Kapitel 8. Komplexe Zahlen 8.1. Die komplexen Zahlen (I) Definitionen, algebraische Eigenschaften Die komplexen Zahlen werden als Paare reeller Zahlen definiert. 8.1.1. Definition: (1) Ein geordnetes Paar z =< x, y > reeller Zahlen heißt eine komplexe Zahl. Wir schreiben z = x + iy und bezeichnen x = Re(z) als den Realteil von z, y = Im(z) als den Imaginärteil von z. (2) Zwei komplexe Zahlen z1 = x1 + iy1 und z2 = x2 + iy2 heißen gleich, wenn x1 = x2 und y1 = y2 ist. (3) Die Menge aller komplexen Zahlen wird mit C bezeichnet. Damit haben wir eine Menge C von neuen Zahlen eingeführt. Es ist klar, dass die Menge R der reellen Zahlen in C enthalten ist (eine komplexe Zahl z = x + i0 wird mit der reellen Zahl x identifiziert). Um mit diesen neuen Zahlen auch rechnen zu können, führen wir eine Addition und eine Multiplikation ein. 8.1.2. Definition: Es seien z1 = x1 + iy1 und z2 = x2 + iy2 zwei komplexe Zahlen. (1) Unter der Summe z1 + z2 verstehen wir die komplexe Zahl z1 + z2 = (x1 + x2 ) + i(y1 + y2 ). (2) Unter dem Produkt z1 · z2 verstehen wir die komlpexe Zahl z1 · z2 = (x1 x2 − y1 y2 ) + i(x1 y2 + x2 y1 ). 8.1.3. Satz: Die komplexen Zahlen genügen folgenden Rechengesetzen: • Addition (A.1) z1 + z2 = z2 + z1 (Kommutativgesetz) (A.2) z1 + (z2 + z3 ) = (z1 + z2 ) + z3 (Assoziativgesetz) (A.3) zu jedem z1 ∈ C und jedem z2 ∈ C existiert ein z ∈ C mit z1 + z = z2 (Lösbarkeit der Gleichung z1 + z = z2 ) 1 • Multiplikation (M.1) z1 · z2 = z2 · z1 (Kommutativgesetz) (M.2) z1 · (z2 · z3 ) = (z1 · z2 ) · z3 (Assoziativgesetz) (M.3) zu jedem z1 ∈ C mit z1 6= 0 und jedem z2 ∈ C existiert ein z ∈ C mit z1 · z = z2 (Lösbarkeit der Gleichung z1 · z = z2 ) • (D) z1 · (z2 + z3 ) = z1 · z2 + z1 · z3 (Distributivgesetz) 8.1.4. Bemerkung: Für das Element i = 0 + i · 1 ergibt sich mit der Definition der Multiplikation i2 = (0 + i · 1) · (0 + i · 1) = 0 − 1 + i · 0 = −1, so dass z = i eine Lösung der Gleichung ϕ(z) = z 2 + 1 = 0 ist. Ebenso ist auch z = −i eine Lösung dieser Gleichung. (II) Veranschaulichung komplexer Zahlen Abb.8.1.1. (III) Polarkoordinatendarstellung, Betrag, Argument komplexer Zahlen Zur Beschreibung einer komplexen Zahl z ist es bisweilen erforderlich, nicht nur die Darstellung in der Normalform z = x + iy, sondern auch die Darstellung in der sogenannten Polarkoordination r, ϕ zur Verfügung zu haben. Zu z = x + iy existieren nämlich (s. nachstehende Abb.) ein r ≥ 0 und ein ϕ ∈ [0, 2π) mit der Eigenschaft x = r cos ϕ, y = r sin ϕ, so dass wir erhalten z = r cos ϕ + i r sin ϕ = r(cos ϕ + i sin ϕ). Abb.8.1.2. 2 8.1.5. Definition: Die Darstellung einer komplexen Zahl z in der Form z = r(cos ϕ + i sin ϕ) mit r ≥ 0 undϕ ∈ [0, 2π) heißt ihre Polarkoordinatendarstellung. Die Zahl r heißt Betrag von z, der Winkel ϕ heißt Argument von z. Wir schreiben auch r = |z|, ϕ = arg(z). 8.1.6. Definition: Es sei z = x + iy eine komplexe Zahl. Dann heißt z = x − iy die zu z konjugiert komplexe Zahl. Abb.8.1.3. 8.1.7. Satz: Für komplexe Zahlen z1 , z2 , z gilt: (1) z1 + z2 = z1 + z2 , (2) z1 · z2 = z1 · z2 , (3) (z) = z, √ (4) |z| = z · z. 3 8.1.8. Satz: Für komplexe Zahlen z, z1 , z2 gilt: (1) |z| ≥ 0; |z| = 0 genau dann, wenn z = 0; (2) |z| = |z|; (3) |z1 z2 | = |z1 | · |z2 |; (4) Re(z) ≤ |Re(z)| ≤ |z|; (5) Im(z) ≤ |Im(z)| ≤ |z|. 8.1.9. Satz (Dreiecksungleichungen): Für komplexe Zahlen z1 , z2 gilt |z1 + z2 | ≤ |z1 | + |z2 | (IV) Potenzen und Wurzeln komplexer Zahlen 8.1.10. Satz: Es sei z = r(cos ϕ + i sin ϕ) und n ∈ N0 . Dann gilt z n = r n (cos nϕ + i sin nϕ). (V) Abstand von Punkten in C Der Betrag einer komplexen Zahl z = x + iy ist gegeben durch p |z| = x2 + y 2 . 8.1.11. Definition Es seien z1 und z2 komplexe Zahlen. Dann heißt d(z1 , z2 ) = |z1 − z2 | der Abstand von z1 und z2 . 8.1.12. Satz: Für den in Definition 8.1.11 erklärten Abstand gilt für alle z1 , z2 , z3 ∈ C : (D.1) d(z1 , z2 ) ≥ 0; d(z1 , z2 ) = 0 genau dann, wenn z1 = z2 (Nichtnegativität) (D.2) d(z1 , z2 ) = d(z2 , z1 ) (Kommutativität) (D.3) d(z1 , z3 ) ≤ d(z1 , z2 ) + d(z2 , z3 ) (Dreiecksungleichung) 4 8.2. Folgen und Reihen (I) Folgen in C 8.2.1. Definition: Gegeben sei eine Folge {zn } komplexer Zahlen. (1) Die Folge {zn } heißt beschränkt , wenn eine Konstante M so existiert, dass gilt |zn | ≤ M f ür alle n ∈ N. (2) Die Folge {zn } heißt konvergent zum Grenzwert z, wenn gilt lim |zn − z| = o. n→∞ Wir schreiben dann lim zn = z oder zn → z(n → ∞). n→∞ (3) Die Folge {zn } heißt divergent, wenn sie nicht konvergiert. 8.2.2. Satz: Eine Folge {zn } komplexer Zahl konvergiert genau dann gegen z ∈ C, wenn gilt lim Re(zn ) = Re(z) und lim Im(zn ) = Im(z). n→∞ n→∞ 8.2.3. Satz: Jede konvergente Folge ist beschränkt. 8.2.4. Satz: Die Folgen {zn } und {wn } seien konvergent zum Grenzwert z bzw. w, wenn gilt: (1) Die Folge {zn + wn } konvergiert zum Grenzwert z + w. (2) Die Folge {zn · wn } konvergiert zum Grenzwert z · w. (3) Ist wn 6= 0 für alle n und w 6= 0, so konvergiert die Folge zn wn zum Grenzwert z . w (II) Reihen in C 8.2.5. Definition: Es sei {zn }∞ ν=0 eine Folge komplexer Zahlen. (1) Die ihr zugeordnete Folge {sn }∞ ν=0 mit sn = he. Wir schreiben auch Reihe. ∞ X n X ν=0 zν heißt die mit {zν }∞ ν=0 gebildete Rei- zν . Die Summe sn heißt n-te Teilsumme der betrachteten ν=0 5 (2) Die Reihe ∞ X zν heißt konvergent zur Summe s, wenn lim sn = s gilt. Wir schreiben n→∞ ν=0 dann ∞ X zν = s. ν=0 (3) Die Reihe ∞ X zν heißt divergent, wenn sie nicht konvergiert. ν=0 8.2.6. Satz: Konvergiert die Reihe ∞ X zν , so gilt lim zν = 0. ν→∞ ν=0 8.2.7. Satz: Es sei zν = xν + iyν (ν = 0, 1, · · · ). ∞ ∞ ∞ X X X Die Reihe zν konvergiert genau dann, wenn die Reihen xν und yν beide konverν=0 ν=0 gieren. Es gilt dann ∞ X ν=0 8.2.8. Definition: Die Reihe ∞ X zν = ∞ X ν=0 xν + i · ∞ X ν=0 yν . ν=0 zν heißt absolut konvergent, wenn die Reihe ν=0 vergiert. ∞ X ν=0 |zν | kon- 8.2.9. Satz: Es sei zν = xν + iyν (ν = 0, 1, · · · ). ∞ ∞ ∞ X X X Die Reihe zν ist genau dann absolut konvergent, wenn die Reihen xν und yν ν=0 ν=0 beide absolut konvergent sind. 8.2.10. Satz: Ist die Reihe ∞ X ν=0 zν absolut konvergent, so ist sie auch konvergent. ν=0 8.3. Komplexwertige Funktionen einer komplexen Variablen (I) Stetigkeit von Funktionen 8.3.1. Definition: (1) Die Funktion f heißt stetig an der Stelle z0 ∈ D(f ), wenn für jede Folge {zn } mit zn ∈ D(f ), lim zn = z0 n→∞ 6 für die Folge {f (zn )} der zugehörigen Funktionswerte gilt lim f (zn ) = f (z0 ). n→∞ (2) Die Funktion f heißt stetig auf der Menge M , wenn M ⊂ D(f ) gilt und f an jedem z0 ∈ M stetig ist. 8.3.2. Beispiel: Die Funktion f , die durch D(f ) = C und ( Im(z) falls z 6= 0 f (z) = z 0 falls z = 0 erklärt ist, ist unstetig an z0 = 0. Betrachten wir nämlich die Folge {zn } mit zn = ni , so gilt zn → 0 und 1 Im( ni ) 1 i n = −i, = f( ) = i i = n i n n so dass {f ( ni )} nicht gegen f (0) = 0 konvergiert. 8.3.3. Satz: Die Funktion f (z) = u(x, y) + iv(x, y) ist stetig an z0 = x0 + iy0 genau dann, wenn die Funktionen u(x, y) und v(x, y) (als reellwertige Funktionen von zwei Variablen) beide an (x0 , y0 ) stetig sind. 8.4. Differenzierbarkeit im Komplexen (I) Definition der Ableitung 8.4.1. Definition: Gegeben sei die Funktion f , und es sei D(f ) eine offene Menge. (1) Die Funktion f heißt differenzierbar an z0 ∈ D(f ), wenn der Grenzwert lim z→z0 existiert. Wir bezeichnen ihn mit z0 . f (z) − f (z0 ) z − z0 df (z ) dz 0 und nennen ihn Ableitung von f an der Stelle (2) Die Funktion f heißt differenzierbar auf der Menge M , wenn M ⊂ D(f ) gilt und f an jeder Stelle z0 ∈ M differenzierbar ist. df (3) Die Funktion f 0 mit D(f 0 ) = {z0 : z0 ∈ D(f ), dz (z0 ) existiert} und f 0 (z0 ) = heißt Ableitung von f . 7 df (z ) dz 0 8.4.2. Beispiel: Die Funktion f mit f (z) = |z|2 , D(f ) = C ist nur an der Stelle z0 = 0 differenzierbar. 1. Für z0 = 0, z → 0 gilt |z|2 z·z f (z) − f (z0 ) = = = z → 0. z − z0 z z 2. Es sei z0 = x0 + iy0 6= 0. (a) Setzen wir wieder z = z0 + h = x0 + h + iy0 mit reellem h > 0, so folgt für h → 0 |x0 + h + iy0 |2 − |x0 + iy0 |2 f (z) − f (z0 ) = = = 2x0 + h → 2x0 . z − z0 h (b) Setzen wir z = z0 + ih = x0 + i(y0 + h) mir reellem h > 0, so folgt für h → 0 |x0 + i(y0 + h)|2 − |x0 + iy0 |2 2y0 + h f (z) − f (z0 ) = = = → −2iy0 . z − z0 ih i Wäre f an z0 differenzierbar, so müßte nach a) und b) gelten 2x0 = −2iy0 , was aber für z0 6= 0 nicht möglich ist. (II) Die CAUCHY-RIEMANNschen Differentialgleichungen f (z) = f (x + iy) = u(x, y) + iv(x, y). 8.4.3. Satz: Die Funktion f (z) = u(x, y)+iv(x, y) sei differenzierbar an z0 = x0 +iy0 . Dann existieren im Punkt (x0 , y0 ) die partiellen Ableitungen ux (x0 , y0 ), uy (x0 , y0 ), vx (x0 , y0 ), vy (x0 , y0 ), und es gilt: (1) ux (x0 , y0 ) = vy (x0 , y0 ); uy (x0 , y0 ) = −vx (x0 , y0 ) Diese partiellen Differentialgleichungen heißen CAUCHY-RIEMANNsche Differentialgleichungen. (2) f 0 (z0 ) = ux (x0 , y0 ) + ivx (x0 , y0 ) = vy (x0 , y0 ) − iuy (x0 , y0 ). 8.4.4. Beispiel: Die Funktion f (z) = z = x − iy ist für kein z ∈ C differenzierbar. Hier ist nämlich u(x, y) = x, v(x, y) = −y, und wir erhalten ux (x, y) = 1 vy (x, y) = −1 Die Funktion f erfüllt also nicht die CAUCHY-RIEMANNschen Differentialgleichungen und kann daher nicht differenzierbar sein. 8 (III) Regularität von Funktionen 8.4.5. Definition: Gegeben sei die Funktion f . (1) f heißt regulär (oder analytisch oder holomorph) an der Stelle zO , wenn eine offene Menge O so existiert, dass zO ∈ O ⊂ D(f ) gilt und f an jedem Punkt von O differenzierbar ist. (2) f heißt regulär (oder analytisch oder holomorph) auf einer Menge M , wenn M ⊂ D(f ) gilt und f an jedem Punkt von M regulär ist. 8.4.6. Satz: Die Funktion f (z) = u(x, y) + iv(x, y) sei regulär an zO . Dann existiert eine offene Menge O mit zO ∈ O, auf der u(x, y) und v(x, y) die CAUCHY-RIEMANNschen Differentialgleichungen erfüllen. 8.4.7. Satz: Die Funktionen u(x, y) und v(x, y) seien definiert auf einer offenen Menge O mit zO ∈ O. Sind die partiellen Ableitungen ux (x, y), vx (x, y); uy (x, y), vy (x, y) stetig auf O, und erfüllen sie dort die CAUCHY-RIEMANNschen Differentialgleichungen ux (x, y) = vy (x, y), uy (x, y) = −vx (x, y), so ist die Funktion f (z) = u(x, y) + iv(x, y) regulär an zO . (IV) Eigenschaften regulärer Funktionen 8.4.8. Satz: Die Funktion f sei regulär in dem Gebiet G. Dann existieren in G alle Ableitungen f (n) (n = 1, 2 · ··) und sind dort ebenfalls reguläre Funktionen. 8.4.9. Definition: Eine Funktion ϕ(x, y) heißt in einem Gebiet G harmonisch, wenn sie in G stetige partielle Ableitungen zweiter Ordnung besitzt und diese in G der sog. LAPLACEschen Differentialgleichung 4ϕ = ϕxx + ϕyy = 0 genügen. 8.4.10. Satz: Die Funktion f (z) = u(x, y) + iv(x, y) sei regulär in dem Gebiet G. Dann sind u(x, y) und v(x, y) harmonisch in G. 9 8.5. Spezielle Funktionen (I) Die komplexe Exponentialfunktion 8.5.1. Definition: Für z = x + iy ∈ C setzen wir ez = ex+iy = ex {cos y + i sin y}. eiy = cos y + i sin y (y ∈ R). Hieraus ergibt sich sofort für alle y ∈ R q iy |e | = cos2 y + sin2 y = 1. Bei der Darstellung einer komplexen Zahl z = x + iy in Polarkoordinatenform haben wir die Beziehung z = r(cos ϕ + i sin ϕ); r ≥ 0, ϕ ∈ [0, 2π) abgeleitet. Hierfür können wir jetzt auch schreiben z = reiϕ Abb. 8.5.1. 8.5.2. Satz: Für alle z ∈ C gilt ez+2πi = ez . 8.5.3. Satz: Es seien z1 , z2 ∈ C. Dann gilt ez1 +z2 = ez1 · ez2 . 8.5.4. Satz: Für alle z ∈ C gilt ez 6= 0. 8.5.5. Satz: Die Funktion ez ist regulär auf C, und es gilt (ez )0 = ez . 10 (II) Die komplexen trigonometrischen Funktionen eix = cos x + i sin x, folgt sin x = e−ix = cos x − i sin x eix + e−ix eix − e−ix , cos x = 2i 2 8.5.6. Definition: Für z ∈ C setzen wir sin z = eiz − e−iz , 2i cos z = eiz + e−iz . 2 8.5.7. Satz:Die Funktionen sin z und cos z sind regulär auf C, und es gilt (sin z)0 = cos z, (cos z)0 = − sin z. 8.5.8. Satz: Für alle z ∈ C gilt sin2 z + cos2 z = 1. 11