Berliner Requiem

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Vom Tod im Wald - Violinkonze
Chœeur de La Chapelle Royale
Ensemble Musique Oblique
Philippe Herreweghe
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Philippe Herreweg
HMA 1951422
Kurt Weill wäre vielleicht ein angesehener Kapellmeister an einem Provinztheater geblieben,
wenn er nicht im Dezember 1920 den dringenden Wunsch gehabt hätte, in Berlin Busoni
kennenzulernen und sich in der Hauptstadt niederzulassen. Vielleicht war Berlin schuld daran,
daß er seine Befähigung zum Komponisten von Kammermusik und geistlicher Musik jüdischer
Prägung nicht weiterentwickelt hat? Aber wäre er auch Broadway-Komponist geworden wenn
Hitler nicht an die Macht gekommen wäre? Solche Mutmaßungen mögen gerade im Fall
von Kurt Weill ganz reizvoll sein, aber sie bringen uns nicht weiter, wenn wir genaueres
über die Konsequenz und Beharrlichkeit dieses Enfant terrible Jahrgang 1900 (wie auch
Antheil, Copland und Krenek) wissen wollen, diesen Musiker, der mit seinen ästhetischen
Vorstellungen geradezu die Inkarnation der Weimarer Republik wird. Das erfolgreiche Studium
bei Busoni (1921-23) hindert Weill nicht daran, auch aktiv am kulturellen Leben im Berlin der
Nachkriegszeit teilzunehmen. Er gehört zum Kreis des expressionistischen Schriftstellers
Johannes Becher, und er beteiligt sich an den Veranstaltungen der Novembergruppe, einer
Vereinigung revolutionärer Künstler. Dieses politische Engagement sollte für seine ganze
weitere Entwicklung entscheidend sein.
Das Konzert für Violine und Blasorchester ist das erste große Werk Weills nach Abschluß
seines Studiums in der Meisterklasse Busonis. Es entstand im Frühjahr 1924 und war Joseph
Szigeti gewidmet, wurde aber am 11. Juni 1925 von Marcel Darrieux in Paris uraufgeführt.
Für seine Verbreitung sorgte anschließend der berühmte Geiger Stefan Frenkel: dieser nahm
es in sein Repertoire auf und spielte es als sein Lieblingskonzert überall in Deutschland.
Das Werk steht zwar weitgehend in der künstlerischen Nachfolge Busonis, gleichzeitig zeichnet
sich aber bereits eine Abgrenzung gegenüber der Kompositionstechnik seines Meisters ab.
Und noch ein anderer Einfluß ist unverkennbar, der von Strawinsky, dem Weill nach eigener
Aussage viel zu verdanken hatte, vor allem was die objektive Klarheit der Klangstrukturen
angeht und die neuartigen szenischen Darstellungsformen, die beispielsweise L’Histoire
du Soldat und Oedipus Rex kennzeichnen. Auch der 1926 uraufgeführte Operneinakter Der
Protagonist mit seiner reduzierten Handlung und der dialektischen Verwendung der Bläser
stand noch unter dem Einfluß Strawinskys. Dem Konzert ging eine Reihe von Werken voraus,
die alle von den Blasinstrumenten beherrscht waren, so das Quodlibet, eine Suite aus der
Pantomime Zaubernacht und der Liederzyklus Frauentanz. Damals hatten auch Hindemith
(Kammermusiken und Konzertmusik) und Strawinsky (Symphonies d’instruments à vent,
Konzert für Klavier und Bläser, Oktett für Bläser) mit der systematischen Erprobung der
Möglichkeiten der Blechblasinstrumente begonnen mit dem Ziel einer Objektivierung des
Ausdrucks und größerer Durchsichtigkeit des polyphonen Satzes. Die Struktur des ersten
Satzes Andante con moto ergibt sich aus dem skandierten Anfangsmotiv, das von der
Trommel und einem Klarinettenduo vorgetragen wird und das an den Kompositionsstil und
die Klangwelt Hindemiths erinnert. In diesem Satz wird die anhaltende Spannung zwischen
dem Soloinstrument und dem Orchester noch verstärkt durch ein vielschichtiges atonales
Idiom, das kaum Orientierungspunkte bietet, obwohl es an eine formale Struktur gebunden
ist, die infolge der Kadenzen der einzelnen Abschnitte durchaus übersichtlich bleibt. Triller,
Tonwiederholungen und rhythmisch (Kontrabaß, Horn) klar geformte melodische Motive sowie
kalkulierte Ausgewogenheit zwischen kontrapunktischen und homophonen Abschnitten sind
hervorstechende Stilmerkmale.
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Während im ersten Satz der Einfluß Busonis, Hindemiths und Strawinskys allgegenwärtig
war, stand bei dem nochmals dreigeteilten Mittelsatz die Klangwelt Mahlers und Bergs
Pate, besonders auffallend in der Spielfreude des Notturno. Das Xylophon-Solo, der noch
ausgeprägtere punktierte Rhythmus, die Punktierungen in den Blasinstrumenten und die
Melodie im volkstümlichen Kaffeehausstil (Un poco tranquillo) machen diesen zweiten Satz
zu einer Insel des Friedens. In der Cadenza mit ihrer äußerst virtuosen Gestaltung des
Violinparts lebt die Spannung wieder auf, verliert sich aber sogleich wieder in der Serenata,
deren Charakter durch die Rhythmusformel der Triolen geprägt ist und durch die ganz
Strawinskysche Kantilene der Violine (wie im ersten Satz ist die Ähnlichkeit mit einigen
Passagen des Sacre unverkennbar).
Im Schlußsatz Allegro molto un poco agitato liegt die Exposition der Hauptthemen zwar beim
Soloinstrument, dieses führt aber nicht mehr ein Eigenleben wie am Anfang des Werkes.
Der Diskurs wird nunmehr abwechselnd von den Bläsern und den Schlaginstrumenten
vorangetrieben. Eine draufgängerische Kraft, die in den Abschnitten Con brio und Con fuoco
mit ihrer markanten Rhythmik zum Durchbruch kommt, treibt das Stück unaufhaltsam dem
Schluß zu. Nur im Mittelteil un poco meno messo kann sich eine Art klanglicher Lichthof
ausbreiten, eine kurze Atempause mit glattem Zeitmaß, bevor das zerfurchte Zeitmaß
wieder durchbricht – um eine Wendung von Boulez aufzugreifen.
Für die künstlerische Entwicklung Weills stellt das Konzert, das letzte in Deutschland
komponierte Instrumentalwerk, einen wichtigen Schritt dar: in seiner musikalischen
Sprache werden dramatische Elemente sichtbar und die Grundzüge des Stils, der nach
1937 charakteristisch für Weill werden sollte. Obwohl es sich um ein rein musikalisches
Werk handelt, weist es doch einige stilische Eigenheiten auf, die später in der Weillschen
Bühnenmusik wiederkehren: die modellhafte rhythmische Gestalt der Motive, die
rhythmischen Ostinatobildungen, die Vorliebe für die Blasinstrumente, alles Mittel im
Dienste der Reinheit des Klangs. Gleichzeitig verfeinert sich die ihm eigene freie Atonalität,
von der Der Protagonist noch weitgehend bestimmt ist, und weicht um das Jahr 1927 einer
tonalen Schreibweise, die zum Ausdrucksmittel der Werke wird, die Weill in Zusammenarbeit
mit Brecht komponiert.
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Zu der schicksalhaften Begegnung kam es 1927 im Restaurant Schlichter, dem Treffpunkt
der Berliner Intellektuellen. Als Kritiker der Wochenzeitschrift “Der deutsche Rundfunk”
hatte Weill gerade eine lobende Kritik über das Stück Mann ist Mann geschrieben, und
eine Zusammenarbeit ergab sich wie von selbst. Auf das Mahagonny-Songspiel, das beim
Kammermusikfest in Baden-Baden im Sommer des gleichen Jahres uraufgeführt wurde,
folgte eine ganze Reihe von Werken im Stil des Brechtschen “epischen Theaters”, die
Dreigroschenoper, die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Das Berliner Requiem,
die Radio-Kantate Der Lindbergh-Flug, das Songspiel Happy End und die Schuloper Der
Jasager. Die Nachwelt, die sich darauf beschränkte, die Persönlichkeiten Brecht und
Weill zu vergleichen, konnte keine endgültige Klarheit über die Art ihrer Zusammenarbeit
erlangen, ebensowenig wie über ihre unterschiedlichen weltanschaulichen und ethischen
Überzeugungen, die nicht weniger wichtig waren als die Erneuerung der Oper. Das tut
indessen der epochemachenden Wirkung ihrer Gemeinschaftswerke keinen Abbruch:
wesentlich ist die unbezweifelbare Übereinstimmung ihrer Ansichten über das Musiktheater
und die Tatsache, daß sie eine geglückte Synthese realisieren konnten zwischen einer rohen,
realistischen, kompromißlosen Sprache und einer wirksamen Musik, die die verschiedensten
Einflüsse adaptierte. Weill schätzte vor allem die Lyrik Brechts; beredtes Zeugnis von seiner
Bewunderung geben die beiden Kantaten Vom Tod im Wald und Berliner Requiem, die ein
visionäres Abbild jener berühmten “goldenen zwanziger Jahre” sind.
Am Berliner Requiem lassen sich zwei Aspekte des künstlerischen Engagements Weills in
den zwanziger Jahren aufzeigen: seine Bemühungen um die Schaffung eines spezifischen
Rundfunkrepertoires und sein Kampf gegen den Konservativismus jeglicher Art. Seine
zahlreichen Schriften über den Rundfunk beweisen, daß Weill schon sehr früh von den
pädagogischen, sozialen und künstlerischen Möglichkeiten des neuen Mediums überzeugt
war. Seine zunehmende Bedeutung ging Hand in Hand mit der Entstehung einer neuen
Gesellschaft als Folge der Umwälzungen durch den verlorenen Krieg und durch die Annäherung
sozialer Schichten, die vorher durch unüberwindliche gesellschaftliche Schranken getrennt
waren.
Das Requiem war eine Auftragskomposition des Frankfurter Rundfunks und fiel mit dem
zehnten Jahrestag des Waffenstillstandes und des Spartakusaufstandes zusammen.
Für eines der Brecht-Gedichte, Die Rote Rosa, verweigerten die Rundfunkbehörden die
Genehmigung, und der Berliner Rundfunk lehnte es ab, das Werk zu senden. Kurze Zeit
später gab Weill seine Stellung als Redakteur der Zeitschrift “Der deutsche Rundfunk” auf,
die er seit 1924 innehatte.
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Die Kantate, ein weltliches Requiem, ist der Versuch, die Gefühle des großstädtischen
Menschen auszudrücken, und sie ist auch für diesen geschrieben: es ist eine Art “Montage
in Form von Gedenktafeln, Grabinschriften und Totenliedern, die den Gefühlen und
Anschauungen breitester Bevölkerungsschichten entspricht”. Die Zahl der Mitwirkenden
ist dabei verhältnismäßig klein (Tenor, Bariton, Männerchor, Blasorchester, Gitarre, Banjo,
Schlagzeug), der strenge und karge Stil entspricht dem geistlichen Grundgedanken des
Werkes. Ein Großer Dankchoral eröffnet das Stück und stimmt durch die Ökonomie der
Mittel, die homophone Satzstruktur und die grellen Bläserakkorde auf den zugleich ernsten
und sarkastischen Gesamtcharakter des Werkes ein. Die Ballade vom ertrunkenen Mädchen
wird lediglich von Gitarrenakkorden begleitet, durch die homophone Satztechnik wird das
Poetische und Tragische des Textes noch unterstrichen. Das Stück endet unvermittelt
mitten in einer Koloratur des Tenors, die als eine Art weltlicher Segen für dieses von Gott
vergessene “Aas in Flüssen mit vielem Aas” zu verstehen ist. Marterl entspricht musikalisch
der unverwechselbaren Weill-Brecht-Manier: langsamer Tanzrhythmus, Melodie im Saxophon,
gleichförmige Begleitung, Mischung von inhärenter Chromatik und Fortschreitungen
im Quintenzirkel. Es folgen die zwei Berichte über den Unbekannten Soldaten unter dem
Triumphbogen, deren rüde Sprache (ganz der Atmosphäre der Stücke von Brecht-Eisler,
z.B. Die Maßnahme, entsprechend) erst so richtig zur Geltung gebracht wird durch scharf
punktierte Rhythmen und den Ostinato-Baß. Im Gegensatz zum Ersten Bericht, der mit
seinem Wechsel zwischen homophonen Tuttiabschnitten und melodischen Solopassagen
des Saxophons voller ironischer Sentimentalität an die Atmosphäre von Mahagonny erinnert,
hat der Zweite Bericht den Charakter eines liturgischen Rezitativs.
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Die Kantate Vom Tod im Wald für Baß und zehn Blasinstrumente (zwei Klarinetten, Fagott,
Kontrafagott, zwei Hörner, zwei Trompeten, Tenorposaune, Baßposaune) sollte ursprünglich
den Anfang des Requiems bilden. Weill gab dieses Vorhaben kurz vor der Uraufführung
auf, weil er zu der Überzeugung gelangt war, daß sie atmosphärisch nicht mit den übrigen
Gedichten des Requiems harmonierte. Sie wurde erstmals anläßlich ihrer Uraufführung am
23. November 1927 in der Berliner Philharmonie gespielt. Weill hat nie wieder ein so düsteres
Werk geschrieben: Die atonale Schreibweise steht dem Klangcharakter des Konzerts für
Violine näher als dem der späteren Werke. Diese Hymne auf die animalische Existenz,
Wiedereingehen und Aufgehen in der Natur ist charakteristisch für das lyrische Frühwerk
Brechts. Das Bild vom Tod als der Rückkehr zum Ursprung schließt an die Schilderung der
Leiche des ertrunkenen Mädchens an. Das 1922 entstandene Gedicht war zunächst ein
Teil des Schauspiels Baal, bevor es in einer Neufassung als dritte Lektion (Chroniken) der
Hauspostille veröffentlicht wurde.
Pascal Huynh
Übersetzung Heidi Fritz
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