Von Anarchie bis Zeitgeist Krisengebiete Dr. B. Reiters Lexikon des philosophischen Alltags Philosophisches Wissen für den Alltag in vier Bänden : Krisengebiete Übersinnliches Wesen Zustände Dr. B. Reiters Lexikon des philosophischen Alltags Krisengebiete von Anarchie bis Zeitgeist J. B. Metzler Verlag Der Herausgeber Dr. B. Reiter lebt als freier Autor in Stuttgart. Unter anderem beantwortet er als Spezialist für philosophische Aufklärung regelmäßig Leserfragen im Journal für Philosophie der blaue reiter und bei facebook. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-476-02687-3 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2016 J. B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart www.metzlerverlag.de [email protected] Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung : Finken & Bumiller Typografie und Satz : Tobias Wantzen, Bremen Druck und Bindung : TenBrink, Meppel, Niederlande Inhalt Vorwort 7 Aggression 11 Anarchie und Anarchismus 16 Arbeitslose 21 Betteln, Bettler, Bettel 27 Doping 32 Einparken, rückwärts 37 Ethischer Egoismus 44 Freiheit der Information 50 Fremdgehen 55 Gefängnis 59 Gerechter Krieg 62 Klatsch 69 Krise, Wirtschaftskrise 76 Menschenrechte 81 Monopoly 85 Paradigmenwechsel 89 Peepshow 94 Philosophie als Wissenschaft 98 Revolution 104 Shopping 110 Sodomie 115 Tabu 122 Vaterland 127 Verstand und Vernunft 133 Völkerfreundschaft 139 Wachstum 143 Welt 150 Zeitgeist 153 Zins, Wucher und Zinsverbote 154 Inhalt ▮ 5 Vorwort Das 21. Jahrhundert gilt weithin als Zeitalter von Bildung und Wissen. Während Sokrates sich nach eigenem Bekunden mit dem Wissen beschied, nichts zu wissen, hält es unsere Zeit eher mit Francis Bacon, der konstatierte : Wissen ist Macht ! Entsprechend feierte das Onlinelexikon Wikipedia einen unvergleichlichen Siegeszug. Sind die dort gespeicherten, beständig aktualisierten Informationen doch jederzeit kostenlos abrufbar. Nach über 15 Jahren eifrigen Wirkens sogenannter Schwarmintelligenz mutierte Wikipedia zwischenzeitlich allerdings zu einem Monument der Überproduktion sinnentleerter Daten. Die interessantesten wie die banalsten Sachverhalte werden in uferloser Ausführlichkeit erläutert. Wehe dem, der meint, mittels Wikipedia lernen zu können, was ein grammatisches Subjekt oder ein mathematisches Integral ist. Er wird sich in einem Urwald aus Querverweisen verirren ! Urteilskraft oder gar Weisheit, diejenigen Vermögen also, die Antworten darüber liefern, wann welche Informationen und welche Formen des Wissens relevant sind, wird solchermaßen nicht vermittelt. Damit der Einzelne der Macht des Wissens nicht ohnmächtig gegenüber steht, benötigt er neben Fakten vor allem ein Wissen über die Gründe seines Handelns. Darüber hinaus muss jeder lernen, die Datenflut des Alltags zu sortieren und in sinnvolle Zusammenhänge zu bringen. Denn die Rede vom glücklichen und gelingenden Leben meint nicht, wie eine Maschine mittels Algorithmen und messerscharfer Logik sein Leben zu bestreiten, sondern dieses nach seinen eigenen Maßgaben zu gestalten. Erst solchermaßen wird der Mensch als Subjekt erkenntlich und kann im Gegensatz zu einem Kleinkind für sein Tun und Lassen auch verantwortlich gemacht werden. Die Erfahrung, dass wir nur allzu oft bis an die Zähne mit Faktenwissen bewaffnet den Widerfahrnissen des Lebens ratlos gegenüber stehen, fasste Wilhelm Busch in unvergleichlicher Klarheit in einen Vierzeiler : Vorwort ▮ 7 Zwei mal zwei gleich vier ist Wahrheit. Schade, dass sie leicht und leer ist, Denn ich wollte lieber Klarheit Über das, was voll und schwer ist. In der Tat mangelt es in unserer Zeit weniger an wissenschaftlichen Wahrheiten und lebensfernem Spezialistentum als vielmehr an einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem an schwierigen Problemen und Fallstricken so reichen Alltag. Ist es doch allemal besser, in einem Topf voll Sahne, aus dem es kein Entkommen gibt, so lange zu strampeln, bis man sich gemütlich auf einem Butterberg ausruhen kann, als in einer sahnegleichen, genauso leicht verdaulichen wie sinnlosen Flut an Informationen zu ertrinken. Wenden wir uns also dem Alltag zu, am besten gleich dem der Philosophen. Dem Schönen, Wahren und Guten verpflichtet, wandeln sie in der festen Überzeugung, dass die »Königin der Wissenschaften« zu allem etwas zu sagen hätte, dandygleich mit stolz geschwellter Brust durch sämtliche Bereiche des Wissens. Als Wissenschaftstheoretiker erklären sie den Naturwissenschaftlern, auf welch dünnem theoretischen Fundament diese die Welt mit ihren Experimenten zu ergründen suchen, als Technikfolgenabschätzer zeigen sie der Industrie unablässig Chancen wie Gefahren von deren Tun auf, als Ethiker belehren sie Mediziner darüber, was diese in welchen Lebensphasen ihrer Patienten tun und unterlassen sollten und gegenüber den Theologen postulierte schon mancher gar einen eigenen Gott, den »Gott der Philosophen«. Doch während Techniker unter Zuhilfenahme der Erkenntnisse von Mathematik, Physik und Chemie so nützliche Geräte wie Atombomben, elektrische Zahnbürsten und Epiliergeräte konstruieren, Mediziner zwischenzeitlich schon bei Säuglingen Herztransplantationen vornehmen und Theologen auf wundersame Weise Sinn auch für noch so von den Tatsachen des Lebens Deprimierte zu erzeugen vermögen, scheinen Philosophen vor 8 ▮ Vorwort den Anforderungen des wirklichen Lebens kläglich zu versagen. Das Verdikt, geistesabwesende Schöngeister zu sein, die für die Lebenswirklichkeit keinen Sinn hätten, eilt ihnen voraus. Die Entdeckung eines Sterns, dessen Existenz nicht in die Theorie seines Systems passte, kommentierte der Geistesheroe Georg Wilhelm Friedrich Hegel vorgeblich lapidar mit : Umso schlimmer für den Stern ! Entsprechend werden Philosophen nicht immer ohne Anlass oder Grund gleichermaßen als Geistesriesen verehrt wie als Lebenszwerge verspottet. Doch genau darin liegt ihre Qualifikation begründet ! Denn wenn sich das Philosophieren im Allgemeinen und Philosophen im Besonderen im Alltag bewähren müssen, ist dies seit Jahrtausenden nur im Krisenmodus möglich. Philosophinnen und Philosophen sind also entgegen ihrem Ruf nicht Mägde der Theologie und auch nicht Steigbügelhalter der Naturwissenschaften, sondern Spezialisten für die Krisengebiete des Alltags. Wer also wäre aus Erfahrung berufener, ein philosophisches Lexikon für den Alltag zu verfassen, als ebendiese ? Während Fachgelehrte einem geflügelten Wort Egon Fridells zufolge Menschen sind, die nur die eine Seite irgendeiner Wahrheit erblickt haben, bewährten und bewähren sich Philosophen allzeit als Spezialisten für die umfassende und dauerhafte Krise, die weithin Leben genannt wird. Entsprechend sind ihnen als Mädchen für alles weder Schoßgebete noch Feuchtgebiete fremd, wissen sie über Diät, Doping und Dagobert Duck ebenso zu parlieren wie über den Klatsch, das Gefängnis und den gerechten Krieg. Dabei kennen sie kein Tabu und berichten im vorliegenden ersten Band der Reihe Dr. B. Reiters Lexikon des philosophischen Alltags über Krisengebiete wie Peepshows, Sodomie und Shopping genauso Erhellendes wie über das Gesellschaftsspiel Monopoly, das Vaterland, die Völkerfreundschaft oder den Zins. Wo das Leben beginnt, hört die Wissenschaft auf, und wo die Wissenschaft beginnt, hört das Leben auf – dieser Einsicht folgend, soll die vorliegende Zusammenstellung von Lexikonartikeln aus dem halbjährlich erscheinenden Journal für PhiloVorwort ▮ 9 sophie der blaue reiter (www.derblauereiter.de) nicht nur Philosophen eine Brücke bauen in das, was wir Alltag und Leben nennen. Das vorliegende Buch verdankt sich dem unermüdlichen Bemühen der Redaktion und der Autoren des halbjährlich erscheinenden Journals für Philosophie der blaue reiter, philosophisches Denken über die engen Grenzen des universitären Rahmens hinaus einem breiten Publikum nahezubringen. Nur so konnte ein Lexikon des philosophischen Alltags entstehen, das wissenschaftlich fundiertes philosophisches Denken für den Alltag fruchtbar macht. Überaus dankbar bin ich auch allen Testlesern des Journals für Philosophie der blaue reiter, denen es immer wieder gelingt, die Philosophen auf den Boden der Tatsachen zu holen, sowie allen Mitarbeitern des zugehörigen Verlags der blaue reiter, die mithalfen, dass dieses Lexikon erscheinen konnte. Namentlich erwähnt sei hier vor allem Monika Urbich, die in mühevoller Kleinarbeit die Texte aus den Druckdateien des Journals extrahierte und das Manuskript in eine druckfähige Fassung überführte. Nicht zuletzt bin ich dem Leiter des Verlags J. B. Metzler, Dr. Jörn Laakmann, zu Dank verpflichtet, der das Wagnis einging, ein so außergewöhnliches Projekt zu realisieren, sowie der tatkräftigen Unterstützung von dessen Mitarbeitern. Dank schulde ich vor allem der Lektorin für Philosophie, Franziska Remeika, die sich für die Idee eines Lexikons des philosophischen Alltags sofort begeistern ließ und wesentliche Ideen zur Konzeption und zur Gestaltung desselben beisteuerte. Dr. B. Reiter ▮ 10 ▮ Vorwort Aggression entlehnt vom lateinischen aggressio für »kriegerischer Angriff«, zu lateinisch aggredi für »heranschreiten, angreifen«. Als psychologischer Begriff im Sinne eines schädigenden Verhaltens gegenüber Personen, sich selbst oder Gegenständen ist der Begriff der Aggression seit Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Psychologieforschung nicht mehr wegzudenken. Den Grundstein dazu legten Sigmund Freud und Alfred Adler in ihrer Wiener Zusammenarbeit 1902 bis 1911. Seitdem sind die unterschiedlichsten Theorien zur Erklärung menschlicher Aggression entwickelt worden. Die in den Anfängen der psychologischen Forschung führenden Erklärungsansätze sind die Trieb- und Instinkttheorien. Sie verweisen meist auf Ansätze der Stammesgeschichte des Menschen. Aggression sei von Natur aus gegeben, diene der Arterhaltung und werde als dominantes Merkmal in der Auslese der Evolution weitergegeben. In der Psychoanalyse Sigmund Freuds stellt die Aggression einen besonderen und selbstständigen Trieb dar, eine »angeborene Neigung des Menschen zum ›Bösen‹, zur … Destruktion und damit auch zur Grausamkeit«. Freud bezieht sich hier auf Thomas Hobbes’ Grundthese homo homini lupus (lateinisch für »Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf«). Verantwortlich für diese Neigung sei der Todestrieb, der sich, teilweise als Aggression erkennbar, nach außen wendet. Die Theorie des Todestriebs führt Freud, geprägt durch den Ersten Weltkrieg, erst 1920 in seiner Schrift Jenseits des Lustprinzips ein. Er bildet den Gegenspieler zum Eros (Lebenstrieb), demjenigen Trieb, der zur Ich-Erhaltung und Fortpflanzung dient. Der Selbstzerstörungstrieb, zu dem Freud auch Sadismus und Masochismus zählt, strebe nach Auflösung in einen uranfänglichen, anorganischen Zustand. Die Kultur, schreibt Freud 1930 in seiner Abhandlung Das Unbehagen in der Kultur, sei das größte Hindernis, AggressionsAggression ▮ 11 Dr. B. Reiters (Hrsg.), Dr. B. Reiters Lexikon des philosophischen Alltags: Krisengebiete, DOI 10.1007/978-3-476-05620-7_1, © 2016 J. B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart neigungen auszuleben. Sie müsse alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen. Dabei habe der Kulturmensch ein Stück Glücksmöglichkeit – also das Glück, uneingeschränkt seinen Trieben zu folgen – gegen ein Stück Sicherheit eingetauscht. Die Aggression als triebhafte Leidenschaft könne so kontrolliert werden. Die Aufgabe, die Aggressionslust zu bewältigen, übernehme im Individuum die Instanz des Über-Ichs. Von einem ursprünglichen, natürlichen Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse dürfe man nicht ausgehen, da das Böse oft gar nichts Schädliches oder Gefährliches für das Ich mit sich bringe, sondern im Gegenteil auch Vergnügen bereiten könne. So entstehe ein Schuldbewusstsein nur durch Einfluss von außen, aus Angst vor Liebesverlust, einer sozialen Angst, die sich zum Über-Ich und damit zu einem Gewissen weiterentwickelt : »Der (uns von außen auferlegte) Triebverzicht schafft das Gewissen, das dann weiteren Triebverzicht fordert.« Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz entwirft in seiner 1963 veröffentlichten Schrift Das sogenannte Böse eine Theorie der menschlichen Aggression, basierend auf an Tieren studiertem Verhalten. Er geht in seiner dargestellten Trieblehre davon aus, dass Aggression ein zwangsläufiges, auf Instinkten basierendes Verhalten ist, das der Arterhaltung dient. Seine Theorie kennt vier Triebe : den Nahrungstrieb, den Fortpflanzungstrieb, den Fluchttrieb und den Aggressionstrieb. Sie sind angeborene Mechanismen, die das äußere Reizangebot strukturieren. Bei aggressivem Verhalten komme es nicht zur Tötung von Artgenossen. Lorenz geht davon aus, dass eine angeborene Tötungshemmung das Verhalten reguliert. Gewissen und bestimmte ethische Normen seien ebenfalls angeboren und beruhen unter anderem auf stammesgeschichtlicher Anpassung. Jedoch die moderne Waffentechnik wie auch die anonyme Massengesellschaft haben dieses Gleichgewicht gestört : »Der Mensch ist gar nicht so böse von Jugend auf, er ist nur nicht ganz gut genug für die Anforderungen des modernen Gesellschaftslebens.« 12 ▮ Aggression Ohne Abführung der aggressiven Energie, die sich ständig neu bilde, könne dies zu gefährlichen Stauungen und erhöhter Aggressionsbereitschaft führen. Lorenz zeigt diese »Dampfkesseltheorie« an einem Beispiel der Buntbarsche auf : »An gefangen gehaltenen Buntbarschen … kann eine ›Stauung‹ der Aggression, die unter natürlichen Lebensbedingungen am feindlichen Reviernachbarn abreagiert werden würde, ungemein leicht zum Gattenmord führen.« Als Ersatzhandlung, die den Aggressionstrieb in gesellschaftlich regulierte Bahnen leitet, schlägt Lorenz unter anderem den sportlichen Wettkampf vor. Diese Ventilfunktion findet besonders in der Katharsis-Hypothese Beachtung, die besagt, dass aggressive Energie durch alternative Verhaltensweisen abgebaut werde, die aggressive Person sich also ganz im Sinne des aristotelischen Begriffs der Katharsis von ihrer Aggressivität »reinigen« könne. Eine Weiterentwicklung zu Trieb- und Instinkttheorien und vor allem zu einem frühen Theorieansatz Freuds stellt die für mehrere Jahrzehnte vorherrschende Theorie der Frustrations-Aggressions-Hypothese dar, die auf der 1939 von der so genannten Yale-Gruppe (J. Dollard, L. Doob, N. Miller, O. Mowrer, R. Sears) veröffentlichten Schrift Frustration and Aggression basiert. Demnach werde aggressives Verhalten durch einen frustrationsbedingten Trieb motiviert, wobei sich die Aggression nicht auf den Ursprung der Frustration beziehen müsse, eine Ziel- oder Reaktionssubstitution sei möglich. Dabei sind zwei Thesen grundlegend : 1. Aggression ist immer eine Folge von Frustration. 2. Frustration führt immer zu einer Form von Aggression. In der Fortentwicklung wurde diese kausale Verknüpfung abgeschwächt. Aggression sei demnach nur als die dominante, nicht als die zwangsläufige Reaktionstendenz zu werten, und Frustration erhöhe einfach die Bereitschaft für Aggression. Leonard Berkowitz nimmt unter anderem in Aggression : A Social Psychological Analysis von 1962 eine genauere Definition der Aggression ▮ 13 psychischen Abläufe vor und entwickelt eine Theorie aggressiver Hinweisreize. Zwischen der Frustration und ihrer Auswirkung stehe ein Zwischenzustand emotionaler Erregung. Diese Emotion – Ärger – erhöhe die Bereitschaft zu aggressivem Handeln. Die Bereitschaft werde aber vor allem durch so genannte Hinweisreize ausgelöst. Diese erwerben als Folge klassischen Konditionierens ihre Eigenschaft als Hinweisreize für Aggression. Solche Reize können Personen, Situationen oder auch Gegenstände sein wie zum Beispiel Waffen. Den Trieb- und Instinkttheorien stehen die lerntheoretisch motivierten Erklärungsversuche gegenüber. Die Lerntheoretiker gehen davon aus, dass eine gewählte Handlung bereits im Verhaltensrepertoire enthalten, also erlernt sein muss. Im Fall der Aggression gebe es keinen angeborenen Trieb, denn bereits die Bereitschaft zur Aggression sei einem Lernprozess unterworfen. Die einfachste Erklärungsform liefert das klassische Konditionieren nach Iwan P. Pawlow, das Berkowitz in seiner Theorie der Hinweisreize hinzuzieht. Durch eine Reizkopplung werden dem neutralen Reiz neue Bedeutungen zugewiesen, er wird zum bedingten Reiz – so wie einem konditionierten Hund schon beim ehemals neutralen Reiz eines Glockentons sozusagen das Wasser im Mund zusammenläuft. Wirklich neues Verhalten, das nicht auf natürliche Reflexe aufbaut, wird mit dem instrumentellen oder operanten Konditionieren erklärt. Hierbei bieten Erfolgserlebnisse und positive Verstärkungen wie attraktive Gegenstände, soziale Anerkennung oder Schmerzvermeidung Anreize, ein Verhalten zu erlernen. Jedoch lassen sich auch hier Grenzen aufzeigen. Der amerikanische Psychologe Albert Bandura beginnt in den 1960er Jahren, dem Modelllernen eine entscheidende Position einzuräumen und darauf basierend eine umfassende Theorie menschlichen Verhaltens zu entwickeln. Im Mittelpunkt stehen dabei Beobachtung und Nachahmung. Bandura führte verschiedene Laborexperimente mit Puppen durch. Eine Person zeigte dabei verschiedenste Verhaltensformen im Spiel mit den Puppen. Die getes14 ▮ Aggression teten Kinder ahmten vor allem das aggressive Verhalten nach. Am stärksten war die Nachahmung, wenn die Person für ihr Schlagen auf die Puppe belohnt worden war. Das Ergebnis blieb auch dasselbe, wenn die Person in einem Videofilm zu sehen war oder durch eine Comicfigur dargestellt wurde. Auf Grund dieser Forschungsergebnisse bietet das Lernen am so genannten Modell auch eine theoretische Grundlage für die Auseinandersetzung mit Gewaltdarstellungen in Film und Fernsehen. Als Gegenposition zu Bandura wird hier gerne auf die Katharsis-Hypothese zurückgegriffen, wonach das Sehen von Gewalt zu einer befreienden Ersatzhandlung deklariert wird. Die Verarbeitungsprozesse sind jedoch so komplex, dass eine Kausalverbindung zwischen Gewalt sehen und Gewalt ausüben beziehungsweise gerade nicht ausüben nicht pauschal ermittelt werden kann. Der Aggressionsforscher Herbert Selg, ein Vertreter der Lerntheorie, plädiert dafür, Kinder in einer Umwelt aufwachsen zu lassen, die auf Solidarität und Kooperation beruht und somit weniger aggressive Modelle im Lernprozess zur Verfügung stelle. Er sieht die alte Frage, ob der Mensch gut oder böse sei, als überholt an. Der Mensch sei lernfähig, und das sei immerhin optimistisch zu werten, jedoch »wenn auch kein Todestrieb in unseren Genen steckt, nistet … vielleicht eine tödliche Dummheit in unseren Köpfen, die es bewirken könnte, dass die Menschheit auf große, selbstgemachte Katastrophen zusteuert.« Monika Reutter ▮ Anmerkungen 1 Eine der ersten psychologischen Schriften zum Thema Aggression, Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose von Alfred Adler, stammt aus dem Jahr 1908. Die Theorieansätze Adlers blieben jedoch im Vergleich zu denen Freuds eher unbekannt. 2 Freud, Sigmund : Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt a. M./Hamburg 1953, S. 159, 169. 3 Lorenz, Konrad : Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Wien 1963, S. 372, 83. Aggression ▮ 15 4 Der Begriff der Katharsis (altgriechisch für »Reinigung«) stammt aus der aristotelischen Poetiktheorie : Die Tragödie löse Erregungszustände wie Jammern und Schaudern aus und reinige dadurch die Zuschauer von diesen Affekten. 5 Das klassische Konditionieren geht auf Experimente Iwan P. Pawlows zurück, der automatisch ablaufende Reiz-Reaktions-Ketten (Geruch von Nahrungsmitteln führt zu verstärkter Speichelproduktion) mit neuen so genannten neutralen Reizen kombinierte und derart seinem Versuchsobjekt, einem Hund, neues Verhalten antrainierte. Die Speichelproduktion setzt beim »Pawlowschen Hund« allein auf Grund des Ertönens einer Glocke ein, obwohl er das erwartete »Fressen« weder sieht noch riecht. Beim operanten beziehungsweise instrumentellen Konditionieren gibt nicht die Verschiebung eines neutralen in einen bedingten Reiz, sondern ein Erfolgserlebnis den Ausschlag zur Verhaltensänderung – das neue Verhalten wird positiv verstärkt. 6 Siehe hierzu das Kapitel »Gewalt und Fernsehen« in : Moser, Heinz : Einführung in die Medienpädagogik. Aufwachsen im Medienzeitalter. Opladen, 2. Auflage 1999, S. 175–196. 7 Selg, Herbert : Psychologie der Aggressivität. Göttingen/Bern/Toronto/ Seattle, 2. Auflage 1997, S. 37. Weiterführende Literatur Bandura, Albert : Aggression : Eine sozial-lerntheoretische Analyse ( Aggression – A Social Learning Analysis 1973). Stuttgart 1979. Stroebe, Wolfgang/Jonas, Klaus/Hewstone, Miles (Hg.) : Sozialpsychologie. Eine Einführung. Berlin/Heidelberg/New York, 4. Auflage 2002. Als Grundlage aktueller Aggressionsforschung eignet sich das Kapitel »Aggressives Verhalten« von Amélie Mummendey und Sabine Otten, S. 353–380. Anarchie und Anarchismus Das altgriechische Wort an-archia ist aus dem verneinenden Präfix an- (nicht, un-) sowie archein (vorangehen, Führer sein, herrschen) gebildet und bezeichnet in der Antike Machtkonstellationen, die anarchos, das heißt ohne Regierung im engeren Sinne, aber auch »ohne Führung« im weiteren Sinne sind. Die vormalige politische Macht, aber auch die militärische Befehls16 ▮ Anarchie und Anarchismus gewalt hat entweder aufgehört oder sie ist zwar noch vorhanden, wird jedoch nicht mehr anerkannt. Als Übergangsphase werden derartige Verhältnisse nicht erfahren. Eher als manifeste Krise der politischen Kultur, weil bislang verbindliche Ordnungs- und Machtstrukturen offenkundig versagen, ohne dass sie durch eine Obergewalt außer Kraft gesetzt wurden. Sie sind stattdessen eher das Ergebnis einer Empörung oder auch eines Aufstands. Die damit einhergehenden Verhältnisse werden häufig extrem negativ gewertet als chaotische Zustände von Willkür und Gesetzlosigkeit. Platon, der bereits die Demokratie zu den ungerechten Herrschaftsformen zählt, bewertet die Anarchie als Zustand allgemeiner sittlicher Zügellosigkeit. Seiner politischen Anthropologie (Lehre vom Menschen) zufolge ist der demokratische Mensch nicht Herr seiner Begierden ; ein allgemeiner Freiheitsdrang müsse zur völligen Gesetzeslosigkeit führen, um dann in die Tyrannei umzuschlagen. Allerdings wird im Altertum eine Ordnungsvorstellung unterlegt, die den politischen Erfahrungen der Neuzeit und der Moderne nicht mehr entspricht. Erst im 17. und insbesondere im 18. Jahrhundert tritt neben die fast durchgehend abwertende Bedeutung von Anarchie eine dem Griechischen nur entlehnte Neuprägung »Anarchismus«. In lexikalischen Darstellungen werden häufig beide Begriffe aufeinander bezogen. Anarchismus wird aus Anarchie abgeleitet, so dass der Anarchist als Anhänger oder Befürworter von Anarchie dargestellt wird. Die direkte Ableitung von Anarchismus aus Anarchie ist jedoch unzulässig. Einer auf das klassische Verständnis von Anarchie zurückgreifenden politischen Rhetorik geht es dabei häufig eher um die Denunziation der Utopie (von altgriechisch utopos : anderer Ort, hier : Wunsch-, Fernziel) des Anarchismus als um die Rekonstruktion der Beweggründe und der Differenzen. Einer der frühen Vertreter des Anarchismus, William Godwin, der sich selbst nicht als solcher bezeichnet hat, weist daAnarchie und Anarchismus ▮ 17 rauf hin, dass der Anarchie in der Geschichte der Menschheit weitaus weniger Menschen zum Opfer gefallen seien als der Despotie. Ohnehin sei sie nur ein vorübergehender Zustand, während die Despotie Jahrhunderte überdauern könne. Der utopischen Variante von Anarchie liegt sehr wohl ein Ordnungsmodell zugrunde, das allerdings durch Selbstorganisation in einer Gemeinschaft der Freien zustande kommen muss. Der Anarchismus bezieht sich auf die Utopie einer selbstorganisierten Lebenswelt, die sich entweder gänzlich, zumindest aber weitestgehend frei gemacht hat von jeglicher Form der Fremdbestimmung in sämtlichen Sektoren des Lebens. Die Programmatik »Keinen Gott und keinen Meister« anerkennen zu wollen, zielt auf Verhältnisse, in denen die vermeintliche Notwendigkeit von Herrschaft entfallen ist. Hier sollte zwischen einem theoretischen und einem praktischen Anarchismus unterschieden werden, denn die von der Utopie ausgehenden Visionen führen gerade in der Praxis zu einer revolutionären Ungeduld, die in der Wahl der Mittel von einem theoretisch inkonsistenten Aktionismus geprägt ist. Dieser unterscheidet sich in seiner Unmenschlichkeit mitunter nicht mehr von derjenigen, gegen die er seine Aktivitäten richtet. Bezeichnenderweise wird der Begriff Anarchie für die erwünschten idealen Verhältnisse häufig auch von Anarchisten nicht verwendet. Anstelle dessen wird etwa von Liberalismus, Föderalismus, Sozialismus oder auch von einem Syndikalismus gesprochen. Im Zuge der Französischen Revolution wird Anarchismus zu einem gängigen Schlagwort, und erstmals wird sich Pierre Joseph Proudhon selbst als Anarchisten bezeichnen. Er mochte nun unter Anarchie nicht mehr Unordnung und Chaos verstanden wissen, sondern kennzeichnend sei vielmehr die Abwesenheit eines jeden Herrschers. Die Auflösung jeglicher Herrschaft des Menschen über den Menschen verspricht sich Proudhon von der Wissenschaft. Gerade die moderne Wissenschaft ist gekennzeichnet von einer entscheidenden Parallele zum Anarchismus. Auch hier kann kein Autoritätsprinzip Geltung bean18 ▮ Anarchie und Anarchismus spruchen, sondern allein die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit selbst. Im Anschluss daran forderte Michael Bakunin in seinem »revolutionären Katechismus« anstelle der überkommenen religiösen, politischen, ökonomischen und sozialen Institutionen die Neubegründung einer Gesellschaft auf der Grundlage von Freiheit, Vernunft, Gerechtigkeit und Arbeit, die geprägt sein sollte von der gemeinsamen Nutzung und Verwaltung der Produktionsgüter. Aus dem Kreis der Berliner Junghegelianer entwickelt Max Stirner anstelle kollektivistischer Ansätze einen individualistischen Anarchismus als Plädoyer für einen rigorosen Individualismus und Egoismus. Hiernach verfügt ein jeder Mensch über ein einzigartiges Ich und eine Individualität, die nicht durch übergeordnete Institutionen negiert werden dürfe. Diesem programmatischen neuen Menschbild zufolge sollte der Einzelne eben nicht mehr durch Unterordnung seine Identität lediglich vorfinden, sondern in einem individuellen Entfaltungsprozess sich selbst zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit bilden. So weist auch Fürst Pjotr A. Kropotkin jegliche Autorität von Institutionen des Staats oder der Kirchen als Fremdbestimmung zurück. Entscheidend sei allein die Solidarität des einzelnen auf der Grundlage einer egoistisch motivierten gegenseitigen Hilfe, die als Gegenprinzip zum spencerischen Kampf ums Überleben konzipiert worden war und zur Herausbildung autonom (altgriechisch für »nach eigenem Gesetz«) verwalteter Kommunen führen sollte. (Herbert Spencer, 1820–1903, wandte als erster die Evolutionstheorie im Sinne eines Überlebens des am besten angepassten Individuums – the suvival of the fittest – auf die gesellschaftliche Entwicklung an.) Der vollendete Widerspruch der Fundamentalkritik am Überkommenen lässt den Anhängern des Anarchismus in der politischen Alltagspraxis nur sehr wenig Spielraum. Da zwischen Utopie und Wirklichkeit ein großer Widerspruch erkennbar wird, entsteht ein Utopismus anarchistischer Aktionen. Eine Revolution wird zumeist für unabdingbar gehalten, man Anarchie und Anarchismus ▮ 19 glaubt, wie etwa Sergei Gennadijewitsch Netschajew, ermächtigt zu sein zur »Propaganda durch die Tat«. Um den Prozess zu beschleunigen, sieht man sich legitimiert Mittel zu ergreifen, die im Widerspruch stehen zur eigenen Utopie. Die radikale Freiheitsforderung wird zur Rechtfertigung des Terrors. Es formiert sich das Bewusstsein, im Recht zu sein, weil man sich auserwählt sieht. In diesem Subjektivismus meldet sich eben jener Paternalismus wieder zurück, den es zu überwinden galt (Paternalismus von lateinisch pater für »Vater« : Herrschaftsanspruch in Anlehnung an die Stellung des Familienoberhaupts – immer auch in Verbindung mit Fürsorge gedacht). Im Stadium des Schwärmertums unterscheidet sich ein Anarchismus der Tat in keinster Weise mehr von einem beliebigen Sektierertum. Was bleibt für ein gewiss nur vorläufiges Fazit, ist das unleugbare Verdienst, das sich der Anarchismus in der politischen Theorie und für die pädagogische Praxis erworben hat. Zwar anders als gewollt, aber dennoch prägend für die Eröffnung einer konsequenten humanistischen Perspektive, die das Wohl des einzelnen zu befördern weiß, so dass sich die Bedingungen für die Möglichkeit nicht religiös geprägter Gemeinschaften erfüllen lassen mit einer Qualität, die häufig bislang nur durch Fremdbestimmung hatte erreicht werden können. Pädagogische Grundsatzdebatten über antiautoritäre Erziehung sind oft geprägt von einer gegen die Utopien des Anarchismus gerichteten politischen Polemik ; hier wie dort ist es entscheidend, ob ein optimistisches oder ein pessimistisches Menschenbild unterlegt wird. Heinz-Ulrich Nennen ▮ 20 ▮ Anarchie und Anarchismus