Kapitel 5 Bilineare Algebra und Geometrie ... 5.3 Euklidische und unitäre Vektorräume ... 5.3.5 Die Gruppe SO(3) Ist A ∈ SO(3), so hat PA als Polynom vom Grad 3 mindestens eine reelle Nullstelle µ1 = ±1. Ist v1 ∈ R3 ein normierter Eigenvektor zu µ1 , so können wir ihn zu einer Orthonormalbasis B = (v1 , v2 , v3 ) von R3 ergänzen und W := Span(v2 , v3 ) ist invariant unter dem durch A beschriebenen Endomorphismus FA von R3 . Also folgt µ1 MB ( FA ) = 0 0 0 0 A1 mit A1 ∈ O(2). Ist µ1 = +1, so muss wegen det MB ( FA ) = det A = +1 auch det A1 = +1 sein, also A1 ∈ SO(2). Daher beschreibt A1 in der zu v1 senkrechten Ebene W eine Drehung um einen Winkel α ∈ [0, 2π [. Nur in den Ausnahmefällen α ∈ {0, π } ist A diagonalisierbar. 2 5 Bilineare Algebra und Geometrie v1 = A · v1 A · v3 v3 α A · v2 α W v2 Ist µ1 = −1, so muss auch det A1 = −1 sein, und man kann v2 , v3 so wählen, dass −1 0 0 MB ( FA ) = 0 +1 0 . 0 0 −1 Nun noch ein paar Erläuterungen zur Gruppe SO(3). Zunächst ist ganz einfach zu sehen, dass SO(3) nicht abelsch ist. Etwa für 1 0 0 0 1 0 A := 0 0 −1 und B := 0 0 1 0 1 0 1 0 0 ist B · A , A · B. Da SO(3) ⊂ M(3 × 3; R) R9 ist es eine spannende Frage, die Struktur dieser Teilmenge zu untersuchen. Sie ist offensichtlich kein Untervektorraum, dafür aber eine so genannte „Untermannigfaltigkeit der Dimension 3“. Das findet man zum Beispiel bei [B RÖ, Kap. IX, §1] beschrieben. Die Zahl 3 ist dabei die Anzahl der Parameter, von denen eine Matrix A ∈ SO(3) abhängt: Zwei für die Drehachse, die durch einen Punkt auf der Sphäre S 2 : = { v ∈ R3 : k v k = 1 } bestimmt ist, und einen für den Drehwinkel um diese Achse. Drei andersartige Parameter für SO(3) sind die „E ULERschen Winkel“. Um sie zu erklären, benutzen wir die für jedes t ∈ R erklärten speziellen Matrizen 1 0 0 cos t − sin t 0 At := 0 cos t − sin t und Bt := sin t cos t 0. 0 sin t cos t 0 0 1 5.3.5 Die Gruppe SO(3) 3 At bzw. Bt beschreibt eine Drehung um den Winkel t mit der Achse x1 bzw. x3 . Offensichtlich gilt At , Bt ∈ SO(3) für alle t ∈ R, also auch Bα · A β · Bγ ∈ SO(3) für alle α, β, γ ∈ R. Wir zeigen nun folgenden Satz Die Abbildung Φ : [0, 2π [×[0, π ] × [0, 2π [ → SO(3), (α, β, γ) 7→ Bα · A β · Bγ , ist surjektiv. Anders ausgedrückt: Jeder spezielle orthogonale Automorphismus des R3 lässt sich darstellen als Hintereinanderschaltung von drei sehr einfach zu beschreibenden Drehungen. Ist A = Φ(α, β, γ) ∈ SO(3), so heißen α, β, γ E ULERsche Winkel zu A. Es gibt viele Varianten davon und zahlreiche Anwendungen, zum Beispiel in der Luftfahrt zur Beschreibung der Lage eines Flugzeuges. Beweis Es ist hilfreich, neben den Matrizen A = ( aij ), At und Bt auch zugehörige Automorphismen des R3 zu betrachten. Daher wählen wir zur Bestimmung der Winkel α, β, γ ein geometrisches Verfahren. Sei also F der zu A gehörende Automorphismus des R3 . Bezeichnet B = (e1 , e2 , e3 ) die kanonische Basis von R3 , so ist in der Notation von 2.4.2 A = MB ( F ) . Zur Bestimmung des ersten Winkels α benutzen wir den Vektor v := t( a13 , a23 , 0) ∈ R3 , das ist die Projektion von F (e3 ) auf die Ebene R · e1 + R · e2 . Im Fall v = o ist F (e3 ) = ±e3 . Ist F (e3 ) = e3 , so gibt es ein α ∈ [0, 2π [ derart, dass A = Bα und man kann β = γ = 0 wählen. Falls F (e3 ) = −e3 , gibt es ein α ∈ [0, 2π [ derart, dass cos α sin α 0 A = sin α − cos α 0 , 0 0 −1 also ist A = Bα · Aπ und γ = 0. Die geometrische Interpretation dieser Zerlegung überlassen wir dem Leser. Im Fall v , o betrachten wir den zu v senkrechten normierten Vektor q 1 e10 := t(− a23 , a13 , 0) mit $ := a213 + a223 . $ 4 5 Bilineare Algebra und Geometrie Die Gerade R · e10 ist die Schnittgerade der Ebenen F (R · e1 + R · e2 ) und R · e1 + R · e2 . Nun erklären wir Gα als Drehung um den Winkel α, wobei Gα (e3 ) = e3 , Gα (e1 ) = e10 , also cos α = −$a23 und sin α = a$13 . e2 e10 e20 α e1 v Als darstellende Matrix erhalten wir MB ( Gα ) = Bα . Im zweiten Schritt wird e10 festgehalten und e3 nach F (e3 ) gedreht. Das ergibt eine Abbildung Fβ mit Fβ (e10 ) = e10 , Fβ (e3 ) = F (e3 ), also cos β = a33 und sin β = $. Da sin β ≥ 0, ist β ∈ [0, π ]. Bezüglich der Basis B 0 = (e10 , e20 , e3 ) mit e20 = Gα (e2 ) erhalten wir die darstellende Matrix MB 0 ( Fβ ) = A β . Da F orthogonal ist, liegt F (e1 ) in der zu F (e3 ) senkrechten Ebene. Also kann man F (e3 ) festhalten und e10 nach F (e1 ) drehen. Das ergibt eine Abbildung Gγ mit Gγ F (e3 ) = F (e3 ), Gγ (e10 ) = F (e1 ), also 1 a32 cos γ = h F (e1 ), e10 i = ( a21 a13 − a11 a23 ) = und $ $ a 1 sin γ = h− F (e2 ), e10 i = ( a12 a23 − a22 a13 ) = 31 . $ $ Die verschiedenen Darstellungen von cos γ und sin γ folgen aus der speziellen Orthogonalität von A zusammen mit 3.3.1, oder mit Hilfe der Eigenschaften des Vektorprodukts (0.3.7). 5.3.5 Die Gruppe SO(3) 5 F ( e2 ) F ( e1 ) γ e10 − F ( e2 ) Bezüglich der Basis B 00 = (e10 , e200 , e300 ) mit e200 := Fβ (e20 ) und e300 = F (e3 ) erhalten wir die darstellende Matrix MB 00 ( Gγ ) = Bγ . e3 F ( e2 ) e200 γ F ( e3 ) e20 β F ( e1 ) γ α e10 2 e1 3 1 Es bleiben zwei Aussagen zu beweisen: Gγ ◦ Fβ ◦ Gα = F und Bα · A β · Bγ = A. e2 6 5 Bilineare Algebra und Geometrie Die erste Aussage ist einfach Gγ Fβ ( Gα (e1 )) = Gγ Fβ (e10 ) = Gγ (e10 ) = F (e1 ) und Gγ Fβ ( Gα (e3 )) = Gγ Fβ (e3 ) = Gγ F (e3 ) = F (e3 ). Da F eigentlich orthogonal ist, gilt das auch für e2 , also für ganz F. Die zweite Aussage ist tückisch: Es muss erklärt werden, wie die Umkehrung der Reihenfolge zustande kommt. Man kann die Gleichung zwar direkt durch Multiplikation der drei links stehenden Matrizen nachrechnen, aber das liefert keine besondere Einsicht. Sie ergibt sich daraus, dass die drei darstellenden Matrizen mit Hilfe verschiedener Basen gefunden wurden. Die Umrechnungen geschehen mit Hilfe der Transformationsformel des Korollars aus 2.5.2, mit den Bezeichnungen für Basis- und Koordinatentransformationen aus 2.5.1: B Bα = MB ( Gα ) = SB 0, 0 B A β = MB 0 ( Fβ ) = SB 00 und Bγ = MB 00 ( Gγ ). Daraus folgt 0 0 B B MB ( Fβ ) = TBB · MB 0 ( Fβ ) · TBB0 = SB 0 · A β · SB = Bα · A β · B−α und somit MB ( Fβ ◦ Gα ) = MB ( Fβ ) · MB ( Gα ) = Bα · A β · B−α · Bα = Bα · A β . Daran sieht man, wie die Umkehrung der Reihenfolge entsteht. Der nächste Schritt verläuft analog: Da 00 0 00 0 B B TBB = TBB · TBB0 = SB 0 · SB 00 = Bα · A β und analog TBB00 = A− β · B−α , folgt 00 MB ( Gγ ) = TBB · MB 00 ( Gγ ) · TBB00 = Bα · A β · Bγ · A− β · B−α . Daraus erhält man das endgültige Ergebnis A = MB ( Gγ ◦ Fβ ◦ Gα ) = MB ( Gγ ) · MB ( Fβ ◦ Gα ) = Bα · A β · Bγ · A− β · B−α · Bα · A β = Bα · A β · Bγ . Beispiel Wir betrachten die (sorgfältig präparierte) Matrix 1 √ 4 A := 1 4 √ 1 3−√ 6 8 3 +√ 2 8 1 6 4 √ √ 3 1 1 −√ 2 2 4 − 8 √ 4 √ 1 1 1 − 4 3√ + 8 6 − 4√ 6 ∈ SO(3). 1 1 2 2 4 2 5.3.6 Selbstadjungierte Endomorphismen Hier ist $ = 1 2 √ 7 2, daraus folgt 1√ 1 π a23 a = 3, sin α = 13 = , also α = $ 2 $ 2 6 1√ 1√ π cos β = a33 = 2, sin β = $ = 2, also β = 2 2 4 π a32 1 a31 1√ 3, also γ = . cos γ = = , sin γ = = $ 2 $ 2 3 cos α = − Wie wir gesehen haben, kann die durch A bewirkte Transformation auch durch eine einzige Drehung um eine Achse beschrieben werden. Dazu berechnet man zunächst das charakteristische Polynom PA = X 3 − 1√ 1√ 1√ 2 · X2 + 2 · X − 1 = ( X − 1) X 2 + 1 − 2 ·X+1 . 2 2 2 Also gibt es nur einen reellen Eigenwert 1, ein zugehöriger normierter Eigenvektor ist (auf drei Dezimalen gerundet) . . . v := t(0 488, −0 131, 0 863). Um den Drehwinkel ϕ zu bestimmen, benutzen wir einen zu v senkrechten normierten Vektor, etwa . . w := t(0 259, 0 966, 0) und . . . A · w = t(−0 862, 0 080, 0 500); . Somit ist cos ϕ = hw, A · wi = −0 146 und ϕ ≈ 98◦. Offensichtlich ist die Bestimmung der Eulerschen Winkel mit weit weniger Rechenaufwand verbunden. Schon H AMILTON hatte entdeckt, wie man SO(3) mit Hilfe seiner Quaternionen beschreiben kann. Das findet man zum Beispiel bei [B RÖ, Kap. IX] ausgeführt. 5.3.6 ... Selbstadjungierte Endomorphismen Literaturverzeichnis [B A] B ANACH , S T.: Théorie des opérations linéaires. Warschau, 1932 [B R] B RIESKORN , E.: Lineare Algebra und analytische Geometrie I. 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