Krisengebiete

Werbung
Von Anarchie
bis Zeitgeist
Krisengebiete
Dr. B. Reiters
Lexikon des
philosophischen
Alltags
Philosophisches Wissen
für den Alltag in vier Bänden :
Krisengebiete
Übersinnliches
Wesen
Zustände
Dr. B. Reiters
Lexikon des
philosophischen
Alltags
Krisengebiete
von Anarchie
bis Zeitgeist
J. B. Metzler Verlag
Der Herausgeber
Dr. B. Reiter lebt als freier Autor in Stuttgart. Unter
anderem beantwortet er als Spezialist für philosophische
Aufklärung regelmäßig Leserfragen im Journal für Philosophie der blaue reiter und bei facebook.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de
abrufbar.
ISBN 978-3-476-02687-3
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des
Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
Ver vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und
die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen
Systemen.
© 2016 J. B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart
www.metzlerverlag.de
[email protected]
Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem und
alterungsbeständigem Papier
Einbandgestaltung : Finken & Bumiller
Typografie und Satz : Tobias Wantzen, Bremen
Druck und Bindung : TenBrink, Meppel, Niederlande
Inhalt
Vorwort 7
Aggression 11
Anarchie und Anarchismus 16
Arbeitslose 21
Betteln, Bettler, Bettel 27
Doping 32
Einparken, rückwärts 37
Ethischer Egoismus 44
Freiheit der Information 50
Fremdgehen 55
Gefängnis 59
Gerechter Krieg 62
Klatsch 69
Krise, Wirtschaftskrise 76
Menschenrechte 81
Monopoly 85
Paradigmenwechsel 89
Peepshow 94
Philosophie als Wissenschaft 98
Revolution 104
Shopping 110
Sodomie 115
Tabu 122
Vaterland 127
Verstand und Vernunft 133
Völkerfreundschaft 139
Wachstum 143
Welt 150
Zeitgeist 153
Zins, Wucher und Zinsverbote 154
Inhalt ▮ 5
Vorwort
Das 21. Jahrhundert gilt weithin als Zeitalter von Bildung und
Wissen. Während Sokrates sich nach eigenem Bekunden mit
dem Wissen beschied, nichts zu wissen, hält es unsere Zeit eher
mit Francis Bacon, der konstatierte : Wissen ist Macht ! Entsprechend feierte das Onlinelexikon Wikipedia einen unvergleichlichen Siegeszug. Sind die dort gespeicherten, beständig aktualisierten Informationen doch jederzeit kostenlos abrufbar.
Nach über 15 Jahren eifrigen Wirkens sogenannter Schwarmintelligenz mutierte Wikipedia zwischenzeitlich allerdings zu
einem Monument der Überproduktion sinnentleerter Daten.
Die interessantesten wie die banalsten Sachverhalte werden in
uferloser Ausführlichkeit erläutert. Wehe dem, der meint, mittels Wikipedia lernen zu können, was ein grammatisches Subjekt oder ein mathematisches Integral ist. Er wird sich in einem
Urwald aus Querverweisen verirren ! Urteilskraft oder gar Weisheit, diejenigen Vermögen also, die Antworten darüber liefern,
wann welche Informationen und welche Formen des Wissens
relevant sind, wird solchermaßen nicht vermittelt.
Damit der Einzelne der Macht des Wissens nicht ohnmächtig gegenüber steht, benötigt er neben Fakten vor allem ein
Wissen über die Gründe seines Handelns. Darüber hinaus muss
jeder lernen, die Datenflut des Alltags zu sortieren und in sinnvolle Zusammenhänge zu bringen. Denn die Rede vom glücklichen und gelingenden Leben meint nicht, wie eine Maschine
mittels Algorithmen und messerscharfer Logik sein Leben zu
bestreiten, sondern dieses nach seinen eigenen Maßgaben zu
gestalten. Erst solchermaßen wird der Mensch als Subjekt erkenntlich und kann im Gegensatz zu einem Kleinkind für sein
Tun und Lassen auch verantwortlich gemacht werden.
Die Erfahrung, dass wir nur allzu oft bis an die Zähne mit
Faktenwissen bewaffnet den Widerfahrnissen des Lebens ratlos gegenüber stehen, fasste Wilhelm Busch in unvergleichlicher Klarheit in einen Vierzeiler :
Vorwort ▮ 7
Zwei mal zwei gleich vier ist Wahrheit.
Schade, dass sie leicht und leer ist,
Denn ich wollte lieber Klarheit
Über das, was voll und schwer ist.
In der Tat mangelt es in unserer Zeit weniger an wissenschaftlichen Wahrheiten und lebensfernem Spezialistentum als vielmehr an einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem
an schwierigen Problemen und Fallstricken so reichen Alltag.
Ist es doch allemal besser, in einem Topf voll Sahne, aus dem es
kein Entkommen gibt, so lange zu strampeln, bis man sich gemütlich auf einem Butterberg ausruhen kann, als in einer sahnegleichen, genauso leicht verdaulichen wie sinnlosen Flut an
Informationen zu ertrinken.
Wenden wir uns also dem Alltag zu, am besten gleich dem
der Philosophen. Dem Schönen, Wahren und Guten verpflichtet, wandeln sie in der festen Überzeugung, dass die »Königin der Wissenschaften« zu allem etwas zu sagen hätte, dandygleich mit stolz geschwellter Brust durch sämtliche Bereiche
des Wissens. Als Wissenschaftstheoretiker erklären sie den
Naturwissenschaftlern, auf welch dünnem theoretischen Fundament diese die Welt mit ihren Experimenten zu ergründen
suchen, als Technikfolgenabschätzer zeigen sie der Industrie
unablässig Chancen wie Gefahren von deren Tun auf, als Ethiker belehren sie Mediziner darüber, was diese in welchen Lebensphasen ihrer Patienten tun und unterlassen sollten und
gegenüber den Theologen postulierte schon mancher gar einen eigenen Gott, den »Gott der Philosophen«. Doch während
Techniker unter Zuhilfenahme der Erkenntnisse von Mathematik, Physik und Chemie so nützliche Geräte wie Atombomben, elektrische Zahnbürsten und Epiliergeräte konstruieren,
Mediziner zwischenzeitlich schon bei Säuglingen Herztransplantationen vornehmen und Theologen auf wundersame
Weise Sinn auch für noch so von den Tatsachen des Lebens Deprimierte zu erzeugen vermögen, scheinen Philosophen vor
8 ▮ Vorwort
den Anforderungen des wirklichen Lebens kläglich zu versagen. Das Verdikt, geistesabwesende Schöngeister zu sein, die
für die Lebenswirklichkeit keinen Sinn hätten, eilt ihnen voraus. Die Entdeckung eines Sterns, dessen Existenz nicht in die
Theorie seines Systems passte, kommentierte der Geistesheroe
Georg Wilhelm Friedrich Hegel vorgeblich lapidar mit : Umso
schlimmer für den Stern ! Entsprechend werden Philosophen
nicht immer ohne Anlass oder Grund gleichermaßen als Geistesriesen verehrt wie als Lebenszwerge verspottet. Doch genau darin liegt ihre Qualifikation begründet ! Denn wenn sich
das Philosophieren im Allgemeinen und Philosophen im Besonderen im Alltag bewähren müssen, ist dies seit Jahrtausenden nur im Krisenmodus möglich. Philosophinnen und Philosophen sind also entgegen ihrem Ruf nicht Mägde der Theologie und auch nicht Steigbügelhalter der Naturwissenschaften,
sondern Spezialisten für die Krisengebiete des Alltags. Wer also
wäre aus Erfahrung berufener, ein philosophisches Lexikon für
den Alltag zu verfassen, als ebendiese ? Während Fachgelehrte
einem geflügelten Wort Egon Fridells zufolge Menschen sind,
die nur die eine Seite irgendeiner Wahrheit erblickt haben, bewährten und bewähren sich Philosophen allzeit als Spezialisten für die umfassende und dauerhafte Krise, die weithin Leben genannt wird. Entsprechend sind ihnen als Mädchen für
alles weder Schoßgebete noch Feuchtgebiete fremd, wissen sie
über Diät, Doping und Dagobert Duck ebenso zu parlieren wie
über den Klatsch, das Gefängnis und den gerechten Krieg. Dabei
kennen sie kein Tabu und berichten im vorliegenden ersten
Band der Reihe Dr. B. Reiters Lexikon des philosophischen Alltags
über Krisengebiete wie Peepshows, Sodomie und Shopping genauso Erhellendes wie über das Gesellschaftsspiel Monopoly, das
Vaterland, die Völkerfreundschaft oder den Zins.
Wo das Leben beginnt, hört die Wissenschaft auf, und wo
die Wissenschaft beginnt, hört das Leben auf – dieser Einsicht
folgend, soll die vorliegende Zusammenstellung von Lexikonartikeln aus dem halbjährlich erscheinenden Journal für PhiloVorwort ▮ 9
sophie der blaue reiter (www.derblauereiter.de) nicht nur Philosophen eine Brücke bauen in das, was wir Alltag und Leben
nennen.
Das vorliegende Buch verdankt sich dem unermüdlichen Bemühen der Redaktion und der Autoren des halbjährlich erscheinenden Journals für Philosophie der blaue reiter, philosophisches Denken über die engen Grenzen des universitären
Rahmens hinaus einem breiten Publikum nahezubringen. Nur
so konnte ein Lexikon des philosophischen Alltags entstehen, das
wissenschaftlich fundiertes philosophisches Denken für den
Alltag fruchtbar macht.
Überaus dankbar bin ich auch allen Testlesern des Journals
für Philosophie der blaue reiter, denen es immer wieder gelingt,
die Philosophen auf den Boden der Tatsachen zu holen, sowie
allen Mitarbeitern des zugehörigen Verlags der blaue reiter, die
mithalfen, dass dieses Lexikon erscheinen konnte. Namentlich
erwähnt sei hier vor allem Monika Urbich, die in mühevoller
Kleinarbeit die Texte aus den Druckdateien des Journals extrahierte und das Manuskript in eine druckfähige Fassung überführte.
Nicht zuletzt bin ich dem Leiter des Verlags J. B. Metzler,
Dr. Jörn Laakmann, zu Dank verpflichtet, der das Wagnis einging, ein so außergewöhnliches Projekt zu realisieren, sowie
der tatkräftigen Unterstützung von dessen Mitarbeitern. Dank
schulde ich vor allem der Lektorin für Philosophie, Franziska
Remeika, die sich für die Idee eines Lexikons des philosophischen Alltags sofort begeistern ließ und wesentliche Ideen zur
Konzeption und zur Gestaltung desselben beisteuerte.
Dr. B. Reiter ▮
10 ▮ Vorwort
Aggression
entlehnt vom lateinischen aggressio für »kriegerischer Angriff«,
zu lateinisch aggredi für »heranschreiten, angreifen«.
Als psychologischer Begriff im Sinne eines schädigenden
Verhaltens gegenüber Personen, sich selbst oder Gegenständen ist der Begriff der Aggression seit Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Psychologieforschung nicht mehr wegzudenken.
Den Grundstein dazu legten Sigmund Freud und Alfred Adler
in ihrer Wiener Zusammenarbeit 1902 bis 1911. Seitdem sind
die unterschiedlichsten Theorien zur Erklärung menschlicher
Aggression entwickelt worden.
Die in den Anfängen der psychologischen Forschung führenden Erklärungsansätze sind die Trieb- und Instinkttheorien. Sie verweisen meist auf Ansätze der Stammesgeschichte
des Menschen. Aggression sei von Natur aus gegeben, diene
der Arterhaltung und werde als dominantes Merkmal in der
Auslese der Evolution weitergegeben.
In der Psychoanalyse Sigmund Freuds stellt die Aggression
einen besonderen und selbstständigen Trieb dar, eine »angeborene Neigung des Menschen zum ›Bösen‹, zur … Destruktion und damit auch zur Grausamkeit«. Freud bezieht sich hier
auf Thomas Hobbes’ Grundthese homo homini lupus (lateinisch
für »Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf«). Verantwortlich
für diese Neigung sei der Todestrieb, der sich, teilweise als Aggression erkennbar, nach außen wendet. Die Theorie des Todestriebs führt Freud, geprägt durch den Ersten Weltkrieg, erst
1920 in seiner Schrift Jenseits des Lustprinzips ein. Er bildet den
Gegenspieler zum Eros (Lebenstrieb), demjenigen Trieb, der
zur Ich-Erhaltung und Fortpflanzung dient. Der Selbstzerstörungstrieb, zu dem Freud auch Sadismus und Masochismus
zählt, strebe nach Auflösung in einen uranfänglichen, anorganischen Zustand.
Die Kultur, schreibt Freud 1930 in seiner Abhandlung Das
Unbehagen in der Kultur, sei das größte Hindernis, AggressionsAggression ▮ 11
Dr. B. Reiters (Hrsg.), Dr. B. Reiters Lexikon des philosophischen Alltags: Krisengebiete,
DOI 10.1007/978-3-476-05620-7_1, © 2016 J. B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart
neigungen auszuleben. Sie müsse alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen. Dabei
habe der Kulturmensch ein Stück Glücksmöglichkeit – also das
Glück, uneingeschränkt seinen Trieben zu folgen – gegen ein
Stück Sicherheit eingetauscht. Die Aggression als triebhafte
Leidenschaft könne so kontrolliert werden. Die Aufgabe, die
Aggressionslust zu bewältigen, übernehme im Individuum die
Instanz des Über-Ichs. Von einem ursprünglichen, natürlichen
Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse dürfe man nicht
ausgehen, da das Böse oft gar nichts Schädliches oder Gefährliches für das Ich mit sich bringe, sondern im Gegenteil auch
Vergnügen bereiten könne. So entstehe ein Schuldbewusstsein
nur durch Einfluss von außen, aus Angst vor Liebesverlust, einer sozialen Angst, die sich zum Über-Ich und damit zu einem
Gewissen weiterentwickelt : »Der (uns von außen auferlegte)
Triebverzicht schafft das Gewissen, das dann weiteren Triebverzicht fordert.«
Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz entwirft in seiner
1963 veröffentlichten Schrift Das sogenannte Böse eine Theorie
der menschlichen Aggression, basierend auf an Tieren studiertem Verhalten. Er geht in seiner dargestellten Trieblehre davon
aus, dass Aggression ein zwangsläufiges, auf Instinkten basierendes Verhalten ist, das der Arterhaltung dient. Seine Theorie
kennt vier Triebe : den Nahrungstrieb, den Fortpflanzungstrieb,
den Fluchttrieb und den Aggressionstrieb. Sie sind angeborene
Mechanismen, die das äußere Reizangebot strukturieren. Bei
aggressivem Verhalten komme es nicht zur Tötung von Artgenossen. Lorenz geht davon aus, dass eine angeborene Tötungshemmung das Verhalten reguliert. Gewissen und bestimmte
ethische Normen seien ebenfalls angeboren und beruhen unter anderem auf stammesgeschichtlicher Anpassung. Jedoch
die moderne Waffentechnik wie auch die anonyme Massengesellschaft haben dieses Gleichgewicht gestört : »Der Mensch ist
gar nicht so böse von Jugend auf, er ist nur nicht ganz gut genug
für die Anforderungen des modernen Gesellschaftslebens.«
12 ▮ Aggression
Ohne Abführung der aggressiven Energie, die sich ständig
neu bilde, könne dies zu gefährlichen Stauungen und erhöhter
Aggressionsbereitschaft führen. Lorenz zeigt diese »Dampfkesseltheorie« an einem Beispiel der Buntbarsche auf : »An gefangen gehaltenen Buntbarschen … kann eine ›Stauung‹ der Aggression, die unter natürlichen Lebensbedingungen am feindlichen Reviernachbarn abreagiert werden würde, ungemein
leicht zum Gattenmord führen.« Als Ersatzhandlung, die den
Aggressionstrieb in gesellschaftlich regulierte Bahnen leitet,
schlägt Lorenz unter anderem den sportlichen Wettkampf vor.
Diese Ventilfunktion findet besonders in der Katharsis-Hypothese Beachtung, die besagt, dass aggressive Energie durch alternative Verhaltensweisen abgebaut werde, die aggressive
Person sich also ganz im Sinne des aristotelischen Begriffs der
Katharsis von ihrer Aggressivität »reinigen« könne.
Eine Weiterentwicklung zu Trieb- und Instinkttheorien
und vor allem zu einem frühen Theorieansatz Freuds stellt die
für mehrere Jahrzehnte vorherrschende Theorie der Frustrations-Aggressions-Hypothese dar, die auf der 1939 von der so
genannten Yale-Gruppe (J. Dollard, L. Doob, N. Miller, O. Mowrer, R. Sears) veröffentlichten Schrift Frustration and Aggression
basiert. Demnach werde aggressives Verhalten durch einen
frustrationsbedingten Trieb motiviert, wobei sich die Aggression nicht auf den Ursprung der Frustration beziehen müsse,
eine Ziel- oder Reaktionssubstitution sei möglich. Dabei sind
zwei Thesen grundlegend :
1. Aggression ist immer eine Folge von Frustration.
2. Frustration führt immer zu einer Form von Aggression.
In der Fortentwicklung wurde diese kausale Verknüpfung abgeschwächt. Aggression sei demnach nur als die dominante,
nicht als die zwangsläufige Reaktionstendenz zu werten, und
Frustration erhöhe einfach die Bereitschaft für Aggression. Leonard Berkowitz nimmt unter anderem in Aggression : A Social
Psychological Analysis von 1962 eine genauere Definition der
Aggression ▮ 13
psychischen Abläufe vor und entwickelt eine Theorie aggressiver Hinweisreize. Zwischen der Frustration und ihrer Auswirkung stehe ein Zwischenzustand emotionaler Erregung. Diese
Emotion – Ärger – erhöhe die Bereitschaft zu aggressivem
Handeln. Die Bereitschaft werde aber vor allem durch so genannte Hinweisreize ausgelöst. Diese erwerben als Folge klassischen Konditionierens ihre Eigenschaft als Hinweisreize für
Aggression. Solche Reize können Personen, Situationen oder
auch Gegenstände sein wie zum Beispiel Waffen.
Den Trieb- und Instinkttheorien stehen die lerntheoretisch
motivierten Erklärungsversuche gegenüber. Die Lerntheoretiker gehen davon aus, dass eine gewählte Handlung bereits im
Verhaltensrepertoire enthalten, also erlernt sein muss. Im Fall
der Aggression gebe es keinen angeborenen Trieb, denn bereits
die Bereitschaft zur Aggression sei einem Lernprozess unterworfen. Die einfachste Erklärungsform liefert das klassische
Konditionieren nach Iwan P. Pawlow, das Berkowitz in seiner
Theorie der Hinweisreize hinzuzieht. Durch eine Reizkopplung
werden dem neutralen Reiz neue Bedeutungen zugewiesen, er
wird zum bedingten Reiz – so wie einem konditionierten Hund
schon beim ehemals neutralen Reiz eines Glockentons sozusagen das Wasser im Mund zusammenläuft. Wirklich neues Verhalten, das nicht auf natürliche Reflexe aufbaut, wird mit dem
instrumentellen oder operanten Konditionieren erklärt. Hierbei bieten Erfolgserlebnisse und positive Verstärkungen wie
attraktive Gegenstände, soziale Anerkennung oder Schmerzvermeidung Anreize, ein Verhalten zu erlernen. Jedoch lassen
sich auch hier Grenzen aufzeigen. Der amerikanische Psychologe Albert Bandura beginnt in den 1960er Jahren, dem Modelllernen eine entscheidende Position einzuräumen und darauf basierend eine umfassende Theorie menschlichen Verhaltens zu entwickeln. Im Mittelpunkt stehen dabei Beobachtung
und Nachahmung. Bandura führte verschiedene Laborexperimente mit Puppen durch. Eine Person zeigte dabei verschiedenste Verhaltensformen im Spiel mit den Puppen. Die getes14 ▮ Aggression
teten Kinder ahmten vor allem das aggressive Verhalten nach.
Am stärksten war die Nachahmung, wenn die Person für ihr
Schlagen auf die Puppe belohnt worden war. Das Ergebnis blieb
auch dasselbe, wenn die Person in einem Videofilm zu sehen
war oder durch eine Comicfigur dargestellt wurde. Auf Grund
dieser Forschungsergebnisse bietet das Lernen am so genannten Modell auch eine theoretische Grundlage für die Auseinandersetzung mit Gewaltdarstellungen in Film und Fernsehen.
Als Gegenposition zu Bandura wird hier gerne auf die Katharsis-Hypothese zurückgegriffen, wonach das Sehen von Gewalt
zu einer befreienden Ersatzhandlung deklariert wird. Die Verarbeitungsprozesse sind jedoch so komplex, dass eine Kausalverbindung zwischen Gewalt sehen und Gewalt ausüben beziehungsweise gerade nicht ausüben nicht pauschal ermittelt werden kann.
Der Aggressionsforscher Herbert Selg, ein Vertreter der
Lerntheorie, plädiert dafür, Kinder in einer Umwelt aufwachsen zu lassen, die auf Solidarität und Kooperation beruht und
somit weniger aggressive Modelle im Lernprozess zur Verfügung stelle. Er sieht die alte Frage, ob der Mensch gut oder böse
sei, als überholt an. Der Mensch sei lernfähig, und das sei immerhin optimistisch zu werten, jedoch »wenn auch kein Todestrieb in unseren Genen steckt, nistet … vielleicht eine tödliche Dummheit in unseren Köpfen, die es bewirken könnte,
dass die Menschheit auf große, selbstgemachte Katastrophen
zusteuert.«
Monika Reutter ▮
Anmerkungen
1 Eine der ersten psychologischen Schriften zum Thema Aggression,
Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose von Alfred Adler,
stammt aus dem Jahr 1908. Die Theorieansätze Adlers blieben jedoch
im Vergleich zu denen Freuds eher unbekannt.
2 Freud, Sigmund : Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt a. M./Hamburg
1953, S. 159, 169.
3 Lorenz, Konrad : Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression.
Wien 1963, S. 372, 83.
Aggression ▮ 15
4 Der Begriff der Katharsis (altgriechisch für »Reinigung«) stammt aus
der aristotelischen Poetiktheorie : Die Tragödie löse Erregungszustände
wie Jammern und Schaudern aus und reinige dadurch die Zuschauer
von diesen Affekten.
5 Das klassische Konditionieren geht auf Experimente Iwan P. Pawlows
zurück, der automatisch ablaufende Reiz-Reaktions-Ketten (Geruch
von Nahrungsmitteln führt zu verstärkter Speichelproduktion) mit
neuen so genannten neutralen Reizen kombinierte und derart seinem
Versuchsobjekt, einem Hund, neues Verhalten antrainierte. Die Speichelproduktion setzt beim »Pawlowschen Hund« allein auf Grund des Ertönens einer Glocke ein, obwohl er das erwartete »Fressen« weder sieht
noch riecht. Beim operanten beziehungsweise instrumentellen Konditionieren gibt nicht die Verschiebung eines neutralen in einen bedingten
Reiz, sondern ein Erfolgserlebnis den Ausschlag zur Verhaltensänderung – das neue Verhalten wird positiv verstärkt.
6 Siehe hierzu das Kapitel »Gewalt und Fernsehen« in : Moser, Heinz :
Einführung in die Medienpädagogik. Aufwachsen im Medienzeitalter.
Opladen, 2. Auflage 1999, S. 175–196.
7 Selg, Herbert : Psychologie der Aggressivität. Göttingen/Bern/Toronto/
Seattle, 2. Auflage 1997, S. 37.
Weiterführende Literatur
Bandura, Albert : Aggression : Eine sozial-lerntheoretische Analyse ( Aggression –
A Social Learning Analysis 1973). Stuttgart 1979.
Stroebe, Wolfgang/Jonas, Klaus/Hewstone, Miles (Hg.) : Sozialpsychologie.
Eine Einführung. Berlin/Heidelberg/New York, 4. Auflage 2002.
Als Grundlage aktueller Aggressionsforschung eignet sich das Kapitel
»Aggressives Verhalten« von Amélie Mummendey und Sabine Otten,
S. 353–380.
Anarchie und Anarchismus
Das altgriechische Wort an-archia ist aus dem verneinenden
Präfix an- (nicht, un-) sowie archein (vorangehen, Führer sein,
herrschen) gebildet und bezeichnet in der Antike Machtkonstellationen, die anarchos, das heißt ohne Regierung im engeren
Sinne, aber auch »ohne Führung« im weiteren Sinne sind. Die
vormalige politische Macht, aber auch die militärische Befehls16 ▮ Anarchie und Anarchismus
gewalt hat entweder aufgehört oder sie ist zwar noch vorhanden, wird jedoch nicht mehr anerkannt.
Als Übergangsphase werden derartige Verhältnisse nicht erfahren. Eher als manifeste Krise der politischen Kultur, weil
bislang verbindliche Ordnungs- und Machtstrukturen offenkundig versagen, ohne dass sie durch eine Obergewalt außer
Kraft gesetzt wurden. Sie sind stattdessen eher das Ergebnis
einer Empörung oder auch eines Aufstands.
Die damit einhergehenden Verhältnisse werden häufig extrem negativ gewertet als chaotische Zustände von Willkür
und Gesetzlosigkeit. Platon, der bereits die Demokratie zu den
ungerechten Herrschaftsformen zählt, bewertet die Anarchie
als Zustand allgemeiner sittlicher Zügellosigkeit. Seiner politischen Anthropologie (Lehre vom Menschen) zufolge ist der
demokratische Mensch nicht Herr seiner Begierden ; ein allgemeiner Freiheitsdrang müsse zur völligen Gesetzeslosigkeit
führen, um dann in die Tyrannei umzuschlagen. Allerdings
wird im Altertum eine Ordnungsvorstellung unterlegt, die den
politischen Erfahrungen der Neuzeit und der Moderne nicht
mehr entspricht.
Erst im 17. und insbesondere im 18. Jahrhundert tritt neben die fast durchgehend abwertende Bedeutung von Anarchie
eine dem Griechischen nur entlehnte Neuprägung »Anarchismus«. In lexikalischen Darstellungen werden häufig beide Begriffe aufeinander bezogen. Anarchismus wird aus Anarchie abgeleitet, so dass der Anarchist als Anhänger oder Befürworter
von Anarchie dargestellt wird. Die direkte Ableitung von Anarchismus aus Anarchie ist jedoch unzulässig. Einer auf das klassische Verständnis von Anarchie zurückgreifenden politischen
Rhetorik geht es dabei häufig eher um die Denunziation der
Utopie (von altgriechisch utopos : anderer Ort, hier : Wunsch-,
Fernziel) des Anarchismus als um die Rekonstruktion der Beweggründe und der Differenzen.
Einer der frühen Vertreter des Anarchismus, William Godwin, der sich selbst nicht als solcher bezeichnet hat, weist daAnarchie und Anarchismus ▮ 17
rauf hin, dass der Anarchie in der Geschichte der Menschheit
weitaus weniger Menschen zum Opfer gefallen seien als der
Despotie. Ohnehin sei sie nur ein vorübergehender Zustand,
während die Despotie Jahrhunderte überdauern könne.
Der utopischen Variante von Anarchie liegt sehr wohl ein
Ordnungsmodell zugrunde, das allerdings durch Selbstorganisation in einer Gemeinschaft der Freien zustande kommen muss.
Der Anarchismus bezieht sich auf die Utopie einer selbstorganisierten Lebenswelt, die sich entweder gänzlich, zumindest aber weitestgehend frei gemacht hat von jeglicher Form
der Fremdbestimmung in sämtlichen Sektoren des Lebens. Die
Programmatik »Keinen Gott und keinen Meister« anerkennen
zu wollen, zielt auf Verhältnisse, in denen die vermeintliche
Notwendigkeit von Herrschaft entfallen ist. Hier sollte zwischen einem theoretischen und einem praktischen Anarchismus unterschieden werden, denn die von der Utopie ausgehenden Visionen führen gerade in der Praxis zu einer revolutionären Ungeduld, die in der Wahl der Mittel von einem theoretisch
inkonsistenten Aktionismus geprägt ist. Dieser unterscheidet
sich in seiner Unmenschlichkeit mitunter nicht mehr von derjenigen, gegen die er seine Aktivitäten richtet. Bezeichnenderweise wird der Begriff Anarchie für die erwünschten idealen
Verhältnisse häufig auch von Anarchisten nicht verwendet. Anstelle dessen wird etwa von Liberalismus, Föderalismus, Sozialismus oder auch von einem Syndikalismus gesprochen.
Im Zuge der Französischen Revolution wird Anarchismus zu
einem gängigen Schlagwort, und erstmals wird sich Pierre Joseph Proudhon selbst als Anarchisten bezeichnen. Er mochte
nun unter Anarchie nicht mehr Unordnung und Chaos verstanden wissen, sondern kennzeichnend sei vielmehr die Abwesenheit eines jeden Herrschers. Die Auflösung jeglicher Herrschaft
des Menschen über den Menschen verspricht sich Proudhon
von der Wissenschaft. Gerade die moderne Wissenschaft ist
gekennzeichnet von einer entscheidenden Parallele zum Anarchismus. Auch hier kann kein Autoritätsprinzip Geltung bean18 ▮ Anarchie und Anarchismus
spruchen, sondern allein die Qualität der wissenschaftlichen
Arbeit selbst. Im Anschluss daran forderte Michael Bakunin in
seinem »revolutionären Katechismus« anstelle der überkommenen religiösen, politischen, ökonomischen und sozialen
Institutionen die Neubegründung einer Gesellschaft auf der
Grundlage von Freiheit, Vernunft, Gerechtigkeit und Arbeit,
die geprägt sein sollte von der gemeinsamen Nutzung und Verwaltung der Produktionsgüter.
Aus dem Kreis der Berliner Junghegelianer entwickelt Max
Stirner anstelle kollektivistischer Ansätze einen individualistischen Anarchismus als Plädoyer für einen rigorosen Individualismus und Egoismus. Hiernach verfügt ein jeder Mensch über
ein einzigartiges Ich und eine Individualität, die nicht durch
übergeordnete Institutionen negiert werden dürfe. Diesem programmatischen neuen Menschbild zufolge sollte der Einzelne
eben nicht mehr durch Unterordnung seine Identität lediglich
vorfinden, sondern in einem individuellen Entfaltungsprozess
sich selbst zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit bilden. So
weist auch Fürst Pjotr A. Kropotkin jegliche Autorität von Institutionen des Staats oder der Kirchen als Fremdbestimmung
zurück. Entscheidend sei allein die Solidarität des einzelnen auf
der Grundlage einer egoistisch motivierten gegenseitigen Hilfe,
die als Gegenprinzip zum spencerischen Kampf ums Überleben
konzipiert worden war und zur Herausbildung autonom (altgriechisch für »nach eigenem Gesetz«) verwalteter Kommunen
führen sollte. (Herbert Spencer, 1820–1903, wandte als erster
die Evolutionstheorie im Sinne eines Überlebens des am besten angepassten Individuums – the suvival of the fittest – auf die
gesellschaftliche Entwicklung an.)
Der vollendete Widerspruch der Fundamentalkritik am
Überkommenen lässt den Anhängern des Anarchismus in der
politischen Alltagspraxis nur sehr wenig Spielraum. Da zwischen Utopie und Wirklichkeit ein großer Widerspruch erkennbar wird, entsteht ein Utopismus anarchistischer Aktionen.
Eine Revolution wird zumeist für unabdingbar gehalten, man
Anarchie und Anarchismus ▮ 19
glaubt, wie etwa Sergei Gennadijewitsch Netschajew, ermächtigt zu sein zur »Propaganda durch die Tat«. Um den Prozess zu
beschleunigen, sieht man sich legitimiert Mittel zu ergreifen,
die im Widerspruch stehen zur eigenen Utopie. Die radikale
Freiheitsforderung wird zur Rechtfertigung des Terrors. Es formiert sich das Bewusstsein, im Recht zu sein, weil man sich
auserwählt sieht. In diesem Subjektivismus meldet sich eben
jener Paternalismus wieder zurück, den es zu überwinden galt
(Paternalismus von lateinisch pater für »Vater« : Herrschaftsanspruch in Anlehnung an die Stellung des Familienoberhaupts – immer auch in Verbindung mit Fürsorge gedacht). Im
Stadium des Schwärmertums unterscheidet sich ein Anarchismus der Tat in keinster Weise mehr von einem beliebigen Sektierertum.
Was bleibt für ein gewiss nur vorläufiges Fazit, ist das unleugbare Verdienst, das sich der Anarchismus in der politischen
Theorie und für die pädagogische Praxis erworben hat. Zwar
anders als gewollt, aber dennoch prägend für die Eröffnung einer konsequenten humanistischen Perspektive, die das Wohl
des einzelnen zu befördern weiß, so dass sich die Bedingungen
für die Möglichkeit nicht religiös geprägter Gemeinschaften erfüllen lassen mit einer Qualität, die häufig bislang nur durch
Fremdbestimmung hatte erreicht werden können. Pädagogische Grundsatzdebatten über antiautoritäre Erziehung sind oft
geprägt von einer gegen die Utopien des Anarchismus gerichteten politischen Polemik ; hier wie dort ist es entscheidend, ob
ein optimistisches oder ein pessimistisches Menschenbild unterlegt wird.
Heinz-Ulrich Nennen ▮
20 ▮ Anarchie und Anarchismus
Herunterladen