Kreativitätstechniken

Werbung
crea7
Kunst und Kreativität
Die Web-Version dieses Beitrags basiert auf dem File, das den Herausgebern übermittelt wurde. Daher kann es kleine Unterschiede gegenüber
dem publizierten Text geben.
The web version of the article is based on the file sent to the editors. Accordingly, there might be minor differences to the published text.
Publication:
„Kreativität und Kunst“. In: Walter Berka, Emil Brix & Christian Smekal (Hg.). (2003). Woher kommt das Neue? Kreativität in Wissenschaft
und Kunst (= Wissenschaft, Bildung, Politik. Band 6). Hg. von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. Wien: Böhlau Verlag, pp. 51-84
Die Kenntnisnahme der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft oder Wissensgesellschaft, wie sie von manchen etwas optimistisch
bezeichnet wird, ist in den vergangenen Jahren in das allgemeine Bewußtsein gedrungen und der Begriff Kreativität, vormals eher elitären
Dimensionen wie Kunst und Wissenschaft vorbehalten, marktschreierisches Allgemeingut, ja geradezu Schablone alltäglicher
Anforderungsprofile des arbeitenden Menschen geworden. Wenn als eine der geforderten Kompetenzen in der Informationsgesellschaft eine
gewisse Selbständigkeit in Entscheidung und Verantwortung im Gegensatz zur Reprobationsmanie der Industriegesellschaft erkennbar ist, wird
diese im normalen Sprachgebrauch mit dem Wort kreativ umschrieben. Kreativ ist derzeit, falls man die Ausschreibungen und Stellensuchen
liest, das häufigst gebrauchte Eigenschaftswort des gesuchten Kandidaten[1]. Kreativ muß die Sekretärin sein und der Chauffeur, der
Abteilungsleiter und der Museumsdirektor und vor allem jeder, der mit Werbung oder Marketing zu tun hat. Wenn man bedenkt, daß es erst
knapp 100 Jahre her sind, daß dieses Wort überhaupt in die deutsche Sprache Eingang fand (wie nahezu immer in der eher
naturwissenschaftlichen Terminologie über den angelsächsischen Umweg), dann hat nach einem halben Jahrhundert Emanzipationswettlauf mit
dem Wort schöpferisch (ich zitiere nur Karl Dunkers Das schöpferische Denken von 1935) der Terminus erst in der Informationsgesellschaft
seinen allgemeinen Bezug erlangt. Bis dahin war er im wesentlichen im Zusammenhang mit Kunst aufzufinden und gelegentlich in Korrelation
zur Wissenschaft. Heute ist die Verbindung von Kunst und Kreativität in den Hintergrund gerückt, weil die Kunst als zeitgenössische Schöpfung
trotz lautem Marktgetöse und dessen Widerhall in manchen Feuilletons gesellschaftlich nahezu keine Relevanz besitzt. Dieser Umstand ist
primär einer völlig verfehlten Bildungspolitik nach dem Nationalsozialismus zu verdanken, die den emotionalen Kontext, wozu zweifellos die
crea7
sinnliche Kreativität als Kunstvoraussetzung zählt, mehr oder weniger ausschloß und auf Kognition einerseits und geistlose Reproduktion
andererseits setzte. Die Zeitangabe „nach dem Nationalsozialismus“ ist bewußt gewählt, bedürfte aber in ihrer ausführlichen Untersuchung eines
eigenen Referates[2]. Andererseits haben auch gesellschaftspolitische Umstände (1968), die Dominanz der Sozialdemokratie, und vor allem die
Verbreitung der elektronischen Medien Unsicherheiten ausgelöst, die nach wie vor in ihrer Benennung tabuisiert sind, andererseits aber auch
jetzt nicht ausgebreitet werden können. Wesentlich ist auch, daß die Pluralität der Kunstszenen mit ihren Konkurrenzen und
Dominanzbestrebungen, die allesamt zur Substanz der Künstlersozialisationen zählen, Kreativität als gemeinsamen Ansatz kaum erkennen
lassen, wenn man sie oberflächlich betrachtet, und eines eigenen Tiefenstudiums in Themenstellung und Methodenwahl bedürfte, die die
Gesellschaft grosso modo kaum zu leisten bereit ist. Die Kunstwissenschaften beschäftigen sich aus guten Gründen in der Regel nicht mit der
unmittelbaren Gegenwart, respektive dringen sie, wenn sie es tun, in Tiefen vor, die die Kreativitätsschichten längst hinter sich gelassen haben.
Das Phänomen einer gewissen sich gesellschaftlich stark verbreitenden Schizophrenie, die ich in vielen Zusammenhängen konstatiere, macht
auch vor der Kunst nicht halt. Obwohl privat nahezu jeder urteilt, gleichgültig ob Publikum oder Experte, weigern sich nahezu alle, betreffende
Objektivierungsversuche, die ich als Einschätzungsmodelle verstehe, zur Kenntnis zu nehmen. Es beginnt bei der Definition des Wortes Kunst,
die entweder prinzipiell verweigert wird (siehe das gerade veröffentlichte Kulturprogramm der Grünen)[3], die andererseits in das dämliche
Allgemeinwort von „Kunst ist Kunst ist Kunst“[4] ausrinnt oder ausschließlich nach persönlichem Geschmack, wie immer der zustande
gekommen sein mag, resultiert. Die Künstlerschaft selbst, ein individualisiertes Konkurrenzsystem, das in seiner Durchsetzung der Interessen
sich zumeist divergenter Seilschaften bedient, hat in der Regel kein Interesse an einem rational überprüfbaren Nachvollzug des Erarbeiteten,
stellt diesen zumindest weit hinter die öffentliche Repräsentanz, die zwischen medialem Vorkommen und Darstellungs-, Ausstellungs- oder
Aufführungswut pendelt.
Der veröffentlichten Meinung, inzwischen längst den strengen Genre-Grenzen zwischen Feuilleton, Chronik oder Lokalem entzogen, kann,
obwohl hilflos gerne zitiert, kaum eine ernstzunehmende Beurteilungskompetenz zugesprochen werden. Zufall, Marketing, persönliche
Beziehungen, Blattlinie, Seilschaften und Netzwerke, ganz selten nur mehr ideologische Vorbehalte, reportieren nach Beliebigkeit, wobei der
Eventeffekt, der im wesentlichen aus Einmaligkeit mit multiplizierter Zuschaueranzahl besteht, absoluten Vorrang einnehmen dürfte.
Selbst die Kreativitätsforschung, die sich ja inzwischen zu einer respektablen Unterdisziplin der Psychologie entwickelt haben dürfte[5], weicht
der Befassung mit der Kunst eher aus, wofür mehrere Gründe ausschlaggebend sein könnten. Da sind einerseits die zweifellos extrem geringen
Stichprobengrößen mit starken Verweigerungstendenzen auf seiten der Künstler, respektive der Hochbegabungen, andererseits methodische
Unsicherheiten, die, wenn überhaupt, dann am ehesten im Kontext der Musik zumindest ansatzweise minimiert werden konnten[6]. Dies hängt
crea7
zweifellos mit dem System des Zeitablaufs und einer eigenen spezifischen Sprachlichkeit von Musik zusammen, die den Probanden und sein
reales Umgehen mit dem Gegenstand auch der Untersuchungsmethode preisgeben. Eigenverbalisierung und visuelle Betrachtung sind
diesbezüglich schwer steuerbar und unterliegen soweit der Souveränität des untersuchten Objekts, daß die Steuerung als extrem schwankend in
ihrer Untersuchungsgenauigkeit angesehen werden muß.
Auch wenn derzeit das Wort Kreativität eine Art Hausse im Sprachgebrauch erlebt und auf alle möglichen Gebiete ausgedehnt wird, ist
offensichtlich, warum die meisten Menschen des Industriezeitalters den Begriff eher nur im Zusammenhang mit der Kunst alltagssprachlich
verwenden. Die Kunst als sinnlich wahrnehmbarer Ausdruck emotionaler Intelligenz, also als in der Regel ding- oder symbolhafte Umsetzung
des „kognitiven, emotionalen und sozialen Vermögens“ des Künstlers[7] unterscheidet sich von der Normalität dinglicher Gestaltung durch eine
unverkennbare Qualitätsdifferenz, deren in der Regel vom Bürger wahrgenommene aber nicht artikulierbare Parameter unter dem Sammelbegriff
Kreativität zusammengefaßt werden. Dieses Phänomen, an dem bis zum Ende des 20. Jahrhunderts niemand vorbeigehen konnte, weil die
Außenwelt des Menschen zumindest in der europäischen Tradition künstlerisch verdinglicht gestaltet war (wofür jeder Tourismusführer als
Beleg unmittelbar einsteht)[8], dieses Phänomen war primär unübersehbar und (schon eher vereinzelt) auch unüberhörbar. Die Demonstration
einer Hochleistung künstlerischer Provenienz zog sich, wenn man so will, von den Pyramiden bis zur Hitlerschen Reichskanzlei und dem Centre
Pompidou und wurde von allen historischen Staatssystemen zur Demonstration der Macht, der Größe, der Autorität, aber auch der Ideologie
respektive der spezifischen Geistigkeit herangezogen. Dieses Repräsentanzmodell von Identität durchzog aber auch alle gesellschaftlichen
Gruppierungen, die ihre Gemeinschaftlichkeit bis hin zur Wohnstätte baulich manifestierten, wobei die Imitation der sozial höheren Struktur
ebenso nachwirkte, wie die Besonderheit der Contradictio (siehe Konzeptkunst, Revolutionsarchitektur respektive Ökologiebau) in Erscheinung
trat. Der Grad der Aufmerksamkeit innerhalb der gesellschaftlichen Struktur wurde genau durch jenes Maß an Kreativität bestimmt, der die
Gestaltung entweder von der Schiene der Tradition oder der gewachsenen Umgebung abhob. Die kreative Differenz in der Verdinglichung der
Identität hing aber nicht nur von Kapital, Macht, Ausbeutung des Volkes und später der Massen, wie so oft auch in der kunsthistorischen
Literatur[9] verkürzt argumentiert wird, ab, sondern primär von der Auffindung eines Kreativitätspotentials der Gestaltenden, gleichgültig ob auf
ein Kollektiv oder einen aus der Anonymität heraustretenden Künstler als Träger dieses Kreativitätspotentials bezogen. Daß unser historischer
Blick bei der Betrachtung zeitlich immer weiter entfernterer Epochen unschärfer wird in der Einschätzung des qualitativen Vermögens und dann
letztendlich jede Tonscherbe oder jeder gewöhnliche Messinghelm zur Kunst erklärt wird (ein Phänomen, das wieder eine eigene Betrachtung
nötig machte)[10], ändert nichts daran, daß selbstverständlich zu jeder Zeit die Differenz von Besonderheit zum Allgemeinen bewußt war und,
überspitzt gesprochen, auch die Unterschiedlichkeit vom Alltäglichen zum Besonderen via Kreativität definiert wurde.
crea7
Gewiß waren in historischen Zeiten die Übereinstimmungen zwischen Auftraggeber und gestaltendem Künstler enger in Bezug auf die
Vorstellung dessen, was entstehen sollte, weil eine Art gemeinsamer Standard des Wissens existierte und, wenn nicht, durch kluge Beratung
herbeigeschafft wurde. Ein Problem unserer Gegenwart und vor allem der öffentlichen Institutionen besteht darin, daß sie in ihrer
Auftragsvergabe in der Regel nicht auf diese Kenntnisparallele zurückgreifen können, was entweder wie im Kontext von „Kunst im öffentlichen
Raum“ dem Künstler völlige Freiheit einräumt, was möglicherweise zu Akzeptanzproblemen beim Publikums führt, oder bei Durchsetzung der
Wünsche des Auftraggebers mediokere Ergebnisse liefert (Modell Versicherungsbauten), die nach einer kurzen Phase der Aufmerksamkeit durch
das Neue wieder in der Anonymität des Allgemeinen verschwinden. Selbst der ästhetisch Ungebildete, dessen periphere Kenntnisse er sich fast
ausschließlich im passiven Lernen erworben hat, reagiert auf diese kreative Differenz. Zuerst oft mit Ablehnung, weil er sein vertrautes
Wahrnehmungssystem durch Neues irritiert wähnt, dann oft durch Verweigerung, was vor allem für den Museumsbesuch zutrifft, wogegen
neuerdings ausgeklügelte Marketingstrategien anlaufen, ebenso oft aber durch Nichtbeachtung, was als Regel insbesondere für die von ihm
bewohnte Ortschaft vermerkbar ist. Andererseits arbeitet gerade die Tourismusbranche der Städtereisen mit der Attraktivität des kreativen
Unterschieds und führt gezielt die Touristen zu jenen Ikonen historischer oder zeitgenössischer Kreativität, die repräsentativ und charakteristisch,
jedenfalls aber attraktiv sich vom allgemeinen Zustand abheben. Hier werden, schaut man genau hin, zwar auch manchmal die Klischees bedient,
aber zunehmend, infolge der Marktkonkurrenz und der Differenzierungen stellen Haltepunkte der Stadtrundfahrten heute eine meist gelungene
Auswahl des kreativen Potentials vor, und noch dazu, was gar nicht selbstverständlich ist, emanzipiert zwischen historischer und zeitgenössischer
Substanz.
Ist im Kontext der Architektur der Zusammenhang zwischen Kreativität und Baukunst relativ einfach nachzuvollziehen, verlangen ähnliche
Untersuchungen bezüglich bildender Kunst, Musik und Wort genauere Betrachtungsweisen. Waren bis in die 1950er Jahre, Kunstmuseen relativ
gesicherte Orte der Demonstration kreativen Potentials in Sachen Bildgestaltung, Graphik und Skulptur, ja sogar noch im Bereich Design, so
erzeugte die zunehmende Musealisierung (auch ein Phänomen das nähere Betrachtungsweise verdiente)[11] die Ausfransung der Randgebiete.
Die vor allem in den 1960er Jahren lautstark verkündeten Kunsterweiterungsdefinitionen brachten neue Unsicherheiten. Die zwar historisch und
politisch verständliche, aber nichtsdestoweniger hochproblematische Erweiterung des Kunstbegriffes bis zur völligen Vermischung mit der
Kultur (nebenbei bemerkt ein Phänomen, unter dem wir auch in der unmittelbaren Gegenwart noch zu leiden haben) wurde alltagssprachlich
zumindest in Zentraleuropa durchgesetzt. Hier trafen sich das historische Erbe der „deutschen“ Identitätssuche, die als Nationalitätenbestimmung
im Gegensatz zur angelsächsischen Modalität Kultur und an ihrer Spitze die Kunst als „Hauptkriterium eines Stammes oder Volkes“ (wie Herder
sagte)[12] ansah, ein Modell, das Richard Wagner nahezu zur Religion erhob und über Nietzsche der Nationalsozialismus ebenso gerne für sich
in Anspruch nahm, wie eine Abkehr davon auch nach 1945 vorerst nicht in Sicht war. Andererseits hatte sich der Sozialismus spätestens ab der
Mitte der 1920er Jahre von seiner selbstverständlichen Kopulation mit der Avantgarde[13] verabschiedet und die Kunst als vermutetes oder
crea7
unterstelltes Element der Eliten zur Kultur verbreitert, was in der Zusammensetzung mit Alltag seine Ausdehnung über alle Grenzen hinweg
nahezu leuchtspurenhaft verfolgen läßt. Statt nach wie vor der vernünftigen Differenzierung der qualitativen Hierarchien der Kreativitätstheorie
statt zu geben, die ein Grundpotential an für jeden Menschen verbindlicher Kreativität bis ca. einem Drittel der Rangskala zuläßt und statt Joseph
Beuys’ richtigem Ansatz[14], daß in jedem Menschen künstlerische Fähigkeiten stecken, zu folgen, wurde die hierarchische Dimensionierung
abgelöst zugunsten einer beliebigen Gleichwertigkeit, die alsbald auch – ich vermute aus eher politischen Gründen als intelligenten Erwägungen
– die Kunstdefinitionen und ihre Promotoren selbst erfaßte. Der heutige Szenenslogan „Kunst ist, was Aufmerksamkeit erzeugt“[15], ist
geradezu die Bankrotterklärung eines Differenzierungsmodells und gibt beides, Kunst und Kreativität, der Beliebigkeit einer irgendwie
motivierten und passiv erlebten Wahrnehmung preis. Marketing und Medienmanipulation traten hinzu und Szenen, Institutionen und ihre
Apologeten taten ein übriges, die Verwirrung in Sachen Kunst weiterzutreiben. Selbstverständlich konnten Toleranz und Bejahung der Pluralität
keine entsprechend signifikanten Korrekturen anbieten, so daß, wie mir scheint, derzeit die Beschreibung von Kunst als
Differenzierungsmerkmal verschiedener Kreativitätshöhen verschwunden ist und stattdessen völliger Beliebigkeit anheimzufallen scheint.
Gleichsam ein Bindfaden als Rettungsseil könnte in der chartähnlichen Aneinanderreihung von bedeutenden Künstlernamen erscheinen, die als
Logoi ihres eigenen Stils (ein Begriff von Peter Weibel)[16], hochkreatives Potential signalisieren und deswegen auch geradezu in altmodischer
Weise als Repräsentanten des Zusammenhangs von Kreativität und Kunst nach wie vor angesehen werden. Daß auch hierbei Marketing,
Verbreitungstechnik, Szenen, Durchsetzungsvermögen, Medienmanipulation und die in einer Materialgesellschaft vorhandenen Mechanismen
bestimmte Irritationen hervorrufen können, die die Sicherheit der Zuschreibung wieder in Frage stellt, bleibt offen.
Allerdings böte sich, so meine ich, eine brauchbare Alternative für die Differenzierung von Kultur und Kunst an, die im wesentlichen auf das alte
Differenzierungsmodell von Kreativität und Kunst Bezug nimmt und sich als Tradition des 18. Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart
ableiten läßt. Die Erkenntnisse des 18. Jahrhunderts, also der Zeit der Aufklärung, die nach wie vor prägend für unsere Gegenwart angesehen
werden können, weswegen auch eine Reihe von philosophischen und theoretischen Überlegungen um diesen Gegenstand kreisen, haben relativ
genau und weitgefaßt eine Reihe von Parametern, die in ihrer Summe für Kreativität zuständig sind, beschrieben, die sich durchaus als nachhaltig
herausstellen, auch wenn sie in der modernen englischen Wissensterminologie neu benannt wurden. Friedrich von Schillers Ästhetische
Briefe[17] könnten nahezu als Kompendium dieser Kreativitätsthematik verstanden werden, wobei schon damals vernünftigerweise weder die
auch heute noch untrennbaren Faktoren Genetik und Sozialisation auseinandergenommen wurden, noch die Individualität des kreativen
Potentials, bezogen auf den einzelnen Menschen, infrage gestellt wurde. Auch heute wird vor allem gemäß den Erfahrungen der Gehirnforschung
nach wie vor auf diese Individualität gesetzt, wenn auch eine Reihe höchst renommierter Forscher sich mehr für die rationale Theorie „to explain
the creative process“[18] als Kosten-Nutzeneffekt interessieren (Rubens, Sternberg, Lubart etc.)[19] oder andererseits die Systemperspektive des
Ungarn Csikszentmihaly[20] gilt, der die Kunst in Relation zu Gesellschaft, Kultur und Personen vernetzt. Meine individuelle Präferenz resultiert
crea7
aus dem nach wie vor ungeklärten Phänomen der künstlerischen Einzelleistung; dann dem Transportcharakter dieser individuellen Leistung, die
sich immer wieder auch nur an ein Individuum richtet, weswegen folgerichtig letztlich auch nur ein individuelles Kunstverstehen existieren kann;
dieses ist allerdings kommunizierbar und wird dort auf Zustimmung treffen, wo entweder die gleichen rationalen Grundlagen oder sehr ähnliche
emotionale Befindlichkeiten vorliegen, gleichsam das Übereinstimmen von Psychoclusters gegeben ist. Sie treten in der Gesellschaft des 20.
Jahrhunderts und auch der heutigen wegen der Pluralitätsperspektive in jeder Richtung eher zufälliger auf als in anderen Jahrhunderten, wo sie in
der gleichzeitigen Einheitlichkeit der ästhetischen Kategorien zwischen Sender und Empfänger eher breit diagnostizierbar waren. Zur
Individualität drängt auch die Argumentationsschwierigkeit des wissenschaftlichen Nachweises der Korrelation von Gesellschaft, Kultur und
Person mit der Kunst, die, an einer Reihe von Fallstudien überprüft, unendliche mühsame wissenschaftliche Arbeit erfordert und letztlich nur
relativ grobe Detailergebnisse erbringt. Im besten Fall lassen sich aus der Addition dieser Detailerfahrungen bestimmte begründete Vermutungen
anstellen, die allerdings, wie beispielsweise die Mozart- und Wagnerliteratur erweist, trotz relativ ähnlichen Faktenwissens von hoher
Brüchigkeit gekennzeichnet sind.
Eine wissenschaftlich haltbare Korrelation von Kunst und Kreativität verlangt nach Axiomen beider Begriffe, die meinetwegen als
Arbeitshypothesen durchgehen mögen, aber in einer Art Abbildverfahren dann auch entsprechend wahrgenommen werden müssen, wenn die
Korrelate nachvollzogen werden sollen. Für die Kunst, zumindest unseres europazentrierten Kulturkreises biete ich als These an: „Kunst ist die
Höchstentwicklung des kreativen Potentials des Menschen in der Versinnlichung seines intellektuellen, emotionalen und sozialen Vermögens“.
Dieser Aspekt der Versinnlichung schließt natürlich auch die Darstellung abstrakter Phänomene mit ein im Sinne der oft geäußerten
Argumentation von Naturwissenschaftern, begonnen mit Albert Einstein, „Die Formel sei schön“. Der Terminus Höchstentwicklung differiert
eindeutig zur normalen kreativen Entwicklung des Menschen vom Kinddasein zum Erwachsenenalter, was, wie oben bemerkt, in der
Qualitätshierarchie ca. mit einem Drittel abgedeckt ist, und reflektiert die Berufsmentalität des Künstlers in den verbleibenden drei
Einschätzungsfeldern bis hin zum Genie. Diese Rangskala ist ab dann, wenn man so will, künstlerisches Selbstverständnis, wenn auch oft anders
bezeichnet, nichtsdestoweniger inhaltlich ident. Die einzelnen Faktoren der Kreativität, also ihre Bestandteile, sind naturgemäß bis in die
Unendlichkeit ausdifferenzierbar, lassen sich aber, geführt von Friedrich von Schillers vorgenommener Reduktion auf knapp 25
Zentraleigenschaften[21], heute auf sieben Zentralparameter reduzieren:
Fluktualität:
Flüssigkeit / Uhrwerk / ablaufen / Bewegung
crea7
Flexibilität:
Wandel / Schnitt / Rhythmus
Originalität:
Freiheit / Immunität / Nicht Allgemeine / Neue
Sensitivität:
Berührung / Empfindung
Komplexitätspräferenz: Liberalität / Volle / Dichtungskraft / Unübersichtliche
Elaborationsfähigkeit:
Würde / Energie / Kenntnis
Ambiguitätstoleranz:
Selbständigkeit / Gleichgewichtigkeit / Toleranz / Ertragen
In den nachfolgenden Graphiken wird der Rangskala von Begabungsstärke (als y-Achse) eine hypothetische x-Achse gegenübergestellt, die
allerdings keine Rangskala darstellt, weswegen nötig ist, ein räumliches Schaubild zu entwerfen. Es ist zwar eindeutig, daß die einzelnen
Parameter verschiedene Rangskalengrößen in ihrer individuellen Bedeutung erlangen können, aber bislang völlig offen, ob diese Parameter
zueinander in irgendeiner Art von Zusammenhang stehen. Zumindest findet sich bislang dafür kein empirischer Beweis.
Die vorgenommene Anlage dieser Kategorien an einer großen Reihe von Künstlern aller Genres aus Geschichte und Gegenwart überzeugt
dahingehend, daß damit grosso modo und holistisch ein relatives Auslangen zu finden ist. Künstler, die in allen Kategorien Höchstleistungen
vollbringen, sind jene, die wir gewöhnlich als Genies bezeichnen, also Persönlichkeiten vom Range Shakespeares, Goethes, Rembrandts,
Mozarts oder Picassos. An den einzelnen Parametern überprüft, erfüllen sie optimale Kreativitätsansprüche bis hin zur emergentiven Phase, also
jener Dimension, die realiter die Welt des Geistes veränderte und deren Produkte mehr oder weniger quer durch alle Jahrhunderte als zeitlose
Ikonen verstanden werden. Der überregional bekannte Künstler, um eine soziologisch messbare Dimension eines anderen höherrangigen
Künstlers zu verdeutlichen, erreicht Qualitätsstufen die zweifellos im oberen Drittel der Gesamtmöglichkeiten angesiedelt sind, kann aber und
wird sogar im Querschnitt die einzelnen Parameter durchaus verschiedenartig abdecken. Es sei erlaubt, dies an einzelnen Beispielen und
Künstlern aus topographischer Nähe, i. e. mit Aufenthaltsort Österreich, aber von verschiedenen Genres herkommend, zu verdeutlichen.
crea7
crea7
crea7
crea7
crea7
crea7
Fluktualität
Fluency beispielsweise, die „Flüssigkeit“ jener Ideen, bei Schiller schon als Flüssigkeit bezeichnet, aber auch als „fortlaufende Bewegung“ oder
„ablaufendes Uhrwerk“, ist ein Zentralkriterium für die Bedeutung Elfriede Jelineks. Dies bedeutet, daß sie vorrangig ein bestimmtes zentrales
Thema ins Auge fasste und ihr literarisches Leben lang an sich bei diesem Thema bleibt, aber Varianten entwickelt, die individuell und
strukturell diese Thematik umkreisen. Es wären bei ihr, gleichgültig ob in Prosa oder Theaterstücken, der Aspekt kleinbürgerlicher Mentalität mit
ihrer Zwängen und Frustrationen, eine Sexualstruktur, die repressiv ist, der immanente Faschismus, den jeder in sich trägt, und jene
Frauenfeindlichkeit, die geradezu schon im Unterbewußtsein verankert ist. Das Beharren auf dieser oft gegen das Österreichische an sich
gerichteten Thematik hat der Autorin viele Gegner eingetragen, andererseits aber gerade mit der Frauenfrage auch jenen Weltruhm, der diese
manische Attitüde auszeichnet.
crea7
Eine ganz andere Art von Fluktualität ist jenes Phänomen, das der österreichische Musikkritiker Harald Kauffmann in den 1960er Jahren als ein
typisch österreichisches bezeichnet hat, jenes der Parataxe[22]. Er sieht dies als permanente Aneinanderreihung von Gedanken, die zu einem
thematischen Überbau passen. Grundtypus dieses Phänomens wäre beispielsweise der Wiener Walzer, der im wesentlichen in einem
Rahmenkorsett von symphonischer Introduktion und Coda kurze Melodienmodelle aneinander reiht, die als gleichwertig zu verstehen sind, auch
wegen ihres akustischen Zuschnitts quasi als Signale wirken und damit, wenn man so will, auch ein gesellschaftliches Spiegelbild erzeugen, nur
dieses Mal nicht primär kritischer Provenienz, sondern als affirmative Situationsschilderung. Fluency wird hier nicht als Beibehalten des
gleichen Themas, sondern als Beibehalten des gleichen Formprinzips in der Hülle eines vorhandenen Gesellschaftssystems verstanden.
Im bildnerischen Kontext würde sich der österreichische Künstler Adolf Frohner (*1934)[23], mit dessen Arbeit ich mich auch
publikationsmäßig intensiv beschäftigt habe, zur Beweisführung anbieten. Er hat sich in den letzten vierzig Jahren sogar unter Einbeziehung des
aktionistischen Beginns, der allgemein verschwiegen wird, ausschließlich mit dem Bild des Menschlichen, vor allem dargestellt am weiblichen
Körper, beschäftigt. Weiblicher Körper ist für ihn Subjekt und Objekt gleichzeitig, ein Modell für Lebensspendung, Urkraft, pralle Repräsentanz
von Freude und Rot, als Mythos und Leidensträgerin und wirksames Visavis zum Tod, als Akt, alle Stadien der altersbedingten variablen
Unverhülltheit durchlaufend, aber nie die Würde verlierend, ebenso wie als geschundenes Wesen, benutzt und gebraucht von Werbung und
Männerphantasien, als Objekt von Projektion inbegriffen. Frohner hat 40 Jahre lang ein Kompendium der Frauendisposition in Sein und
Anschauung hergestellt und gleichzeitig eine Symbolsprache der losgelösten Geschlechtlichkeit, geradezu zur Dreidimensionalität verdinglicht,
entwickelt. Der Theologe Friedhelm Mennekes nannte dies treffend: „der Logos gebunden ans Fleisch“[24]. Ein Nicht-Theologe würde glauben:
„das Fleisch bleibt konstant und der Logos wechselt“.
Zeitaktuell argumentiert, ist es ebenso ein Zeichen von hoher Fluktualität, wenn die französische Aktionskünstlerin Orlan versucht, durch
fortwährende Schönheitsoperationen über lange Zeit sich ein neues Gesicht zu erschaffen, was allerdings nicht auf den üblichen fragwürdigen
Schönheitskriterien basiert, sondern eher auf einer Sammlung ikonographisch bedeutender Bilder. Sie wollte die Nase der Diana von
Fontainebleau, die Stirn der Mona Lisa, das Kinn der Botticellischen Venus, von Gustave Moreaus Europa den Mund und die Augen nach
Psyche von Jean-Leon Gérômes. Fazit: Orlan sollte ein Pygmalion werden. Ihr Körper ist ein Kunstwerk. Der Operationstisch wird zu ihrem
Künstleratelier, wie der französische Kritiker Bernard Lafargue attestierte[25].
Flexibilität
crea7
Ein anderer Parameter ist die Flexibilität, von Schiller als „Wandelschnitt“ oder „Rhythmus“ bezeichnet, also die Fähigkeit, zwischen
verschiedenen Themata ohne große Schwierigkeiten wechseln zu können, wobei eine Besonderheit dieser Begabung darin besteht, gleichzeitig
an durchaus verschiedenen Werken zu arbeiten. Trifft dies für Maler schon aufgrund der Trockenzeiten ihrer Produkte nahezu immer als
wichtige Voraussetzung zu, so weiß man es auch von Architekten, die gleichzeitig verschiedene Objekte planen und bauen und selbstverständlich
gilt dies auch für den Auftragsmusiker historischer Provenienz, der schon aus Gründen schneller Vertragserfüllung immer gleichzeitig an
mehreren Werken arbeiten mußte.
Ein Parademodell außerhalb dieser Auftragslage war Anton Bruckner, von heute aus gesehen der wichtigste Symphoniker des 19. Jahrhunderts,
der, ob neurotisch oder nicht, sich selbst die Pflicht der Flexibilität auferlegte - obwohl seine Symphonien wenige und immer gleiche thematische
Grundmuster aufweisen, was in der Regel der Hörer nicht wahrnimmt, so daß er sein kompositorisches Leben lang, das allerdings erst mit seinem
vierzigsten Lebensjahr einsetzte, immer gleichzeitig über mehreren Werken saß. Er schrieb immer an einem neuen Entwurf und verbesserte
immer gleichzeitig früher Geschriebenes (ohne jetzt die Gründe dafür erörtern zu wollen), was zu jener Unübersichtlichkeit der Fassungen und
damit auch der Gesamtausgaben führte, die an seinem musikalischen Beitrag in der Praxis problematisiert werden. Eine Besonderheit muß darin
bestanden haben, daß er immer das Neue, Entwickelte, mit bereits Altem, also Entwickelt–Geschaffenem konkurrenzieren mußte, gleichsam
Novität und eigene Tradition in einem gleichzeitigen Bewußtsein zu korrelieren hatte, zweifellos ein Phänomen mit hohem Streßfaktor, der ihn ja
auch relativ früh (mit knapp über siebzig Jahren) am Riesenbau der 9. Symphonie scheitern ließ[26].
Ein nicht erläuterungsbedürftiger „Flexibilist“ war zweifellos Leonardo da Vinci, der nicht nur innerhalb der Kunst die Genres zwischen Musik,
Dichtung und Malerei ununterbrochen wechselte, sondern dies auch bezüglich der Wissenschaft, sowohl jener der Grundlagen als auch der
angewandten, der Ingenieurkunst etc. tat. Er war, wenn man so will, relativ gleichrangig Maler, Architekt und Plastiker, Ingenieur,
Intellektueller, Anatom, Botaniker und Geologie, Hydrologe und Aerologe, Optiker und Mechaniker und imstande, an den Phänomenen nicht nur
parallel, sondern auch durchaus tagesgleichzeitig zu arbeiten.
Eine andere Art von Flexibilität ist bei Thomas Bernhard aufzufinden, dessen zahlreiche Schriften sich ausschließlich um den Typus des
Außenseiters, des Exzentrischen, Verrückten, also um den Nahhabitus des Künstlers selbst drehen. Man würde diesen Typus auch gerne als
Intellektuellen bezeichnen, wenn der Begriff alltagssprachlich nicht zu sehr kognitiv besetzt wäre und damit die für den Künstler so notwendige
emotionale Intelligenz vernachlässigt würde. Künstler, rein soziologisch betrachtet, sind in Bernhards Werk zweifellos der Maler Strauch (Amras
1964), der Architekt Roithammer (Korrektur 1975), die Dichterin Maria (Auslöschung 1986), die Pianisten Wertheimer, der Klaviervirtuose
Gould und der namenlose Protokollant (Der Untergeher 1983) sowie der Komponist Auersberg (Holzfällen. Eine Erregung 1984) und jene
crea7
ohnehin mit realen Namen ausgestatteten Protagonisten von Bernhards Theaterstücken. Aber sind nicht auch Murau (Auslöschung. Ein Zerfall
1986) und Reger (Alte Meister 1985) künstlerische Repräsentanten? Beide entstammen der Visavis-Seite des Künstlers, der Rezeptionsschicht,
sind aber Experten auf ihrem Gebiet: der eine Spezialist für Fotografie, der andere ein guter Tintoretto-Kenner. Alle Figuren sind Kopfarbeiter
die aufgrund ihres Künstlerseins den Verlust aller sozialen menschlichen Bindungen auf sich nehmen müssen, jedenfalls aber Herausragende aus
dem Milieu des Dumpfen und Schwachsinnigen. Strauch zerstört sich infolge seiner außerordentlichen Wahrnehmungsfähigkeit, Murau nennt
sich selbst „Altersnarr“ und wird von seinem Schüler als „Vormittagsphantast“, als „maßloser Übertreiber“, als „grotesker Negativist“, als
„Geschöpf der Künstlichkeit“ bezeichnet. Roithammer, Architekt von naturwissenschaftlichen Graden, ist sich selbst unerträglich, ja selbst
Konrad (Das Kalkwerk 1970), der (typischerweise) seine Frau am Heiligen Abend ermordet, ist ein Querulant. Die Dichterin Maria schreibt „die
größten Gedichte der deutschen Sprache“ und hält sich selbst für verrückt. Und auch die beiden Männer in Gehen (Frankfurt 1971), der
Chemiker Oehler und der „Untergeher“ Karrer treiben sich in solche Höhen, daß sie nahezu wahnsinnig werden: „Verrücktheit ist etwas in
unglaublichster Höhe sich Vollziehendes, aber gleichzeitig mit einem Schlage Wertloses“.
Auch Reger ist ein Sonderling, der seine Kindheit als „Hölle“ empfindet, die Sonne haßt, mit Österreich (wie nebenbei bemerkt nahezu alle
Bernhardschen Helden) in einer Art permanentem Kriegszustand lebt, und noch dazu einer, der, selbst hochkreativ im Denken und Empfinden,
den Künstler desavouiert, ihn zumindest mit aller Künstlichkeit der Kunst in Zweifel zieht. Auch dieser Reger wird plötzlich zur Kunstfigur, weil
er Maler, Musiker und Schriftsteller in einem ist, nicht nur Rezipient, sondern auch Täter, also nicht nur Leser, sondern auch Schreiber,
künstlerischer Generalist, würden wir sagen[27].
Originalität
Jener Parameter, der zumindest in der konventionellen Kunstauffassung des 19. Jahrhunderts als ein für die künstlerische Kreativität zentraler
angesehen wurde, ist die Originalität. Damit war aber, nicht wie Laien so oft meinen, daran gedacht, daß jeder Künstler Originäres im Wortsinn
der Erst- und Einmaligkeit schaffen müßte, sondern Originalität bedeutete auch im 19. Jahrhundert Originäres im Kontext zur zeitgenössischen
Szene oder zur unmittelbar wahrgenommenen Rezeption. Originalität im Kreativitätsschema bedeutet primär Neuheit für den Künstler selbst,
also Beschreiten neuer Wege und Durchsetzung der einmal als richtig erkannten Vorstellungen, gleichgültig, ob dies Tabus verletzt oder nicht,
ob dies Beifall findet oder nicht, ob dies akzeptiert wird oder nicht, ob dies verfolgt wird oder nicht, ob dies gerade für ihn günstig ist oder nicht.
Gerade die Tabufrage ist zweifellos jene Dimension der künstlerischen Kreativität, die die meisten sozialen Konflikte in der Kunstgeschichte
ausgelöst hat. Heute werden gewöhnlich nur die Konflikte mit Machtträgern wie Kirche oder Adel betont und beschrieben, wobei die Verletzung
crea7
sexueller Tabus bis hin zur vermeintlichen Pornographie als häufigstes Schema genannt wird. Kunsthistorisch gesehen gab es aber ebenso sicher
Auseinandersetzungen mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen, mit Ständen, Berufssparten, Geschlechtern und Symbolträgern aller Art.
Dies hängt damit zusammen, daß Tabus nicht nur in Relation zur Macht und deren Erhalt eingesetzt werden, sondern auch als weltanschauliche,
schichteneigene oder spartensystemisierte aufgebaut werden können. In unserer gesellschaftlichen Realität beispielsweise hat sich eine relativ
liberale Haltung gegenüber Sexualität allgemein durchgesetzt, andererseits aber haben sich neue Tabus entwickelt: Tierschutz, Genttechnologie,
in Österreich die Atomfrage, Kindersexualität im Westen, Sterben und alle Auswüchse von „political correctness“, die nahezu beliebig und
täglich neu gängige Sprachmetaphern mit Tabuzonen belegt. Die Nichtrücksichtnahme auf Tabus erstreckt sich folgerichtig denn auch auf die
Gesetzgebung, was beispielsweise in Österreich Otto Mühl mit sieben Jahren Gefängnis bezahlen mußte.
Von der Originalitätsdimension her gesehen, sind auch gesetzlich geschützte Tabus irrelevant. Dem Künstler bleibt nichts anderes übrig als seine
Arbeit in Erkenntnis der Thematik und seiner eigenen Leistungsfähigkeit auszuführen und möglicherweise dafür bürgerlichen oder
gesellschaftlichen Sanktionen ausgeliefert zu sein.
Daß Künstler und darunter auch so berühmte wie Michelangelo, Schiele, Bruckner oder Verdi gelegentlich Revisionen auf äußeren Druck in
ihren Werken vornahmen, ändert nichts an dem Phänomen an sich, sondern zeigt nur, daß sie die Veröffentlichung oder Aufführung ihrer Werke
der einmal konstatierten Originalität vorzogen.
Klassische Beispiele im 20. Jahrhundert für diese nahezu die Kunstwelt verändernde Originalität sind leicht zu benennen. Der Komponist Arnold
Schönberg hat mit seiner Erfindung der Zwölftonlehre tatsächlich eine neue musikalische Ausdrucksweise entwickelt, die als künstlich erdachtes
System weite Teile der musikalischen Komposition des Jahrhunderts beherrschte. In der Verfolgung der Idee, die Linearität und die Vertikalität
der Musik zu verschränken, schuf er nahezu auf Ingenieurbasis Musikkonzepte, die vorher in dieser Form nicht auffindbar waren. Die
Zwölftonlehre war also nicht so sehr der Wunsch nach einem neuen musikalischen Stil, sondern die Artikulation eines Kunstwollens, das die
Dominanz des Handwerks als ästhetische Wahrhaftigkeit sichern wollte. Schönberg baute auf der Logik musikalischer Grundgesetze auf, die er
vorab gründlich an prominenten Werken der Musikgeschichte studiert hatte und entwickelte damit ein Lehrsystem, das sich am musikalischen
Material allein und nicht an seiner Interpretation oder der Überstülpung von Stimmungen über dieses Material orientierte. Das Ergebnis war
zwangsläufig autokratisch, formal streng und deswegen auch einerseits von künstlerischen Adepten gesucht, andererseits von Gegnern des
Systems wütend bekämpft. Erst in jüngster Zeit sind wieder Schönberg-Interpretationen bekannt geworden, die zeigen, daß sogar der
Wienerische Sprachduktus trotz der Konstruktionsweise nicht verlorenging und damit tatsächlich eine Neusprachlichkeit von Musik erreicht
wurde, die man ohne weiteres dem Wechsel vom Mittel- zum Neuhochdeutschen gleichstellen könnte[28].
crea7
Eine ebenso große und inzwischen durchaus von allen Schichten akzeptierte Prägung durch Originalität malerischer Sichtweise schuf Pablo
Picasso, mit dessen Demoiselle d‘Avignon 1908 als Beginn des analytischen Kubismus gewöhnlich auch der Beginn der bildnerischen Moderne
angesetzt wird, der aber auch in einer Reihe von anderen Stilfindungen nahezu das Gesamtschaffen des 20. Jahrhunderts präformierte. Gerade
Picasso ist ein Beleg für die Tatsache, daß ihm die Originalitätsdefinition im Hinblick auf die Erstmaligkeit der Geschichte völlig gleichgültig
war: Seine Studienphase ab dem 14. Lebensjahr internalisierte den Malstil Velasquez’, sein Expressionismus der blauen und der rosa Periode
schloß in malerischer Unverwechselbarkeit an seine Vorgänger an, sein Exotismus stand unmittelbar mit Cézannes Bilddenken für den Kubismus
Pate, Doppelgesichtigkeit in Analyse und Synthetik dauerten bis zu einem neuen wichtigen Klassizismus einerseits und einer Materialvielfalt
andererseits, die von der konventionellen Bleistiftzeichnung bis zur Transparenzerfahrung auf der Glasplatte zwecks Filmabnahme reichte. Ja
selbst das kleinplastische Werk, das erst 1977 mit einer Gesamtschau in Düsseldorf bekannt wurde, zeigt unmißverständlich die Vorwegnahme
nahezu aller Objektauffassungen des 20. Jahrhunderts, wobei sich, wie sonst auch, rezeptionsrelevante Originalität und Findung – so Picassos
eigene Formulierung – trafen[29].
Eine ganz andere originelle Strukturierung stellt der österreichische Dichter Peter Turrini, geboren 1944, vor. Seit seiner Rozznjogd von 1971
offeriert er in seiner Arbeitsweise, gleichgültig ob für das Theater, den Fernsehschirm oder neuerdings auch für die Oper (Der Riese vom
Steinfeld, komponiert von Friedrich Cerha 2002) Zeitaktualität in Alltagskleidung und ausschließlich im sozial dramatischen Zusammenhang. Er
verwendet wie weiland Johann Nestroy nicht nur die Sprache des einfachen Volkes, sondern auch die Medienrealität, insbesonders jene der
trivialen Medien Film und Fernsehen, übernimmt Klischees zu ihrer Decouvrierung und singt nach wie vor das Lied vom einfach geschändeten
Individuum, das aber nicht wie im Expressionismus als unschuldige Kreatur, sondern als mitschuldig Gefangener dem in der Regel letalen
Schicksal nicht entkommt. Turrinis dramatischer Aufbau, an Modellen der Vergangenheit geübt, macht sinnvoll klar, daß auch im Zeitalter der
Collage, der nahezu durchgängigen Fragmentierung, es sinn- und einsichtsvoll ist, ganzheitlich zu denken und zu schreiben, den traditionellen
Werkcharakter beizubehalten und trotzdem die Dimension aktueller Modernität zu streifen. Dieses Originalitätsmodell, das trotz sich
verändernder, politischer und ökonomischer Lage stur bei der Schicksalssubstanz des Individuums als Repräsentant einer der ausgebeuteten
Schichten bleibt, erhält in der künstlerischen Bearbeitung unerwartete Nobilitierung, die dem unreflektierten Massenverbrauch entgegensteht und
in der nivellierten Totale quasi auf Zoom-Ebene das Einzelschicksal zum Modell des Lebens erhebt[30].
Daß diese Originalität auch in den neuesten elektronischen Medienkünsten Zukunft hat, beweist der ungarische Animations- und
Computerspezialist Támas Waliczky. In seinem aufwendigsten Projekt The Garden. (1991-1993). Ein Amateurfilm des 21. Jahrhunderts
versuchte sich Waliczky nicht an der Zeit, sondern auch an der Vorstellung vom Raum: „Das ungewöhnliche an The Garden ist die veränderte
Perspektive, denn das spielende Kind (aus altem Superachtmaterial zusammengeschnitten) wird zum Zentrum der Welt, eine solipsistische
crea7
Einheit, in der sich alles krümmt und im wahrsten Sinn des Wortes um die eigene Person dreht. Waliczky hat dazu das
Wassertropfenperspektivsystem entwickelt, bei dem jeder Gegenstand vom Standpunkt des Kindes her bemessen wird, das heißt, geht das Kind
auf Etwas in seiner Umgebung zu, wird dieses Etwas größer und alles hinter dem Kind wird kleiner. Die Perspektivlinien gleichen einer
wissenschaftlichen Abbildung aus dem Bereich der Strömungslehre. Das Kind scheint die Wirklichkeit anzuziehen. Dabei entstehen
ungewöhnliche und kaum vorauszusehende Verzerrungen und Verschiebungen der sichtbaren Umwelt. Die ganze Welt ist kugelförmig und hat
das kleine Kind als Mittelpunkt. Alles hängt von seinen Bewegungen ab. Die gezeigte Welt ist seine eigene Welt“. So beschreibt Anna Szepesi
diese Arbeit[31].
Sensitivität
Ein wichtiger Parameter ist auch Sensitivität, nicht zu verwechseln mit Sensibilität, weil das Adjektiv sensitiv auf eine Aktivposition hinweist,
die vom Individuum als Sinnesaktivierung auch geleistet werden muß. Die Sensitivität ist für die Kunst der Hort des Seismographischen. Sie ist
die Fähigkeit gesellschaftliche Veränderungen, Trends, Modeströmungen, die in der Luft liegen, wahrzunehmen, darauf zu reagieren und sie –
meistens bevor sie eintreten – entsprechend auszudrücken, respektive die Anfänge von sie betreffenden Dokumentationen zu leisten.
Auch wenn die treffende Zuschreibung erst immer ex posteriore zu leisten ist, wobei die Gefahr der Überprojektion droht, sind in der
Kunstgeschichte einzelne Geschehnisse so bedeutsam, daß sie als Logoi für Eigenschaften dienen können. Auch wenn viele Regisseure,
Dirigenten und gar erst das Publikum an dem Phänomen vorbeigehen, ist ein Paradebeispiel dafür in Mozarts Finale des 1. Aktes seiner Oper
Don Giovanni aufzufinden. Diese Oper 1787 geschrieben, also zwei Jahre vor der Französischen Revolution, für die sich Mozart nach seinen
eigenen Worten wegen des hohen Blutvergießens nicht sehr interessierte, beinhaltet eine meist als rätselhaft verstandene musikalische
Artikulation, die später zum Signalruf der Revolution wurde. In dem Finale treffen sich alle Gegenspieler bei einem Maskenfest, die von Mozart
auch musikalisch gleichzeitig auf der Bühne durch die sie repräsentierenden Tänze plastisch dargestellt werden. Innerhalb dieser vertikalen und
horizontalen Separation, die nur durch den Faktor Musik geeint ist, brechen plötzlich alle Beteiligten in den Ruf „libertà“ aus, wiederholen
diesen insgesamt 17mal, was nicht nur unser heutiges Opernpublikum kaum wahrnimmt, sondern auch das damalige wahrscheinlich
verwunderte. Dieses Libertà-Modell, noch dazu in der seit dem Barock bekannten all’armi-Quarte aufgehoben, also ein militärisches
Angriffssignal, hat eindeutig Kampfrufcharakter und wird seitdem oft in der Vertonung mit dieser autoritativen Quarte dargestellt[32].
Picassos Guernica-Bild von 1937, gemalt anläßlich der Auslöschung des Ortes, ist nicht nur eindeutig auf Spanien bezogen mit den vielen
erfahrenen Techniken der früheren Jahre, dem flachen bruchstückhaften Figuren des Kubismus, dem versetzten Augen-Ohren-Profilen und
crea7
Gliedmaßen, den kraftvoll abstrakten Formen der primitiven afrikanischen Kunst und der Symbolik der Minotaurus-Serie ausgestattet, sondern
auch ein bildhaftes Symbol für jenen anonymen modernen Krieg, der seit der Jugoslawien- und der Irakkrise erst mehr als ein halbes Jahrhundert
später Routine zu werden scheint. Übrig bleiben, so lehrt das Gemälde, nur gequälte, zerstörte Folgeerscheinungen: das Leid, die Unsicherheit,
die Opfer, unkenntlich von welcher Seite, während der auslösende Täter oder die Veranlassung der Täter samt deren wie immer gearteter
Motivation in Unpersönlichkeit und Unbekanntheit verschwanden[33].
Ein ebenfalls erst ein halbes Jahrhundert später relevantes Phänomen, die Ökologie und Bedachtsamkeit auf die Natur, ist bereits im Werk des
Wiener Schule-Komponisten Anton von Webern vorformuliert. Auch wenn man seine 31 Stücke des Gesamtwerks in drei Stunden abspielen
könnte, weil Weberns längstes Werk 10’ 30 dauert, während sein kürzestes 19 Sekunden währt, ging es ihm bei der Abstreifung der Tonalität um
eine höchstmögliche Verdichtungsphase, also nicht um Pointillismus als Modell für Darstellung, sondern um Farbe an sich, Ton an sich, Musik
als Leben und nicht als Synonym für Leben. Die heute immer weiter um sich greifende Erkenntnis, daß Weberns Musik mit dem Modus des
Organischen zu tun hat, eine These, die seine eigenen Aussprüche und seine gute Kenntnis von Goethes Pflanzenlehre unterstreichen, versucht
im Analogon der Naturanschauung zu verfahren. Deswegen bezeichnete sie Pierre Boulez als „entrindet“ oder beschrieb der Komponist
Wolfgang Rihm die „Durchseelung des Einzeltons“, weil die Töne ja nicht im Stillstand beseelt seien, sondern sie im Fluß lägen und fließend ein
von Webern gern gebrauchtes Wort sei. Dieses Zu-sich-selbst-Kommen, das immer nur den musikalischen Ton und seine Eigensubstanz bis hin
zu seinen Beziehungen bedeutet, also Sein oder Leben signalisiert, war verständlicherweise eine Kampfansage an Pathos, Versprachlichung und
Expressivität als Angriffsnormen gegen dieses Leben, das des absoluten Schutz bedürfte[34].
Komplexitätspräferenz
Komplexitätspräferenz ist ein Parameter, der nahezu von jedem Künstler angestrebt wird, also ein Modell, das in allen anderen
Kreativdimensionen wie Wissenschaft, Sozialverhalten oder körperliche Intelligenz nur sporadisch entsprechend auftritt und eher auf
Spezialisierung hin trainiert wird. Die Legitimation für das Auftreten von und in der Kunst besteht jederzeit und überall zweifellos darin, daß sie
als offenes System eine Art Lebensparallele darstellt. Es ist kein Zufall, daß seit Tausenden von Jahren immer wieder die gleichen zentralen
Menschheitsprobleme abgehandelt werden, meist existentieller Art, wo es um die Grundbefindlichkeiten des Menschen geht: seine Triebe, seine
Interessen, seine emotionalen Befindlichkeiten, seine Tätigkeiten, seine sozialen Beziehungen, seine Wahrnehmungen und sein Hang zur
Metaphysik. Liebe und Haß, Werden und Tod, die Gottesvorstellungen, Fauna und Flora, die Mythologie und die Sterne, die
Geschlechterbeziehungen, die Tugenden und Laster des Menschen sind zentrale Fragestellungen, die immer wieder neu beantwortet werden.
Daraus resultiert zweifellos auch die Zeitlosigkeit wichtiger Kunstwerke, weil sie trotz ihrer zeitlichen Entstehungsgebundenheit, die lange
crea7
zurückliegen mag, Lösungsansätze anbieten können, die heute noch überlegenswert und durchaus reflexionsanleitend sind. Das griechische
antike Theater beispielsweise analysierte die innerfamiliären Beziehungen derart, daß auch die moderne Psychologie (nicht zufällig operierte
Freud mit Antiken- und Kunstfigurenbezeichnungen) keine wesentlichen Neuerungen anbieten kann. Das Römische Imperium demonstrierte
Machtfragen, die christliche Kunst von Anfang an die Vermenschlichung der Gottesvorstellungen, die Renaissance die
Wahrnehmungsfähigkeiten, abgelesen an der Natur und konstruiert in neuer Ingenieurtechnik. Die Aufklärung kümmerte sich um die Autonomie
und die Wahlchancen des Menschen, das 19. Jahrhundert vor allem um die Emotionen, und das 20. Jahrhundert um alle jene Nebenschauplätze,
die fallweise die Hauptfragen empfindlich beeinflussen, sie aber nur im Ausnahmefall stellen.
Tatsächlich schafft es die Kunst in ihrer Dimension komplexe Systeme an sich nicht nur darzustellen, sondern auch erklären zu können,
gleichzeitig die emotionalen und rationalen Intelligenzen im Menschen anzusprechen, ihn zumindest an seine eigenen Fähigkeiten und
Möglichkeiten zu erinnern. Kennzeichnend für diese Komplexitätspräferenz sind alle Konjunktionen mit Welt, womit der größtmögliche Umfang
dieser Komplexität angedeutet wird. War diese Welt manchmal nur der überschaubare topographische Raum, so ist es heute eine globale ja
orbitale Dimension, deren Zusammenfassung auch in der Gegenwart angegangen wird. Das Panoramabild Schlacht bei Frankenhausen von
Werner Tübke[35] beispielsweise, nicht nur riesig im Format und nicht nur riesig in der quantitativen Malerei kennzeichnet den Anspruch einer
solchen Komplexitätspräferenz ebenso, wie Peter Weibels Installationen den orbitalen Raum betreffend[36].
Joseph Beuys (1921-1986) suchte diese Weltsicht in Gestaltqualitäten nachzuweisen und entwickelte in seinen Rauminstallationen, in den
Multiplen und selbst in seiner sozialpolitisch orientierten Arbeit (Stadtverwaldung in Kassel) nahezu Demonstrationsobjekte verschiedener
Kategorien dieser Komplexitätspräferenz, die sich ja tatsächlich auch in den Bezeichnungen niederschlugen. Beuys setzte sich selbst als
Abgeordneter der Grünen dafür politisch in Szene, erlangte mit seiner Arbeit Weltruhm und gilt nach wie vor als einer der wichtigsten Künstler
des 20. Jahrhunderts[37].
Eine ganz andere Methode der Darstellung von Komplexitätspräferenz pflegte Ludwig van Beethoven. In seinem Werk, deren Titel ohne
Opuszahl jene mit einer solchen weit übersteigen, suchte er sowohl quantitativ alle Gattungs- und Botschaftsmöglichkeiten menschlicher
Existenz auszuloten, als auch qualitativ in zentralen Arbeiten musikalische Weltbilder zu erzeugen, die in ihrer Inhaltlichkeit soweit verstanden
wurden, daß sie teilweise sogar politischen Manifestationscharakter erhielten. Ist heute davon in der Regel nur die humanistisch brüderliche
Variante populär, stellt sein Gesamtwerk eindeutig dar, daß diese Komplexität auch für andere Zielvorstellungen oder Ausdrucksmöglichkeiten
eingesetzt werden kann. Immerhin hielt er sein Schlachtengemälde Wellingtons Sieg bei Vittoria für sein bestes Werk überhaupt, versuchte in
einer Reihe von Agitationsmusiken politische Zeitaktualität und Utopie einzufangen, transformierte die Folklore verschiedener Länder zu
crea7
Kunstmanifestationen, schuf der Gattenliebe ein Denkmal in Fidelio und suchte den Aspekt des Todes in nahezu 20 Werken von allen Seiten her
zu beleuchten.
Beethoven brachte nicht nur die menschliche Stimme (Missa solemnis) und das instrumentale Vermögen (Violinkonzert) an seine physischen
Grenzen, sondern lotete auch die Trivialität aus und trieb die Dialektik an den Rand ihrer Selbstzerstörung. Seine Missa solemnis zeigt nicht nur
komponierte Theologie in der Vermischung mit privatreligiöser Haltung, nicht nur die Prüfung des Selbst an der Kompositionsschule des
Barock, nicht nur den Grenzgang der Aufführungsmöglichkeit oder die Erzählung allgemeinverbindlicher Bilder (weswegen auch selbst
nichtreligiöse Menschen von der Dramatik sich packen lassen), sondern auch eine Weltbilddarstellung, die in ihrer Grundbefindlichkeit jener des
aufgeklärten, republikanischen, intellektuellen Demokraten entspricht. Es wird nämlich jede angesprochene Dimension der Existenz auch quasi
von innen her kommentiert, die ehemals ausschließlich theologische Stoßrichtung ins allgemein Humane erhoben. Die eigenhändige Überschrift
über das Kyrie „Von Herzen, möge es wieder zu Herzen gehen“, zeigt, daß die emotionale Ansprache für mindestens so wichtig gehalten wird,
wie die musikalische rationale Fertigkeit[38].
Es ist vermutlich kein Zufall, daß, wenn sich auch die beiden aus zutiefst menschlichen Gründen nicht so sehr verstanden haben dürften,
Beethovens Zeitgenosse Johann Wolfgang von Goethe in gewisser Hinsicht ein Pendant zu dem musikalischen Vordenker darstellt. In die
gleiche Zeit, die Spätaufklärung hineingeboren, hochgebildet, intelligent und clever, versuchte er in seinem dichterischen Werk ähnliches wie der
Komponist, was ihm nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ glückte. Goethes Faust in beiden Teilen demonstrierte denn auch
Weltbildsicht in absoluter Zeitlosigkeit, die Dimension des Intellektuellen in einer von sinnlicher Verführung und wie immer gearteter
Korruption gefährdeten Welt. Es sind nicht nur die Prinzipien von Gut und Schlecht ausgeführt, sondern auch deren Überschneidungen und
Verwischungen, und es wird Stellung bezogen zur physischen wie zur metaphysischen Dimension der Erde. Es ist kein Zufall, daß kaum ein
anderes Werk derart zitatfähig wurde wie dieser Faust, weil nahezu für alle menschlichen Befindlichkeiten entsprechende Sprüche
bereitstehen[39].
Diese Weltsicht, bezogen auf das soziale Gefüge der Zwischenmenschlichkeit und insbesondere die Leidensfähigkeit unter sozial motivierter
Dominanz hat der österreichische Künstler Wolfgang Flatz zum Thema seiner Arbeiten gemacht. In vielen Aktionen hat er einem in der Regel
nach Vollendung der Installation beschämten Publikum vorgeführt, wozu Menschen imstande sind: zu ertragen, daß eine Frau ohne verhinderte
Interventionen stundenlang geohrfeigt wird, daß gegen Geld Dart-Pfeile auf Menschen schleuderbar sind, daß die Durchsetzung des
Durchkommens – gezielt mit hängenden Boxsäcken – Mitmenschen beschädigt, daß der Abwurf eines zwar toten, aber nichtsdestoweniger realen
Lebewesens wie einer Kuh aus 20 Meter Höhe die Neugier der Massen zu keilen imstande ist. Dieses Modell der sozialen Erfahrung, wie,
crea7
nebenbei bemerkt, öfter in der Kunst an sich selbst vollführt (durchaus eine Parallele zum Aktionismus), zielt messerscharf trotz quantitativer
Unschärfe auf die Gesellschaft unserer Zeit[40].
Elaborationsfähigkeit
Ein anderer wichtiger Parameter der Kreativität ist zweifellos die Elaborationsfähigkeit[41]. Dieser von Paul Guilford in die
Kreativitätsforschung eingeführte Begriff aus den 1950er Jahren ist eine Ausweitung der Formulierbarkeit oder Definierbarkeit, wie sie
Immanuel Kant postulierte. Kant vertrat die These, daß der Mensch nur denken könne, was er aussprechen kann. Abgesehen davon, daß diese
These nach wie vor glaubwürdig erscheint, erweiterte sie Guilford um nonverbale Möglichkeiten, womit angedeutet wird, daß es auch eine Art
nonverbalen Denkens geben könne. Dies kommt verdächtig in die Nähe des „begriffslosen ästhetischen Verstehens“, ein Terminus, der gerade in
der Kunstrezeption und auch in der Erkennung kleinster gemeinsamer Nenner durch Künstler selbst eine große Rolle spielt. Kant meinte
natürlich nicht, daß die Verbalisierung wie sie in der Literatur geschieht, die höchste aller Künste sei, sondern er ging von der These aus, daß
gleichgültig, in welchem Medium der Ausdruck erfolgte, das in Worten gefaßte Denken eine wesentliche Voraussetzung dafür darstellt. Es ist
durchaus vorstellbar, daß Kant mit dieser These recht hat. Denn im Gegensatz zu den Verfechtern jedweder Autonomie, die davon ausgehen, daß
Medium beschäftige sich ausschließlich mit sich selbst, womit jeder Hintergrund geleugnet würde, ist ebenso denkbar, daß hinter jeder
vorgestellten Autonomie durchaus konkrete Ausgangspunkte liegen, die wir aber aufgrund der fehlenden begrifflichen Darstellungen nicht
eruieren können. Dafür würde Haydns berühmter Brief an seinen Verleger ein Beleg sein: „Bevor ich eine Symphonie anfange, muß ich mir eine
Geschichte ausdenken und dann geht sie schon weiter“[42].
Es liegt wahrscheinlich am Medium selbst, daß gerade in der Architektur diese Fähigkeit der Elaboration eine zentrale Rolle auch in der
Einschätzung ihrer Bedeutung spielt. Beispielsweise haben sowohl Hans Hollein (geboren 1934), den Kritiker zur Postmoderne rechnen, als auch
der ebenfalls an der Universität für angewandte Kunst in Wien lehrende Wolfgang Prix (Coop Himmelblau zusammen mit Helmut Swiczinsky)
in ihren Arbeiten, wenn auch in durchaus verschiedenen, ja diametralen Richtungen dieses Modell anschaulich vorgeführt. Dabei geht es weniger
um die Erfüllung des Bauauftrags, die Kubatur, die notwendigen Funktionen, sondern um die gestalterische Herausarbeitung der
zugrundeliegenden Ideologie.
Hans Holleins unverwechselbare Leistung ist die Einbettung jedes von ihm geschaffenen Bauwerks in die topographische oder mentale
Dimension des Umraums. Deswegen sind ihm die verschiedenen funktionalen Ansätze nicht nur in der Einlösung ihrer Ansprüche perfekt
gelungen, sondern auch die Positionierungen, die bei aller Neuheit auf die vertraute Umgebung Rücksicht nehmen, noch dazu in brisanten
crea7
Kontexten. Das Museum in Mönchengladbach, schwierig in eine Hügellandschaft eingebettet, atmet exakt jenen Geist der niederrheinischen
Schatzkästleinmentalität, die typisch für Ökonomie und Bewußtsein des dort lebenden Menschenschlages ist. Sein Museum, bis auf den letzten
Quadratzentimeter genau auf seine Funktionen zugeschnitten, erhob die Stadt, die bislang nur durch eine berühmte Handball- und später eine
weniger berühmte Fußballmannschaft überregional bekannt war, in den Rang einer wichtigen Sehenswürdigkeit, wobei die Inhalte des Museums
wahrscheinlich weniger attraktive Anreize boten, als das Museum selbst. Andererseits schaffte Hollein es unter tatkräftiger und für diesen selbst
riskanter Unterstützung des ehemaligen Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk, einen Typus von Wiener Kaufhaus gegenüber dem Stephansdom zu
plazieren, daß tatsächlich trotz aller Anfangsproteste heute zu den zentralen Sehenswürdigkeiten der Stadt zählt. Hollein suchte nämlich nicht nur
die funktionalen Leistungen aus dem üblichen Massenangebot von Kaufhäusern à la Harrods herauszulesen, sondern mithilfe von
Kleinstrukturen in der Konzeption der Wiener City ein adäquates, modernes Pendant gegenüberzustellen. Wieweit dieses Vorhaben gelang, ist
allein daraus abzusehen, daß die benachbarte Ringstraßengalerie, wenn auch ganz anders gebaut und der Gründerzeitgröße entsprechend,
zumindest in der Geschäftsstruktur exakt diese Kleinteiligkeit übernommen hat.
Auch wenn heute durch die Dummheit der Inhaber die Innenstruktur des Hollein-Baues nahezu komplett zerstört wurde, was das Gesamtgebäude
durchaus in Frage stellt, bleibt die Außendimension Argument genug, dieses Modell realiter auf seine genaue Definition zu überprüfen. Holleins
Bemühen war es, trotz der funktionalen profanen Aufgabe (Konsumtempel) die spirituelle Dimension des Stephansdomes nicht anzutasten. Dies
gelang ihm nicht nur mit der Glasfassade, die den Dom spiegelt, sondern vor allem auch mit jenem Baldachinzitat, das aus der Klerikalsphäre
übernommen, anders übersetzt, den hoch aufragenden Bau auf die irdische profane Dimension, quasi deckelartig abgeschnitten, beschränkt.
Durch eine höchst sensible Reaktion auf die Verschiedenheit der Blickwinkel und der angrenzenden Gassen in durchaus verschiedenen
architektonischen Haltungen gelang es Hollein, das Haus auch aus den verschiedenen Seitenansichten verschieden antworten zu lassen, so daß im
gesamten gesehen, die homogene Einfügung in den von ihm vorgesehenen Platz, der es aufgrund des Unverstandes der Stadt nie dazu schaffte,
möglich wurde. Heute schon rächt sich der Verzicht auf einen wesentlichen Vorschlag, den Hollein zugleich mit dem Plan des Hauses
einbrachte: nämlich durch eine Säulenkonstruktion diesen Platz tatsächlich zu begrenzen und nicht als Leerfläche mit Sogwirkung à la
mehrspuriger Fußgängerautobahn zu belassen. Deswegen ist es auch kein Zufall, daß Demonstrationen jedweder Art sich vornehmlich für diesen
undefinierten Raum vor dem Haashaus entscheiden, weil dort der Beliebigkeit des Menschenauflaufs und seiner verschiedenen Motivationen
tatsächlich kein gestalterisches Wollen entgegensteht[43].
Wolfgang Prix, geboren 1946, also nahezu eine Architektengeneration jünger als Hollein, geht in seiner Elaborationsstärke von ganz anderen
Prämissen aus. Er kümmert sich im wesentlichen nicht um den Umraum, weswegen er auch, wenn möglich, unikatäre Plätze für seine Arbeit
beansprucht, oder zumindest den Irritationsfaktor seiner Architektur dramaturgisch einsetzt. Seine Dimension des Dekonstruktivismus ist eine
crea7
gestalterische Zusammenfassung zeitgenössischen kulturellen Denkens, das die Funktionalität – ebenso perfekt wie Hollein – in das Kleid
aktueller philosophischer Ideologie einbettet und dem Gefühlshaushalt des in Selbstbestimmung und Technologie verhafteten Menschen
Ausdruck verleiht. Seine Arbeiten, sowohl das Museum in Groningen (Niederlande) als auch jüngst der Filmpalast in Dresden oder das Zeichen
im Vierwaldstätersee belegen, daß zwischen autonomer Gestalt und laufender Funktion kein Widerspruch bestehen muß, sondern beides trotz der
nicht sofort erkennbaren Ansätze unmittelbar miteinander zu tun hat. Prix Aussage ist die des Subjektivismus zeitgenössischer menschlicher
Existenz, der sich zunehmend in Individualität und auch im wahrscheinlich unerfüllbaren Wunsch ausdrückt, sich eine spezifisch eigene Umwelt
zu schaffen, die mit dem eigenen Gefühlshaushalt mehr zu tun haben sollte als mit der sozialen Bindung an die Umgebung. Diese
Ausdrucksweise denkmalisiert das menschliche Bewußtsein am Beginn des Informationszeitalters als spezifischen zeitabhängigen Typus und
friert dessen mentalen Zustand in die Bauform ein[44].
Eine ganz andere Dimension dieser Elaborationsfähigkeit entwickelte Franz Schubert (1797-1828) in seinen über 600 Liedern. Er machte eine
kleine, überschaubare dichterische Form zum Kosmos aller Aussagen, wobei er niemals Vorlage und deren Inhalt verletzt, aber in seiner
Vertonung derart bildhaft ausdeutet, daß es zu einer Integration von Text und Musik kommt, was den Dichtern dieser Texte wie beispielsweise
Goethe gar nicht immer recht war. Schubert ging es nicht um die reale Abbildung im Sinn der Wiedergabe, sondern um die eigene Ausdeutung
des Erfahrenen, wobei ihm die dichterische Vorlage den Anlaß bot, er sie aber - und deswegen nahm er auch solche verschiedener Qualitäten - in
seinem Sinn transformierte. Daher konnte ihm gleichgültig sein, ob sie von Weltstars wie Goethe oder privaten Intimfreunden wie Mayerhofer
stammten, weil er prinzipiell Texte als Zeugnisse politischer Wirklichkeit ernstnahm und seine eigene Wahrnehmung und Transformation an
ihnen zu erproben trachtete. So kompliziert die musikalische Struktur sich auch in ihrem Innenleben darstellen mag (weswegen sich auch die
Analysen nicht leicht tun), so sprechen die Kompositionen, gleichgültig ob gestern oder heute und gleichgültig in welchem
Bildungszusammenhang, ja sogar in welchem Ambiente sie dargeboten werden, unmittelbar die Gefühle des Zuhörers an und verlangen von ihm,
zumindest punktuell, in die Sichtweise des Komponisten einzutauchen.
Wie diese Sichtweisen sich von jenen anderer Komponisten und vor allem auch von jenen seiner Zeitgenossen unterscheiden, ist erst dann
spürbar, wenn man die verschiedenen Vorgangsweisen gegeneinanderstellt. Hat beispielsweise Goethes Lieblingskomponist Johann Friedrich
Reichardt, der Liederstar von Berlin, in der Vertonung des Erlkönigs brav die Silben und damit die Syllabik des Textes unterstützt, so schafft
Schubert daraus ein Minidrama mit großen Reichweiten. Da ist die Stimmung genau ausgeklügelt auf die inhaltliche Spannung. Da heißt Reiten:
Fuß für Fuß, sprich Ton für Ton, triolenmäßig hintereinanderzusetzen, da heißt Nacht und Wind das gesamte Universum zu umschreiten, damit
das sich in diesem Universum (also innerhalb der Oktave) ausfüllende Geschehen um Vater und Kind. Und da ist andererseits, völlig losgelöst
von der Singstimme und mit ihr nur harmonisch zusammentreffend, die Kontinuität der Reitbewegung, des Hufschlages, der parallelen nervösen
crea7
Spannung, des Herzrasens mit allen Signaturen der Kontinuität im Eingefangensein, in der Wiederholung des Stupors in der Reperkussion zu
beschreiben.
Reichardt besteht auf der Priorität des textlichen Baus, Schubert auf der Priorität des durch ihn transportierten Inhalts. Reichardt achtet den
Dichter, Schubert benutzt ihn, auch wenn er Goethe heißt. Dieser Unterschied mag mit der protestantischen Worttreue zusammenhängen, der in
Wien immer prioritär die Paraphrase des Theatralischen, also die Szene weit dem Wort vorgezogen, gegenüberstand[45].
Vielleicht wird einmal die Hochschätzung der Elaborationsfähigkeit als Stilkennzeichen der Musik des 20. Jahrhunderts grosso modo erkannt
werden. Denn tatsächlich haben Komponisten vorher kaum mit dem realen Zeitbegriff so ernst gemacht, wie jene, die gleichgültig aus welcher
Schule kommend, ihre Umsetzungen in die Extreme katapultierten. Dazu zählt John Cage mit seinem Schweigestück 4’ 33”, wo die Stille als
Erfahrungswert sekundenmäßig gezählt wird, wobei offen bleibt, ob sie anfänglich oder schlußendlich gedacht ist. Dazu gehört La Monte
Youngs Composition Nr. 7 von 1960, die das reine Quintenintervall h-fis auf Stunden ausdehnt und so den Zuhörer jeder Zeitvorstellung beraubt,
ihm quasi Ewigkeitsmusik simuliert. Dasselbe hatte Erik Satie schon in den 20er Jahren in seiner Komposition Vexations vollzogen. Ein wenige
Takte dauerndes Musikstück (vermutlich wegen seiner Merkfähigkeit) ist 840mal zu wiederholen und hat somit eine Aufführungsdauer von
mindestens 20 Stunden. Verblüffende Diskrepanz: ein als ideale Zeitdauer geprägtes Thema – und Besseres kennen wir nicht als eine Merkzeit
durch sieben Sekunden – verliert durch seine Wiederholung Anfangs- und Schlußcharakter, läßt also Zeit im großen stillstehen. György Ligetis
Symphonie für 100 Metronome läuft in die gleiche Richtung. Das genaueste und deswegen auch angegriffenste Ordnungsgerät des musikalischen
Ablaufs schlechthin, das Metronom, wird durch seine Vervielfältigung derart unscharf, daß eine Art konstanter Klangmusterteppich entsteht,
somit Einschnitte nicht mehr erkennbar sind. Zu große Genauigkeit oder Genauigkeit auf lange Zeitspannen ausgedehnt, ergibt, erarbeitet man
nur das Problem exakt, Ungenauigkeit[46].
Ambiguitätstoleranz
Der siebente, aber ebenso wichtige Parameter der Kreativität ist die Ambiguitätstoleranz. Sie ist die Fähigkeit, in einer problematischen und
unübersichtlichen Situation zu existieren und trotzdem unermüdlich an deren Bewältigung zu arbeiten. Der deutsche Psychologe Paul Matussek,
der viele Arbeiten diesem Phänomen gewidmet hat, positioniert in der Beschreibung der Ambiguitätstoleranz auch die oftmals festgestellte
soziale Unfähigkeit von besonders kreativen Menschen. Er führt diese Defizite in Mitmenschlichen darauf zurück, daß der Kreative durch die
Interessen, Wünsche und Ansichten anderer, die mit seinen nicht übereinstimmen, irritiert würde und daraus erkläre sich ein Teil seiner
Kontaktarmut, ja des gelegentlichen Desinteresses. Albert Einsteins Wort „ich liebe die Menschheit, aber nicht die Menschen“ ist eine
crea7
Bestätigung dieser These. Möglicherweise aber könnte eine andere Dimension für dieses Desinteresse am sozialen Gegenüber verantwortlich
sein: nämlich die bedingungslose Konzentration auf den eigenen Gegenstand, die im Gegensatz zum kontemplativen reflektorischen Denken
meistens einen dynamischen Umgang erfordert und oft das Tun vor die Reflexion stellt.
Die Ambiguitätstoleranz ist zweifellos eine jener Kriterien, die bei nahezu allen künstlerisch Kreativen in einem hohen Ausmaß vorhanden ist
und vermutlich auch als einer der Urheber des Erfolges gilt, selbst wenn die Ausformungen durchaus verschieden sein können. Während
Beethoven beispielsweise an der Formulierung eines Themas feilte und dabei Klaviere zertrümmerte und immer wieder neue Versionen erzwang,
brach Schubert – sofern ihm nicht gelang eine Idee zu formulieren – sofort die Komposition ab und begann mit einer neuen. Daraus erklären sich
auch die zahlreichen Torsi seiner Werke. Wie in allen Parametern ist Wolfgang Amadeus Mozart in dieser Eigenschaft einer der
Spitzenrepräsentanten. Er schaffte zeit seines Lebens einen rein numerisch nahezu unerklärlichen Output, wobei ihm weder soziale Widrigkeiten
noch persönliche Betroffenheiten, weder die Reisen noch seine Spielsucht und andere Laster, weder Demütigungen noch überschwingliche
Lobpreisbezeugungen irritieren konnten. Das Jahr 1788, in dem Mozarts nach wie vor rätselhafte Verschuldung ansetzte, die ihn zweifellos
pekuniär in Bedrängnis bringen mußte, steht dafür als unumstößlicher Zeuge. 1788 schrieb Wolfgang Amadeus Mozart seine drei großen
Symphonien, KV 543, 550 und 551, die nach wie vor zu den am häufigsten aufgeführten Werken des Komponisten zählen. Dieses Jahr 1788,
gewöhnlich in der Literatur ein Krisenjahr genannt, hätte ihn als Menschen mehrfach schmerzhaft treffen müssen. Das Kärtnertortheater wurde
geschlossen, das sich immerhin auf die deutsche Singspielperiode konzentriert hatte, das vierte Kind Theresia stirbt am 19. Juni, und trotzdem:
die Werkliste dieses Jahres zeigt nicht nur jene Symphonien, von denen zwei überhaupt nichts von irgendeiner Tragik verspüren lassen, sondern
auch Kriegskompositionen, Klavierterzette, Märsche, jene berühmte C-Dur-Sonate für Anfänger (sic!) KV 545, die allen Klavierschülern als
Sonata facile bekannt ist, eine Klavier-Violinsonate, Terzette, Canzonetten also übliche Gelegenheitskompositionen, die wie immer voll ihren
Auftrag erfüllen sollten. Bei aller verbal geäußerten Verzweiflung, bei aller Umzugsproblematik (Mozart wechselte auch seine Wohnung), bei
aller Vorbereitungsarbeit für die ersten Wiener Don Giovanni-Aufführungen – im Werk ist keine Rede von Trostlosigkeit und Verzweiflung, ja
im Gegenteil: kraftvollste Aussage von hoher Ichstärke bis zu dahin unbekannter Schärfe der Dialektik, aber auch Reibung von Vorstellungen
der Umsetzung, von erstarrter Form und lebendiger Musizierpraxis kurzum, zutiefst positiv gesetzte Bejahung, ja gütige Weisheit, nur mit der
Stimmung aus der Sarastroebene der Zauberflöte vergleichbar[47].
Die Berühmtheit Michelangelo Merisis, genannt Caravaggio (1573-1610), fußt vermutlich ebenfalls auf dieser Höchstentwicklung von
Ambiguitätstoleranz, die allerdings nur ein sehr kurzes Leben ausfüllte. Zeit seines Lebens mußte er Schicksalsschläge hinnehmen: 1593 wurde
er durch einen Pferdetritt schwer verletzt, spätestens ab 1600 permanent wegen Körperverletzung kriminalisiert, was in einer Duelltötung 1606
kulminierte. Einerseits Malteserkreuzträger, nach zwei Jahren wieder unehrenhaft ausgestoßen, starb er 37jährig. Seine künstlerische Arbeit
crea7
nimmt von den Schwernissen des Lebens nicht Notiz. Er stellt den künstlichen Dimensionen vorher das direkte Studium der Natur entgegen,
macht plötzlich selbst aus Bibelgestalten und Mythologiefiguren, die längst zu Typologien erstarrt waren, Menschen aus Fleisch und Blut und
zwingt historische Persönlichkeiten in zeitgenössische Kleidung. Das Licht wird bei ihm zu einer neuen Dimension der Dramatik und prägt somit
eine Räumlichkeit, wie man sie vormals nicht kannte. Die gleichzeitige Minimalisierung der taktischen Einzelheiten gab diesen Bildern eine
Unmittelbarkeit, die bis in die Unheimlichkeit reichte[48].
Dieses Modell hat auch im 20. Jahrhundert seine Attraktivität nicht verloren. Hatten schon die Wiener Aktionisten in den 1970er Jahren
demonstriert, daß sie keine Scheu hatten, künstlerische Prozesse an ihren Körpern zu demonstrieren, setzte sich der zypriotische Künstler Stelarc
nahezu unerträglichen Qualen aus. Wie er sagt, nicht unbedingt um die Zeit zu thematisieren, aber wenn das Ertragen der Qual die Zeitdauer
begrenzte, war sie ein wesentlicher Faktor: bei seiner Skulptur im Inneren des Magens (Internal Stomack Sculpture) oder bei seinem berühmten
Suspensions, wo er die Aufhängung des Körpers in bestimmten Situationen probierte. In Seaside hielt er es maximal 30 Minuten aus, dann
wieder auch nur 1 Minute. In tree suspension hing er 15 Minuten in den Bäumen, in lateral suspension in der Tamura Gallery, Tokyo 1978, ließ
er sich mit Nadel und Faden die Lippen und die Augenlider zunähen und harrte eine Woche in diesem Zustand aus, während die Performance in
Mexico City (Event for penetration/extrapolation, Mexiko 1976) nur 1 Minute dauerte, weil er gegen eine Glasscheibe lief, die beim Aufprall
zerbrach. Hauptziel dieser Unternehmungen war für ihn, den Menschen, dargestellt von ihm selbst, nach der Unterscheidung von Mensch und
Cyborg zu fragen. Cyborg ist eine Mischung aus menschlichem und künstlichem Körper, wobei das Internet zu einer Art externem Nervensystem
wird[49].
Fazit
Das Besondere an der Kunst ist nun einmal die durchaus nachvollziehbare und wie ich meine auch rational überprüfbare Korrelation mit der
Kreativität, wie sie beispielsweise in diese sieben zentralen Parametern auch differenziert benannt werden kann. Auch wenn diese
Hauptkategorien bis in die Unendlichkeit ausdifferenzierbar sind, ändert dies nichts daran, daß die Kunst wegen ihres Sinnlichkeitsanspruches,
den sie a priori hat, auch wenn sie der Rezipient aus Mangel an Sinnlichkeitsverstehen nicht immer gleich erkennt, eine Art Parallelsystem zur
Lebenserfahrung des Einzelnen bietet. Sie hat in ihrer Formulierung durch Individualitäten oft Modellcharakter und steht damit signifikant als
Repräsentant bestimmter menschlicher Verhaltensstrukturen, ohne sich allerdings an deren numerischem Querschnitt zu orientieren. Sie ist
deswegen aufregend, weil sie ohne Scheu mit exakt dem den Menschen betreffendsten Argument der emotionalen Intelligenz operiert und
imstande ist, entgegen ihm selbst diese genauer und unmißverständlicher herauszustellen. Sie ist radikal, weil sie oft mit Extremen der
Darstellung arbeitet und selbst dem Durchschnittlichsten unter dem Publikum klarmacht, daß diese Extreme auch in seinem Innern vorhanden
crea7
sein können, was notgedrungen eine Art Betroffensein oder eine Schuldeinstehhaltung evoziert. Die Kunst zeigt andererseits unmißverständlich,
wie weit die kreativen Fähigkeiten, die jedem Einzelnen auch aufgrund seines grundlegenden Vermögens bekannt sind, ausufern können oder
wie genau diese Zustände beschreibbar sind, daß sie auch verständlich sind. Dieses Kreativitätsmodell ist entgegen vielen anderen dem
Rezipienten näher, weil nicht Alogisches auf ihn projiziert wird, nicht geschehene Wunder und Zahlen oder Gummimenschen, sondern
Versuche, durchaus mit dem Anreiz, die Nachahmung zu wagen. Unabdingbar ist allerdings, und darin sehe ich die Grunddiskrepanz zur
Kunstrezeption vor dem 20. Jahrhundert, weil die Menschen nicht in der gleichen Formalsprachlickeit existieren, sondern wahrhaftig ein
Tohuwabohu verschiedener Kunstsprachlichkeit herrscht, daß Grundkenntnisse dieser Sprachlichkeiten, in der Regel optimal empfangen
zwischen dem ersten und neunten Lebensjahr, gelegt sein müssen, um überhaupt eine gewisse Aufnahmebereitschaft sicherzustellen[50]. Der
Kreativität in der Kunst sind nach wie vor keine Schranken gesetzt, wohl aber – so scheint es – aus aller verfehlten Bildungspolitik, dem
Rezeptionsvermögen.
Copyright © 2003-2005 Manfred Wagner
Herunterladen