichnet werden kann, betrachtet er die Welt so, wie sie sich dem Subjekt zu erkennen gibt, nämlich als Vorstellung.13 Die Welt der Vorstellung enthält in sich zwei Momente, aus denen sie sich konstituiert: einerseits ein Vorstellendes, Erkennendes, als Subjekt der Erkenntnis, andererseits das Vorgestellte, Erkannte als Objekt der Erkenntnis. Die Konstitutionsleistung kommt dem erkennenden Subjekt zu, da es die vorauszusetzende Bedingung aller Objekterkenntnis ist. Insofern das Subjekt die Bedingung von Erkenntnis überhaupt ist, kann es selber nicht erkannt werden. Es ist „dasjenige, was alles erkennt und von keinem erkannt wird“. (33) Demgegenüber geht das Objekt vollständig im Vorgestellt werden auf, d.h. Objekt und Vorstellung sind dasselbe. Die apriorischen Gesetzmäßigkeiten der Erkenntnisvermögen - Schopenhauer formuliert sie im Satz vom zureichenden Grunde14 legen die Art und Weise fest, wie die Objekte vom Subjekt erkannt, bzw. vorgestellt werden. Es sind dies primär die apriorischen Anschauungsformen von Zeit, Raum und Kausalität, die die Form der gegenständlichen Welt bestimmen und gleichzeitig alle Erscheinungen in Raum und Zeit miteinander verbinden. Da nun jedes Objekt nur in Relation zu einem Subjekt existiert, welches es bedingt und zugleich seine Erscheinungsweise transzendental bestimmt, kommt der Welt als Vorstellung nur ein relatives, kein eigentliches Sein zu. Die Dinge in der Welt als Vorstellung gehen ganz in ihrem (Vorstellung-) Sein für andere auf. Weil die Welt der Vorstellung sich in Relationen verliert, kann auch das An-sich, „das ‘Was’ der Welt primär nicht in der Vorstellung bestehen - löst sich deren ‘Was’ doch im ‘Wie’ ihrer Gegenstände auf“ . Die Zeit, die so als Form unserer Erkenntnis die Welt der Vorstellung durchherrscht, ist die lineare Zeit, die sich durch kontinuierliches Verfließen diskreter Zeitteile auszeichnet: „Sukzession ist das ganze Wesen der Zeit“. (37) Im puren Nacheinander bestimmen sich die Ereignisse und Dinge in dieser, nach beiden Seiten unendlichen Zeitlinie nur mittels ihrer Relationen. Die Gegenwart ist hier reduziert auf einen bloßen Jetztpunkt auf der Zeitlinie, der diese in Früher und Später einteilt. Schopenhauer analogisiert Zeit im Rekurs auf die mythologische Grundfigur als Zeit des Kronos und konnotiert sie dergestalt mit Nichtigkeit. Ein jeder Augenblick dieser Zeit sei nur 15 13Obwohl der Wille metaphysisch gesehen ursprünglicher ist als die Vorstellung, knüpft Schopenhauer an die idealistische Transzendentalphilosophie Kants an, insofern auch seine Philosophie mit einer Analyse der Erkenntnisvermögen beginnt. 14Den ‘Satz vom Grunde’ hatte Schopenhauer bereits in seiner Dissertation (1813) dargelegt. Er läßt sich gemäß seiner vier Gestaltungen als Seinsgrund (Zeit und Raum), Werdegrund (Kausalität), Handlungsgrund (Motivation) und Erkenntnisgrund auseinanderlegen. Arthur Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. In: Ders. a.a.O., Bd. 3. 15Rudolf Malter: Artikel Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Kindlers neues Literatur-Lexikon, hrsg. von Walter Jens, Bd. 15, München 1996, S. 17. 5 möglich, insofern er den vorangegangen Augenblick vertilgt habe. (36) Da Schopenhauer den Dingen in der Welt aufgrund ihres Werdens kein eigentliches Sein zuspricht, sondern das Werden als ein Indiz ihrer Nichtigkeit betrachtet, so bleibt von dieser Nichtigkeit auch die Zeit nicht unberührt, da sie das Entstehen und Vergehen allererst ermöglicht. Insofern aber die Zeit selbst das unveränderliche Gesetz des Werdens und Vergehens ist, stellt sie eine Art stillgelegter Zeit dar, die in einer rotierenden Bewegung erstarrt, nämlich im Verharren ihrer Selbstreproduktion. „Die Dinge bleiben in der Zeit, in dem sie sich ständig reproduzieren, und auch die Zeit selber bleibt als eine solche, die sich, das heißt ihre Einheiten, unaufhörlich wiederholt.“ Kronos steht für diese rotierende Selbstreproduktion und ist eine Metapher für die ständige Wiederkehr des Gleichen, für eine Monotonie, in der es nichts Neues geben kann. Die Ewigkeit, die im bleibenden Prozeß der Reproduktion aufscheint, stellt sich als Unendlichkeit im negativen Sinne einer grenzenlosen Dauer dar. Die zyklische Zeit selbst ist in den linearen Zeitstrahl eingebettet. Die dem Menschen eigene Dimensionierung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist - so Schopenhauer - eine Leistung der Vernunft. Durch die Vernunft vermag der Mensch neben seinem konkreten Leben noch ein „zweites in abstracto“ zu führen, welches ihm „die allseitige Übersicht des Lebens im Ganzen“ und damit ein planvolles Handeln überhaupt ermöglicht. (139 bzw. 138) Die Dimensionierung der Zeit schafft jedoch zugleich Leiden für den Menschen in Form von Sorgen, enttäuschten Erwartungen und Hoffnungen. 16 17 III Hatte Schopenhauer bereits im ersten Buch der Welt als Wille und Vorstellung die Nichtigkeit des Daseins vor dem Horizont eines unaufhörlichen Werden und Vergehens vorgestellt, so reformuliert er seine Zeittheorie innerhalb seiner ästhetischen Theorie dahingehend, daß sich aus dieser Perspektive die zunächst vorgestellte Auffassung von Zeit als eine rein mechanische deuten läßt. Von hier aus wird ersichtlich, daß die Welt als Vorstellung in sich keine Stabilität besitzt - ihr fehlt die Eigenständigkeit - sondern in ihrem universellen Verweisungszusammenhang qua Kausalität aufgeht. Im dritten Buch macht Schopenhauer demgegenüber die Welt der Kunst als eine Erfahrung der Einheit geltend. Damit überschreitet er allerdings den von ihm selbst entworfenen Nihilismus in Richtung auf eine platonische Ideenlehre, die so allererst einen Maßstab freigibt, von dem aus nicht nur die oben vorgestellte Zeit, vielmehr die ganze empirische Erscheinungswelt als defizienter Modus kritisiert und transzendiert wird. In Schopenhauers Philosophie kommt der ontologischen Dimension der Ideen eine vermittelnde Position zwischen Welt als Wille und Welt als Vorstellung zu: als unmittelbare 16Vgl. Theunissen: „ Sofern Zeit im Schatten dieser Vergängnis erscheint, greift die Nichtigkeit auf sie über. Sofern sie aber das selber bleibende Gesetz des Entstehens und Vergehens ist, stellt sie sogleich ein Bild der Ewigkeit dar.“ Michael Theunissen: Können wir in der Zeit glücklich sein? In: Ders.: Negative Theologie der Zeit. Ffm. 21992, S. 38. 17Theunissen, a.a.O., S. 40. 6 und adäquate Objektivation des Willens, liefern sie die Urbilder für die Erscheinungswelt und liegen außerhalb von Zeit und Raum. Den Ideen spricht er, sich auf Platon berufend, wahres Sein zu: Sie sind, was „immer ist, aber nie wird noch vergeht“, im Gegensatz zu den Dingen in der Welt: „sie werden immer, sind aber nie“. (248 bzw. 247) Kunst selbst versteht Schopenhauer als Ideenschau: Der Künstler schaut die Urbilder und wiederholt das Geschaute in seinen Kunstwerken. Dies bedarf allerdings einer veränderten Erkenntnisweise, nämlich einer solchen, die gerade nicht am Leitfaden des Satzes vom Grunde orientiert ist und die Schopenhauer in der Kontemplation zu finden meint. Kontemplation wird von ihm als ein sich Losreißen von der gewöhnlichen Erkenntnisweise und ein sich Hingeben an das angeschaute Objekt beschrieben: Während in der alltäglichen Erkenntnis die Dinge nur in ihren Relationen zueinander und in ihrer Relation zum individuellen Willen erkannt werden, läßt die Erkenntnisfähigkeit des Menschen in der Kontemplation gerade von diesem relativen Erkennen ab. Der Kontemplierende vergißt sich als individuell wollendes Wesen und reißt damit den angeschauten Gegenstand aus seinen gewöhnlichen Relationen heraus. Die Individualität löst sich im Kunstakt gleichsam auf und ermöglicht so dem Menschen eine freie Erkenntnisweise. Zeittheoretisch bezeichnet die Kunst einen Ort der Außerzeitlichkeit, auf den hin die lineare Zeit im Vollzug der Kontemplation durchbrochen wird. Während auf dem in beiden Richtungen endlosen Zeitstrahl der linearen Zeit weder ein Anfang noch ein letztes Ziel auszumachen ist, „so ist dagegen die Kunst überall am Ziel. Denn sie reißt das Objekt ihrer Kontemplation heraus aus dem Strom des Weltlaufs und hat es isoliert vor sich: [...] sie bleibt daher bei diesem Einzelnen stehen: das Rad der Zeit hält sie an“. (265) Im Gegensatz zu Theunissen, der die Erfahrung der Kontemplation als ein anschauendes Verweilen und ein „Nichtmitgehen mit der Zeit“ deutet, legt Schopenhauer es jedoch nahe, das Herausgehobensein aus der Zeit als einen Einbruch der Ewigkeit in die Zeit zu verstehen. Dafür spricht, daß Schopenhauer Zeitlosigkeit mit Ewigkeit gleichsetzt: die Ideen liegen außerhalb der Zeit, sind mithin ewig. (Vgl. 254) Er vergleicht die kausale Erkenntnisart mit einer horizontalen Linie, die Kunsterkenntnis dagegen mit einer vertikalen, die die horizontale an jedem beliebigen Punkt schneiden kann. Zeittheoretisch gelesen läßt sich die Horizontale mit der linearen Zeit der Wissenschaft vergleichen, während die Vertikale die Ewigkeit darstellt, die an jedem beliebigen Punkt die lineare Zeitordnung schneiden, d.h. in sie einbrechen kann. Schopenhauer grenzt so die linear fortschreitende Zeit der Wissenschaft von der Zeiterfahrung der Kunst ab. Dieser Vergleich kann als Beschreibung des ästhetischen Augenblicks verstanden werden. Die Ewigkeit, die in der Kontemplation aufscheint, ist eine erfüllte Unendlichkeit und liefert die positive Folie für die negative Unendlichkeit einer endlosen Dauer, wie sie dem linearen Zeitstrahl zu eigen ist. 18 19 18Zwar stellt Schopenhauer seine Ideen als platonische Ideen vor. Doch während den Ideen in Platons Lehre der Rang der höchsten ontologischen Prinzipien zukommt, sind sie bei Schopenhauer noch dem Willen an sich ontologisch untergeordnet. 19Theunissen: Freiheit von der Zeit. Ästhetisches Anschauen als Verweilen. In: Ders., a.a.O., S. 285-290. 7 Zeigt sich so der ästhetische Augenblick als ein Moment der Freiheit von der Zeit, liefert die Erfahrung der Langeweile den Menschen gerade an die lineare Zeitordnung aus. Die Grundstimmung der Langeweile erweist sich als der eigentliche Gegensatz zur Erfahrung der Kontemplation: ist der Mensch in der Kunst immer schon am Ziel, dann ist für ihn der Augenblick dieser Erfahrung ein erfüllter Augenblick. Dagegen stellt sich der Augenblick in der Langeweile als ein unerfülltes und somit leeres Jetzt dar. Die Erfahrung des Leidens I Das Bild der endlosen Dauer zeigt sich jedoch nicht nur am grenzenlosen Raum, an der unendlichen Zeit und den endlosen Kausalreihen in der Welt der Vorstellung, sondern ist auch maßgebend für die Welt des Willens und gründet in ihr. Diese ist charakterisiert durch die einzige Eigenschaft des Willens: blindes, ziel- und rastloses Streben. „In der Tat gehören Abwesenheit alles Zieles, aller Grenzen zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist.“ (240) Das Wesen des Willens offenbart sich als „endloses Werden“ und „ewiger Fluß“ in der Welt als Vorstellung, welche so als Spiegel des Willens fungiert. (240) Im menschlichen Individuum laufen Welt als Vorstellung und Welt als Wille dergestalt zusammen, daß es sich einerseits als ein Endliches im Unendlichen begreifen muß, andererseits selbst den sich perpetuierenden Willen in sich trägt, der sich im ruhelosen Streben nach nie zu erreichender Befriedigung und maßlosen Schmerzen äußert. Die pessimistische Weltdeutung Schopenhauers gipfelt in den Vergleich des menschlichen Lebens mit einem Pendel, das sich zwischen Schmerz und Langeweile bewegt. „Sahen wir schon in der erkenntnislosen Natur das innere Wesen derselben als ein beständiges Streben ohne Ziel und ohne Rast; so tritt uns bei der Betrachtung der Tiere und des Menschen dieses noch viel deutlicher entgegen. Wollen und Streben ist sein ganzes Wesen, einem unlöschbaren Durst zu vergleichen. Die Basis allen Wollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folglich schon ursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen an Objekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wieder wegnimmt; so befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile: d.h. sein Wesen und sein Dasein selbst wird ihm zur unerträglichen Last. Sein Leben schwingt also gleich einem Pendel hin und her zwischen dem Schmerz und der Langeweile, welche beide in der Tat dessen letzte Bestandteile sind. Dieses hat sich sehr seltsam auch dadurch aussprechen müssen, daß, nachdem der Mensch alle Leiden und Qualen in die Hölle versetzt hatte, für den Himmel nun nichts übrig blieb als eben Langeweile.“ (427f.) Das Pendel speist sich in seiner Dynamik aus dem Streben der Menschen. Die existentielle Bedürftigkeit des Menschen mit den daraus hervorgehenden Schmerzen, Nöten, Sorgen und Wünschen macht die eine Richtung der Pendelbewegung aus. Die Langeweile, „die jede von den anderen verlassene Stelle sogleich okkupiert“ (478), wird dagegen als dessen andere Richtung vorgestellt. So erhebt Schopenhauer die Langeweile in den Status einer conditio humana, gleichberechtigt neben dem Schmerz, der Sorge und dem Wunsch. 8 Schopenhauer benennt hier seine anthropologischen Prämissen. Der Mensch ist von Natur aus ein Mängelwesen und schon durch seine existentielle Bedürftigkeit erlebt er sein Streben als etwas faktisch bestehendes. Es ist primär ein vitales Nach-vorn-Streben, das beim Menschen, bedingt durch sein Zeitbewußtsein, mit Wünschen, Sorgen und Hoffen auf die Zukunft ausgerichtet ist. Hat der Mensch jedoch alle seine Bedürfnisse gestillt und Wünsche erfüllt, dann stellt sich nicht etwa Befriedigung ein, sondern der Mensch langweilt sich, da er mit dem Dasein als solchem nichts anzufangen weiß. In der Langeweile wird ihm sein Dasein zur Last. Hieraus wird ersichtlich, daß es sich bei dem von Schopenhauer beschriebenen Phänomen um eine „zuständlich[e] Form von Langeweile“ handelt, die sich von einer alltäglichen „gegenständlichen“ Form, einem Gelangweilt-Werden-von-etwas abgrenzen läßt. Diese „schwere[n], chronische[n], unheilbare[n] ‘existenzielle[n]’ Langeweile“ geht aus der „Grundhaltung des Subjekts“ hervor. Den Gegensatz von Not und Wunsch sieht Schopenhauer nicht in Genuß und Befriedigung, sondern in der Langeweile. Das flüchtige Moment der Befriedigung schlägt sofort um, entweder in einen neuen Wunsch oder in die Langeweile. Es liegt in Schopenhauers Intention, den Augenblick der Befriedigung als eine positive Erfahrung von Zeit zu eliminieren, ihn nicht als Augenblick der Erfüllung zuzulassen, sondern an dessen Stelle die Langeweile als negatives Zeiterlebnis zu setzen. Seiner Grundthese gemäß, die er als die „Unerreichbarkeit dauernder Befriedigung und die Negativität alles Glückes“ formuliert, fallen Befriedigung und Langeweile in eins. (440) Damit ist die Langeweile eine besondere Erfahrung des menschlichen Leidens und Schopenhauer reduziert die im Bild des Pendels erscheinende Dualität auf das Leiden schlechthin. Desweiteren impliziert das Pendel die Erfahrung von Unendlichkeit im negativen Sinne der Endlosigkeit des Hin- und Herpendelns zwischen Not und Langeweile und verweist darauf, daß das Streben des Menschen sich im Leben nicht erfüllen, an kein Ziel gelangen kann. Im Pendel ist weder ein Fortschritt, noch ein Anhalten möglich. Die Lebenszeit des Menschen muß unerfülltes Streben, also Pendeln bleiben, das nur vom Tod beendet werden kann. Die Analogie des menschlichen Daseins mit dem Pendeln zwischen Schmerz und Langeweile destruiert nicht nur jede Zukunftserwartung des Menschen; sie implizert zugleich die völlige Halt- und Bodenlosigkeit des Daseins, indem sie das menschliche Leben auf die Bewegung selbst reduziert. 20 20Völker, a.a.O., S.11. Die im Sturm und Drang sich anbahnende und in der Romantik voll ausgeführte Thematisierung von Langeweile als eines literarisch bedeutsamen Motivs leitete eine neue Phase in der Geschichte des Wortes ein. Daraus habe sich die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen einer alltäglichen, leichten und einer schweren Form von Langeweile ergeben. (Ebd.) Die Differenzierung zwischen gegenständlicher und zuständlicher Form von Langeweile übernimmt Völker aus W.J. Revers Psychologie der Langeweile. Die ‘zuständliche Langeweile’ entstehe aus einer Unvereinbarkeit von individuellen Bedürfnissen und objektiven Gegebenheiten oder - hier greift Völker auf die Worte Bettina von Arnims zurück - aus dem Gefühl heraus, daß der Mensch in seiner Eigentümlichkeit unaufgefordert bleibt. Völker beläßt es allerdings bei wenigen Ausblicken auf die neue Phase in der Wortgeschichte der Langeweile, die die Grenze seiner Untersuchung markiert. 9 II Das Streben des Menschen und damit die Pendelbewegung speist sich immer aufs neue aus seinen Versuchen, das Leiden zu beseitigen. Aus der Perspektive Schopenhauers, der Leben und Leiden gleichsetzt21, stellen sich diese Versuche als permanente Verdrängungsbewegungen dar. „Die unaufhörlichen Bemühungen, das Leiden zu verbannen, leisten nichts weiter, als daß es seine Gestalt verändert. Diese ist ursprünglich Mangel, Not , Sorge um die Erhaltung des Lebens. Ist es, was sehr schwer fällt, geglückt, den Schmerz in dieser Gestalt zu verdrängen, so stellt er sich sogleich in tausend andren wieder ein, [...] kann er endlich in keiner anderen Gestalt mehr Eingang finden, so kommt er im traurigen, grauen Gewand des Überdrusses und der Langeweile [...]. Gelingt es endlich, diese zu verscheuchen, so wird es schwerlich geschehen, ohne dabei den Schmerz in einer der vorigen Gestalten wider einzulassen und so den Tanz von vorne zu beginnen, [...].“ (432) Die Verdrängung der Langeweile sieht Schopenhauer darin, das Dasein „unfühlbar zu machen, ‘die Zeit zu töten’, d.h. der Langeweile zu entgehen“. (429) Demnach richtet sich die Aufmerksamkeit des Menschen bei sistierter Willenstätigkeit auf die Zeit, die dadurch selbst zum Gegenstand der Wahrnehmung wird. Die Langeweile ist ein Leiden an der Zeit. Leben selbst ist schon als das vitalistische Nach-vorn-Leben von innen heraus zeitlich verfaßt. Durch die dem Menschen eigene Dimensionierung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft richtet sich das Streben der Menschen, ausgedrückt in Sorgen, Wünschen und Hoffen, auf die Zukunft aus. Linearität und Dimensionalität sind jedoch nur verschiedene Aspekte der einen Zeit, die als eine identische gedacht werden soll und muß.22 Während die Linearität die Außenperspektive der Zeit ist, ist ihre Dimensionalität gleichsam ihre Innenansicht23: der Mensch vollzieht sein Leben in der Zeit, indem er sie in ihre Dimensionen auseinanderlegt, d.h. er verwandelt die „lineare Zeitordnung, die für sich genommen ein bloßes Nacheinander, bloß Sukzession ist, unaufhörlich in die Ordnung der Zeitdimensionen“ . Dergestalt durchdringt und umgreift die Zeit den Menschen, so daß schon das Streben selbst als ein Leiden an der Zeit gelesen werden kann. Daß jedoch die Zeit dem strebenden Menschen zunächst nicht auffällig wird, hat seinen Grund in der Medialität der Zeit. Der Mensch vollzieht ja nicht die Zeit selbst, sondern sein Leben in der Zeit. Das bedeutet aber, daß die Prädikate über erfüllte oder leere Zeit nicht eigentlich der Zeit zukommen, sondern dem Leben selbst. Erst im Zerfall der dimensionierten Zeitordnung wird die Zeit als Zeit dem Menschen auffällig, indem sie nun allein auf ihre sukzessive Erscheinungsweise reduziert wird und als eine gegenständlich erscheinende Zeit vom Menschen in der Langeweile erfahren wird. Die Langeweile wird zum Erlebnis einer auf den 24 21Für Schopenhauer hat das Leiden ontologische Dignität, was jedoch eine Entqualifizierung der menschlichen Leiderfahrungen nach sich zieht. (Vgl. Lore Hühn: Die Wahrheit des Nihilismus. Schopenhauers Theorie der Willensverneinung im Licht Friedrich Nietzsches. In: Interpretaionen der Wahrheit. Hrg. Günter Figal, Tübingen 1999, S. 280ff.) 22Vgl. Theunissen: „Das Verhältnis von Wille und Zeit ist das ungelöste Problem seines [Schopenhauers, R.D.] gesamten Systems.“ (In: Ders., a.a.O., S. 289) 23Vgl. Theunissen: Können wir in der Zeit glücklich sein? In: Ders., a.a.O., S. 43. 24Theunissen: Zeit des Lebens. In: Ders., a.a.O., S. 304. 10 sukzessiven Ablauf reduzierten Zeit, indem zugleich ihre Selbstreproduktion in Form ihrer Einheiten mit wahrgenommen wird, was ein Erlebnis der ständigen Wiederkehr des Gleichen nach sich zieht.25 Hatte Schopenhauer bereits in seiner Erkenntnistheorie dargelegt, daß Zukunft und Vergangenheit von der menschlichen Vernunft produzierte Phänomene seien, so radikalisiert er diese Aussage: „Vergangenheit und Zukunft enthalten bloße Begriffe und Phantasmen.“ (Vgl. 385) Er reduziert die Zeit somit zunächst auf ihre lineare Ordnung, um diese dann radikal zu kritisieren. Im Anschluß plausibilisiert Schopenhauer seine (vorerst wenig überzeugende) Vorgehensweise, indem er versucht, die Rolle des Zukunftshorizonts in der menschlichen Erfahrung zu negieren, dagegen die Dimension der Vergangenheit als alleinigen Bezugspunkt zu behaupten. Damit umgreift die Vergangenheit alle drei Zeitdimensionen, weil sich die Zukunft so als die nur schlechte Wiederholung der Vergangenheit erweist. Als Schopenhauers größter Feind zeigt sich hier die Hoffnung: als ein positiv auf die Zukunft gerichteter Affekt. Gerade die Hoffnung nun wird durch die Erfahrung der Langeweile zerstört. Schon das Streben des Menschen stellt sich in Schopenhauers Philosophie als ein Leiden unter der Herrschaft der Zeit dar. Daß ihm sein Leiden an der Zeit im Streben jedoch zunächst nicht auffällig wird, liegt daran, daß der Mensch in der Sorge bzw. der Hoffnung seine Aufmerksamkeit nicht so sehr auf die Zeit richtet, sondern vielmehr auf den Gegenstand der Sorge bzw. Hoffnung: dem begehrten Objekt nämlich. Erst in der Langeweile wird dem Menschen die Zeit als das, was sie in Schopenhauers Sinne alleine ist, sichtbar. In der Langeweile gelangt der Mensch zur Erkenntnis des Wesens der Zeit: sie erscheint ihm als Sukzession in Form von Selbstreproduktion. Dieselbe Struktur liegt auch seinem Streben zugrunde, wird durch dieses aber gerade verschleiert: Vom Menschen wird die Wiederkehr des Immergleichen qua Selbstreproduktion als Sukzession wahrgenommen. 26 Die verschiedenen Gestalten der Langeweile I Der Mensch befindet sich nach Schopenhauer im Zustand von Haben-Wollen und Begehren, welcher seine Abhängigkeit von der Objektwelt kennzeichnet. Jede Unterbrechung zieht sofort die Langeweile nach sich.27 Die Langeweile stellt sich dann ein, wenn es dem Menschen an begehrten Objekten fehlt. Der Willensdrang bleibt dennoch in der Langeweile aufgrund der Daßhaftigkeit des Willens bestehen, auch wenn er kein Ziel mehr hat, auf das er sich richten könnte und, dergestalt gehindert, nicht anders denn als Langeweile in 25Vgl. zum gesamten Absatz die Ausführungen von Theunissen a.a.O., bes. S. 43ff. und 303ff. 26An dieser Stelle sei darauf verwiesen, daß Schopenhauer den Begriff der Gegenwart mehrdeutig verwendet. Im Zusammenhang mit dem genannten Zitat ist Gegenwart im Sinne des gegenwärtigen Daseins zu verstehen: „Die Gegenwart allein ist die Form alles Lebens.“ (384) 27Ausgenommen hiervon ist der Zustand der Kontemplation, der ästhetischen Anschauung. 11 Erscheinung treten kann. So wird die Langeweile zum „Erlebnis einer ziellosen Strebung“. 28 Was zurückbleibt ist ein ungerichtetes Wollen, das sich dem Menschen in der Langeweile als „Öde, Leere“ (430) und unbestimmte Sehnsucht, „leere[s] Sehnen“ (439), bemerkbar macht. Der Mensch wird auf sich selbst zurückgeworfen, insofern er den gebotenen Objekten gleichgültig gegenüber steht, denn keines kann ein Motiv für ihn sein. Durch den leeren und unbestimmten Willensdrang bleibt er allerdings negativ, nämlich im Modus ihres Entzugs auf die Objektwelt bezogen. Dafür spricht auch der von Schopenhauer verwendete Ausdruck des (leeren) Sehnens, das ein deutlich nach außen gerichtetes gefühltes Streben29 anzeigt. Diese Konstruktion Schopenhauers bringt den Menschen in eine paradoxe Situation, die sich direkt an das von mir oben beschriebene Dilemma des Menschen anschließt: die doppelte Bedürftigkeit des menschlichen Willens besteht darin, daß er einerseits des steten Strebens, andererseits der Erfüllung bedarf. Die Daßhaftigkeit des Willens ist durch die metaphysische Prämisse seines „rastlosen Strebens“ festgelegt, so daß sich aus dieser Perspektive jeder befriedigte Wunsch als ein Hemmnis für den strebenden Willen darstellt,30 nämlich als der mißlingende Versuch, gegen seine Natur ihn ruhig zu stellen. Folglich ergibt sich die Getriebenheit des Intellekts, der als Sklave des Willens ständig auf der Suche nach neuen Objekten des Begehrens ist - sofern existentielle Bedürfnisse diese nicht schon vorgeben und damit aus dem „Faß der Danaiden“ schöpft. (437) Nur aus diesem Paradox heraus ist auch zu verstehen, warum Schopenhauer mit der Langeweile als einem einerseits „leeren Sehnen“ und der „lebenserstarrenden Langeweile“ andererseits zwei Erscheinungsweisen der Langeweile mehrmals nebeneinander benennt, die sich zunächst gegenseitig auszuschließen scheinen. Verweist doch die Langeweile des leeren Sehnens auf eine Aktivität des Willens, welche die lebenserstarrende Langeweile geradezu ausschließt. Es wäre danach zu fragen, wie es möglich sein kann, daß die Aktivität des Willens in der lebenserstarrenden Langeweile unterlaufen werden kann. Bereits in der Langeweile als einem Zustand des leeren Sehnens zeigt sich ein Moment des Umschlags31: das Sehnen schlägt zurück in den eigenen Grund, d.h. es wird an den Willen zurückverwiesen. Da dieser seinen Grund jedoch nur im bloßen Daß seiner eigenen Regungen hat, gelingt es nicht, die Faktizität des Strebens zu hintergehen. Die Willensbewegung vollzieht sich nun als eine in sich rotierende Bewegung und setzt sich damit der Gefahr ihrer Erstarrung aus. 28„Langeweile ist das Erlebnis einer ziellosen Strebung.“ W.J. Revers: Die Psychologie der Langeweile. Meisenheim 1949, S. 44. Zitiert nach Völker, a.a.O., S. 9. 29Bloch nennt das vitale Leben einen „drängenden Zustand“. Die Äußerungen des Drängens differenziert er entsprechend ihrer Wahrnehmbarkeit für das antizipierende Bewußtsein: „Das Drängen äußert sich zunächst als ‘Streben’, begehrend irgendwohin. Wird das Streben gefühlt, so ist es ‘Sehnen’, der einzige bei allen Menschen ehrliche Zustand. Das Sehnen selber ist nicht weniger vage und allgemein wie der Drang, doch es ist deutlich wenigstens nach außen gerichtet.“ Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Ffm. 1985, S. 49. 30Vgl. dazu die Darstellung von Neymeyr, a.a.O., S. 133f. 31Die Voraussetzung hierfür ist, daß die Langeweile auch freigesetzt und nicht bereits in ihrem Keim erstickt wird, indem sie dem Verdrängungsmechanismus anheimfällt. 12 Leider differenziert Schopenhauer die Langeweile nicht weiter, obwohl die Möglichkeit nahe läge, die Langeweile des leeren Sehnens als eine gewöhnlichere und leichter zu vernachlässigende Form der Langeweile aufzufassen, demgegenüber sich die lebenserstarrende Langeweile als eine tiefere Form mit weitreichenderen Konsequenzen darstellen würde: Schopenhauer kann die Langeweile des leeren Sehnens als ein Anzeichen dafür sehen, daß der Wille im Menschen präsent bleibt, auch wenn er nicht an Motiven sichtbar wird. Sowohl für den Willen wie für den Menschen stellt sie jedoch eine latente Bedrohung dar: Ebenso wie die Not verweist die Langeweile auf einen Mangel, auf den Mangel an Willensanregung. Das sowohl dem Willen als auch dem Menschen wesentliche Streben wird in der Langeweile gehemmt, womit letztlich das Leben selbst gehindert wird. Die Langeweile muß also verdrängt werden, denn wenn sie anhielte, würde sie sich als „ertötende“ und „lebenserstarrende Langeweile“ kundtun. Die Verdrängung der Langeweile geschieht auf verschiedene Weise. Der Wille kann z. B. ‘künstlich’ angeregt werden. So sagt Schopenhauer über das Kartenspiel: „ganz besonders aber zeigt jenes Bedürfnis nach Willensanregung sich an der Erfindung und Erhaltung des Kartenspiels, [...]“. (431) Die Langeweile verweist hier auf die Leere der Empfindung 32 im Menschen, wodurch zugleich die Zeit selbst in ihrer Nacktheit in Erscheinung tritt. Zirkus und Kartenspiel als Präventivmaßnahme gegen die Langeweile können nach Schopenhauer die Empfindungen des Menschen anregen und damit die ihm ‘leer’ erscheinende Zeit künstlich anfüllen. Am naheliegendsten erscheint es allerdings, der Langeweile zu entgehen, indem durch das Auffinden neuer Wunschobjekte die Pendelbewegung wieder dynamisiert wird. Der Mensch pendelt zwischen dem Wunsch und dessen flüchtiger Befriedigung hin und her, was einer fortgesetzten Verdrängung der Langeweile gleichkommt. Doch was geschieht, wenn die Wünsche „alle erschöpft sind, der Willensdrang selbst ohne erkanntes Motiv bleibt und sich selbst als entsetzliche Öde und Leere mit heilloser Qual kundgibt“ (496), oder wenn der Wille angesichts der menschlichen Erfahrung des Umschlags von Befriedigung in Langeweile „im traurigen Gewand des Überdrusses“ (432) erscheint? Schopenhauer benennt zwar diese Fälle, führt sie aber im Zusammenhang mit der Langeweile nicht aus. II Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Langeweile eine Erfahrung der Indifferenz gegenüber der Objektwelt in sich schließt, die dazu führt, daß der Mensch auf sich selbst verwiesen wird. Jede erreichte Befriedigung, die in Langeweile umschlägt, entwertet das erreichte Objekt, so daß das ständige Erlebnis der Langeweile eine immer weitere Entwertung der Objektwelt nach sich zieht, was einer zunehmenden Entwertung der Wirklichkeit selbst 32Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hrg. von Wilhelm Weischedel, Werkausgabe Bd. XII, Ffm. 91995, S.555. 13 gleichkommt.33 Die Entwertung der Wirklichkeit führt zu einer Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, insofern Entwertung hier den Prozeß der qualitativen Entdifferenzierung der Dinge in der Welt bezeichnet.34 Indem die Dinge für den sich Langweilenden ihren Wert verlieren, da sie für ihn nicht länger Objekte des Begehrens sein können, reduziert er sie auf ihr bloßes Vorhandensein. Das bedeutet aber zugleich, daß den Dingen kein Wert für sich zukommt, sondern dieser nur ein relativer ist. Greift die Gleichgültigkeit auf alle Dinge in der Welt über, wird sie zu einer totalen, so zieht sich das Individuum in die Gleichgültigkeit hinein: Schopenhauer hatte ja die Welt der Vorstellung als eine Welt beschrieben, in der allen Dingen bloß ein relatives Dasein zukommt, da sie sich ausschließlich über ihre Beziehung zu anderen Dingen bestimmen können; das gilt auch für den Menschen. Erfährt der Mensch in der Langeweile die Welt als für ihn wertlos, so kann er sich selbst davon nicht ausnehmen, da es nichts mehr gibt, worüber er seine eigene Position noch bestimmen könnte, zu dem er sich in Relation setzen könnte. Er reduziert sich gleichsam selbst auf seine eigene Faktizität. An diesem Punkt schlägt die Langeweile in ihre lebenserstarrende Form um, die dem Individuum „eine universale Wertlosigkeit erschließt, von der es selber mit umfaßt ist“. In der lebenserstarrenden Langeweile wird die Bedrohung für den Willen virulent, denn dieser ist primär Wille zum Leben und eben das Leben droht hier zu erstarren. 35 III Schopenhauer nennt die Extremform der Langeweile: „die größte Lethargie des Willens und damit der an ihn gebundenen Erkenntnis, leeres Sehnen, lebenserstarrende Langeweile (Tama-Guna)“. (441) Wie ausgeführt, neige ich dazu, die lebenserstarrende Langeweile gegenüber der Langeweile des leeren Sehnens als eine gewichtigere Form anzunehmen und dementsprechend die größte Lethargie des Willens entgegen Schopenhauers Wortlaut nur in dieser Form zu suchen. Mit der Lethargie des Willens fällt zugleich auch die in seinem Dienste stehende Erkenntnis in Lethargie, was als eine Auflösungserscheinung des Zusammenhangs von Willensträger und der entwerteten Wirklichkeit interpretiert werden muß. Da Schopenhauer jegliches Interesse des Menschen an den Willen gebunden hat,36 kann behauptet werden, daß der Mensch, wenn er sich im Zustand der Lethargie der willensbezogenen Erkenntnis befindet, jedes Interesse an 33In seinem Werk „Entweder - Oder“ läßt Sören Kierkegaard seine Figur Nero diese Erfahrung bis zum bitteren Ende machen. Der Kaiser lebt für seine Lust. Die Bedingungen des Lustempfindens nimmt er jedoch nicht aus sich selbst heraus; vielmehr versucht er sich Lustgefühle durch Objekte zu verschaffen. Da die Befriedigung durch Objekte aber immer nur eine punktuelle ist, müssen immer neue Objekte her. Das führt nach Kierkegaard zum Selbstverlust Neros: „ er ist wie besessen, unfrei in sich selbst“. Sören Kierkegaard: Entweder-Oder. Gütersloh 21987, Teil 2.2, S 196ff. 34Vgl. hierzu die Ausführungen zur sprachgeschichtlichen Entwicklung des Wortes ‘Gleichgültigkeit’ in der Arbeit von Romano Pocai: Heideggers Theorie der Befindlichkeit. Freiburg/München 1996, S. 101ff. 35Pocai, a.a.O., S. 103. Zwar beziehen sich Pocais Ausführungen auf die Analyse der tiefen Langeweile im Werk Heideggers, sind jedoch in diesem Punkt auch auf Schopenhauers Begriff von Langeweile anwendbar. 36Schopenhauer definiert Interesse immer vom Willen her: „Wenn daher irgend etwas ihnen [den Menschen, R.D.] Anteil abgewinnen, ihnen interessant sein soll, so muß es (dies liegt auch schon in der Wortbedeutung) irgend ihren Willen anregen, [...].“ (431, vgl. auch 255) 14 der Welt verliert, sich selbst als Willensträger eingeschlossen. Der Mensch wird handlungsunfähig, womit zugleich der Zukunftshorizont versperrt ist. Die dimensionierte Zeitordnung zerfällt, und die Zeit reduziert sich auf ihre lineare Ordnung. Jener Zerfall spiegelt sich noch einmal in der Unfähigkeit des Menschen zum Handeln wider: denn die Zeit wird ihm selbst zum Thema und verliert als solche ihren Status eines bloßen Mediums für den Selbstvollzug menschlichen Handelns Der eigentliche Gegensatz zum ‘erfüllten Augenblick’ der Kontemplation ist demnach das ‘leere Jetzt’der lebenserstarrenden Langeweile. Die universale Gleichgültigkeit der Langeweile rückt in die Nähe einer Entgrenzungserfahrung. Die Individualität droht sich aufzulösen. Schopenhauer zeigt eine weitere Lesart auf, aus deren Perspektive die Langeweile selbst als das Primäre zu verstehen wäre: das Streben des Menschen würde sich so als ein Wegwollen von dieser Langeweile verstehen lassen. Zum Status der Langeweile in der Welt als Wille und Vorstellung I Die Lethargie des Willens, läßt sich als ein Erstarren der - oben dargestellten - in sich rotierenden Bewegung des auf sich selbst zurückgeworfenen Willens deuten. Der in sich rotierenden Bewegung entspricht auf ontologischer Ebene die Bewegung des mit sich selbst entzweiten Willens, der in seinem Streben doch nur immer auf sich selbst trifft, da er das alleinige Prinzip ist. Die auf der Stelle stehende und nur eine Steigerung vortäuschende Rotation zeigt sich in der Welt durch die Monotonie einer ständigen Reproduktion des in ihr Vorhandenen; maßgeblich dafür ist die Zeit des Kronos, in der der Mensch die Langeweile erfährt - entleert von allen Inhalten. An dieser Stelle wird ersichtlich, daß die Monotonie der Selbstreproduktion nicht in der Erscheinungswelt gründet, sondern ihren Grund in einer ontologischen Dimension hat. Auf die Langeweile bezogen bedeutet das, daß die Langeweile nicht nur die eine Seite der Pendelbewegung darstellt, sondern zugleich der Grund der Bewegung ist, von dem aus sich das Streben/Pendeln als ein fortgesetztes Verdrängen dieser Langeweile darstellt. Für diese Lesart gibt es noch andere Anhaltspunkte im Text. Schopenhauer setzt die Langeweile in Beziehung zum Tod. So wie das Leben „ein immer aufgeschobener Tod ist“, so ist „die Regsamkeit unseres Geistes eine fortdauernd zurückgeschobene Langeweile“. (427) Die Bewegung des Geistes ist eine Fluchtbewegung vor der Langeweile. Die Langeweile stellt hier, ebenso wie der Tod, eine existentielle Bedrohung für den Menschen dar. Doch wie dieser im gewöhnlichen Leben sein Wissen um den Tod verdrängt, so verdrängt er auch die Langeweile. Schopenhauer spricht zwar von der Langeweile als einer Seite des Pendels, doch wenn er weiter ausführt, daß die Menschen mit ihrem Dasein, sofern es ihnen gesichert erscheint, nichts anzufangen wüßten, dann verweist das darauf, daß Dasein, wenn es 15 inhaltlich nicht mit Schmerz gefüllt ist, in seiner Tiefe Langeweile ist. Der Mensch flieht vor der Langeweile, er will die Last des „Daseins loswerden“ und es „unfühlbar machen“. (429) Er ‘tötet die Zeit’ (429), entweder indem er sich in Gesellschaft begibt und Spiele spielt oder er pendelt in Form eines neuen Wunsches weiter. Das Streben selber kann so schon als Fluchtbewegung verstanden werden. Die Langeweile stellt sich als eine Seite des Pendels dar und zugleich als dessen Grund. II Ein starkes Argument für eine Interpretation, der zufolge sich das Streben selbst schon als Flucht vor der Langeweile erweist, bietet Schopenhauer schließlich in seiner Musiktheorie. Die Musik bildet innerhalb der Ästhetik eine Ausnahme, da sich in ihr der Wille unmittelbar objektiviert, d. h. ohne zuvor37 in die Form der Ideen eingegangen zu sein.38 „Denn die Musik ist wie gesagt, darin von allen anderen Künsten verschieden, daß sie nicht Abbild der Erscheinung oder richtiger, der adäquaten Objektität des Willens, sondern unmittelbares Abbild des Willens selbst ist [...]“. (366) Die Musik ist auf gleicher Ebene mit den Ideen; beiden ist nur der Wille als Ding an sich noch ontologisch vorgeordnet. Ihre Gemeinsamkeit mit den anderen Künsten besteht in ihrem Verhältnis eines Abbildes zum Vorbild Willen. Die Musik wird als die wirkungsmächtigste Kunstform vorgestellt, denn während die anderen Künste vom Schatten des Willens sprächen, rede die Musik vom Wesen des Willens.39 (359) Mit den Ideen hat die Musik ihren Grad an Allgemeinheit gemeinsam. Hier sind es jedoch nicht die allgemeinen Formen der Willenserscheinungen, sondern deren allgemeiner Inhalt, die Willensaffektionen. Die Musik sei „die Sprache des Gefühls und der Leidenschaften, sowie Worte die Sprache der Vernunft“ seien und bringe daher das „tiefste Innere unseres Wesens zur Sprache“. (362 bzw. 357) In der Musik zeigen sich Gefühle, Leidenschaften, Affekte und Stimmungen, welche Schopenhauer alle unter dem weiten Begriff des Gefühls 40 zusammenfaßt, in ihrem An-sich, da sie losgelöst von jedweder Individualität sind. 41 Die Musik ist eine so allgemeine Sprache, daß sie von jedem intuitiv erkannt wird, weshalb ihr von allen ‘Abbildern’ des Willens der 37Hier ist im logischen Sinne ein Prius zu denken, kein zeitliches Früher. 38Die Musik schließt damit eine Erkenntnislücke in der Philosophie Schopenhauers, insofern durch die Vielheit der Ideen nicht eigentlich einsichtig wird, warum der Wille als das alleinige Prinzip in allem sein sollte. Erst in der Musik zeigt sich der Wille als monistisches Prinzip ungebrochen. 39Hier unterminiert Schopenhauer allerdings seine Ideenlehre beträchtlich. Die Ideen werden hier als bloßer Schatten des Willens vorgestellt. Während die Musik ein unmittelbares Abbild des Willens ist, reduziert Schopenhauer die anderen Künste darauf ein Abbild des Abbildes zu sein. (Vgl. u. a. Neymeyr, a.a.O., S. 339f.) 40Bereits in seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen beschäftigt Schopenhauer sich mit dem Begriff Gefühl. Dort kritisiert er, daß in diesem Begriff die verschiedenartigsten ‘Gefühle’ undifferenziert zusammenfallen. Die Ursache hierfür sieht er in der Vernunft: Der Begriff Gefühl habe nur negativen Inhalt, denn er bezeichne etwas, was im Bewußtsein gegenwärtig sei, aber nicht in abstrakter, begrifflicher Form. Die Vernunft erfasse unter diesem weiten Begriff alle Bewußtseinsinhalte, die nicht unmittelbar ihrer Vorstellungsweise zugehören und für sie also ‘Fremde’ seien. (95f.) 41Schopenhauer dazu: „Sie [die Musik, R.D.] drückt daher nicht diese oder jene einzelne und bestimmte Freude, diese oder jene Betrübnis oder Schmerz oder Entsetzen oder Jubel oder Lustigkeit oder Gemütsruhe aus; sondern die Freude, die Betrübnis, den Schmerz, das Entsetzen, den Jubel, die Lustigkeit, die Gemütsruhe selbst, gewissermaßen in abstracto, das Wesentliche derselben ohne alles Beiwerk, also auch ohne Motiv dazu.“ (364) 16 höchste Wahrheitswert zukommt. (358) Stimmungen, Gefühle und Affekte erfahren in Schopenhauers Musktheorie ihre ontologische Fundierung.42 Befreit die Erkenntnis der Ideen den Menschen von seiner Individualität, so bleibt für sie doch die Subjekt-Objekt-Relation konstitutiv. Im Erlebnis der Musik nun wird die Struktur von Subjekt und Objekt noch hintergangen: nicht nur die Individualität löst sich hier auf, sondern Subjektivität schlechthin. Die Differenz zum Willen an sich liegt nur noch im Verhältnis von Vorbild und Nachbild. Die Musik ist die vollendendste43 aller Künste, denn sie ist frei von aller sinnlichen Gegenständlichkeit und erscheint allein im Medium der Zeit. Schopenhauers These ist es, daß die Musik die Zeit in ihrer reinen Form zeige. 44 Die Zeit wird in der Musik für den Menschen nicht erst durch substantielle Veränderungen wahrnehmbar, sondern ist hier reine, materielose Bewegung. In der Melodie erkennt Schopenhauer das menschliche Streben, daß sich als ein Abirren und Wiederfinden des Grundtones zeigt. (362f.) Wird die Musik als ein Bild der Zeit gelesen, dann zeigt sich die Melodie als die lineare, sukzessive Zeit, die hier jedoch noch auf ihren Grund, nämlich den Grundton zurückgeführt wird. Den Grundton analogisiert Schopenhauer sowohl mit dem Punkt der Befriedigung als auch mit der Langeweile. Kehrt die Melodie aus ihren Abweichungen zum Grundton zurück, dann bezeichne das den Punkt der Befriedigung; da ein angehaltener Grundton sich aber als Monotonie kundtun würde, die dem Menschen unerträglich sei, so kehre die Melodie sich wieder von ihm ab. (363) Die Langeweile wird somit in den Status eines Grundes gehoben, von dem die Melodie / das Streben / die sukzessive Zeit allererst ihren Ausgang nimmt. Wird die Melodie als musikalische Beschreibung der Pendelbewegung gelesen, als welche Schopenhauer das menschliche Dasein beschrieben hat, dann zeigt sich eine Verkehrung des Grundes. Hatte Schopenhauer in seiner phänomenologischen Betrachtung des menschlichen Lebens den Mangel, also die Not, den Schmerz und die Sorge als das Primäre verstanden, welches das Streben der Menschen zunächst motiviert, verkehrt sich hier das Verhältnis. Aus der metaphysischen Perspektive der Musik ist die Langeweile selbst der Grund, von dem aus sich das menschliche Streben als Flucht vor diesem Grund herausstellt, da er für den Menschen nicht auszuhalten sei, gleich dem angehaltenen Grundton in der Musik. Die Musik bietet die Möglichkeit zu der Erkenntnis, daß eine dauerhafte Befriedigung für den Menschen im Leben nicht möglich sei. Der Grund tut sich hier als Abgrund auf, den es zu transzendieren gilt. Schluß 42Dies ist besonders wichtig im Hinblick auf Schopenhauers Mitleidstheorie. Dem Mitleidsaffekt bürdet er eine ungeheure Erkenntnislast auf, deren Konsequenz bis zur Willensverneinung reicht. 43Wolfgang Korfmacher: Ideen und Ideenerkenntnis in der ästhetischen Theorie Arthur Schopenhauers. Pfaffenweiler 1993, S. 70. 44Für Schopenhauer ist die Musik die unmittelbare Darstellung von Zahlenverhältnissen. (369) Bereits im ersten Buch hatte er die Zahl als eine rein zeitliche Größe definiert. (99) 17 Abschließend gilt es noch einmal, nach dem systematischen Ort und dem Stellenwert der Langeweile in Schopenhauers Konzeption von 1819 zu fragen. Das von Schopenhauer aufgezeigte Dilemma des Menschen - ihm eignet ein permanent strebender Wille, den er jedoch nur als ein konkretes Wollen von etwas erkennen und befriedigen kann - zeigt sich in der Langeweile als scheinbares. Denn die Zukunft ist nur eine Vorspiegelung der Vernunft und entsteht erst im Zusammenhang mit der Objektbezogenheit des Menschen. Die Objektbezogenheit verschleiert somit das Daß des Strebens / des Willens, dem es nicht auf die Objekte selbst ankommt. Mit Nietzsche gesagt, ist die Objektanbindung des menschlichen Strebens lediglich eine ‘lebensförderliche Fiktion’. Diese Fiktion wird in der Langeweile destruiert, insofern durch das wiederholte Erlebnis der Langeweile die Hoffnung auf Befriedigung und Glück zerstört wird. Dagegen zeigt sich, daß zwischen der Befriedigung eines Strebens und der Langeweile lediglich eine temporäre Differenz besteht. In der Langeweile fällt der Zukunftshorizont aus und das Daß des Willens wird zunächst einmal als leeres, objektloses Sehnen erfahren. Soweit der phänomenologische Befund. Die Langeweile als Zustand hingegen erschöpft sich nicht - und hierin mag man die Grundintension der vorliegenden Arbeit erkennen - in der Rückverweisung des Menschen auf die Daßhaftigkeit seines Strebens. Steigert sich die Langeweile zu einer Indifferenzerfahrung, so wird selbst das Daß des Strebens noch hintergangen. Der Grund tut sich als Abgrund auf und der Mensch stößt an die Grenzen seiner Individualität. Nach Schopenhauer stößt er damit auf die Leere seines eigenen Nichts: das Nichts der Langeweile. Die Indifferenz führt zur Handlungsunfähigkeit und macht so die Negativität des Daseins sichtbar. Die ‘Last des Daseins’ besteht demnach in der Negativität, welche als grundloses Sein sich in der Langeweile offenbart. In der Philosophie Schopenhauers stellt sich die Langeweile als ein Phänomen dar, in dem sich ‘Daseins als solches’ in seiner höchsten Negativität erschließt. In ihr kulminiert das Leiden des Menschen. Damit sind allerdings zugleich die Grenzen der Erschließungsmöglichkeit beschrieben, welche die Langeweileerfahrung im System Schopenhauers einnimmt. Das Erlebnis der Langeweile kann bei Schopenhauer nicht, wie z.B. bei Heidegger, auf der Spitze der Negativität in ein Anderes umschlagen. In der Langeweile kann zwar der Grund als Abgrund erfahrbar, nicht aber transzendiert werden.