1 Michael Ermann: Psychotherapeutische und psychosomatische Medizin (1999) Einführung: Das Arbeitsfeld: Psyche = Seele Soma = Körper Psychosomatik = Lehre von der Wechselwirkung zwischen seelischen, psychosozialen und körperlichen Prozessen in Gesundheit und Krankheit Psychotherapie = Krankenbehandlung mit psychologischen Mitteln, im wesentlichen mit Mitteln des beeinflussenden Gespräches Psychosomatik: Spezialdisziplin und integrativer Ansatz in Deutschland erst seit 1992 unter dem Namen „Psychotherapeutische Medizin“ institutionalisiert widmet sich als Spezialdisziplin den seelische Einflüssen bei der Krankheitsentstehung, verarbeitung und Behandlung ihre Krankheitslehre umfasst psychogene Erkrankungen sowie somatopsychische Aspekte der Krankheitsverarbeitung Maßgebliche Behandlungsmethode: Psychotherapie mit ihren verschiedenen Verfahren „psychosomatisch“ – bezeichnet zugleich auch die grundsätzliche ärztliche bio-psycho-soziale Orientierung als integrativer Bestandteil des ärztlichen Handelns Psychosomatik ist darum bemüht, seelische, soziale und körperliche Aspekte des Krankseins zu integrieren und bei der Behandlung von Kranken gleichrangig zu beachten sie kennzeichnet eine aufgeklärte ärztlich Einstellung, die als Ideal den Umgang mit Patienten prägen sollte Arbeitsbereich: psychogene Erkrankungen = reaktive und posttraumatische Störungen, neurotische und psychosomatische Erkrankungen sind sehr häufig machen ca. 1/3 der Erkrankungen bei Patienten in den Allgemeinarztpraxen aus Konzepte und Theorien: Psychodynamische Richtung: basiert auf Krankheitslehre der Psychoanalyse -> berücksichtigt beim Zugang zur Krankheit die bewusste und unbewussten seelischen bzw. psychosoziale Prozesse -> wesentliche Behandlungsformen: psychoanalytische Verfahren Behavioristische Richtung: beruht auf Verhaltenstherapie (neuerdings auch als Verhaltensmedizin beichnet) -> betrachtet psychogene Krankheiten v.a. alles gelerntes Fehlverhalten und beschäftigt sich v.a. mit Krankheitsbewältigung -> Behandlungsformen: verhaltenstherapeutische Verfahren Psychogene Erkrankungen: = seelisch bedingte und mitbedingte Erkrankungen d.h. seelische bzw. psychosoziale Faktoren spielen maßgebliche Rolle bei der Entstehung der Erkrankungen, sie beruhen auf seelischen Spannungen, die durch äußere psychische bzw. psychosoziale Belastungen ausgelöst werden Unterscheidung von vier ätiologische Gruppen (je nach zusätzlicher Disposition): 1. Reaktive Störungen: als Folge von andauernden oder schwerwiegenden Belastungen Entstehung von seelischen und/oder körperlichen Symptomen Ursache hierfür: Überforderung der Fähigkeit, die Belastungen ausreichend zu verarbeiten => Belastungsreaktion (hierzu gehört auch: somatotypische Störungen als Belastung infolge körperlicher Krankheiten und Behinderungen), posttraumatische Belastungsreaktion 2 2. chronische posttraumische Störungen (Neurosen): Spätfolgen von Traumatisicherungen führen zur Veränderung der Persönlichkeit d.h. die Traumatisierungen werden in die Persönlichkeit integriert und bilden die Basis für chronische Erkrankungen => Unterscheidung zwischen posttraumatischen Persönlichkeitsstörungen und chronischen posttraumatischen Syndromen (v.a. posttraumatische Borderlinestörungen) 3. Neurotische Störungen: (Neurosen): beruhen auf einer weit in der Vergangenheit zurückliegenden neurotischen Entwicklung der Persönlichkeit und unbewusst gewordenen Erfahrungen entstehen durch äußere auslösende Belastungen, die sich destabilisierend auf die seelische Struktur auswirken => Unterscheidung von: - Symptomneurosen: v.a. seelische Beschwerden wie Ängste, Zwänge, Depressionen -> Psychoneurosen; v.a. körperliche Symptomatik -> somatoforme Störungen; Störungen des Verhaltens -> neurotische Verhaltensstörungen - und Persönlichkeitsstörungen (trad.: Charakterneurosen): neurotische Einstellungen und Verhaltensmuster, die die Lebensbewältigung behindern und den Lebensgenuß beeinträchtigen Auch durch körperliche Erkrankungen Destabilisierung der Persönlichkeit möglich -> Folge: eine neurotische Dekompensation bewirken = sekundäre neurotische Erkrankungen (Struktur und Dynamik entsprechen Neurosen) = neurotische Überlagerung des Verlaufes körperlicher Krankheiten (Befriedigung unbewusster Bedürfnisse, Erfüllung von Phantasien oder Abwehr von Konflikten) 4. Psychosomatosen Zusammenwirken einer chronischen neurotischen Entwicklung mit organischen Krankheitsfaktoren zu körperlichen Krankheitsprozessen mit Organiläsionen (z.B. Ulzeration, Entzündungen oder degenerative Veränderungen); Einzelheiten des Zusammenwirkens noch nicht aufgeklärt Klinische Syndrome werden auch als psychosomatische Organerkrankung bezeichnet 3 1. Psychosoziale Aspekte des Krankseins WHO: Gesundheit ist ein Zustand des körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens; Krankheit ist die Abwesenheit der so verstandenen Gesundheit Subjektive Krankheitstheorie: = Bewusste und unbewußte Interpretationen einer Krankheit (Laientheorie) gibt der Krankheit einen subjektiven Sinn beeinflußt Krankheitsbewältigung und Krankheitsverlauf 1.1 Krankheitsrisiko: Gesundheit = dynamisches Gleichgewicht zwischen körperlichen und seelischen Strukturen und Funktionen im Austausch mit der Umwelt Gesundheitsverhalten: Dient dazu, dieses Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, indem Betroffene Störungen ausgleichen oder vorbeugende Maßnahmen ergreifen Risikoverhalten: = z.B. Bewegungsmangel, Fehlernährung, Alkohol- und Nikotinkonsum, Vernachlässigung von Früherkennungsmaßnahmen Führt kurz- oder langfristig zur Beeinträchtigung der Gesundheit, v.a. bei den sog. Zivilisationskrankheiten Ursachen liegen mehr in bewußten und unbewussten Motiven (z.B. Selbstbestrafung, latente Suizidalität, Psychodynamik süchtigen Verhaltens) als in mangelnder Aufklärung oder geringem präventiven Wissen Psychosoziale Risikofaktoren: (gelten in gleicher Weise für somatische, psychosomatische und psychiche Erkrankungen) a) Streß: -> bewirkt Stressreaktion, abhängig von der Intesität und der Art des Stressors Persönlichkeitsfaktoren (z.B. Bewältigungsfähigkeiten) dem persönlichen psychosozialen Umfeld Untersuchungen der Psychoimmunologie: -> über hormonelle und neuronale Übertragungswege enge Verknüpfung zwischen affektiven Zuständen und dem Immunsystem psychische Zustände können Veränderungen der Immunitätslage bewirken können => häufiges Zusammentreffen von Krankheit und Belastung b) Risikopersönlichkeit: = Muster von Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen, die auf lebensgeschichtliche Zusammenhänge, v.a. frühe verinnerlichte Beziehungserfahrungen zurückgehen und zu bestimmten Formen von Erkrankungen disponieren (z.B. Typ-A-Persönlichkeit) c) kritische Lebensereignisse (life events): sind ein Krankheitsrisiko, wenn sie weder voraussehbar noch kontrollierbar sind und die Betroffenen über geringe innere und äußere Ressourcen verfügen, um die Beunruhigung oder das Gefühl der Bedrohung auszugleichen können bei entsprechender neurotischer Disposition zur Auslösesituation für die Entstehung neurotischer uns psychosomatischer Erkrankungen werden; subjektive Bedeutung der Lebensereignisse: sie wirken als Auslösesituation, wenn sie einen Konflikt wiederholen, den der Betroffene in seiner früheren Entwicklung nicht gelöst und so verdrängt hat misslingt die Konfliktlösung, können neurotische oder psychosomatische Störungen entstehen 4 körperliche Erkrankungen: Dekompensation einer neurotischen Persönlichkeit führen: Regression und die dadurch provozierten Ängste und Konflikte -> eine primär körperliche Erkrankung kann Auslösesituation einer neurotischen Störung werden => sekundäre neurotische Erkrankung weitere Riskofaktoren: d) ungünstige sozioökonomische Bedigungen e) starke soziale Mobiltät f) Arbeitsunzufriedenheit 1.2 Krankheitsbewältigung – Das Coping-Konzept: Wichtige krankheitsbedingte Belastungen = Bewältigungsaufgaben: Veränderungen in der Unversehrtheit des Körpers und des Wohlbefindens Änderungen im Selbstbild und Körperschema, Verlust von Autonomie und Kontrolle über den Körper und die Situation Störungen des emotionalen Gleichgewichts, Gedanken an Tod und Sterben Verunsicherung hinsichtlich der sozialen Rollen und Aufganben notwendige soziale Anpassungsleistungen, Sorgen um den Arbeitsplatz Bewältigungsprozeß und Bewältigungsformen: Krankheit = Störung des körperlich-seelischen Gleichgewichts und oft ein Verlust von Möglichkeiten und Fähigkeiten; kann erlebt werden als Verlusterlebnis dann ist nötig: Verlust- bzw. Trauerarbeit (ein phasenhafter Prozeß) = Coping-Prozeß misslingt dieser: Symptome treten auf, die als somatopsychische Störung bezeichnet werden Phänomenologisch: meistens depressive, ängstliche bzw. Somatosierungssyndrome Coping ist das bewusste bzw. bewusstseinsnahe Bemühen, die durch Krankheit aufgetrenen oder zu erwartenden Belastungen emotional, kognitiv und durch Handeln zu bewältigen. Typische Bewältigungsstile: Verleugnung Aktive Auseinandersetzung Depressiver Rückzug Psychodynamische Faktoren: Wie man mit einer Krankheit umgeht ist z.B. abhängig von, subjektive Krankheitstheorie (z.B. Krankheit als Strafe, Gefährdung der Anerkennung etc.) frühere Erfahrungen mit Krisen und Krankheit (evtl. wird Krankheit als Retraumatisierung nach früheren unverarbeiteten Verlusterlebnissen erlebt) Erfahrungen über hilfreiche Beziehungen im sozialen Umfeld dies sind im allgemeinen ubewußte Einflüsse auf das Bewältigungsverhalten sie dienen der Abwehr von unbewussten Ängsten, die im Zusammenhang mit Krankheiten entstehen sie stellen neben den äußeren Belastungen eine zusätzliche Bewältigungsaufgabe dar. Bewältigung und Abwehr: Beide Begriffe umschreiben ähnliche, z.T. auch identische Vorgänge aus der Sicht verschiedener theoretische Konzepte, sind aber nicht ganz klar zu trennen Bewältigungs- oder Copingverhalten: bezogen auf bewusste Erlebnisse (z.B. erlebte Behinderung oder bewusste Todesangst) trägt dazu bei, diese Erlebnisweisen zu lindern, ohne daß sie im engeren Sinne unbewusst werden sind bewusstseinsfähig bzw. erinnerbar sind mehr oder weniger bewußt eingesetzte Denk-, Empfindungd- und Verhaltensstrategien 5 Abwehr (Begriff stammt aus Psychoanalyse): bezogen auf unbewußte Erlebnisinhalte (z.B. unbewußte Ängste, Phantasien oder Konflikte) sorgt dafür, daß das Unbewußte auch unter extremen Belastungen und Provokationen auch unbewußte bleibt Abwehrprozesse: Verdrängung, Projektion, Spaltung etc. Wichtige Bewältigungsformen (Coping-Strategien): Verleugnen der Krankheit Sich ablenken Problemanalyse Gefühlsisolation: Nichtwahrnehmen von Gefühlen, die der Situation angemessen wären Schuldzuweisung an andere Rückzug und Resignation Dissimulieren von Krankheitserscheinungen Haltung bewahren Verleugnung: Wichtig beim bewußten Bewältigungsverhalten und bei der Abwehr von krankheitsbedingten unbewussten Ängsten und Konflikten Gefährdung oder Beeinträchtigung (z.B. durch eine bedrohliche Erkrankung) werden nicht anerkannt, obwohl die Betroffenen darüber Bescheid wissen -> sie geben sich in ihren Einstellungen, Gefühlen und Verhalten so, als ob sie nichts wüssten; v.a. bei schwer verarbeitbaren Mitteilungen oder Wahrnehmungen (z.B. Mitteilung einer erschreckenden Diagnose) Bewältigungsergebnis: Das Ausmass der Beeinträchtigung im Krankheitsverlauf ist für das Bewältigungsergebnis ausschlaggebend (Phasenspezifität des Coping). Das Bewältigungsergebnis hängt von der Persönlichkeit des Betroffenen ab: Aktives Bewältigungsverhalten (= bewusste Auseinandersetzung mit der Krankheit) ist (bis zu einem gewissen Grad) passiven unterlegen Ein gewissen Maß an Passivität und Krankheitsverleugnung begünstigt das subjektive Empfinden Ständige bewusste Auseinandersetzung, v.a. bei chronische Verläufen, führt zu einer zunehmenden Einengung der Phantasie und des Gefühlslebens Krankheitsbezogene Bewältigungsaufgaben: Intensivmedizin: Grund zur Intensivbehandlung = im allgemeinen eine bedrohliche Erkrankung, die Angst verursacht Evtl. sind die psychischen Funktionen, die eine Orientierung ung Bewältigung erleichtern könnten, situationsbedingt geschwächt (durch Narkosefolgen, Traumafolgen, komatöse Zustände) Oft ist Behandlung unerwartet und plötzlich notwendig, die meist ungewohnte Umgebung mit unbekannten Apparaten, fremden Menschen und verwirrenden Vorgängen führt zur Verunsicherung diesen Belastungen kann man nur begrenzt entgegenwirken wichtigste Hilfe: Kontakt (v.a. mit Familienangehörigen), Zuwendung, Information und Erklärung Dialysebehandlung: durch längerfristige Abhängigkeit von der Kunstniere der Patienten entstehen Sorge, Depression und Trauer; das Angewiesensein provoziert aggressive Einstellungen gegen die „Maschine“ und das Betreuungspersonal 6 - die Folgen der Beeinträchtigung im privaten und persönlichen Bereich (Resignation, körperliche und sexuelle Einschränkungen, Berentung, wirtschaftliche Sorgen, Rückzug aus dem sozialen Aufgabenfeld etc.) sind langfristige Belastungen es entstehen oft somatopsychische Störungen mit Depressivität, Angst und vegetativen Beschwerden, Gleichgültigkeit und Compliance-Probleme bezüglich der Behandlung psychotherapeutischen Aufgaben: Stabilität und Kontinuität der Betreuung, Problemklärungen, Stützung, Aktivivierung des Patienten Operationen: Eingriffe in die körperliche Intaktheit und Integrität stellen eine tiefe Verunsicherung und eine nachhaltige Störung des Sicherheitsgefühls dar, daher provozieren Operationen in der präoperativen Phase tiefe Ängste Diese Ängste werden teilweise verleugnet, durch Übergefügigkeit verdeckt, teilweise als Angst und Verzweiflung offen gezeigt, als Aggressivität gegen Ärzte, Pflegepersonal oder Angehörige gerichtet Vorbeugung gegen präoperative Reaktion:angemessene verständnisvolle Zuwendung, sachgerechte Information, Beruhigen und Anregungen zur Entspannung Präoperative Reaktion kann auch durch neurotische Entwicklungen und Konflikte verstärkt werden -> gezielte psychotherapeutische Explorationen und Interventionen postoperativ: die Operationsfolgen (z.B. Verlust eines Organs) müssen wahrgenommen, realistische ingeschätzt und betrauert werden, dies dauert (viele Menschen brauchen eine Phase der Verleugnung, um sich der neuen Situation überhaupt zuzuwenden und sie ertragen zu können) Unterstützung bei der Bewältigung: respektieren der kreativen Leistung des subjektiven Bewältigungsverhalten durch den Arzt Nur unter bestimmten Voraussetzungen psychotherapeutische Interventionen erforderlich (Bewältigungsverhalten scheint selbstschädigend, notwendige diagnostische oder therapeutische Maßnahmen werden vermieden oder bei starken somatopsychischen Störungen) 1.3 Die Arzt-Patient-Beziehung: Das Konzept der Arzt-Patient-Beziehung beschreibt, wie Kranke und ihr Arzt miteinander in Beziehung stehen und welche Prozesse dabei eine Rolle spielen. Die Beziehung besteht aus einem Zusammenspiel zwischen der Krankenrolle und der Rolle des Arztes und wird von beiden gestaltet. Die Rollen verhalten sich zueinander komplementär. Deskriptive Beschreibung der Beziehung: Sachebene: bezieht sich auf den Inhalt von Information -> Arzt analysiert als medizinischer Experte die Krankheit und ordnet ihr eine Diagnose zu -> therapeutische Maßnahmen, die mit dem Patient besprochen werden Beziehungsebene: bezieht sich auf den Modus des Informationsaustausches, ist stark von Gefühlen und Empfindungen geprägt -> nicht nur bewusste Eigenschaften, Einstellungen, Erlebnis- und Verhaltensweisen sind beteiligt, sondern auch unbewußte und irrationale Gefühle, Phantasien und Beziehungsmuster, die unter dem Druck der Krankheitssituation auf die ArztPatient-Beziehung übertragen werden Die Krankenrolle: Der Kranke ist durch die bestimmte psychosoziale Situation, die sich für ihn aus dem Krankheitsgeschehen ergibt, vorübergehend von seinen normalen sozialen Verpflichtungen befreit wird weitgehend von der Verantwortung für sein Kranksein entbunden hat die Verpflichtung, alles zu tun, um gesund zu werden, d.h. speziell mit dem Arzt zu kooperieren Compliance: Die Bereitschaft des Betroffenen sich an die Anweisungen des Arztes zu halten und mit ihm zu kooperieren. 7 C. ist ein Ausdruck des Umgangs mit der eigenen Krankheit (= Krankheits- und Bewältigungsverhalten) Non-Compliance: Ist immer ein Zeichen für eine Störung der Arzt-Patient-Beziehung sekundärer Krankheitsgewinn (medizinsoziologisches Phänomen): Vorteile, die mit dem Kranksein verbunden sind (Schonung, Versorgung, Trost) Ist notwendig, um im Schutze der sozialen Entlastungen und Gratifikationen schnell gesund werden zu können Kann auch dazu führen, daß der Kranke unbewusst an seiner Erkrankung festhält, um die Sicherheit der Krankenrolle nicht zu verlieren Primärer Krankheitgewinn (psychodynamisches Phänomen): Entlastung vom inneren Konfliktdruck oder Minderung der innerseelischen Angst durch die Bildung von psychogenen Symptomen Patientenkarriere (medizinsoziologisches Phänomen): = Anpassung an eine chronische Krankheit (Krankheitsgeschehen ist hier gemeint als psychosozialer Prozeß) führt zu Veränderung des Selbstbildes und des Lebens des Kranken, der in einen ständig enger werdenen Bezug zum medizinischen Versorgungssystem tritt. Mit einer medizinischen Diagnose wird dem Patienten eine bestimmte Rolle vorgegeben, in die er im Verlaufe seiner Patientenkarriere hineinwächst Die Arztrolle: vom Arzt als Rolle wird erwartet: sein Bestes zu tun zur Heilung oder Linderung der Beschwerden des Patienten beizutragen, den Patienten unabhängig von seiner Person zu behandeln, affektive Neutralität zu bewahren etc. -> Idealbild des Arztes innerhalb dieser normativen Beziehung gibt es auch eine persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient, in der unbewußte und bewusste individuelle Beziehungensmuster wirksam werden Betrachtung unter psychodynamischen Aspekten: wie Arzt und Patient miteinander umgehen, zeigt, wie sie Beziehungen gestalten, erleben und welche früheren Erfahrungen sie bewußt und unbewusst in die Beziehung hineintragen Die Beobachtung der Arzt-Patient-Beziehung in der psychosomatischen Diagnostik wird auch als Zugangsweg genutzt, um die verinnerlichten Beziehungserfahrungen zu erkennen Regression in der Arzt-Patient-Beziehung: Übertragung, Gegenübertragung und Kollusion Regression: das Selbsterleben als Kranker ist mit äußeren und inneren Konflikten verbunden (Ängste, Phantasien, Reaktivierung traumatischer Erlebnisse, Zustand psychischer und physischer Schutzlosigkeit) so werden Abhängigkeitsbedürfnisse des Kranken lebendig, die denen der frühen Entwicklungsjahre in der Kindheit ähnlich sind Rückkehr in entwicklungsmäßig überholte Erlebnis- und Verhaltensweisen Übertragung: in Regression erlebt sich Kranker als Kind und schreibt den Ärzten etc. elterliche Funktionen zu, sie werden auf die Elternrolle übertragen bzw. projeziert Inhalte der Übertragung hängen davon ab, welche Erfahrungen ein Kranker mit seinen wichtigsten Beziehungspersonen zu der Zeit gemacht hat, als er von ihnen real abhängig war. Übertragungen lassen sich meist daran erkennen, daß ein Reaktion der Situation nicht angemessen ist und von einem starken emotionalen Druck begleitet wird; diese sind durch rationale Erklärungen, Richtigstellungen und rationale Einsichten nur wenig zu beeinflussen und durch reale Erfahrungen nur schwer zu korrigieren. es handelt sich um ein Erleben, das durch innere, unbewußte Erfahrungen beeinflußt und motiviert ist. Übertragungen können Ursache von Kommunikationsstörungen werden, v.a. dann, wenn sie nicht als Übertragung erkannt werden. 8 Gegenübertragung: Unter dem Einfluß der Übertragung verhalten sich viele Ärzte etc. oft genau so, wie es der Übertragung entspricht (verhalten sich allmächtig, verärgert) -> die Übertragung wird dann durch eine passende Gegenübertragung beantwortet Gegenübertragungsgefühle sind oft schwer zu erkennen. Bei der Klärung helfen Fragen wie: was macht der Patient mit mir, wie fühle ich mich ihm gegenüber? Kollusion: Ein oft gar nicht bemerktes Zusammespiel aus gemeinsamen unbewussten Ängsten, Wünschen und Phantasien, die durch die Kollusion auch gemeinsam unbewusst gehalten werden (soziale Abwehr). <-> die Vorgaben der Kranken und Helferrolle leisten der K. Vorschub, sie versetzen den Patienten in eine eher passiv-hilfsbedürftige und den Arzt in die aktiv-steuernde Position. Helfersyndrom: Entsteht z.B. bei einer gemeinsamen Abwehr der Angst vor Trennung Ambivalenz zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit wird unbewusst zwischen Patient und seinem „Helfer“ in einem regressiven Teil (Abhängigkeit) und einen progressiven Teil (Überlegenheit) aufgespalten und zwischen beiden „verteilt“. der Kranke nimmt dann eine ausschließlich regressive-abhängige Position ein, der Helfer (Arzt) die progressiv-überlegene So entsteht die Gefahr, daß die Beteiligten sich wechselweise in ihrer Position fixieren, aber auch aneinander festhalten (müssen). Häufige Kollusionsmuster der Arzt-Patient-Beziehung: orale Kollusionen zwischen besonders bedürftigen Kranken oder einem liebevollen, besorgten und umsorgenden Arzt anal-sadistische Kollusion zwischen unterwürfigen Kranken und einem autoritär-dominierenden Arzt phallische Kollusionen zwischen bewundernden Kranken und einem charmantverführerischen Arzt narzistische Kollusionen: sind besonders häufig, weil sie dem Arzt die Möglichkeit geben, dem professionellen Idealbild des hilfreichen Arztes zu entsprechen. Der Patient ruft in seinem Bedürfnis nach einem idealen und omnipotenten Objekt im Arzt mächtige Größenphantasien hervor. Tragfähige Arzt-Patient-Beziehung: hat stützende und suggestive Wirkung; „Droge Arzt“ = die Beziehung zum Arzt als eine mächtighilfreiche Übertragungsfigur ist das am häufigsten verwendendete Heilmittel unentbehrliche Beziehungselemente von Seiten des Arztes: Sympathie für seinen Patienten, Fähigkeit zur Empathie, Fähigkeit zur Distanz und affektiven Neutralität Komplexe und Problembeziehungen: Beziehungen im Krankhaus: besondere Form der Arzt-Patient-Beziehung, da sie in ein komplexes Beziehungsfeld eingebunden ist: Aufteilung der verschiedenen Beziehungsaspekte ist möglich: die emotional belastenden Anteile werden bevorzugt auf das Pflegepersonal übertragen, der distanzierte professionalisiert-neutrale Umgang mit Patienten wird vom Arzt übernommen. Konflikte im Behandlungsteam entstehen, wenn es durch das Leid des Patienten emotional stark berührt wird. Problempatienten: Problempatienten im ärztlichen Alltag: der betont unabhängige Patient mit Neigung zur Dissimilierung und zur Krankheitsverleugnung, was zu mangelhafter Kooperation führt der ängstlich-anklammernde Patient, der den Arzt mit ständigen Versorfungswünschen überfordert 9 - der depressiv-abhängige Patient mit dem unausgesprochen Anspruch, ständig über den Arzt verfügen zu können der überheblich-anspruchsvolle (narzisstische) Patient mit Wunsch nach Bevorzugung, Anerkennung, Bewunderung der überangepasste-ordentliche Patient, der den Arzt kontrolliert und durch untergründige Aggressivität reizt der misstrauisch-abweisende (paranoide) Patient, zu dem sich schwer eine vertrauensvolle Beziehung herstellen läßt wichtige Schritte bei Problempatienten: Gegenübertragungsgefühle reflektieren und ggf. zu kontrollieren Balintgruppen 10 5. Klinische Diagnostik Aufgaben und Ziele: Erkennung von Krankheiten: Erfassung und Beschreibung von Krankheitszeichen und Begleitumständen Erkennung von Krankheitsursachen: hier insbesondere die Klärung, ob und in welchem Maße seelische Faktoren an der Entstehung einer Krankheit beteiligt sind Erkennung von Krankheitsfolgen: hier v.a. erkennen des Krankheitsverhaltens (z.B. Compliance) und der Krankheitsbewältigung Planung von Krankenbehandlungen: hier v.a. Klärung der Möglichkeiten und Grenzen von Psychotherapie (Indikation und Prognose) Beratung des Kranken: hier v.a. bezüglich der Einleitung einer psychotherapeutischen Behandlung, aber auch bezüglich Krankheitsverhalten und Krankheitsbewältigung Aufbau einer tragfähigen Arzt-Patient-Beziehung (als Basis für einer vertrauensvolle Begleitung des Kranken bei den erforderlichen Untersuchungs- und Behandlungsfortschritten) 5.1 Allgemeine psychosomatische Diagnostik: das ärztliche Untersuchungsgespräch Aufgaben des ärztlichen Untersuchungsgesprächs: die körperliche, seelische und soziale Gesamtsituation des Krankhen erfassen, um das Gewicht möglicher Krankheitsfaktoren abzuschätzen jede ätiologische Klärung umfaßt auch die Möglichkeit, daß eine Krankheit durch seelische Faktoren bedingt oder mitbedingt sein kann (psychogene, d.h. reaktive, neurotische, psychosomatische und traumatogene Erkrankungen) daß eine Erkrankung neurotische verarbeitet werden kann (neurotische Überlagerung einer primär somatischen Erkrankung) daß eine Erkrankung zum Auslösefaktor für eine neurotische Dekompensation wird (sekundäre neurotische Erkrankung) daß die Belastungen, die im Zusammenhang mit einer Erkrankung entstehen, nicht verarbeitet werden können (somatotypische Störungen) In der durchschnittlichen Allgemeinpraxis findet man solche seelischen Krankheitsfaktoren bei rund einem Drittel der ratsuchenden Patienten. Die Frühdiagnose der psychischen Krankheitsfaktoren ist entscheidend für eine rechtzeitige Einleitung adäquater Behandlungen und oft entscheidend für den Behandlungserfolg. Wenn am Krankheitsbeginn eine psychosoziale Auslösesituation steht, die übermäßig belastend ist oder wegen spezifischer Vorerfahrungen nicht verarbeitet werden kann, dann ist der Verdacht berechtigt, daß psychische Faktoren an der Entstehung der Krankheit beteiligt sind. Dagegen reicht es nicht aus, daß keine symptomerklärenden körperlichen Befunde vorliegen. Die Untersuchung von Patienten mit psychogenen Erkrankungen: Relativ leicht zu erkennen: reaktive und viele posttraumatische Störungen Schwer durchschaubar: Neurosen und Psychosomatosen Die Überweisung zur Fachdiagnostik: im ärztlichen Untersuchungsgespräch ensteht der Verdacht, daß seelische Krankheitsfaktoren beteiligt sind Ein psycho- oder verhaltenstherapeutisches diagnostisches Gespräch kann nur zum Ziel führen, wenn der Patient die Einstellung hat, daß es notwendig und hilfreich für ihn sein kann Manche Patienten fühlen sich durch eine Überweisung abgeschoben oder diskriminiert Patienten können oft die Verknüpfung der Symptomatik mit seelischen Faktoren zumeist nicht nachvollziehen, da der Zusammenhang dem bewußten Erleben nicht zugänglich ist Aufgaben: gezielte diagnostische und differentialdiagnostische Abklärung erster Schritt zur Behandlungseinleitung Methode: 11 psychoanalytisch oder verhaltenstheoretisch Regeln für die Gesprächsführung Herstellung einer ungestörten, gesprächsfördernden Situation (Zeit, Raum, Geduld) Gleichrangige Beachtung der somatischen, psychischen und sozialen Aspekte der Erkrankung, bis der Verdacht in Richtung einer bestimmten Ätiologie sich verdichtet (Simultandiagnostik) Berücksichtigung der Krankheitsfolgen und –verarbeitung im persönlichen, familiären und beruflichen Bereich Verwendung offener Fragen und Anweisungen: „wie fühlen Sie sich bei der Vorsorgeuntersuchung?“ statt „hatten sie bei der Vorsorgeuntersuchung Angst?“ Beachtung der Dynamik der Arzt-Patient-Beziehung, v.a. der Besonderheiten der Kommunikation unter der Wirkung von Regression, Übertragung und Kollusion 5.2. Psychoanalytisch orientiert Diagnostik Aufgaben: Klärung der Ätiologie einer Erkrankung: sind überhaupt Entwicklungsdefizite und Konflikte an der Entstehung einer Erkrankung beteiligt? Wenn ja: welche? Klärung der Psychodynamik der Persönlichkeit: Welche unbewußten Konflikte und Entwicklungsdefizite äußern sich im Verhalten und Erleben während des Interviews? Methode: psychoanalytisches Interview objektive Befund- und Datenerhebung systematisch Exploration zwei Beobachtungsebenen als Informationsquelle: die Inhalts- und die Beziehungsebene die Inhaltsebene des Interview: enthält manifeste Aussagen über Symptome und ihre Folgen die persönliche, familiäre und soziale Situation Lebensereignisse und –geschichte Beziehungen und Erfahrungen schließt die Informationen mit ein, die sich aus dem Erscheinen den beobachtbaren Eigenschaften und manifestem Verhalten ergeben (Mimik, Gestik, Sprechweise, Differenziertheit) subjektive Interpretationen, die für den Patienten mit Beziehungen und Erfahrunge verbunden sind und von ihm spontan berichtet werden oder erfragt werden können: bewußte Bedeutungen gefühlsmäßige Einstellungen diese Informationen werden durch Spontanberichte dse Patienten erfaßt und in der biographischen Anamnese systematisch vervollständigt und vertieft biographische Anamnese ist darauf ausgerichtet, die aktuellen Lebensbedingungen und den – aufbau des Kranken zu klären der Untersucher orientiert sich an den Regeln der Gesprächsführung Die Beziehungsebene im Interview: enthält die latenten (unbewußten) Aussagen über die eigene Person und darüber, wie ein Patient die Interviewsituation und den Untersucher erlebt diese Informationen können erkennbar werden durch das Verhalten des Patienten durch die Art seines Sprechens aus dem assoziativen Verlauf des Gesprächs aus Fehlleistungen (z.B. Vergessen eines Termins) 12 Inszenierung unbewußter Beziehungserfahrungen, wenn der Untersucher (Psychoanalytiker) mit in die Inszenierung einbezogen wird: der Kranke kann sein Übertragungen einbringen und kann beim Psychoanalytiker eine zunächst unbewußte Gegenübertragung erzeugen es entstehen unbewußte Kollusionen, die dazu führen, daß der Analytiker bemerkt, daß er in fremde Rolle gedrängt wurde -> so kann er darauf aufmerksam werden, daß er an einer Kollusion teilhat und diese als Diagnostikum zum Verständnis für die ursprüngliche Übertragung nutzen er kann darin den aktuell wirksamen Konflikt des Patienten erkennen und Rückschlüsse auf die früheren Beziehungserfahrungen ziehen Die Methode des psychoanalytischen Interviews = semistrukturiertes Untersuchungsgespräch mit den Techniken des szenischen Interviews und die Technik der biographischen Anamnese biographische Anamnese: gezielte, meist offene Fragen im Zentrum steht die Ätiologie der Erkrankung szenisches Interview: der Untersucher läßt dem Patienten möglichst viel Freiraum, um seine Situation darzustellen und in der Inszenierung von unbewußten Beziehungserfahrungen Platz zu geben er greift so wenig wie möglich mit strukturierenden Fragen ein er läßt zu, daß sich die Situation spontan entwickelt Im Zentrum steht die Psychodynamik des Kranken Schema der biographischen Anamnese Vorgeschichte des Interviews: Zuweisung, Kontaktaufnahme, Vorinformationen Erscheinung und Auftreten: Konstitution, Selbstpräsentation, Mimik, Gestik, soziales Verhalten, Stimmungen, Affekte, Gehemmtheiten Untersuchungsanlaß: Klagen, Beschwerden, bisheriger Verlauf, vorangegangene Untersuchungen und Behandlungen, bisherige Befunde Auslösesituation und aktuelle Lebenssituation: Unmittelbare Umstände und Rahmenbedingungen der Krankheitsentstehung, psycho-somato-soziale Gegebenheiten des bisherigen Verlaufes und der jetzigen persönlichen, familiären, beruflichen und wirtschaftlichen Situation Selbsterleben und Persönlichkeit: Selbstbild, Idealbild, Schwächen, Fertigkeiten, Erleben in Beziehungen, Aufgaben- und Problembewältigung, Liebes- und Leistungsfähigkeit, Belastbarkeit und Kränkbarkeit, Anerkennung und Geltung Psychische, körperliche und soziale Entwicklung: prägende Beziehungen und Erfahrungen, Familienhintergrund, Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten im körperlichen, geistigen, seelischen sexuellen, schulischen und Beziehungsbereich, traumatische Erlebnisse, Krankheiten, Bewältigung von Entwicklungskonflikten Entwicklungsdiagnostische Kriterien Allgemeine Hinweise - Entwicklungsdefizite und Ichstärke: Ausgeprägte Mängel der basalen Ichfunktionen und mangelnde Fähigkeit, Spannnungen auszuhalten, sind ein Zeichen der Borderlinepathologie. - Stabilität des Selbstgefühls: Minderwertigkeitsgefühle, Größenphantasien und Verwendung anderer Men- schen als Selbstobjekt (d.h. zur Aufrechterhaltung des Selbstgefühls) sind Zeichen der narzißtischen und einer Borderlinepathologie. Dabei haben die narzißti- schen 13 Patienten eine stabilere Realitätsorientierung und stabilere Selbst- und Objektvorstellungen als die Borderlinepatienten. - Objektbeziehungen: Sie sind bei Borderlinepatienten durch Spaltung in "gut" und "böse" geprägt, bei narzißtischen Patienten dagegen umfassender, realistischer und bereits weitge- hend "integriert". Bei klassischen neurotischen Störungen bestehen stabile in- nere Vorstellungen von Beziehungen (Beziehungs-Repräsentanzen) mit überwie- gend triangulärer Struktur (Vernetzung der erlebten Beziehungen) - Konflikthaftigkeit und Konfliktverarbeitung: Wenn stets die gleiche Art von Konflikten nicht angemessen erlebt und gemei- stert wird, sondern stattdessen durch neurotische Haltungen (neidisches Zerstö- ren, verleugnendes Ausweichen, prinzipienhafte Reaktionsbildungen usw.) un- bewußt gehalten wird, gilt das als Hinweis für die klassische neurotische oder narzißtische Abwehr. - Symptombeginn: Dementsprechend gibt es bei narzißtischen und höherstrukturierten neurotischen Patienten persönlichkeitsspezifische Auslösesituationen, während Borderlinepatienten durch unspezifische Belastungen oder in Verlassenheitssituationen durch den Verlust der stabilisierenden Außenbeziehungen dekompensieren. Konfliktängste und Angstabwehr - Für die klassischen Neurosen sind Straf- und Gewissensängste typisch. Die für diese Pathologie typische Abwehr ist die Verdrängung, Verschiebung, Reakti- onsbildung, Gefühlsverdrängung; - bei narzißtischen Störungen bestehen vor allem Verlust- und Fragmentierungs- ängste. Die typische Abwehr ist Idealisierung und Entwertung; - die Borderlinestörungen sind vor allem durch Verfolgungs- und Verlassen- heitsängste gekennzeichnet. Konflikte werden vor allem durch Spaltung und projektive Identifizierung abgewehrt. Andere Abwehrmechanismen, z.B. Identifizierung, Verleugnung und Projektion, kommen dagegen bei allen Formen der Pathologie vor. 5.3 Verhaltensanalyse Die Verhaltensanalyse ist darauf ausgerichtet, direkt beobachtbares oder direkt er- fragbares Verhalten zu erfassen. Sie hat das Ziel zu klären, welche Umweltbedin- gungen ein neurotisches Fehlverhalten auslösen. verstärken und aufrechterhalten. Sie schafft damit die Basis für die Erklärung von psychischen und psychosomati- schen Störungen und für die Zielsetzung und Planung von gezielten Strategien der Verhaltensänderung. Verhaltensanalyse = der wesentliche Bestandteil der verhaltenstherapeutischen Diagnostik Sie untersucht z.B. die Intensität von Symptomen vorausgehende Auslöser und nachfolgende Konsequenzen kognitive, emotionale und äußere Begleitumstände ihres Auftretens und den Umgang mit den Symptomen z.T. ist sie in die Behandlung integriert, d.h., das Verhalten während der Behandlung wird beobachtet und zur Grundlage für die Planung der darauffolgenden Behandlungsschritte verwendet. Methoden der Verhaltensanalyse Das verhaltenstherapeutische Interview: vgl. ärztliches Untersuchungsgespräch Kontaktgestaltung, Orientierung über die vorliegende Problematik und deren Entwicklung, Erfassung der persönlichen, familiären und sozialen Situation und der Lemgeschichte 14 - V.a. Erfassung des eigenen Krankheitsverhalten, der Reaktionen in der Familie und im Berufsfeld und des Tagesablaufes unter dem Vorzeichen der Erkrankung. Die Verhaltensbeobachtung: symptombezogene Reize und Konsequenzen zu erfassen in der gewohnten Umgebung oder in der Klinik oder im Labor usw. -> Schwierigkeiten, wenn das Problemverhalten von außen nicht beobachtbar ist (z.B. Auftreten von Schmerzen) oder wenn die Beobachtungssituation das Verhalten beeinflussen würde (z.B. Beobachtung von Sexualverhalten). Die physiologische Ebene läßt sich meistens nur im Labor beobachten. Die Selbstbeobachtung: der Diagnostik und zugleich auch der Behandlung schult die Selbstwahrnehmung und fördert die Selbstkontrolle. Die Betroffenen protokollieren dabei in freier Form (z.B. Tagebücher) oder in vorgegebener Weise (z.B. Strichlisten) ihr eigenes Verhalten oder Verhaltens meßwerte (z.B. Blutdruck) Fragebögen: z.B. Beschwerdelisten, Befindlichkeitsskalen, Persönlichkeitstests usw. Inhalte der Verhaltensanalyse klassische Form: v.a. problematische Verhaltensweisen und Umweltbedingungen, die das Verhalten hervorrufen, aufrechterhalten und verändern Orientierungspunkte der klassischen Verhaltenslehre Reiz-Reaktion-Konsequenz (als Bedingungen untersucht man die auslösenden Reize (Stimuli), die dem Problemverhalten vorausgehen, und die verstärkenden Bedingungen (Konsequenzen), die dem Problemverhalten nachfolgen (z.B. Schonverhalten, Krankschreibung). Um sich ein umfassendes Bild von dem Problemverhalten zu machen, wird es auf drei Ebenen erfaßt: subjektiv (z.B. Schmerzlokalisation, -intensität, -qualität) motorisch (z.B. Arztbesuche), und physiologisch (z.B. Hauttemperatur). neuere Ansätze: zusätzliche Faktoren werden mit einbezogen, die als Einflußfaktoren auf das Verhalten wirksam werden und für Entstehung und Aufrecherhaltung der Störung von Bedeutung sind: körperliche Faktoren: Krankheiten, körperliche Funktionszustände, Medikamente soziale Bedingungen: Soziale Beziehungen, Schicht, Milieu, Geschlecht, Alter, Mo- delle und Vorbilder Defizite: Kognitive und soziale Defizite, mangelnde Vorstellungsfähigkeit Selbstregulation: Allgemeine Kompetenz, Selbstbeobachtung, Selbstverstärkung, Selbstbewertung und Selbstkontrolle über das Problemverhalten Kognitionen: Einsicht, Vorstellungen, Selbstverbalisierungen, automatische Gedanken, irrationale Uberzeugungen, Wissensmängel. Zusätzlich in der neueren verhaltenstherapeutischen Diagnostik folgende Methoden: Die Kognitionsanalyse zentriert auf die Gedanken und Vorstellungen: Die Analyse der Vorstellungen und Gedanken, die das Problemverhalten begleiten oder zu unerwünschten emotionalen Reaktionen führen. Die Motivationsanalyse: Die Erfassung von langfristigen, mittelbaren, vom Patienten aber nicht unbedingt erkannten, manchmal sogar verkannten Folgen, die direkt oder indirekt als Ziele das Handeln beeinflussen. Die Beziehungsanalyse: Die Untersuchung der Auswirkungen und der Funktion von Beschwerden des Patienten für seinen sozialen Lebensraum und einer Verändelllng der Beschwerden als Folge der Auswirkungen, z.B. auf Angehörige. Die Entwicklungsanalyse: Die Klärung der Lemgeschichte: Dabei wird untersucht, ob bereits froher ein Fehlverhalten bestanden hat und durch welche Einflüssse (z.B. der Erziehung) es zustandekommen war. Insbesondere Lemdefizite sind hier von Interesse. 15 Die kognitiv-behaviorale Diagnostik ergänzend zur Verlaufsebene Reiz-Reaktion–Konsequenz wird die vertikale Zustandsebene untersucht Dabei wird die Verknüpfung von kognitiven Prozessen (Denken, Vorstellungen, Erwartungen, Handlungsplänen) und Verhaltens abläufen betrachtet: Problemanalyse: mit Hilfe von Interviews und Verhaltensbeobachtungen werden die individuellen Verhaltensziele und die Kenntnisse und Fähigkeiten, die vorhanden sind, um die Ziele zu erreichen untersucht -> Probleme entstehen, wenn zwischen Zielen und Möglichkeiten eine Diskrepanz besteht, so daß ein gewünschtes Ziel nicht erreicht werden kann; es werden die Regeln und Pläne beobachtet, die dem Problemverhalten und ProblemerIeben zugrunde liegen. Selbstkonzeptanalyse: untersucht, v.a. mit Hilfe von Fragebogen die Vorstellung, die Patienten von sich selbst haben. Dabei werden Real-Vorstellungen und Wunsch-Vorstellungen, positive und negative Vorstellungen, die eigenen Vorstellungen und die nahestehender Personen erfaßt. 5.4 Psychotherapeutische Diagnosen - Die Verhaltenstherapie orientiert sich am psychiatrischen Vorgehen und verwendet die deskriptiven Diagnoseschemata DSM-IV oder ICD-IO die psychoanalytisch orientierte Diagnostik beschreibt die Erkrankungen auf einer syndromalen, einer ätiologischen und einer psychodynamischen Ebene. Neuerdings ist eine standardisierte psychoanalytische Diagnostik entwickelt worden, die allerdings für die Praxis recht aufwendig und kompliziert erscheint. Die Syndromebene: Klinische Diagnose -> beschreibt das klinische Bild unter Hervorhebung der Leitsymptomatik (z.B. Angstneurose, Psychogenes Urethralsyndrom, Narzißtische Persönlichkeitsstörung, Asthma bronchiale) Die klinische Diagnose wird heute immer häufiger in ein Klassifikationsschema eingeordnet (v.a. ICD10) Die ätiologische Ebene auf dieser Ebene wird angegeben, auf welcher Basis die Störung beruht: Reaktive Störung: Belastungsreaktion einschI. somatopsychische Störung, posttraumatische Belastungsreaktion; diese entstehen bei oft unauffälliger Gesamtpersönlichkeit z.B. Angstreaktion nach Unfalltrauma. Chronische posttraumatische Störung: Kennzeichnung durch einen entsprechenden Zusatz bei der Bezeichnung des klinischen Syndroms oder durch den Zusatz "bei posttraumatischer Persönlichkeit", z.B. Chronische posttraumatische Angststörung - Alternativ: Angstattacken bei posttrau- matischer Persönlichkeit. Neurotische Störung: Persönlichkeitsstörungen und Symptornneurosen, das entwicklungsdiagnostische Strukturniveau wird mit berücksichtigt: Höheres Strukturniveau (neurotisches Strukturniveau) z.B. Depressive Neurose, neurotisches Strukturniveau Mittleres Strukturniveau (narzißtisches Struktumiveau) z.B. Depressive Neurose auf narzißtischem Strukturniveau - Alternativ: Depressive Neurose, mittleres Strukturniveau. Niederes Strukturniveau (Borderlineniveau) z.B. Angstneurose, Borderlineniveau Alternativ: Angstneurose auf niederem Strukturniveau (Die Bezeichnung "Borderlinesyndrom" enthält bereits den Hinweis auf die Art der Störung) Die psychodynamische Ebene: Konflikt- oder Persönlichkeitsdiagnose Die Persönlichkeitsdiagnose beschreibt den Typus der neurotischen Persönlichkeit -> Art und Abwehrmodus der für die Erkrankung maßgeblichen Konflikte und Entwicklungsthemen werden angegeben: Bei reaktiven Störungen ist die Angabe einer Persönlichkeitsdiagnose nicht sinnvoll, weil definitionsgemäß eine reife Persönlichkeitsorganisation vorausgesetzt wird. 16 - Bei Persönlichkeitsstörungen ist die Persönlichkeitsdiagnose identisch mit der klinischen Diagnose. Manchmal wird statt der Persönlichkeitsdiagnose auch der zentrale Konflikt angegeben z.B.: NäheDistanz-Konflikt, Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt, Ödipaler Konflikt mit zwanghaftem Verarbeitungsmodus. Übersicht über wichtige diagnostische Begriffe (die klinischen Syndrome können auf allen Ebenen der seelisch bedingten Psychopathologie auftreten): Ätiologische Diagnostik Reaktive Störung: Chronische posttraumatische Störung - Posttraumatische Persönlichkeitsstörung - Chronisches posttraumatisches Syndrom Persönlichkeitsdiagnostik Hysterische Persönlichkeit Depressive Persönlichkeit Zwanghafte Persönlichkeit Narzißtische Persönlichkeit Borderlinepersönlichkeit Hysteriforme Borderlinepersönlichkeit Narzißtische Borderlinepersönlichkeit Neurotische Störung: deskriptiv: - Symptomneurosen - Persönlichkeits störungen Schizoide Persönlichkeit Posttraumatische Persönlichkeit entwicklungsdiagnostisch: - Höheres (= neurotisches) Strukturniveau - Mittleres (= narzißtisches) Strukturniveau - Niederes Strukturniveau (= Borderlineniveau) Identitätskonflikt Nähe-Distanz-Konflikt Oraler Triebkonflikt Ödipaler Rivalitätskonflikt Trennungs-Autonomie-Konflikt Psychosomatose Beispiele für Konfliktdiagnosen 17 2. Teil: Krankheitsbilder 6. Reaktive Störungen = Erkrankungen, die in zeitlichem und inhaltlichem Zusammenhang mit psychosozialen Belastungen (traumatischen Erlebnissen, chronischen sozialen Konflikten, chronischer Überforderung oder körperlichen Erkrankungen) entstehen <-> Abgrenzung von neurotischen Störungen: sie entstehen unabhängig von einer neurotischen Disposition gemeinsames Merkmal von reaktiven Störungen: äußere Ereignisse und Erfahrungen sind die wesentlichen Faktoren bei ihrer Entstehung dieser Störungen entwicklungsdiagnostische Perspektive (im Vergleich zu neurotischen Störungen) sind sie reifer (Störungen auf reifem Strukturniveau) krankheitsbedingende äußere Einflüsse: Ereignissse aus dem Bereich üblicher menschlicher Erfahrungen handelt (z.B. Trennungserlebnisse): -> Belastungsreaktion. Unterform von Belastungsreaktion: Belastung, die in einer körperlichen Erkrankung besteht: -> somatopsychische Störungen Störung ist Folge eines Ereignisses, daß aus dem üblichen menschlichen Erfahrungsbereich herausfällt (z.B. Katastrophen oder Gewalterfahrung): -> posttraumatische Belastungsreaktionen Weiterhin zu beachten: die psychodynamischen Prozesse, die durch Belastung und Trauma in Gang gesetzt werden, bestimmen den Verlauf und die Ausgestaltung des Krankheitsgeschehens Bei Belastungsreaktionenbleibt die Störung im allgemeinen auf die psychische und psychosomatische Symptombildiing begrenzt, so daß es nach dem Abklingender Symptomatik zu einer Restitution kommt bei Traumatisierungen kann die Traumaveratbeitung dagegen dauerhafte Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur bewirken. Dann entwickeln die anfänglichen posttraumatischen Belastungsreaktionen sich weiter und es entstehen, auf der Basis von posttraumatischen Persönlichkeiten, als Spätfolgen der Traumatisierung vielfältige Krankheitszustände, die chronischen posttraumatischen Störungen. Terminologie und Synonyme: Reaktive Störungen werden auch als (psychogene) Reaktionen bezeichnet In der ICD-IO: "Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen", d.h. akute Belastungsreaktionen, posttraumatische Störungen und Anpassungsstörungen DSM-III: " Anpassungsstörungen". 6.1 Belastungsreaktionen Belastungsreaktionen sind psychische, körperliche und Verhaltensstörungen, die in einern unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang nach einer psychosozialen Bela- stung auftreten und durch die besondere Alt, Intensität und Dauer der Belastung verursacht werden. Sie dauern an, solange die Belastung wirksam ist oder bis eine effektive Bewältigung zum Tragen kommt, und hinterlassen im allgemeinen keine Dauerfolgen. Synonyme Bezeichnungen: Anpassungsstörungen (unter Abgrenzung von Belastungsreaktionen) Belastungsreaktionen nach Verlusterlebnissen: abnorme Trauerreaktion beschrieben. ICD-IO: F43.0 Akute Belastungsreaktion. F43.2 Anpassungsstörung. Ätiologie: Psychosoziale Belastungen werden durch Bewältigung und Abwehr gemeistert Verarbeitung von Belastungssituationen erfordert psychische Kraft 18 Sie kann mißlingen, wenn sie durch ungewöhnliche, besonders starke oder unerwartete Belastungen plötzlich überfordert wird oder wenn die Bewältigungskapazität durch chronische Belastungen erschöpft ist Entsprechend können einmalige schwere Belastungen ebenso zur Dekompensation und Symptombildung führen wie langanhaltende, weniger schwere Belastungen Störungsrelevant sind Erlebnisse, die schwer verarbeitbare Belastungen darstellen, intensiv sind und unerwartet bzw. chronisch auftreten. Sie können die Anpassungsmöglichkeiten überfordern und Anlaß zu Symptombildungen geben. Ob eine Belastung krankheitsauslösend wirkt oder ohne Symptome bewältigt werden kann, hängt von vielen persönlichen Faktoren ab: z.B. von der Verletzlichkeit der Betroffenen ihrem Lebensalter ihren Erfahrungen im Umgang mit Belastungen wie die Umgebung der Betroffenen reagiert welche soziale Unterstützung sie finden hat ein Ereignis aufgrund früherer Erfahrungen eine spezifische Bedeutung hat und bewirkt, daß belastende Erinnerungen aufkommen Aber: Es besteht - im Gegensatz zu neurotischen Störungen - jedoch keine wesentliche Vorbelastung durch unbewußt gewordene unverarbeitete Konflikte. Der Übergang zwischen Belastungsreaktionen und Neurosen ist fließend Oft zeigt der Verlauf, daß eine zunächst als reaktiv eingeschätzte Störung sich als eine Neurose erweist. In diesen Fällen wurde die neurotische Disposition anfangs von der akuten Reaktion überdeckt, so daß zunächst der Eindruck entstand, die Störung beruhe maßgeblich auf der äußeren Belastung und korrespondiere nicht mit einem latenten neurotischen Erleben. In anderen Fällen geht eine reaktive Störung im Verlauf in eine Neurose über. Das liegt an zwei Auswirkungen der Störungen auf die innerseelischen Prozesse: Sie können durch das Erleben von Hilflosigkeit und Angewiesenheit zur Regression führen und frühere verdrängte Erlebniszustände wachrufen. Dadurch kann es zur Manifestation einer neurotischen Störung kommen. Sie können außerdem speziell - wie jede Erkrankung - als narzißtische Kränkung er- lebt werden und narzißtische Ideale der Unversehrbarkeit verletzen. Sie bewirken dann, daß sich eine narzißtische Störung entwickelt. Beispiele für störungsrelevante Belastungssituationen (Bewältigungsaufgaben) schwere Enttäuschungen Trennungserlebnisse: unerwartete Todesfälle, Ehescheidung, Zerbrechen von Partnerschaften Veränderungen des Lebensalltags: Heimatverlust..Umzug, Pensionierung chronische Probleme in Beruf und Familie wirtschaftliche Not Krankheitserscheinungen und Diagnose Klinisch sind die Belastungsreaktionen durch vielfältige und wechselnde, meist starken Leidensdruck erzeugende Symptome geprägt: psychische Symptome, z.B. Depressionen, Angstzustände, Unruhe, Konzentrationsstörungen vegetative Symptome, z.B. Schlafstörungen, Libidoverlust Verhaltensstörungen; z.B. Lem- und Arbeitsstörungen, aggressive Ausbrüche Komplikationen: Suizidalität, Medikamenten- und Alkoholmißbrauch. Für die Diagnose ist maßgeblich, daß die Symptome wenige Stunden oder Tage nach einer nachvollziehbaren, objektiv extremen, unerwarteten Belastung oder wenige Tage oder Wochen nach einer objektiv starken, langanhaltenden Belastung entstehen 19 - und daß die Krankheitsentstehung nicht auf die Dekompensation einer neurotischen Entwicklung zurückführbar ist, ex post: daß die Symptomatik mit der Bewältigung der Belastung abklingt. <-> "normale Trauer": kann ebenfalls mit klinischen Symptomen verknüpft sein: Depressionen, Grübeleien, Selbstvorwürfe, Appetit- und Schlafstörungen usw. Allerdings akzeptieren die Betroffenen diese Reaktionen als normal und erleben sich nicht als Kranke. Behandlung Belastungsreaktionen = typisches Indikationsgebiet für beratende und stützende psychotherapeutische Gespräche des Hausarztes bzw. im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung: Emotionale Entlastung manchmal auch affektive Abreaktion Problemklärung und Beratung in der Lebensführung unter dem Aspekt, die Verarbeitung der Belastungen zu fördern Vorübergehender Einsatz von Tranquilizern (Achtung: Gefahr der Mißbrauchsentwicklung) Entfernung des Betroffenen aus einem belastenden Umfeld als entlastende sozialtherapeutische Maßnahmen (z.B. Kuraufenthalte) Wenn keine krisenhaften Zuspitzungen bestehen, ist eine fachpsychotherapeutische Behandlung im allgemeinen nicht erforderlich wenn sie in speziellen Fällen notwen- dig wird, kommen am ehesten Entspannungsübungen und eine umgrenzte konfliktzentrierte analytische (tiefenpsychologische) Psychotherapie in Frage. Somatopsychische Störungen Belastungsreaktionen, die als Reaktion auf eine körperliche Erkrankung auftreten, werden als somatopsychische Störungen bezeichnet. Synonym: sekundären psychischen Störungen gesprochen (<-> nicht zu verwechseln mit sekundären neurotischen Erkrankungen nahelegt) Somatopsychische Störungen bilden heute einen zunehmend wichtigen Sektor der Tätigkeit in der Psychotherapeutischen und psychosomatischen Medizin: Als Psychoonkologie Psychonephrologie "psychosoziale Beratung" in den verschiedensten ,somatologischen Bereichen Psychosomatische Wechselwirkungen und Krankheitserscheinungen Jede Erkrankung = mehr oder weniger starke Belastung und erfordert vom Kranken ein bestimmtes Maß an Verarbeitung und Anpassung Stellt eine Krankheit (z.B. durch Gefahr für das Leben, bleibende Behinderung, sichtbare Veränderung) einen Eingriff in die Lebenserwartung oder -gestaltung, eine Beeinträchtigung der Lebensfreude und Lebensgüte oder eine Verletzung der körperlichen Integrität dar, kann das seelische Gleichgewicht erschüttert werden. Dadurch kann eine Krisensituation mit einem anhaltenden subjektiven Leidensgefühl entstehen, die über eine "übliche", der Situation angemessene Verzagtheit hinausgeht. Wenn klinische Symptome hinzutreten, muß man eine Störung der Krankheitsbewältigung annehmen. klinische Auffälligkeiten, die eine Störung der Krankheitsbewältigung anzeigen: psychische Beeinträchtigung: Resignation lind Verzweiflung, Grübeleien und Konzentrationsstörungen, Selbstvorwürfe und Vorwürfe gegenüber anderen, Schamgefühle (z.B. bei sichtbaren Verletzungen); Depressionen, Angst, aber auch Wut, Zorn lind Haß, vegetative Symptome: Schlafstörungen, Appetitstörungen, sexuelle Störungen, Mattigkeit und Erschöpfung im Verhalten: Non-Compliance, "Problemverhalten" gegenüber Ärzten und Pflegepersonal ("unbequeme", "unkooperative", "querulatorische" usw. Patienten), sozialer Rückzug (z.B. aus Scham) bei krisenhafter Zuspitzung: Suizidalität. 20 Psychodynamischer Hintergrund Beeinträchtigungen der körperlichen Intaktheit bis hin zur vitalen Bedrohung, Einschränkungen der Lebensqualität und die Notwendigkeit, z. T. gravierende Veränderungen in der Lebensführung hinzunehmen erfordern massive Anpassungsleistungen Zunächst wird der Kranke seine normalen Anpassungsfunktionen einsetzen und mit der Erkrankung so umgehen, wie er auch sonst mit Belastungen umgeht. Schießlich wird er sich der kritischen Situation bewußt werden. Damit wird ein Bewältigungsprozeß eingeleitet, der innere und äußere Veränderungen bewirkt. Meistens muß dabei Trauer um den Verlust von Vitalität, körperlicher Intaktheit, Lebensmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven geleistet werden Wenn ein Mißverhältnis zwischen der objektiven Belastung durch eine Erkrankung (= der Bewältigungsaufgabe) und den Möglichkeiten der Betroffenen entsteht, diese so zu verarbeiten, daß ihr inneres Gleichgewicht aufrechterhalten oder nach einer gewissen Anpassungsarbeit wiederhergestellt wird, kommt es dann zu einer Dekompensation mit Symptombildungen. Solche Dekompensationen treten v.a. bei chronischen oder akut lebensbedrohlichen Erkrankungen auf, z.B. bei Niereninsuffizienz, Kollagenosen, AIDS, Krebserkrankungen, Multipler Sklerose und Herzinfarkt. Dabei hängt es von verschiedenen inneren und äußeren Faktoren ab, wie eine Erkrankung verarbeitet wird: Krankheitsfaktoren: Entscheidend ist das Ausmaß der körperlichen Beeinträchtigungen und die Berechenbarkeit der Prognose. Persönlichkeits faktoren: Ichstärke, narzißtische Stabilität, die subjektive Bedeutung der Erkrankung, durch die Erkrankung aktivierte bewußte und unbewußte Ängste und Konflikte, Kompensationsmöglichkeiten sowie Vorerfahrungen mit Krankheits- und Krisenbewältigung. Soziale Faktoren: Soziale Unterstützung und psychosoziale Ressourcen beeinflussen die Krankheitsverarbeitung. Je gravierender der Einschnitt durch eine Krankheit in das Leben ist -> desto leichter kann es geschehen, daß der Betroffene aufgibt Je labiler außerdem die Persönlichkeit (z.B. durch neurotische Entwicklung und aktuelle psychosoziale Konflikte) -> desto leichter kommt es zur Dekompensation und zur Symptomentstehung. Trennungs- und Verlusteriebnisse haben als zusätzliches auslösendes Moment eine große Bedeutung. In Sonderfällen kann eine körperliche Erkrankung wegen der damit verbundenen Abhängigkeitskonflikte, subjektiven Kränkungen usw., die mit der Krankenrolle verbunden sein können, auch zur Auslösesituation für eine sekundäre neurotische Störung werden, insbesondere für depressive Neurosen, somatoforme Störungen und besonders für Schmerzsyndrome. Regeln zur Gesprächsführung bei Patienten mit somatopsychischen Störungen Eine konstante, zuverlässige und zugewandte Beziehung etablieren die bio-psycho-soziale Situation des Kranken kennenlernen und die Bedeutung der Krankheit sowie die Verarbeitung früherer Belastungen darin erkennen Regressionsbedürfnisse des Kranken respektieren, zugleich seine Autonomie fördern das Bedürfnis nach Verleugnung bzw. Aussprache abschätzen und die Art der Bewältigung respektieren; Fehlerwartungen nicht bestärken, ohne zu entmutigen affektive Entlastung zulassen und dazu ermutigen; damit verbundene Schamgefühle thematisieren Ängste und Befürchtungen des Kranken in bezug auf sich selbst und sein Umfeld ausfindig machen und besprechen Angehörige zur Unterstützung des Kranken heranziehen die Dynamik und Krisen der Arzt-Patient-Beziehung berücksichtigen und Ideali- sierungen und Entwertungen sowie andere Störungen frühzeitig als Symptome der inneren Krise des Kranken thematisieren. 21 Der Umgang mit chronisch Kranken und Sterbenden Die Betreuung chronisch Kranker primär die Aufgabe der Arzte bzw. des Teams aus Arzten, Schwestern und Pflegern, die die Patienten körperlich behandeln und betreuen. Ziel: Unterstützung, die den Kranken hilft, ihr seelisches Gleichgewicht möglichst stabil zu halten oder soweit wie möglich wiederherzustellen Stabiles Beziehungsangebot von seiten der Ärzte, Schwestern und Pflegern Aufbau einer tragfähige Beziehung: Interesse, Takt, Einfühlung, Geduld und Zeit, Wissen um die Erwartungen und möglichen Konflikte und Störungen in der Arzt-Patient-Beziehung Angst- und Erwartungsspannung des Patienten und sein Bedürfnis nach Zuwendung muß anerkannt werden Persönlichkeit und Lebenssituation des Kranken müssen bekannt sein (durch bio-psycho-soziale Anamnese) Achtung: Übertragungen, Abhängigkeitswansche und Regressionstendenzen sind einerseits zu respektieren, andererseits muß die Autonomie des Patienten erhalten und gefördert werden, angemessene Distanz eingehalten und den Abstand gewahrt bleiben zu große Erwartungen, die nicht erfüllt werden können, müssen vermieden werden. Umgang mit medizinischen Informationen: versuchen, die Haltung des Kranken diesbezüglich herauszufinden, Verwandte hinzuziehen, gefühlsmäßige Entlastung bieten, Trauer ermöglichen, Hinzuziehen eines psychosomatischen Konsiliarius Die Betreuung Sterbender große emotionale Belastungen für Ärzte Zur Belastung trägt bei, daß das Sterben als Vollendung der Existenz im öffentlichen Bewußtsein tabuisiert und verdrängt wird. Es stehen immer weniger haltgebende Rituale zur Verfügung, die Patienten, Angehörigen und Betreuern helfen, sich in diesem Grenzbereich des Erlebens zu orientieren. Wichtige Aufgaben des Arztes: Informieren und Aufklären des Patienten Emotionale Begleitung Angehörige hinzuziehen, aufklären und ihnen zu helfen, sich in die besondere Situation von unheilbar Kranken und Sterbenden einzufühlen 6.2 Posttraumatische Belastungsreaktionenen Traumata sind seelische Verletzungen, die schwer oder nicht bewältigt werden können. Traumatisch wirken katastrophale Erlebnisse, die außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrungen liegen und das Selbstverständnis erschüttern. Sie kön- nen mit zeitlicher Verzögerung, unabhängig von einer spezifischen Disposition, zu einer vorübergehenden oder auch länger anhaltenden Störung im seeclischen und körperlichen Bereich führen, die als posttraumatische Belastungsreaktion bezeichnet wird. Posttraumatische Störungen (Posttraumatic stress disorders [PTSD]) Primäre Traumafolgen: Reaktive Störungen unabhängig von spezifischer Disposition: Akute Traumareaktion Posttraumatische Belastungsreaktion Posttraumatische Spätreaktion Sekundäre Traumafolgen: Sekundäre Traumafolgen: Chronische posttraumatische Störungen im Rahmen einer anhaltenden Traumaverarbeitung: Posttraumatische Persönlichkeit (ohne klinische Symptomatik) Posttraumatische Persönlichkeitsstörung (zumeist mir Borderlinezügen) Chronsiches posttraumatisches Syndrom (Symptomatik häufig wie Borderlinestörung, aber auch Syndrome auf mittlerem und höherem Strukturniveau mit Symptomatik wie neurotische Symptomneurosen) 22 Indirekte Traumafolgen: Typisch neurotische Störungen, die durch eine Traumatisierung als spezifischer Auslösefaktor bei vorbestehender neurotischer Entwicklung ausgelöst werden Zur Bezeichnung: Synonym: Erlebnisreaktionen, abnorme Erlebnisreaktionen bezeichnet. DSM-III: "Posttraumatic stress disorder" (PTSD); Bei Traumatisierung durch Gewaltanwendung handelt, spricht man auch von "Viktimisierungsstörung". ICD-10: F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung. Der Terminus "posttraumatische Störungen" beschreibt die verschiedenen Varianten der Reaktionen auf Traumata und der Verarbeitungtraumatischer Erlebnisse zusammenfaßt. Die eigentlichen posttraumatische Belastungsreaktion (mit einer Latenz von bis zu einer Woche nach der Traumatisierung) vs. die akute Traumareaktion ( begleitet das Trauma zeitlich unmittelbar begleitet und noch einige Zeit darüber hinaus bestehen) Als Spätfolge kann sich nach abgeklungener Symptomatik und einem individuell sehr unterschiedlich langem Intervall eine vorübergehende posttraumatische Spätreaktion einstellen. Als bleibende Nachwirkungen traumatischer Erlebnisse können im Rahmen der Traumaverarbeitung chronische posttraumatische Störungen entstehen. (Früher: traumatische Neurosen). Ätiologie Traumatisch wirken zumeist Ereignisse, die völlig unerwartet auftreten, ein katastrophales Ausmaß haben und aufgrund ihrer Intensität das seelische Gleichgewicht zerstören. z.B. Katastrophen wie Krieg und Naturereignisse, Gewalttätigkeit wie Folter, KZ-Haft, Entführungen, Überfälle, Vergewaltigung, sexueller Mißbrauch und Inzest, Unfälle mit Toten und Verletzten. Solche Erlebnisse führen zum Zusammenbruch der basalen seelischen Funktionen und bewirken einen Zustand extremer Angst und Hilflosigkeit, eine Art seelischer Ohnmacht. Dadurch werden das innere Gleichgewicht und das Sicherheitsgefühl aufs äußerste bedroht. Diese Zustände können meistens nur durch eine Art Selbstspaltung ausgehalten werden: Die Betroffenen treten gleichsam aus sich heraus, als beträfe die erschreckende Erfahrung gar nicht sie selbst, und stellen auf diese Weise eine Distanz zum Erlebten durch Dissoziation her. Vorerfahrungen, Verwundbarkeit, subjektive Bedeutungen der Ereignisse, unbewußte Phantasien und Erwartungen, mit denen sie zusammentreffen, können die traumatische Wirkung steigern. Auch Begleitumstände der traumatischen Erfahrung wie Isolierung, Entwürdigung und Entwurzelung verstärken die Traumatisierung, wällrend die Möglichkeit, motorisch aktiv zu reagieren, die Wirkung traumatischer Erlebnisse vermindert. verhaltenstherapeutische Sicht: PTSD = ein Fehlverhalten, das durch das Trauma konditioniert worden ist und später durch Ereig- nisse wieder ausgelöst werden kann, die dem Trauma ähneln. Nach dem Modell der erlernten Hilflosigkeit bilden die Erfahrungen des traumatischen Schockerlebnisses ein psychovegetatives Reaktionsmuster, das unter Belastungen zu Alarmreaktionen führt. Krankheitserscheinungen: akute traumatische Phase (akute Traumareaktion, klingt im allgemeinen nach Minuten oder Stunden ab): heftige Angst, Wut, affektive Entleerung, wenn keine Flucht möglich ist: evtl. stuporöse Erstarrung. posttraumatische Belastungsreaktion (meistens nach Latenz von wenigen Wochen oder Monaten): -> Typische posttraumatische Bewältigungsformen: Spaltungsprozesse (Dissoziationen) häufig verbunden mit weiteren borderlineähnlichen Mechanismen wie 23 Verleugnung Introjektion Gefühlsisolierung. Mögliche Symptome: psychische Erstarrung, Mißtrauen, Kontaktabbruch und innerer Rückzug, Konzentrationsstörungen bis hin zu Dissoziation, Depersonalisation und Derealisation, Einengung auf das traumatische Erleben, Intrusionen: Wiederholung der Traumaerfahrung in sich aufdrängenden Bildern und Erinnerungen ("Flashback"), Alpträumen und Phantasien, Konstriktionen (Affektleere): Zustände innerer Taubheit und Leere, Freudlosigkeit und Stumpfheit, oft mit dem Gefühl, wie vom Leben oder von sich selbst "abgeschnitten" zu sein, klinische Symptome: Angstanfalle und auf die Traumasituation bezogene Phobien, Verfolgungsgefühle, Depressionen, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit mit Wut- und Aggressionsausbrüchen, vegetative Reaktionen (z.B. Schlaflosigkeit), Verhaltensstörungen: Lernstörungen, Arbeitsstörungen, Interesselosigkeit am äußeren Lebensablaufbis hin zur Verwahrlosung, Schuldgefühle und Selbstvorwürfe, vor allem Überlebensschuld, wenn durch das traumatische Ereignis andere ums Leben gekommen sind. Traumaverarbeitung Je kürzer die Latenz und die Dauer der posttraumatischen Belastungsreaktion, -> desto besser die Prognose Traumabewältigung beginnt, wenn der Schock abgeklungen ist (mit Verleugnung und Ungeschehenmachen): Wiederholung des Traumaerlebens in Gedanken, Phantasien und in Träumen das Erleben der passiven Überwältigung wird nach und nach umgedeutet -> die Traumatisierten schreiben sich selbst eine aktive Rolle zu (durch oftmals wiederholtes Berichten, Abreaktion von Gefühlen, Verlust- und Trauerarbeit, Teilnahme an Betroffenengruppen, Gründung von lnteresseninitiativen usw. = lang andauernde mehr oder weniger bewußte kognitive, emotionale und handelnde Bewältigungsarbei) -> dast das Trauma verliert seinen überwältigenden Charakter und wird in den Fundus der persönlichen Erinnerungen integriert <-> mißlingt die Verarbeitung: Trauma und die begleitenden Affekte bleiben im allgemeinen dissoziiert > es entwickeln sich chronische Abwehrhaltungen gegen das Auftauchen der Erinnerungen und eine dauernde Persönlichkeitsänderung, die verhindert, daß das Trauma wieder voll bewußt wird oder daß Erlebniszustände wie Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein entstehen, die an das Trauma erinnern. Zwei Sonderfälle im Rahmen der Traumaverarbeitung: vor Traumatisierung bestand eine neurotische Entwicklung -> die Traumatisierung kann eine neurotische Dekompensation bewirken -> maßgeblich hierbei: die Intensität der traumatischen Erlebnisse, ihre persönlichkeitsspezifische Bedeutung für den Betroffenen vor dem Hintergrund seiner unbewußten neurotischen Konflikt Im Rahmen der Traumaverarbeitung werden bisweilen auch unbewußt motivierte Ansprüche auf Wiedergutmachung oder Berentung gestellt -> es entwickelt sich eine Rentenneurose. (wichtigstes Motiv: bewußte und vor allem der unbewußte Versuch, das im Trauma massiv bedrohte Sicherheits gefühl wiederherzustellen und abzusichern) Posttraumatische Spätreaktion: spontan ohne erkennbaren Anlaß in Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen (z.B. Jahrestage) auch ohne auffällige posttraumatische Persönlichkeitsentwicklung bei bereits abgeklungener posttraumatsischer Reaktion Symptome klingen schnell wieder ab 24 Zur Behandlung: Erstmaßnahme: Trennung von den Tätern in Sicherheit bringen (d.h. an einen geschützten Ort in den Schutz eines Menschen, der sich einfühlsam um sie kümmert) Informationen über bevorstehende Hilfe Protrahiert verlaufende akute Traumareaktionen: meistens einer stationäre psychiatrische Behandlung mit unterstützenden Gesprächen und Medikamenten nötig subakute posttraumatische Belastungsreaktionen: supportiver Psychotherapie behandelt: Wiederholung des Traumas in der Erinnerung zulassen den Patienten bei der Bewältigung der erschreckenden, z. T. auch widersprüchlichen Gefühle begleiten und unterstützen (Imaginationen, Entspannungsübungen, Träume beachten, in denen das Unbewußte nicht nur beständig die Traumatisierung wiederholt, sondern auch ungeschehen macht oder andere Bewältigungsschritte ersinnt) Ziele der Behandlungen mit Verhaltenstherapie: Konditionierungen auflösen und durch eine Extinktion das traumatische Erlebnis löschen Ausarbeitung eines Therapieplans, der für die einzelnen Verhaltens- und Reaktionsweisen, die verändert werden sollen, ein gestuftes Vorgehen mit Sesensibilisierungstechniken vorsieht. 25 7. Traumaverarbeitung und chronische posttraumatische Störungen Als psychisches Trauma bezeichnet man seelische Verletzungen durch äußerst schmerzliche Erlebnisse, die wegen ihrer Intensität und Plötzlichkeit nicht verarbeitet werden können und eine völlige Hilflosigkeit bewirken. Chronische posttraumatische Störungen sind sekundäre Traumafolgen. Zusammen mit den posttraumatischen Belastungsreaktionen bilden sie die Krankheitsgruppe der posttraumatischen Störungen (Posttraumatic stress disorder [PTSD]). Im Gegensatz zu den posttraumatischen Belastungsreaktionen bestehen bei chronischen posttraumatischen Störungen, als Folge der Traumaverarbeitung, eine dauerhafte Veränderung der Persönlichkeit. Sie wird als posttraumatische Persönlichkeit bezeichnet. Im Gegensatz zu neurotischen Störungen sind bei der Entstehung chronischer posttraumatischer Störungen neurotische Faktoren nicht zwangsläufig ursächlich beteiligt. Menschen mit neurotischer Vorbelastung sind aber stärker gefährdet, durch Traumatisierungen dauerhafte Traumafolgen zu entwickeln, als unbelastete Betroffene. 7.1 Trauma und Traumatisierung Die historischen Konzepte der traumatischen und der psychogenen Neurose in der Entwicklung der Psychoanalyse zwei Konzepte der Neurosenentstehung, die bei der Erforschung der klassischen Neurosen entwickelt wurden und in einer gewissen Polarität zueinander standen: Konzept der traumatischen Neurose: Es betonte die äußere Realität in der Frühkindheit als maßgeblichen Krankheitsfaktor (älteres Konzept, verlor später an Bedeutung) Der Begriff traumatische Neurose tauchte allerdings bei der Erforschung der Kriegsneurosen wieder auf. Sie waren durch Schüttellähmungen ("Kriegszittern") gekennzeichnet. Es handelte sich dabei um posttraumatische Belastungsreaktionen, die nicht auf einer in der Kindheit erworbenen Disposition beruhten und deshalb heute auch nicht als Neurosen eingestuft werden würden. Konzept der psychogenen Neurose (neures, noch aktuelles Konzept): Betonung der Innenwelt ("innere Realität" in Form von Phantasien, Erinnerungen, Affekten, Konflikten usw.) als entscheidenden Faktor bei der Neurosenentstehung. Traumatogenese aus früherer und heutiger Sicht klinischer Sicht: die Abgrenzung zwischen psychogener und traumatischer Ursache von Neurosen ist umstritten. Bei meisten typischen "psychogenen" Neurosen findet man sowohl unrealistische Phantasien als auch traumatisch erlebte Erfahrungen. Schwere Traumata scheinen allerdings völlig anders verarbeitet zu werden als übliche neurotisierende Belastungen. Das gibt den posttraumatischen Syndromen eine Sonderstellung, die im Folgenden beschrieben wird. Aus heutiger Sicht ist ein Konzept der Traumatogenese seelischer Störungen unter den folgenden Voraussetzungen sinnvoll: Als traumatisch werden nur Erlebnisse bezeichnet, die nicht in den Bereich der üblichen menschlichen Erfahrungen liegen; nicht jedes für die Entwicklung relevante Erleben ist "traumatisch". Posttraumatische Störungen beruhen auf der Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen, die häufig erst nach Abschluß der vulnerablen Phasen der Kindheitsentwicklung eintreten (d.h.zum Zeitpunkt der Traumatisierung kann sogar ein reifes Strukturniveau der Persönlichkeit bestehen). Als Traumafolge entsteht dann sekundär oft eine posttraumatische Persönlichkeit. daneben kann es natürlich auch vorkommen, daß Traumatisierungen eine primär neurotische Persönlichkeit betreffen und eine komplexe Dynamik auslösen, in der Traumaverarbeitung und neurotische Dekompensation sich miteinander vermischen. Geschichte des Konzeptes einer Traumatogenese psychischer und psychosomatischer Störungen: Oppenheim (1888): nahm bei "traumatischen Neurosen" nach den damals aufkommenden Eisenbahnunglücken ursächlich eine organische Schädigung des Zentralnervensystems an -> Psychische und psychosomatische Spätfolgen wurden lange mit einer "Begehrensvorstellung" (-> Rentenneurose, Wunsch nach Beschaffung von Vorteilen) 26 - - - Kriegsneurosen des Ersten WeltkrIeges (Kriegszittern und andere Kampfreaktionen): Betrachtung als "tendenziöse" Reaktionen betrachtet und Gleichsetzung mit den Rentenneurosen später fand v.a die von Psychoanalytikern vertretene Auffassung einer reinen Psychogenese dieser "traumatischen Neurosen" Anerkennung. psychische Folgen des nationalsozialistischen Terrors, v.a. Folgen der Haft in Konzentrationslagern: Einstufung als "Überlebenssyndrome" (bei der Begutachtung der Überlebenden war es in Deutschland Anfang der fünfziger Jahre noch umstritten, ob die oft jahrelangen unmenschlichen Extrembelastungen bei anfangs Gesunden dauerhafte Störungen im Erleben und Verhalten herbeiführen können) -> Die Auseinandersetzungen bewirkten schließlich, daß Extremtraumatisierungen als Krankheitsursache anerkannt wurden . Vietnamkrieg und seine Folgen bei den Veteranen: in den achtziger Jahren kam es zu einer Neubewertung von Traumatisierungen als Krankheitsfaktor. Heute: die posttraumatischen Störungen finden in der Literatur verschiedener Wissenschaftszweige sogar bevorzugte Aufmerksamkeit. (Dazu hat eine Reihe von populär gewordenen Untersuchungen der Folgen von Massentraumatisierungen wie Flugzeugentführungen, Brandkatastrophen bzw. Atornreaktorunfällen, das Forschungen über die Verbreitung und die Folgen von körperlicher Gewalt und sexuellem Mißbrauch in Familien beigetragen) <-> Allerding: Wenig beachtet bleiben Studien, die sich mitprotektiven Faktoren bei Traumatisierten befassen, die dazu beitragen, daß durchaus nicht jedes Trauma anhaltende seelische und psychosomatische Folgen hat. Formen der Traumatisierung Traumatische Erlebnisse sind insbesondere die vielfaltigen Arten der Lebensbedrohung, des Verlustes, Gewalterfahrung und Katastrophen. Bei Patienten mit posttraumatischen Störungen sind am häufigsten Vergewaltigungen (ca. die Hälfte) es folgen andere Gewaltverbrechen dann Kriegs- und Folterfolgen und schließlich Verkehrsunfälle. Unter systematischen Aspekten werden verschiedene Traumaformen unterschieden: punktuelle und chronische Traumatisierung, Mono- und Polytraumatisierung, soziale, durch Menschen bedingte, und nichtmenschlich bedingte Traumatisierung (Naturkatastrophen), absichtliche Traumatisierung, z.B. durch eine Vergewaltigung, und unabsichtliche, z.B. durch einen Unfall. Mehrere, einzeln noch gar nicht traumatisch wirkende Ereignisse können zusammenkommen und dann ein kumulatives Trauma bewirken mehrere, bereits einzeln traumatisch wirkende Erfahrungen können zusammenkommen: Wenn sie nacheinander auftreten (z.B. bei der Aufeinanderfolge von Judenverfolgung, KZ- Haft und Holocaust) -> sequentielles Trauma. Wenn sie gleichzeitig auftreten, spricht man von additivem Trauma. Dynamik der Traumatisierung Traumatische Erlebnisse führen zur plötzlichen oder andauernden Reizüberflutung, lähmen das Ich und führen in einen Zustand völliger Hilflosigkeit, indem der Betroffene überwältigenden inneren und äußeren Erfahrungen ausgesetzt wird. Die Fähigkeit der Realitätsprüfung wird bedroht, weil die Grenze zwischen innerer Phantasie und äußerer Realität aufgelöst wird. Das Trauma bewirkt einen Zusammenbruch der Fähigkeit, zwischen innen und außen zu unterscheiden, und führt in eine katastrophale Orientierungslosigkeit und psychische Hilflosigkeit bis hin zur psychotischen Desorientiertheit. Der Zustand der Orientierungslosigkeit tritt klinisch als akute Traumareaktion in Erscheinung und dauert an, bis es gelingt, die Kontrolle über das Erleben zurückkzugewinnen. 27 Dann entsteht mit der Restitution der Kontrollfunktionen des Ichs die Traumaverarbeitung, die von einer posttraumatischen Belastungsreaktion begleitet wird. Hinweise auf Traumatisierungen Wut, Furcht, Erstarrung: akute Traumareaktion Angst, Depression, Intrusionen, Konstriktion (Affektleere), Selbstvorwürfe: posttraumatische Belastungsreaktion Mißtrauen, Konstriktion, phobischer Rückzug, Spaltung, Identifikation mit dem Täter: posttraumatische Persönlichkeits veränderung Depressive und Angstsyndrome, Dissoziationen, Konversionen, Verhaltensstörungen: chronische posttraumatische Störung Die posttraumatische Persönlichkeit Wenn die Traumatisierung andauert oder die Bewältigungskräfte nicht ausreichen, um das psychische Gleichgewicht wiederherzustellen entwickelt sich im Rahmen der weiteren Traumaverarbeitung eine posttraumatische Persönlichkeit. Das Traumaerleben hat demnach primäre Folgen ohne Persönlichkeitsveränderung und sekundäre Folgen durch eine posttraumatische Persönlichkeitsentwicklung. Entscheidend dafür, ob eine posttraumatische Persönlichkeit entsteht oder nicht, ist die Möglichkeit des Ichs, wenigstens Teile seiner Kontrollfunktionen, seiner Abwehr, aufrechtzuerhalten oder rasch wiederherzustellen. posttraumatische Persönlichkeit: bildet Disposition für die Entstehung von chronischen posttraumatischen Störungen. ist eine Abwehrbarriere, in der sich die Furcht vor erneuter Traumatisierung und die Furcht vor der Erinnerung an die erlittene Traumatisierung niederschlägt. Dazu dienen die folgenden Schutzhaltungen: Besondere Verletzbarkeit, Mißtrauen, Kontaktabbrüche und narzißtischer Rückzug zur Abwendung der Möglichkeit einer erneuten Traumatisierung, Abwehr von Affekten (Konstriktion), wodurch innere Taubheit und Leere entstehen und die Erinnerung an Hilflosigkeit und Wut gleichsam getilgt wird, phobische Haltungen: Situationen, die an das Trauma erinnern könnten, werden vermieden. 7.2 Modi der Traumaverarbeitung Ichregression und Dissoziation Trauma = ein Ereignis, für dessen Verarbeitung es im Innern kein Vorbild gibt -> es kommt als unmittelbare Traumafolge zum Zusammenbruch der Ichregulation mit den Symptomen der akuten Traumareaktion und der posttraumatischen Belastungsreaktion. Psychodynamisch betrachtet, handelt es sich um eine Ichregression. Diese äußert sich im Verlust der reifen Formen des Denkens, der Wahrnehmungsverarbeitung, der Bewältigung und der Abwehr. An die Stelle reiferer Mechanismen tritt eine Art Notabwehr, die Dissoziation. Dissoziationen: die Betroffenen betrachten das traumatische Erleben als ein Geschehen außerhalb von sich selbst -> so retten sie sich vor dem psychischen Zerbrechen. = ein Zerreißen des Bewußtseinszusammenhanges = eine Art Ichspaltung. Das traumatische Erleben wird dadurch vom nichttraumatischen getrennt und das Traumaerleben abgespalten und im Innem isoliert. Dadurch bildet das Trauma ein abgekapseltes Introjekt. (das innere "Gute" wird vor dem "Schlechten" in Sicherheit gebracht) Traumabewältigung und Restitution 28 Bleibt die Traumatisierung begrenzt, bestehen günstige Begleitumstände bestehen und die Persönlichkeit kann sich erholen kann => die posttraumatischen Traumafolgen können vorübergehen. = Es kommt zur Restitution. günstige Voraussetzungen: eine reife, in sich ruhende Persönlichkeit ohne besondere Vorbelastung, das Ausbleiben von körperlichen oder sozialen Dauerfolgen nach der Traumatisierung sowie hinreichende Hilfen bei der Traumabewältigung. Im günstigsten Falle kann die Traumaerfahrung dann verarbeitet und integriert werden, d.h. sie erlangt die Bedeutung eines zwar besonders belastenden, aber nicht zerstörenden Lebensereignisses. Neurotische Traumaverarbeitung Dauerhafte Traumafolgen bei stärkeren, v.a. wiederholte und langanhaltende Traumatisierungen, und geringere Resistenz, vor allem bei neurotischer Vorbelastung Das dissoziierte Trauma kann dann mit den Mitteln der neurotischen Konfliktbewältigung auf mittlerem oder höherem Strukturniveau weiter bearbeitet werden. Es wird z.B. verdrängt oder zwanghaft mit den Mitteln von Rationalisierung oder Gefühlsabspaltung organisiert. Bei narzißtisch disponierten Betroffenen werden zum Schutz vor einer Retraumatisierung idealisierte Beziehungen aufgebaut. -> so entstehen narzißtische, depressive, zwanghafte oder hysterische posttraumatische Persönlichkeiten. Situationen, die an das Trauma erinnern, können die Abwehr labilisieren und zur Dekompensationen führen. Wenn die Abwehr, z.B. im Verlaufe einer "aufdeckenden" Psychotherapie, gelockert wird, entstehen daher häufig dissoziative Zustände, in denen die isolierte Traumaerinnerung verborgen ist. Traumaverarbeitung auf Borderlineniveau Durch Fixierung der Ichregression -> es entstehen posttraumatische Persönlichkeiten auf Borderlineniveau (bei Menschen, die in labilen Entwicklungsphasen, z.B. in Kindheit und Adoleszenz, im seelischen Umbruch oder auf der Basis einer Borderlinepersönlichkeit traumatisiert werden) Die Identifikation mit dem Täter dient zur Bewältigung der unerträglichen Verwirrung während und nach der Traumatisierung aus der Position des Täters heraus empfinden sie die Tat dann als berechtigt, vielleicht sogar als erregend, sie distanzieren sich dadurch vom Erleben als Opfer, von ihrer Angst, ihren Schamgefühlen und ihrer Schutzlosigkeit so entsteht die sadomasochistische Abhängigkeit, die für viele Täter-Opfer-Beziehungen nach Traumatisierungen typisch ist . die Indentifikation kann soweit gehen, daß die Opfer sich paradoxerweise für die Tat der Täter schuldig fühlen. Durch Schuldzuweisungen von außen ("Der wollte es ja so...") kann es zu heillosen Konfusionen im Erleben kommen. In der weiteren Verarbeitung wird der vormals traumatisierende Täter ein Teil der inneren Welt. Als "innerer" Täter übt er eine quälende Herrschaft über die Betroffenen aus. So entsteht ein unbewußtes sadomasochistisches Arrangement: Ein Teil des Patienten behandelt nun einen anderen Teil von sich selbst sadistisch, dieser andere Teil unterwirft sich in masochistischer Weise. Schon durch kleinste Erinnerungen - durch Stimmungen, Jahrestage usw. - kann diese innere Dynamik belebt werden und bewirken, daß die Betroffenen beginnen, sich selbst zu quälen, zu verletzen oder sogar zu suizidieren. Dieses Arrangement kann in späteren Beziehungen jederzeit externalisiert werden. Dann entstehen sadomasochistische Partnerschaften und, speziell in der Psychotherapie, eine sadomasochistische Übertragungsdynamik. Cofaktoren der Traumaverarbeitung 29 Entscheidend für Folgen traumatischer Erlebnisse ist die Art und Weise, wie sie psychisch weiterverarbeitet werden. Dabei sind mehrere Faktoren maßgeblich: Intensität und Dauer des Traumas: langfristige und intensive Traumatisierungen (z.B. politische Verfolgung mit Haft und Folter) kann auch bei Gesunden zu anhaltenden posttraumatischen Spätfolgen führen Begleitumstände der Traumatisierung: Individuelle Traumatisierungen sind schwerer zu verarbeiten als ein mehrere Menschen betreffendes, kollektives Trauma ein Naturereignis ist leichter zu verarbeiten als ein durch Menschen herbeigeführtes Trauma. Wenn der Betroffene sich wehren konnte, kann er das Trauma leichter überwinden als wenn er völlig ausgeliefert war usw. Entwicklungsstand der Betroffenen: In der labilen Struktur eines Kindes oder eines Jugendlichen hinterläßt ein Trauma eher Dauerfolgen als in der stabileren eines Erwachsenen. Psychische Konstitution und das Ergebnis der bisherigen Persönlichkeitsentwicklung: Je gesunder ein Mensch ist, umso leichter Wird er ein Trauma bewältigen können. <-> neurotische Persönlichkeitsentwicklungen und Konflikte erschweren die Traumabewältigung aufgrund unbewußter Konflikte, die ein Trauma bei den Traumatisierten wachruft. Traumaverarbeitung im Jugendalter traumatische Erlebnisse treffen auf eine für das Alter typische Labilität der inneren Strukturen im Rahmen der pubertären und adoleszenten Entwicklungs- und Reifungsprozesse => es besteht bei Traumatisierungen daher eine besondere Bereitschaft zur Fixierung der Ichregression Typische Folgen: posttraumatische Borderline-Persönlichkeitsstörungen mit der Bereitschaft, posttraumatische Syndrome auf Borderlineniveau zu entwickeln. Besondere Bedeutung in der späten Kindheit und im Jugendalter: das Trauma der körperlichen Gewalt und des sexuellen Mißbrauchs in einer Vertrauensbeziehung. (der Mißbrauch durch eine nahestehende Person, oft ein Inzest, trifft mit unbewußten oder auch vorbewußten sexuellen Phantasien zusammen, die häufig gerade auf den Täter gerichtet sind; dieses Zusammentreffen führt zu einer Orientierungs- und Identitätskrise und ruft unerträgliche Scham- und Schuldgefühle hervor; durch Dissoziation wird die unerträgliche Realität eines chronischen Mißbrauchs in der Wahrnehmung verändert -> Die Traumatisierung wird dadurch abgekapselt und bleibt als "Introjekt" erhalten) !!! Voraussetzung für aggressiven und sexuellen Mißbrauch innerhalb einer Familie: Werte und Normen sowie die Generationsschranken sind in diesen Familien labil und die Familiendynamik ist gestört ist !!! !!! Mißbrauch wird oft von anderen Nahestehenden "geahnt" und verleugnet und die Schuld dem Mißbrauchsopfer zugeschoben => ein Schutzraum, in dem das Trauma verarbeitet werden kann, fehlt dann ebenso wie Unterstützung bei der Bewältigung !!! Traumaverarbeitung im Erwachsenenalter Restitution: wenn Erwachsene und alte Menschen zum Zeitpunkt der Traumatisierung eine stabile Form der Persönlichkeit gefunden haben (sie können sich nach dem Abklingen der posttraumatischen Belastungsreaktion wieder auf ihrem gewohnten Niveau stabilisieren) -> Voraussetzung: das traumatische Ereignis hat keine körperlichen Folgen (z.B. Verletzungen) oder äußere Folgen (z.B. Heimatverlust) keine Restitution: Die Traumatisierung wirkt so stark ein, daß eine Restitution ausgeschlossen ist (Stabilisierung des Ichs nur durch neurotische Weiterverarbeitung möglich). -> Voraussetzung: eine Schwächung der Bewältigung durch eine vorbestehende neurotische Entwicklung 30 Auslösesituationen, die unbewußt an das Trauma erinnern, können auf dieser Basis chronische posttraumatische klinische Syndrome entstehen Sie treten häufig in Gestalt von depressiven, Angstsyndromen oder psychogenen Schmerzsyndromen auf und haben ebenfalls ein mittleres oder höheres Strukturniveau. ihre traumatische Ätiologie bleibt wegen der Verdrängung des Traumas oft lange unerkannt. Alternativ kann bei Menschen mit einer extremen und anhaltenden Traumaerfahrung trotz bis dahin guter Lebensbewältigung eine Fixierung der Ichregression eintreten, in der Folge entwickelt sich eine posttraumatische Persönlichkeitsstörung vom Borderlinetyp und die Disposition für posttraumatische Borderlinestörungen. Die posttraumatische Manifestation von Neurosen Ein Trauma kann bei Menschen mit neurotischen Persönlichkeiten wie eine spezifische Auslösesituation wirken, zum Zusammenbruch der Abwehr führen und eine übliche Neurose hervorrufen. Trifft die Traumatisierung zudem einen Menschen, der zudem bereits neurotisch krank ist, entsteht eine nicht zu bewältigende zusätzliche Belastung. Die ohnehin bestehenden neurotischen Probleme, z.B. die Nähe-Distanz-Problematik, werden dabei weiter verstärkt. Das Trauma ist bei diesen Konstellationen das maßgebliche klinische Problem und muß auch bei der Behandlungsplanung besonders berücksichtigt werden. Diese Gegebenheit kann durch die Bezeichnung "posttraumatische Neurosen" auch begrifflich gefallt werden. 7.3 Chronische posttraumatische Störungen Chronische posttraumatische Störungen sind Persönlichkeitsstörungen und klinische Syndrome, die als Spätfolge von Traumatisierungen auf der Basis einer posttraumatischen Persönlichkeit entstehen. Chronische posttraumatische Syndrome können, wie die neurotischen Störungen, auf allen Struktumiveaus der Persönlichkeitsorganisation vorkommen. "Reifere" Störungen bleiben oft unerkannt, während posttraumatische Borderlinestörungen leichter zu diagnostizieren sind. ICD 10: F62.0 Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extremtraumatisierung. Posttraumatische Persönlichkeitsstörungen Es besteht ein niederes Strukturniveau mit vorherrschender Spaltungsabwehr. Es handelt sich aber um eine sekundäre Ichregression, Klinisch (neben den allgemeinen Merkmalen des Borderlineniveaus): einige typische Besonderheiten der posttraumatischen Persönlichkeitsstörungen: Mißtrauen und Feindseligkeit als Grundhaltung gegenüber anderen: Betroffener reagiert so auf ein anhaltendes Gefühl der Bedrohung. Sekundär entstehen Verletzbarkeit und Mißtrauen, Kontaktabbrüche, narzißtischer Rückzug und phobische Vermeidungen. Intrusionen: Zustände von Leere und Hoffnungslosigkeit als Folge erlittener extremer Überwältigung und Ohnmacht. Spaltung in eine traumatische und eine nichttraumatische innere und äußere Welt: Isolierung des Traumas als abgekapseltes Introjekt, ein Leben in einer Welt "voller Täter und Opfer". Identifikation und Herausbildung masochistischer (gegen die eigene Person gerichteter) Haltungen sowie sadomasochistischer Partnerschaftsarrangements. Diese Zustände und Haltungen sind intensiver ausgeprägt als bei den posttraumatischen Persönlichkeiten und haben Symptomwert. Erlebnis- und Verhaltensstörungen bei den posttraumatischen Persönlichkeitsstörungen sind Bewältigungsversuche der Ichschwächung, die durch die Traumatisierung hervorgerufen worden ist. Dissoziative Ichzustände mit Symptomen wie Intrusionen, Depersonalisation, Derealisation und Selbstverletzung gehen unmittelbar auf die beschriebene Ichspaltung während der Traumatisierung zurück. es treten auch somatoforme Erregungszustände wieder auf, die mit dem Trauma verbunden waren (körperliche Flashbacks). Posttraumatische Syndrome 31 Erinnerungen an die traumatische Situation sind spezifische Auslösesituationen für die posttraumatische Persönlichkeit. In solchen Situationen entstehen Störungen auf Borderlineniveau, die posttraumatischen Borderlinestörungen: Affektive Störungen: Depressive Leere und Angstsyndrome im Sinne fixierter Flashbackreaktionen. Depersonalisation: Zur Bewältigung von seelischer Verletzung, Scham und Haß erscheint das eigene Erleben, als gehöre es nicht zu einem selbst; Derealisation zur Verleugnung des traumatischen Geschehens wird die Wirklichkeit unwirklich erlebt Dissoziative Störungen: Erinnerungs- und Gedächtnisslücken, die das traumatische Erleben aussparen, bis hin zur Spaltung in eine multiple Persönlichkeit Konversionsstörungen): Sensorische Störungen (z.B. Sehstörungen), motorische Störungen (z.B. Krämpfe) als symbolische Abwehr der Traumaerinnerung: Sehstörung z.B. als Wegschauenvomnauma, Krämpfe z.B. als Versuch, sich zu wehren. Schmerz als Konversion von Seelenschmerz oder als narzißtische Körperbesetzuftg im Sinne der Selbstsorge Verhaltensstörungen: Selbstbeschädigung und Eßstörungen, Sucht und Perversionen als Manifestation masochistischer Haltungen im Rahmen der posttraumatischen Schuldverarbeitung, als Möglichkeit, sich durch schmerzhafte Stimulierung des Körpererlebens abgegrenzt und gegen Grenzverletzungen und Ubergriffe geschützt zu fühlen sowie als Mittel zur Verleugnung der traumatisch erlebten Wirklichkeit. Es gibt auch reifer strukturierte posttraumatische Syndrome v.a. manche Angststörungen und Phobien, depressive Störungen, Somatisierungsstörungen, psychogene Schmerzsyndrome und Konversionsneurosen, die bei der klinischen Untersuchung als Neurosen auf mittlerem oder höherem Strukturniveau erscheinen, beruhen auf traumatischen Ursachen. die Diagnose dieser Störungen ist oft schwierig und die traumatische Ätiologie bleibt oft unerkannt, weil die Zeichen der posttraumatischen Persönlichkeit (Verletzbarkeit, Affektabwehr und phobische Haltungen) oft nicht sehr auffallen und sie nicht leicht von narzißtischen und neurotischen Persönlichkeiten zu unterscheiden sind. Es kommt hinzu, daß die Erinnerung an das traumatische Erleben bei diesem Strukturniveau meistens vollständig verdrängt ist. Die Traumatisierung wird dann meistens erst im Verlaufe psychoanalytischer Behandlungen "entdeckt". 7.4 Behandlung Ziel: die Bewältigung der traumatischen Erfahrungen und ihrer Folgen zu fördern. drei Schwerpunkte der Traumatherapie: Der Aufbau einer tragenden Beziehung, in der sich die Traumatisierten vor allem sicher, angenommen und gegen Retraumatisierungen geschützt fühlen können. Die Bearbeitung der traumatisierenden Erinnerungen und der damit verbundenen Gefühle wie Hilflosigkeit, Ohnmacht und Ausgeliefertsein, Verlust der Selbstbestimmung und Selbstverlust, Scham und Schuldgefühle. Der Aufbau eines neuen Identitäts- und Daseinsgefühls, das nicht mehr um das Trauma organisiert ist. Leitlinien für die Behandlung von Menschen mit schweren Traumatisierungen und posttraumatischen Störungen ergeben (unabhängig von der speziellen Konzeption der Behandlung): a) das nicht-beurteilende Akzeptieren des Opfers der Behandler muß in der Lage sein, die Tatsache der Traumatisierung als solche vorbehaltlos anzuerkennen, sonst können Beschämungen, Entwertungen, Vorurteile, Bevormundung und Schuldzuweisung, Parteinahme oder Distanzierung entstehen und eine sublime erneute Traumatisierung bewirken andererseits muß er genügend Abstand zum Patienten und zum Trauma bewahren, um bei der Bearbeitung eine neue Perspektive vermitteln zu können. b) die Förderung von Autonomie und Selbstakzeptanz 32 der Patient muß selbst über den Prozeß der Behandlung bestimmen können, z.B. über das Setting. Ihm wird freigestellt, was er zu welchem Zeitpunkt berichten will, insbesondere, wenn es um die Traumaerinnerung geht. Er soll durch das Geschehen in der Behandlung nicht überwältigt werden und darf durch die Behandlung nicht in einen erneuten Zustand der Hilflosigkeit geraten. Daraus ergibt sich, daß regressive Prozesse, die die Abhängigkeit stärkel, und Therapiekonzepte, die die Macht des Behandlers betonen, vermieden werden. Analytische Psychotherapie Annahme: die Heilungskräfte nach Traumatisierung werden am besten dadurch gefördert, daß die mit der Traumatisierung verknüpften Erinnerungen, Gefühle und Beziehungsvorstellungen bewußt und aufgearbeitet werden. meistens tiefen psychologische Psychotherapien. Ziel: die Überwindung der Spaltung und die Herstellung der Erfahrung, daß die "bösen" überwältigenden Erlebnisse das "Gute" im Patienten nicht zerstört haben. -> die Reintegration der Persönlichkeit und die Wiederherstellung der Kontinuität des Erlebens sollen vorangebracht werden. (ein mühevoller und langdauernder Prozeß, dem starke Kräfte - die Identifikation des Traumaopfers mit dem Täter – entgegenstehen) Im Zentrum der traumaorientierten Technik: supportive und klärende Interventionen sowie Deutungen, welche die inneren Zustände empathisch beschreiben -> Sie geben den Patienten die Erfahrung, daß der Psychotherapeut Erlebnisse wie Einsamkeit, Ohnmacht und Verletzung erkennen und anerkennen kann. <-> "Aufdecken" hilft diesen Patienten wenig und bringt die Gefahr mit sich, daß sie sich konfrontiert, unverstanden oder von der Macht des Behandlers überwältigt fühlen. Extremtraumatisierte: Eine nicht traumaadaptierte analytische Psychotherapie ist in der Regel nicht indiziert -> Sie würde die Gefahr mit sich bringen, durch Setting (Liegen, hohe Frequenz) und Technik (Zentrierung auf die Ubertragungsdynamik) die Regression zu fördern. Damit würde das innere Bild des Täters auf den Behandler übertragen und damit die Behandlung wie eine Retraumatisierung erlebt werden. Solche Behandlungen erweisen sich oft als nutzlos und können scheitern. Dazu trägt auch das selbstschützende Mißtrauen bei, mit demgie Patienten sich gegen einfühlende Deutungen abschirmen. weniger schwer Traumatisierte: die Übertragung hilft, die emotionalen Bedeutungen des Traumas und die verschiedenen Aspekte seiner Verarbeitung zu erkennen und schließlich aufzuarbeiten. In traumaorientierten analytischen Fokalbehandlungen wird die Ubertragung auf diese Weise für die Traumaverarbeitung genutzt. Dazu muß sie allerdings traumabezogen verstanden und behandelt werden und nicht als Wiederholung der frühen Lebensgeschichte. Oft werden Patienten mit der Anfangsdiagnose einer narzißtischen oder klassischen neurotischen Störung sich"in einer analytischen Psychotherapie an eine frühere Traumatisierung erinnert. Es handelt sich dann in Wirklichkeit also um verdeckte posttraumatische Syndrome. (das Erinnern an ein Trauma ist in solchen Fällen ein Zeichen für eine tragfahige Beziehung zum Behandler ist -> auf dieser Basis gelingt es meistens, die Übertragung des Traumas und die damit verbundenen negativen Gefühle aufzuarbeiten und zu einer Integration der Traumaerfahrung zu gelangen) Verhaltenstherapie verschiedene Techniken, mit dem Ziel haben, die durch die Traumatisierung gebahnten Lernprozesse rückgängig zu machen und die Copingmechanismen in bezug auf das Trauma zu verbessern. Angewandt werden u.a. Entspannungsübungen: Progressive Muskelentspannung, ggf. in Verbindung mit einer Hypnotherapie, Umlernen und Dekonditionierung, 33 - systematische Desensibilisierung, kognitive Strategien: Informationsvermittlung über Traumareaktionen, Führen von Tagebüchern, Briefeschreiben, Selbstbehauptungstraining, Problemlösungstraining. Im Rahmen der verhaltenstherapeutischen Borderlinetherapie umfaßt die Behandlung des posttraumatischen Streßsyndroms mehrere Schwerpunkte: Anerkennung der Traumatisierung als Lebensereignis und Verminderung der damit verbundenen Selbstvorwürfe, die Verminderung der phobischen Vermeidung traumabezogener Situationen, die Überwindung der Spaltung in Hinblick auf das Trauma. Besonders hervorzuheben: lösungsorientierte Ansätze (neben kognitiven Techniken wird v.a. auch die Hypnotherapie eingesetzt) -> es wird dabei auf Stärken und Ressourcen des Patienten zentriert und der Blick durch Zentrierung auf die geglückte Lebensbewältigung wieder frei für zukunftsorientierte"Perspektiven gemacht. Spezielle Traumatherapie Inzwischen wurden spezielle Traumatherapien entwickelt. Sie verbinden verschiedene Techniken aus verschiedenen therapeutischen Richtungen zu umfassenden Programmen, die für die einzelnen Settings, z.B.. ambulante Beratung oder stationäre Klinikbehandlung, modifiziert werden. Die Behandlungen folgen einem mehrphasigen Behandlungsplan: I. Kontaktaufnahme mit dem Aufbau einer tragenden therapeutischen Beziehung, in der sich der Patient sicher fühlen kann. II. Voraussetzung für die Behandlung ist äußere Sicherheit. Vorrangig ist die Vermeidung von Täterkontakt. III. Im Vorfeld der Traumaerinnerung werden mit kognitiven und supportiven Verfahren basale Bewältigungsstrategien gestärkt, z.B. wie man sich beruhigt, wie man für sich sorgt und wie man sich schützen kann. Dazu werden spezielle lmaginationsübungen ("Einen sicheren Ort aufsuchen", "Kontakt mit inneren Helfern aufnehmen") eingesetzt. IV. Im Zentrum steht die Traumaexposition: Nach einer über mehrere Sitzungen gehenden Vorbereitung wird das Trauma unter Anleitung visualisiert, d.h. in der bildlichen Vorstellung, wie im Kino, erinnert. Das geschieht verteilt auf mehrere Sitzungen, um eine Überflutung durch die Erinnerungen zu vermeiden, und mit mehrmaliger Wiederholung, wobei die Erinnerung immer weniger überwältigend wird. Wichtig ist es dabei, daß der Patient stehts die Kontrolle über den Prozeß behält. V. In der anschließenden, über längere Zeit gehenden Nacharbeit werden verschiedene Aspekte der Erinnerung vertieft, erörtert und weiterführende Perspektiven entwickelt. Die leitende Absicht ist die Imegration des Erlebens in die Gesamtpersönlichkeit und Ablösung der passiven Opferposition durch eine aktiv-handelnde Haltung und die Erweiterung des Verhaltensspielraumes. VI. Abschließend werden Zukunftsperspektiven erarbeitet, z.B. juristische Konsequenzen, die künftige Gestaltung von Beziehungen und Lebensplanung. Dieses Grundmuster der Traumatherapie kann einen stärker psychodynamischen oder einen mehr behavioral-kognitiven Akzent haben. spezielle Behandlung von Traumaopfern:Eye Movement Desensitisation and Reprocessing (EMDR): wiederholte bilaterale Augenbewegungen ("Augenwackeln") lassen bei gleichzeitiger bildhafter Erinnerung an ein Trauma diese Erinnerung mit der Zeit verblassen (EMDR-Sitzungen scheinen dauerhafte Wirkungen zu haben und werden inzwischen im Rahmen verschiedener Formen der Traumatherapie verwendet). 34 8. Persönlichkeitsstörungen Neurotische Persönlichkeitsstörungen sind Auffälligkeiten in den Gmndhaltun gen zur eigenen Person, in zwischenmenschlichen Beziehungen, gegenüber dem Leben und der Welt, die subjektiv als Beeinträchtigungen erlebt werden bzw. zu Problemen bei der Lebensbewältigung und in sozialen Beziehungen führen. Sie beruhen im wesentlichen auf einer neurotischen Entwicklung. Diese Störungen wurden früher als Charakterneurosen bezeichnet. Persönlichkeit (Charakter) Beide Begriffe werden heute gleichbedeutdend verwendet = die Gesamtheit der überdauernden, "charakteristischen" Eigenschaften, die ein Mensch im Laufe seines Lebens in der Begegnung mit der Welt und den Menschen erworben hat und die sein Wesen, die Grnndmuster seines Erlebens und Verhaltens prägen. Charakterzüge (= typische Eigenschaften eines Menschen) bilden sich im Laufe der Entwicklung im Spannungs feld zwischen inneren und äußeren dynamischen Gegebenheiten; Zu ihnen zählt ein unbegrenztes Spektrum wiederkehrender, positiv und negativ konnotierter Erlebnis- und Verhaltensmuster wie Mut, Tapferkeit, Unternehmungsgeist, Angstlichkeit, Pessimismus, Klagsamkeit u. v .a. Als neurotische Charakter- und Persönlichkeitszüge bezeichnet man auffällige Wesensmerkmale, die zwei verschiedene Wurzeln haben: Sie entstehen entweder direkt aus einer erworbenen Ichschwäche, z.B. die Impulsivität und das Agieren der Borderlinepatienten; oder sie entstehen aus erworbenen chronischen Abwehrhaltungen, die dazu dienen, Konflikte zu vermeiden oder unbewußt zu halten, z.B. die Ziellosigkeit und das Agieren der hysterischen Patienten; in diesem Falle spricht man auch von Charakterabwehr. Die Grenze zwischen Symptom und neurotischen Charakterzügen, zwischen "normal" und "auffällig" ist äußerst unscharf und eine Frage der Konvention. z.B.: Angst = Symptom, Ängstlichkeit = Charakterzug; Kontrollieren = Symptom, Pedanterie = Charakteraufflilligkeit etc. Neurotische Persönlichkeit = Angepaßte, insgesamt unauffällige Persönlichkeiten, die jedoch durch unverarbeitete Konflikte zur Entstehung von Neurosen disponiert sind zunächst besteht kein Leidensdruck, kein Krankheitswert, aber für den Betroffenen besteht ein Krankheitsrisiko (unter Belastungen kann es zur Dekompensation und zur Entstehung von neurotischen Störungen kommen) -> Mit der Manifestation einer Neurose, also mit dem Symptombeginn, entstehen natürlich auch Krankheitsgefühl und Leidensdruck. Symptomneurosen und ihre Basis, die neurotische Persönlichkeit, ergänzen dann einander. Persönlichkeitsstörung Auffällige Verhaltensmuster Unangepaßtes Wesen Geraten ständig mit sich und anderen in Schwierigkeiten Obwohl sie an ihrem Wesen leiden, können sie sich nicht durch bloßes Wollen ändern, weil sich hinter ihren Eigenarten ungelöste Konflikte verbergen. Der Leidensdruck entsteht nicht durch bestimmte Symptome im medizinischen Sinne, sondern durch die Folgen des Verhaltens im persönlichen und sozialen Bereich (Unzufriedenheit, Ziellosigkeit, fortwährend auftretende Beziehungskrisen, Scheitern in Beziehungen und im Beruf, soziale Probleme durch Unbeherrschtheit, Unzuverlässigkeit etc.) stärker ausgeprägte Varianten der neurotischen Persönlichkeiten, während eine spezifische, die Dynamik und Abwehr verändernde Auslösesituation und ein "Sprung" vom prämorbiden zum klinischen Erscheinungsbild ("Dekompensation"), das die Entstehung von Symptornneurosen kennzeichnet, bei ihnen fehlt. 35 Der Begriff "Persönlichkeitsstörung" stammt aus dem angloamerikanischen Sprachgebrauch (Personality disorder) und hat sich mit der Einführung der deskriptiven Diagnose- und Klassifikationssysteme ICD-IO und DSM-III durchgesetzt. Der traditionelle Begriff Charaktemeurosen, eine Bezeichnung, die aus der Tradition der deutschsprachigen Psychoanalyse stammt, ist heute dagegen verlassen worden. Systematik nach entwicklungsdiagnostischen Aspekten der Persönlichkeitsstörungen zwischen Persönlichkeitsstörungen auf neurotischem Strukturniveau, narzißtischen Persönlichkeitsstörungen und Borderline-Persönlichkeitsstörung. Je nach zentralen Konflikten und vorherrschenden Abwehrmodi kann man in der Gruppe der Persönlichkeitsstörungen auf höherem Strukturniveau eine hysterische, zwanghafte und depressive Variante unterscheiden. Hinzu kommen die Persönlichkeitsveränderungen durch Extremtraumatisierungen, die posttraumatischen Persönlichkeitsstörungen. Typische Persönlichkeitsstörungen Höheres (neurotisches) Strukturniveau Die hysterische Persönlichkeitsstörung mit neurotischer Ziellosigkeit, Dramatisierung und Exaltiertheit, Beeinflußbarkeit und naiver Unbefangenheit ICD-10: F60.4 histrionische Persönlichkeitsstörung Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung mit neurotischer AggressIonsgehemmtheit, Unflexibilität und Pedanterie ICD-10: F60.5 anankastische Persönlichkeitsstörung Die depressive Persönlichkeitsstörung mit der Neigung zu Anklammerung urid Altruismus ICD-10: F60.7 abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstörung Mittleres (narzißtisches) Strukturniveau Die narzißtische Persönlichkeitsstörung mit Selbstwertproblemen und Objektabhängigkeit ICD-10: Eine "narzißtische" Persönlichkeit kommt in der ICD-10 nicht vor Niederes Strukturniveau (Borderlineniveau) Die schizoide Persönlichkeitsstörung mit Kontakthemmung und Mißtrauen ICD-10: F60.1 schizoide Persönlichkeitsstörung; F60.0 paranoide Persönlichkeitsstörung Die Borderline-Persönlichkeitsstörung mit geringer Frustrationstoleranz, Affekt- labilität und Impulsivität ICD.10: F60.2 dissoziale Persönlichkeitsstörung; F60.3 emotional ihstabile Persönlichkeitsstörung Posttraumatisch Die posttraumatische Persönlichkeitsstörung mit Mißtrauen, Affektleere (Intrusion) und Rückzug ICD-10: F62.0 andauernde Persönlichkeits änderung nach Extremtraumatisierung Klinische Aspekte sind Charakterzüge, die sich im Rahmen einer habituellen Konfliktabwehr zu starren neurotischen Abwehrhaltungen entwickeln können: Mißtrauen Geiz Eifersucht Pedanterie Ehrgeiz Ziellosigkeit Überheblichkeit Kränkbarkeit Naivität Uneinfühlsamkeit Ängstlichkeit 36 - geringe Belastbarkeit Affektlabilität aber auch positiv konnotierte Eigenarten wie Charme Altruismus Wagemut etc. Während klinische Symptome ichfremd erlebt werden und ein Krankheitsgefühl erzeugen, werden solche neurotischen Charakterzüge von den Betroffenen zu ihnen gehörig, d.h. ich-syntoner erlebt und erzeugen im allgemeinen primär keinen Leidensdruck. sie können aber nicht durch den Willen verändert werden => es handelt sich um krankhaftes Verhalten, für das die Bezeichnung Charaktersymptome angemessen wäre. Die Folgen von aggressiven, fordernden, rechthaberischen, mißtrauischen, jähzornigen u.a. neurotischen führen Haltungen zu schwerwiegenden Problemen im zwischenmenschlichen Umgang führen und dadurch einen sekundären Leidensdruck erzeugen. den Anlaß, Rat und Hilfe zu suchen, geben v.a. mißglückte soziale Beziehungen oder die Unfähigkeit, das Leben befriedigend und erfüllt zu gestalten (= die Folgen der neurotischen Charakterzüge) subjektiv besteht das Gefühl, mit dem Leben, mit den Menschen, mit dem Beruf, bisweilen auch mit sich selbst nicht "zurecht zu kommen" Objektiv findet man Serien unglücklicher Partnerschaften, wiedetholtes Scheitern im Beruf, exzessives Verhalten, das dann den Übergang zu Verhaltens störungen bilden kann, speziell zum Abhängigkeitsverhalten. Zur Behandlung Entscheidend für einen Behandlungswunsch: das Gespür der Patienten, "nicht mehr zurecht zu kommen". -> im allgemeinen die Indikation zur analytischen Psychotherapie Erfolge meistens nur bei langer Behandlungsdauer und hohen Behandlungsfrequenz analytische Therapie: strebt die Veränderung der Charakterpathologie an Verhaltenstherapie: versucht die Folgen der Ichschwäche im Verhalten zu beeinflussen. 8.1 Die hysterische Persönlichkeitsstörung und sog. hysterische Neurosen Beispielhaft für das höhere Strukturniveau wird hier die hysterische Persönlichkeitsstörung dargestellt. „Hysterie" und hysterische Neurosen - ein veraltetes Konzept Bezeichnung "Hysterie": Hippokrates, sah die Gebärmutter (hystera [griech.]) als den Entstehungsort vielfältiger Krankheitserscheinungen "Hysterie": Gedächtnis- und Bewußtseinsstörungen und verschiedenste körperliche Symptome, z.B. Schwindel, Ubelkeit, Schmerzen oder Sensibilitätsstörungen, bei einer zur Dramatik und Selbstdarstellung neigenden, hysterischen Persönlichkeit, flüchtige, wenig konturierte seelische Symptome wie Gereiztheit und depressive Verstimmungen -> wird heute gelegentlich immer noch als hysterische Neurose diagnostiziert (ist jedoch veraltet, denn man weiß heute, daß sich hinter diesen klinischen Erscheinungen verschiedene Krankheitsformen verbergen). Heute ordnet man die Symptome der froher sog. hysterischen Neurosen drei verschiedenen Krankheitsgruppen zu: körperliche Syndrome beruhen auf einer Konversion: Konversionsneurosen (sind nicht spezifisch für hysterische Persönlichkeiten). 37 - - neurotische Gedächtnis- und Bewußtseinsstörungen: dissoziative Störungen beschrieben (beruhen nicht alle auf hysterischen Persönlichkeiten, sondern sind häufiger noch als Neurosen auf niederem Borderlineniveau, häufig aber auch als posttraumatisch, aufzufassen) Die übrigen seelischen Beeinträchtigungen, v.a. Depressivität und Gereiztheit: Auffälligkeiten im Rahmen der hysterischen Persönlichkeitsstörung (keine konturierte klinische Symptomatik im engeren Sinne) Die hysterische Konfliktverarbeitung und die hysterische Persönlichkeit Sie beruht auf Schuldgefühlen aus dem Ödipuskomplex : Den einen Elternteil zu begehren, führt zum Haß gegen den anderen und umgekehrt. -> Die damit verknüpften Schuldgefühle werden verarbeitet, indem sie selbst und die dahinterstehenden konflikthaften Vorstellungen verdrängt werden. Die Verdrängung wirkt sich als Dissoziation auf die Wahrnehmung, das Denken, das Gedächtnis, die Affektivität und die Identität aus: Wahrnehmungsdissoziation: Wahrnehmungen, die unangenehm sind, werden nicht aufgenommen oder nicht behalten; Dissoziation des Denkens: Durch Hin- und Hergleiten zwischen Wunschdenken und Wirklichkeitsdenken wirken die Betroffenen unstet oder unlogisch im Denken; Affektdissoziation: Durch Uberspielen von Gefühlszuständen entstehen Scheinaffekte und der Eindruck einer emotionalen Oberflächlichkeit; Identitätsdissoziation: Die Verdrängung wesentlicher Selbstaspekte, insbesondere die der konflikthaften Geschlechtsrollenidentität, führt dazu, daß die nach außen gezeigte Persönlichkeit und das innere Selbstgefühl nicht übereinstimmen ("anders sein als scheinen"). Dadurch entsteht eine verzweifelte Suche nach Anerkennung und Bestätigung von außen, ein Drang, im Mittelpunkt zu stehen, und ein starkes Bedürfnis nach Anlehnung an andere und Imitation (hysterische Identifizierung). Folge der hysterischen Konfliktverarbeitung: die hysterische Persönlichkeit. "Typische Hysteriker" sind übermäßig lebhaft, leicht erregbar, sprunghaft, stimmunsgslabil, unbeständig leicht zu begeistern und zu beeinflussen In der Äußerung von Gefühlen unkontrolliert und übertrieben (oft unerwartete und heftige Gefühlsaufwallungen) sie wirken exaltiert und bisweilen oberflächlich und unecht, Ihre Schilderungen sind dramatisierend. Sie brauchen ein Publikum, setzen sich "in Szene" und brauchen Bestätigung, Anerkennung und Erfolg; andernfalls reagieren sie dysphorisch und hektisch. Oft spielen sie die Rolle des Hilflosen oder des Opfers Im Kontakt wirken sie anziehend, erwecken Interesse und haben eine schillernde, erotisch ansprechende Ausstrahlung. In der Sexualität erscheinen sie zunächst begehrlich und verführerisch, ohne sexuell aber genießen zu können. Die hysterische Persönlichkeit ist keine Erkrankung, bildet aber die Basis für die Entstehung von neurotischen Persönlichkeitsstörungen und von Symptornneurosen Hysterische Persönlichkeit und Symptomneurosen Spezifische Belastungen für hysterische Persönlichkeiten: Sexuelle Versuchungs- und Versagungssituationen, bei denen Hingabeängste entstehen sowie eine Festlegung auf konkrete Ziele, Werte und Beziehungen Zurückweisungen und Mißerfolge im Geltungsbereich Diese können zu Auslösesituationen für verschiedene Arten von Symptomneurosen werden (Konversionsneurosen, dissoziative Störungen, depressive Neurosen, Zwangs- undAngstneurosen, funktionelle Sexualstörungen, Schmerzsyndrome und eine Vielzahl von Somatisierungssyndromen) Die hysterische Persönlichkeitsstörung (ICD-IO: F60.4 histrionische Persönlichkeitsstörung) gekennzeichnet durch die "typisch hysterische Wesensart" (Geltungssucht, Exaltiertheit, Sprunghaftigkeit, Getriebenheit), die das gesamte Leben und insbesondere die Beziehungsgestaltung stark beeinträchtigen. 38 - Unbeständigkeit und Oberflächlichkeit und durch das beständige Werben um Anerkennung führen zu unbefriedigenden, problem- und konfliktbeladenen Beziehungen Häufig Enttäuschungen und Beziehungsabbrüche -> Gereiztheit und Depressivität In krisenhaften Zuspitzungen: Suiziddrohungen, suizidale oder parasuizidale Handlungen. Durch chronische Unzufriedenheit -> oft Alkohol- oder Tablettenmißbrauch. Diagnose und Psychodynamik Die Aufklärung der psychischen Ursache des hysterischen Verhaltens durch Freud und Breuer markiert den Beginn der Psychoanalyse. Seither hat sich das Konzept weiter gewahrt. Aus psychoanalytischer Sicht ist die Diagnose einer hysterischen Persönlichkeit bzw. Persönlichkeitsstörung nur unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt: Das zentrale Moment ist die Abwehr eines ödipalen sexuellen Konfliktes durch Verdrängung. Das hysterische Selbstwertproblem hat "ödipales" Niveau, d.h., es entsteht durch die Verdrängung des sexuellen Begehrens und der konflikthaften sexuellen Orieiltierung. Abgrenzung der hysteriformen Borderlinepersönlichkeit Je auffälliger das "hysterische" Verhalten ist, desto wahrscheinlicher verbirgt sich dahinter eine schwere Störung auf Borderlineniveau, das Agieren beruht auf einer Ichschwäche und dient dem Versuch, die narzißtische Grundstörung zu kompensieren (=Anklammerungsverhalten, um das Selbst zu schützen)) Die scheinbare ödipale Dreiecksstruktur der Beziehungen erweist sich bei diesen Patienten bei genauerer Klärung als Pseudoödipuskomplex Bezeichnung: hysteriforme Borderlinepersönlichkeiten bezeichnet. Synonyme Begriffe: infantile Persönlichkeit, maligne Hysterie. Viele dieser Störungen sind aus heutiger Sicht auf Traumatisierungen zurückzuführen und müssen als posttraumatische Persönlichkeitsstörungen betrachtet werden. Behandlung zielt darauf ab, die Fixierung der psychischen Entwicklung im Ödipuskomplex zu lösen und reifere Formen der Konfliktverarbeitung zu eröffnen. Durch häufige, regelmäßige Behandlungen im Liegen werden freie Assoziation, Einhaltung der psychoanalytischen Abstinenz, Widerstandsdeutung etc. einer Ubertragungssituation gefördert, in der sich die ödipalen Konflikte abbilden und in ihren Verzweigungen - negativer und positiver Ödipuskomplex, Beziehungs-, Trieb- und narzfßtische Konflikte - durchgearbeitet werden können. Zentrale Themen sind dabei Verführung und Enttäuschung. <-> Problem der Behandlung: Neigung hysterischer Patienten, ihre verdrängten Konflikte - vor allem ihre Beziehungssehnsucht außerhalb und innerhalb der Behandlungssituation zu inszenieren. Mit diesem" Agieren" wehren sie sich unbewußt gegen den Schmerz, der darin besteht, daß sie jetzt vom privaten Leben des Psychoanalytikers ausgeschlossen sind, wie sie einst in der ödipalen Entwicklung aus der Intimität zwischen den Eltern ausgeschlossen waren. Verhaltenstherapie: Schwerpunkt im Umgang mit hysterischen Patienten liegt darin, ihren Selbstinszenierungen den Boden zu entziehen und ggf. durch Ignorieren und Umlernen zu verändern. 8.2 Die narzißtische Persönlichkeitsstörung und narzißtische Krisen Zur Terminologie Im psychopathologischen Sinne: Störungen der Selbstliebe und des Selbstgefühls, die sich in einer auffalligen und übermäßigen Art der Selbstbezogenheit äußern. 39 Aus der Sicht der Psychoanalyse: es handelt sich dabei um eine Abwehr von Fragmentierungsängsten, d.h. Ängsten vor Selbstverlust. Der Narzißmus als eine Störung des Selbstgefühls ist eine der Grundformen der Neurosenpathologie. In diesem Zusammenhang bezeichnet der Begriff narzißtische Störung unter entwicklungsdiagnostischen Aspekten die Symptornneurosen auf mittlerem Strukturniveau, insbesondere depressive Neurosen und Somatisierungssyndrome, sowie die narzißtischen Persönlichkeitsstörungen. In diesem Zusammenhang verwendet man die Begriffe narzißtische Persönlichkeit: Disposition bzw. der persönlichkeitsstrukturellen Basis für die Entstehung der Neurosen auf mittlerem Strukturniveau (narzißtische Störungen), narzißtische Persönlichkeitsstörung: die mit Krankheitsgefühl verbundene, ausgeprägtere Variante der narzißtischen Persönlichkeit, bei der das unsichere Selbstgefühl und die Folgen, z.B. in den zwischenmenschlichen Beziehungen, Leidensdruck erzeugen, narzißtische Krisen für krisenhafte Zuspitzungen des Leidensdrucks, die im allgemeinen auch mit klinischen Symptomen verbunden sind und daher eine Art Symptomneurose darstellen. Sonst werden die narzißtischen Symptornneurosen durch eine klinische Diagnose mit einem entsprechenden Zusatz gekennzeichnet, z.B. Angstneurose bei narzißtischer Persönlichkeit. ICD-IO: narzißtische Persönlichkeitsstörung ist nicht aufgeführt -> am ehesten unter F60.8 "andere spezifische Persönlichkeitsstörung" Erscheinung der narzißtischen Persönlichkeitsstörung auffälligstes und maßgebliches Merkmal: unrealistische Selbstwertgefühl. äußert sich entweder in übersteigerten Empfindungen der Größe und Einzigartigkeit der eigenen Person oder in ebenso übertriebenen Kleinheits- und Minderwertigkeitsgefühlen. Beide Einstellungen können einander abwechseln Zum Ausgleich des labilen Selbstgefühls leben die Betroffenen in auffälliger Selbstbezogenheit ständiger Sorge um sich selbst, um ihr Ansehen, Aussehen, Macht und Wohlstand. Sie entwickeln Techniken, um sich Bewunderung und Anerkennung zu sichern, auf die sie sich in ihrer Selbstunsicherheit angewiesen fühlen und die ihren Anspruch bestätigen, großartig zu sein (verschaffen sich einflußreiche Positionen, erbringen hervorragende Leistungen, schaffen Abhängigkeiten) -> es bleibt oft verborgen, daß es ihnen weniger um die Freude an einer Tätigkeit geht, weniger um Interesse an den Dingen als um den Erfolg, den sie sich mit Leistung und Wissen verschaffen können und der ihre Einzigartigkeit bestätigen soll. Narzißtische Kollusion durch die gute soziale Anpassung bleibt oft die Beziehungsstörung verborgen, die eine Folge der Selbstbezogenheit ist: Die Beziehungen sind dadurch geprägt, daß andere Menschen für sie mehr die Funktion erfüllen, ihr Selbstwertgefühl durch Bewunderung und Verfügbarkeit aufzufüllen, als daß ein lebendiges, warmes Interesse an ihnen besteht. Es fehlt an Einfühlungsvermögen, Teilhabe und emotionalem Austausch. Partner werden idealisiert, solange sie einen bewundern oder an ihrer vermeintlichen Großartigkeit teilhaben lassen, aber sie werden entwertet, kühl und herablassend behandelt oder fallengelassen, wenn sie ihre Aufgabe als Selbstobjekt des Narzißten nicht mehr erfüllen (eine eigene Meinung vertreten, Kritik äussern, eigene Bedürfnisse vertreten). Oder es wird ein Partner, eine Partnerin gewählt, die der eigenen Großartigkeit entsprechen und diese potenzieren. Von den Partnern können solche Beziehungen ausbeuterisch erlebt werden und zerbrechen. oft bestehen aber narzißtische Kollusionen, in denen die Partner selbst - aus eigener narzißtischer Bedürftigkeit - die Abhängigkeit suchen und als Bewunderer an den Erfolgen des Bewunderten teilnehmen oder in denen sie den Partner als Potenzierung ihrer eigenen Größe erleben. Diese narzißtischen Dyaden können über lange Zeit Bestand haben; da aber kein tieferes Interesse an der Person des anderen besteht, sind 40 sie nicht belastungs fähig und scheitern, wenn Attraktion, Macht oder Erfolg verblassen und sich ein attraktiveres Selbstobjekt in Gestalt einer (eines) Jüngeren, Schöneren, Erfolgreicheren anbietet. Narzißtische Krisen Der Zusammenbruch der narzißtischen Charakterabwehr tritt ein, wenn Bewunderung und Anerkennung ausbleiben die narzißtische Partnerschaft zerbricht, die körperliche Form verblaßt, geistige Spannkraft nachläßt wenn der soziale Erfolg sich nicht mehr einstellt oder sich das Alter ankündigt - es entstehen bedrohliche Krisen: nach Trennungen, Kränkungen, Enttäuschungen, Krisen, wenn die höchste Stufe der Karriere erreicht ist wenn die Kinder aus dem Haus gehen, Krisen der Lebensmitte wenn die Pensionierung bevorsteht. Die Betroffenen stürzen in tiefe Verzweiflung, erleben ihr Leben leer und sinnlos und sind zutiefst enttäuscht von sich selbst und ihrem Leben. Sie greifen zu Medikamenten, Alkohol, werden depressiv und suizidaI. manchmal treten als Zeichen der Selbst-Fragmentierung, d.h. eines beginnenden Selbstverlustes, sogar leichtere psychotische Zustände auf, insbesondere Beziehungsideen und Verfolgungserlebnisse (die Wut wird gegen die eigene Person gerichtet und verstärkt die Selbstentwertung) Auf diese Weise entsteht ein Zirkel, der schließlich in Suizidhandlungen münden kann. Psychodynamik Die spezifisch narzißtische Angst- und Abwehrkonstellation ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Die Basis ist eine Fragmentierungsangst, d.h. eine Angst, das Selbstgefühl nicht aufrechterhalten zu können, wenn keine bewundernden, stützenden Personen anwesend sind. Daraus resultiert die Objektabhängigkeit mit unentwegter Suche nach Anerkennung und Bestätigung, bzw. die Verleugnung der Abhängigkeit durch Entwertung der Objekte und die Verwendung der Beziehungspartner als Selbstobjekt. Aus dieser Art der narzißtischen Objektbeziehung entsteht die Angst, das stützende Objekt zu verlieren, die Objektverlustangst. Zum Schutz vor Objektverlust und Verlustangst werden unbewußte Größenphantasien gebildet und die Selbstobjekte idealisiert. Um die Zuwendung und die Anerkennung zu sichern, wird die Autonomie verleugnet; es entsteht ein "falsches Selbst ". Abgrenzung Vom Narzißmus auf mittlerem Struktumiveau sind abzugrenzen der Narzißmus auf Borderlineniveau (die narzißtische Borderlinepersönlichkeit, die aus einer umfassenden Entwicklungsstörung entsteht und bei der das Selbst noch keine ausreichende Grundstabilität (Kohärenz) gefunden hat) der Narzißmus hysterischer Persönlichkeiten (hat ein höherstrukturiertes ödipales Niveau und entsteht aus der Verdrängung der Sexualität und Rollenvorstellungen). Weiterhin: - depressiven Persönlichkeit ( der im wesentlichen autoaggressiv verarbeitete Triebkonflikte zugrunde liegen. Behandlung Patienten mit narzißtischen Störungen bilden heute eine Hauptgruppe der Klientel in der analytischen Psychotherapie. 41 In der Behandlung entwickeln sich narzißtische Übertragungen (Idealisierung des Behandlers, Verwendung des Behandlers als Selbstobjekt um die Selbstidealisierung zu bestätigen) entweder: diese Übertragungen werden zur vollen Entwicklung gebracht und dann nach und nach in ihrer Abwehrfunktion analysiert, um die darunterliegenden pathogenen Beziehungserfahrungen zu aktivieren und zu verändern (wenn man tatsächlich eine Strukturänderung erreichen will, ist langfristige Behandlungen mit dichter Stundenfrequenz nötig) Oder: sie werden in einem tiefenpsychologischen Konzept als Basis nur eine Unterstützung und Nachreifung des Selbstgeruhls verwendet (meist kürzere und weniger dichte Behandlung) -> es kann gelingen, krisenhafte Zuspitzungen aufzufangen und den Patienten zu helfen, ihre narzißtische Abwehr wieder aufzurichten und zu stärken. Problem: in den Behandlungen kann zur narzißtischen Kollusion kommen (mit gegenseitiger Idealisierung, die letztlich unfruchtbar ist) oder als Reaktion auf die Selbstidealisierung des Patienten und sein unstillbares Bedürfnis nach Bewunderung können schwer erträgliche (aversive) Gegenübertragungen entstehen (diese verhindern einen tieferen, therapeutisch wirksamen Kontakt) Verhaltenstherapie: v.a. Verfahren an, die die soziale Kompetenz stärken und sich damit positiv auf das Selbsterleben auswirken (z.B. Selbstsicherheitstraining) 8.3 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung und das Borderlinesyndrom Geschichte und Terminologie Historisch: Zunächst im deutschsprachigen Bereich die sog. Impulsneurosen, die " Als-ob-Persönlichkeiten" und die "schizoiden Neurosestrukturen" Seit den 70er Jahren: die psychoanalytische Behandlung von Borderlinepatienten in der deutschsprachigen Psychotherapie gewann unter dem Einfluß amerikanischer Konzepte eine immer größere Bedeutung und wurde zu einem wichtigen Arbeitsfeld. (die Zunahme behandlungs bereiter Borderlinepatienten und ein besseres Verständnis ihrer Pathologie durch die sich verbreitende Theorie der Objektbeziehungen waren dabei beteiligt) ICD-IO: F60.2 dissoziale, F60.3 emotional instabile Persönlichkeitsstörung. Der Borderline-Begriff hat eine entwicklungsdiagnostische und eine klinische Bedeutung: entwicklungsdiagnostischer Zusammenhang: Bezeichnung Neurosen auf niederem Struktumiveau (Den persönlichkeitsstrukturellen Hintergrund dieser Störunge bildet die Borderlinepersönlichkeit) klinischer Zusammenhang: Borderline-Persönlichkeitsstörung die klinisch auffällige Variante der Borderlinepersönlichkeit, Borderlinesyndromals ein klinisches Bild, das man als Symptomneurose beschreiben oder (wie hier) als eine spezielle Variante der BorderlinePersönlichkeitsstörung auffassen kann. Erscheinung der Borderline-Persönlichkeitsstörung Hauptmerkmal: die Instabilität im Erleben, Verhalten und in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Patienten wirken unstet, unbeständig, impulsiv und bisweilen offen chaotisch. In ihrem affektiven Erleben sind sie labil, einmal dysphorisch verstimmt, ein andermal optimistisch heiter. Sie neigen zu affektiven Ausbrüchen, vor allem zu Wutausbrüchen. ihr Selbstgefühl ist äußerst zwiespältig und ihre Einstellung zu sich selbst, den Dingen und Fragen des Lebens wechselhaft. 42 - Sie schwanken zwischen bizarren Größenideen und massiver Selbstentwertung, zwischen begeistertem Interesse und gelangweiltem Desinteresse. Veränderungen ihrer Einstellungen werden von ihnen zwar kognitiv erkannt, aber emotional verleugnet, d.h. es wird ihnen keine Bedeutung gegeben. So wirkt ihr Gefühlsleben flach und unerfüllt. Ihre Beziehungen sind in mehrfacher Weise belastet: Ihr Interesse für Menschen ist oberflächlich und emotional distanziert. Beziehungen werden oft mit dem Ziel eingeganen, andere zu "benutzen", um sie festzuhalten und sich dadurch innere Stabilität zu verschaffen, die Beziehungen aber fallen zu lassen, wenn der andere diese Funktion nicht erfüllt. Idealisierung anderer in bizarrer Weise, Verleugnung deren tatsächliche Eigenarten, und ihre Entwertung , wenn sich die Verleugnung durch äußere Geschehnisse nicht mehr aufrechterhalten läßt -> ein solcher Wechsel ihrer Einstellung wird zwar wahrgenommen, aber sie messen ihm keine Bedeutung bei. Beschäftigt mit der Aufrechterhaltung ihres labilen inneren Gleichgewichtes und im Kampf gegen ihr inneres Chaos, fehlt ihnen Mitgefühl und Einfühlung in das Erleben anderer. Oft werden andere Menschen auch projektiv verzerrt im Dienste der eigenen Spaltungsabwehr wahrgenommen und in "Gute" und "Böse" getrennt So belastete Beziehungen haben selten Bestand, es entsteht eine Bindungsschwäche und ein Mangel an emotional wärmenden, bereichernden Erfahrungen (aus dem einerseits eine chronische Sehnsucht nach menschlicher Nähe, andererseits eine Unerfahrenheit im zwischenmenschlichen Kontakt resultiert). Psychodynamik die wichtigsten Merkmale der Borderlinepersönlichkeit angegeben die Fixierung im Stadium der Teilobjekt-Beziehungen, d.h. der Vorstellung von Teilobjekten, mit mangelnder Kohärenz des Selbst und Identitätsdifjusion, die Spaltungsabwehr mit der Folge einer. spezifischen Ichschwäche und einer Polarisierung der Selbst- und Objektvorstellungen in gut und böse. Die Störung beruht auf Beeinträchtigungen der frühen Individuationsentwicklung und hat zur Folge, daß das Selbstgefühl nur in Anwesenheit von Personen aufrechterhalten werden kann, die zwei Funktionen erfüllen: Sie dienen als Projektionsfiguren für die "bösen" inneren Objekte und entlasten damit vom bedrohlichen und chaotischen inneren Erleben, oder sie werden durch Projektion der "guten" inneren Bilder zu allmächtigen Idealobjekten, die vor dem inneren Chaos schützen. Folge: - der zwischenmenschliche Kontakt reduziert sich auf funktionale Beziehungen. das führt zu einer Verarmung des inneren Erlebens und der Beziehung zu anderen Menschen. Die daraus entstehende innere Leere wird durch oberflächliche Interessen oder chaotisches Agieren, Verleugnung emotionaler Wahrnehmungen, Imitation und Sexualisierung von Beziehungen verdeckt. Je nach der Art der vorherrschenden Weiterverarbeitung der Borderlinepathologie gibt es neben der Borderline-Persönlichkeitsstörung noch drei weitere Varianten: Die schizoide Persönlichkeitsstörung (die Verletzlichkeit im zwischenmenschlichen Kontakt wird wahrgenommen und durch andauernde Distanzierung aus den Beziehungen verarbeitet) Die narzißtische Borderline-Persönlichkeitsstärung (Narzißmus auf Borderlineniveau, die Selbstgefühlsstörung steht im Vordergrund und wird durch typisch narzißtisch wirkende Abwehrkonstellationen weiterverarbeitet: durch Lockerung des Realitätsbezuges, bizarre Größenphantasien, ausgeprägte Formen von Idealisierung und Entwertung, Verleugnung und omnipotente Kontrolle = Verarbeitungsformen, in denen sich die Spaltung der inneren Welt in "nur gute" und "nur schlechte" Vorstellungen vom Selbst und den Objekten manifestiert) Die hysteriforme Borderline-Persönlichkeitsstörung (infantile Persönlichkeit, maligne Hysterie; gekennzeichnet durch Agieren und Sexualisierung von Beziehungen als Folge der Ichschwäche 43 und mangelnden Impulskontrolle und um Versuche, andere zu kontrollieren und zu binden Im Zusammenwirken mit der Spaltung in "gute" und "schlechte" Beziehungen entsteht insgesamt eine Konstellation, die bisweilen vom Ödipuskomplex schwer unterscheidbar ist, jedoch der Sicherung des Selbstgefühls dient und nicht der ödipal-sexuellen Triebbefriedigung) Desintegration und Entstehung klinischer Symptome Symptomauslösend wirkt eine Vielfalt kleiner und kleinster Verletzungen des fragilen Selbst- und Sicherheitsgefühls durch alltägliche Belastungen, Probleme und Konflikte. V.a. bewirken Kränkungen und die Trennung von stützenden Beziehungspersonen, die destruktive Impulse, Wutaffekte, Verlassenheits- und Verfolgungsängste hervorrufen, eine Dekompensation. Das Borderlinesyndrom Ein breites Spektrum möglicher klinischer Symptome kann die Folge der Desintegration der Borderlineabwehr sein -> so entsteht eine akute Erkrankung = das Borderlinesyndrom. Manchmal steht ein einzelnes Symptom im Mittelpunkt, so daß man zunächst an eine höherstrukturierte Neurose denkt, z.B. bei bestimmten Zwangssyndromen. Häufiger bestehen zwei oder drei der folgenden Beeinträchtigungen nebeneinander. Bisweilen häufen sich aber auch die Symptome, so daß ein chaotisches Gesamtbild entsteht, das als Panneurose bezeichnet wird. 1. Es kommt zur Verstärkung der bereits in der Persönlichkeitsstörung sichtbaren auffälligen Verhaltens- und Erlebnismuster, die auf Spaltungen, Ausagieren von Impulsen und Affekten, entwertendem Rückzug usw. beruhen. Dadurch entstehen Kontaktabbrüche, Affekt- und lmpulsdurchbrüche im Sinne von sporadischen oder wiederholten Verhaltensstörungen: Uberwältigende Wutausbrüche, Selbstbeschädigung und Selbstverletzung, sexuelle und durchbruchartige perverse Handlungen, Alkohol- und Drogenexzesse. 2. Daneben bewirkt das Erleben der Desintegration selbst oder der Bedrohung durch die Desintegration panische Vemichtungsangst, depressive Leeregefühle, Fragmentierungserlebnisse: Derealisation und Depersonalisation und eine Lockerung des Realitätsbezuges mit vorübergehenden wahnartigen Beziehungserlebnissen und vorübergehenden Halluzinationen. 3. Zur Bewältigung der Desintegrationserlebnisse werden Abwehrmechanismen eingesetzt; es handelt sich dabei um Versuche, die aus der Desintegration entstehende Angst zu binden und dem Verlust des Selbstgefühls entgegenzuwirken. Auf diese Weise entstehen multiple psychische und körperliche Symptome, insbesondere bizarre Konversionssymptome, z.B. generalisierte oder anfallsartige Bewegungsstörungen, hypochondrische Beftirchtungen, - multiple phobische Ängste, Zwangsgedanken, dissoziative Bewußtseinsstörungen. Differentialdiagnostik: Zur Abgrenzung der Borderlinepathologie erscheinen besonders wichtig: Der Narzißmus auf mittlerem Struktumiveau als Selbst-Pathologie, die hysterischen Persönlichkeits störungen auf höherem Struktumiveau die posttraumatischen Persönlichkeitsänderungen und Störungen Problematisch ist gelegentlich die Abgrenzung zwischen Borderlinestörung und psychotischer Erkrankung Borderlinetherapie: Ziel: die Integration der polaren Selbst- und Objektvorstellungen zu einem umfassenderen und realistischeren Erleben und insofern die Nachreifung der Persönlichkeit. 44 Im Brennpunkt der Behandlung: die typische Borderline-Abwehr, v.a. Spaltung, Projektion und projektive Identifizierung und Verleugnung. verschiedene Strategien sind einsetzbar: Interaktionelle Psychotherapie (supportiv ausgerichtet): Stützen der Ichfunktionen, die durch die Spaltungsabwehr geschwächt sind; (der Behandler unterstützt den Patienten in der Differenzierung von Wahrnehmungen, in der Einfühlung in das Erleben anderer, im planenden Denken usw. Expressive Psychotherapie: durch Deutungen im Hier und Jetzt Herstellung von Beziehungen zwischen den dissoziierten Ichzuständen, zwischen den liebenden und hassenden Selbstanteilen Analytische Psychotherapie: mehr oder weniger veränderte Anwendungen der traditionellen psychoanalytischen Behandlungstechnik auf der Basis der neueren Objektbeziehungstheorie. Sie analysieren die Manifestation der Spaltungsabwehr in der Übertragung Verhaltenstherapie: v.a. soziales Lernen Ziel: die Erweiterung der sozialen Kompetenz, z.B. durch ein Selbstsicherheitstraining; Unterstützungen bei der Realitätswahrnehmung, Strukturierungshilfen, Entspannungsübungen und das Umlernen selbstschädigender Verhaltensweisen Inzwischen gibt es umfangreiche Programme zur verhaltenstherapeutischen Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Häufig Behandlung von Borderlinepatienten in stationärer Psychotherapie behandelt: Diese verbindet psychoanalytisch fundierte Problemklärungen und verhaltenstherapeutische Strukturierungen mit speziellen Therapieverfahren, die die innere chaotische Welt ordnen (z.B. Ausdruckstherapien wie die Maltherapie) und mit der Möglichkeit zum sozialen Lernen in der Stationsgemeinschaft. 8.4 Psychischer Masochismus = keine eigenständige Persönlichkeitsstörung, aber eine Konstellation von Eigenschaften, die bei verschiedenen Formen derdeelischen Störungen vorkommt und klinisch überaus wichtig ist Zur Bezeichnung Ursprünglich: eine sexuelle Fehlhaltung, in der die Auslieferung an passiv erlittene Qualen lustvoll erlebt wird. Psychoanalyse: sexueller Masochismus (ein sexueller Partialtrieb, der durch die Lust, Schmerz zu erleiden, gekennzeichnet ist) (moralischer) psychischer Masochismus: Eine psychische Haltung, bei der unbewußt Leid und Schmerz gesucht wird, die aber keine manifest sexuellen Züge trägt. Im weitesten Sinne bezeichnet man heute alle selbstschädigenden Einstellungen und Verhaltensweisen als masochistisch, d.h. Verhalten und Haltungen, die durch bewußt oder unbewußt von den Betroffenen selbst herbeigeführtes Leiden gekennzeichnet sind. Masochistische Haltungen autoaggressive Grundeinsteilung selbstschädigende Verhaltensweisen (brauchen sich nicht in sexuellen Verhaltensweisen zu zeigen) Der Lebensweg und die Beziehungen der Betroffenen wirken wie eine schicksalhafte Verkettung von Leid und Scheitern, Erniedrigungen und Enttäuschungen, z.B. von vornherein zum Scheitern verurteilte Partnerschaften, z.B. mit Süchtigen, unter der bewußten Vorstellung, alles werde sich zum Guten wenden, wenn man erst einmal verheiratet sein wird; 45 - - die Unfähigkeit, sich selbst etwas zu gönnen, selbst wenn dazu Mittel und Wege vorhanden wären; unentwegte Selbstaufopferung, die oft gar nicht gewollt wird, aber jede Art von Hilfe wird von den Betroffenen zurückgewiesen, wobei sie den anderen ihre auswegslos empfundene Situation jedoch durchaus spüren lassen. Am Ende fühlt der Angesprochene sich verärgert und schuldig, daß er nicht hilft.Aus der Distanz wird erkennbar, daß die Betroffenen ihr Leid, ihren Kummer oder ihr Scheitern selbst herbeiführen. Sie neigen dazu, Entscheidungen zu ihren Ungunsten zu treffen und andere dazu zu bringen, sie mehr oder weniger rücksichtslos zu behandeln. Manchmal entsteht der Eindruck, als gingen sie angenehmen Erlebnissen und ihrem Erfolg aus dem Wege, als fühlten sie sich nur als Opfer wohl und als würden sie ihre Erniedrigung und ihr Scheitern heimlich genießen. Psychischer Masochismus: Klinische Syndrome Eine masochistische GrundeinsteIlung findet man bei chronischen posttraumatischen Störungen bei neurotischen Depressionen bei psychogenen Schmerzsyndromen bei psychogenen Eßstörungen beim Suchtverhalten beim selbstschädigenden Verhalten und natürlich bei masochistischen Perversionen Psychodynamik Man kann nicht von einem masochistischen Persönlichkeitstypus im Sinne einer einheitlichen Struktur oder Psychodynamik zu sprechen: a) Auf höherem (neurotischem) Struktumiveau: Masochismus als eine Verarbeitung unbewußter Schuldgefühle, die aus ödipalen und präödipalen Triebkonflikten stammen Er hat die Funktion der Selbstbestrafung (Selbstverurteilung unter dem Druck ihres Überichs für triebhafte Impulse und Bedürfnisse, die häufig direkt sexuellen Inhalt (Inzestwünsche) haben. Die Schuldgefühle beziehen sich auch auf regressiv abgewehrte sexuelle Impulse (meistens sexuell gefärbte anale Bedürfnisse) auch Eifersucht, Rivalität, Geltungssucht, Mißgunst, Neid und viele andere Affekte, Bedürfnisse und Phantasien können unbewußt schuldhaft erlebt und masochistisch verarbeitet werden (es besteht ein Konflikt mit dem Überich, der unbewußte Gewissens-, Straf- oder Liebesverlustangst hervorruft. b) Auf mittlerem Strukturniveau: der Masochismus dient v.a. dazu, Störungen des Selbstgefühls durch schmerzhafte VerlusterIebnisse abzuwehren und sich Sicherheit zu schaffen. Die masochistische Unterwerfung ist hier ein Versuch, Trennung und Objektverlust zu vermeiden (Wunsch nach Unterwerfung = Wunsch nach Anwesenheit; Selbsterniedrigung verstärkt die Idealisierung des anderen und sichert die Beziehung) Das narzißtische Zusammenspiel von Masochismus und Sadismus und die daraus entstehende gegenseitige Abhängigkeit ist ein weiterer Schritt zur Sicherung der Objektanwesenheit. c) Bei Borderlinepatienten: der selbst herbeigeführte physische und psychische Schmerz (die Erniedrigung, die Demütigung, die Mißhandlung) scheinen leichter erträglich als der passiv erlittene Schmerz der Verlassenheit, der Hilflosigkeit, der Hoffnungslosigkeit, in der eine Desintegration droht. Statt in der passiven Erwartung des Unglücks zu verharren, wird eine Wendung von der Passivität in die Aktivität vollzogen und das Unglück durch Selbstschädigung herbeigeführt. So wird die Integration der Persönlichkeit gesichert. Wo möglich, werden andere unbewußt manipuliert, eine sadistische Gegenposition zur masochistischen Haltung einzunehmen. Am Ende fühlen die anderen sich schuldig, weil sie die Betroffenen schlecht behandeln. So können die Betroffenen auch ihre unbewußten Schuldgefühle auf andere abwälzen (projektive Identifikation), die aus destruktiven Phantasien über das verlassende Objekt stammen. 46 Disposition bei ausgeprägten masochistischen Einstellungen findet man eine Häufung traumatisch erlebter Erfahrungen: Uneinfühlsame Strafen, körperliche und wahrscheinlich gehäuft auch sexuelle Mißhandlungen bilden die Basis für eine Entwicklung, in der das Selbstgefühl fragil bleibt und die Neigung bestehen bleibt, sich mit den negativen Erfahrungen zu identifizieren, d.h.sie als ganz natürlich und verdient zu betrachten. Diese Entwicklung wird gefördert, wenn die Umgebung eigene Schuldgefühle über schlechte Behandlungen nicht anerkennt und auf die Betroffenen abwälzt. Beim psychischen Masochismus handelt es sich häufig um eine chronische posttraumatische Störung, d.h. um Nachwirkungen traumatischer Erfahrungen. Die "negative therapeutische Reaktion" besonderes Problem: der Masochismus in der Psychotherapie. Aufgrund ihrer Schuldgefühle oder um sich vor Verlust- und Verlassenheitsängsten zu schützen, können masochistische Persönlichkeiten oft übel lange Zeit (trotz sachgerechter Behandlung) keine Verbesserung ihres Leidens zulassen = negative therapeutische Reaktion. Für ihr Verständnis besonders wichtig: diese Haltung nicht einfach mit "unbewußtem Lustgewinn aus dem Leiden" gleichsetzen, sondern zu erkennen, daß Verbesserungen oft eine Bedrohung sicherheitsgebender innerer und äußerer Arrangements mit sich bringen und deshalb wie eine Gefahr erlebt werden. 47 9. Psychoneurosen Psychoneurosen sind seelische Befindensstörungen auf der Grundlage einer neurotischen Entwicklung; es handelt sich also um neurotische Syndrome mit überwiegend seelischer Symptomatik. Verwendung des Begriffes nur, wenn man zum Ausdruck bringen will, daß eine Erkrankung auf einer neurotischen Entwicklung beruht. Die Art der Symptome ist dabei gleichgültig. Häufigkeit und Verlauf Psychoneurosen sind typische Erkrankungen des frühen und mittleren Erwachsenenalters. Schwellensituationen der sozialen Entwicklung wie Trennung von der Primärfamilie, Partnerwahl usw. sind typische Auslösesituationen. Im Kindesalter treten spezielle Neuroseformen auf. Depressive Neurosen und Hypochondrien beginnen häufig auch erst im höheren Lebensalter. Spontanverlauf: meist fluktuierend und stark von psychosozialen Belastungen abhängig. (nur Zwangsneurosen zeigen einen kontinuierlichen Verlauf) Unbehandelt neigen alle Psychoneurosen zur Chronifizierung. Folgeprobleme: oft Alkoholabhängigkeit, Tablettensucht, sozialer Rückzug, Frühberentung Häufigkeit: Fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung leiden an Psychoneurosen es überwiegen Frauen gegenüber Männern v.a. Angstneurosen, Suchterkrankungen Ätiologie Psychoneurosen beruhen im wesentlichen auf erlebnisbedingten Entwicklungsdefiziten und unverarbeiteten, unbewußten Konflikten. Entscheidend als Disposition für die Neurosenentstehung ist eine zumeist bis in die Kindheit zurückreichende neurotische Entwicklung, daneben bei den chronischen posttraumatischen Störungen aber auch später erlittene, neurotisch verarbeitete traumatische Erlebnisse. entwicklungsdiagnostisch drei Arten der Neurosenpathologie: 1. klassische Neurosen des höheren Strukturniveaus: Symptome sind Kompromißbildungen zwischen Abwehr und abgewehrtem Erleben; 2. narzißtische Störungen des mittleren Struktumiveaus: Symptome sind affektive Begleitreaktionen der Gefährdung des Selbst und deren Weiterverarbeitung; 3. Borderlinestörungen auf niederem Struktumiveau: Symptome werden als Folge der Desintegration und als kompensatorische Stabilisierungsversuche aufgefaßt. Psychoneurosen Depressive Neurosen Angstneurosen: Diffuse und phobische Angstneurosen, hypochondrische Neurosen Zwangsneurosen Dissoziative Störungen Schizoide Neurosen (Derealisationssyndrome) Zur Diagnostik klinische Diagnose richtet sich nach der Hauptsymptomatik. die Psychodynamik richtet sich auch nach der Hauptsymptomatik (aus einer Symptomatik kann man nicht ableiten, welche Art der neurotischen Störung vorliegt, da Ängste, Depressionen und Zwänge auf jedem Struktumiveau der Neurosenpathologie vorkommen) Maßgeblich für die Zuordnung ist die individuelle Entwicklungsdiagnostik. Allgemeines zur Psychotherapie Anwendung aller Formen der Psychotherapie analytischen Psychotherapie 48 - - - Indikation richtet sich nach der Persönlichkeit (nicht nach der Symptomatik) Wichtig: Reflexionsvermögen und Änderungswunsch Behandlungserfolg ist höher, je weniger tief verwurzelt die Störung ist und je ungestörter die Gesamtentwicklung eines Patienten verlaufen ist. Psychoneurosen sind im allgemeinen viel einfacher mit gutem Effekt zu behandeln als die Borderlinestörungen. Psychoneurosen auf mittlerem Struktumiveau, die man früher für nicht analysierbar hielt, gelten heute als eine Hauptindikation für analytische Psychotherapie. (großer Teil der Patienten mit Psychoneurosen wird heute erfolgreich in analytisch orientierter Kurztherapie mit 50 bis 100 Sitzungen behandelt, ein weiterer Teil in analytischer Gruppenpsychotherapie). Intensive psychoanalytische Langzeitbehandlungen: bei Patienten mit einer Konflikt-Pathologie am nützlichsten, die trotz ihrer Beeinträchtigungen eine relativ günstige Entwicklung genommen haben und motiviert sind, sehr grundsätzliche Veränderungen in ihrer Persönlichkeit anzustreben. Patienten mit narzißtischen Störungen: meist langfristige analytische Behandlungen erforderlich Verhaltenstherapie Indikation und die Auswahl des Verfahrens richten sich nach der Art der Symptome. Klassische verhaltenstherapeutische Dekonditiollierungs- und Extinktionsmethoden sind bei der Behandlung von Phobien und Zwängen entwickelt worden. Die Prognose ist bei allen Behandlungsverfahren vor allem von der Dauer der Störung und von den Sekundärfolgen abhängig. Noch immer gibt es nur wenige aussagekräftige Vergleichsuntersuchungen über therapeutische Wirksamkeit der verschiedenen Psychotherapieverfahren. Stationäre psychotherapeutische Behandlungen sind bei Psychoneurosen vor allem unter vier Bedingungen indiziert: als Krisenintervention, vor allem bei suizidalen Krisen, bei schweren Neurosen, vor allem im Sinne einer Borderlinepathologie, bei chronifizierten Neurosen, aus Milieugründen, um einen Kranken aus einem pathogenen Konfliktfeld herauszunehmen 9.1 Depressive Neurosen Depressionen (depressum [lat.] bedrückt) sind häufig vorkommende traurig-bedrückte Verstimmungen. Depressive Neurosen sind depressive Syndrome auf der Basis neurotischer Entwicklungen. Terminologie und Synonyme "neurotischer Depression" = Bezeichnung des Symptoms des neurotischen Bedrücktseins depressive Neurose = Bezeichnung des klinischen Syndroms, das neben Depressionen auch andere Beschwerden umfaßt. In der Psychiatrie bevorzugt: die rein deskriptiven Bezeichnungen Dysthymie, dysthyme Störung bzw. depressives Syndrom; speziell bei depressiven Neurosen von minor depression [kleinere Depression], "major" [schwerwiegenderen] mit psychotischen bzw. endogenen Depressionen vegetativen Beschwerden im Vordergrund: somatisierte (larvierte oder vitalisierte) Depression ICD-1O: F34.l Dysthymie. F32.0 Leichte, F32.l mittelgradige, F32.2 schwere depressive Episode. F4l.2 Angst und depressive Störung gemischt. Depressionen: 49 gewisse Ähnlichkeit mit der Trauer; aber Patienten mit Depressionen wirken innerlich leer, voller Selbstvorwürfe und mit sich selbst beschäftigt. <-> Bei Trauernden ist "das Herz voll Traurigkeit", sie sind bekümmert um die verlorene Person, aber sie sind in ihrem Selbstgefühl nicht nachhaltig beeinträchtigt. Symptomatik und Verlauf Leitsymptome: traurige Verstimmungen, Bedrücktheit, Freudlosigkeit und Antriebsmangel; weitere psychische Symptome: Verlust von Interesse, negative Gedanken, Grübeln, Schuldgefühle, Selbstvorwürfe, Versagens- und Zukunftsangst; vegetative Symptome: Schlafstörungen, Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit, Konzentrationsstörungen, Herzbeschwerden, Schmerzen, vor allem Kopfschmerzen, Libidoverlust. V.a. am Krankheitsbeginn, innere Unruhe und angstvoll erlebte Gespanntheit, oder agitierte Getriebenheit. die subjektiven Erlebnisse genau beschreiben zu lassen und sich nicht mit globalen Begriffen, die falsch verwendet werden können, zufriedenzugeben. Neurotische Depressionen neigen zur Chronifizierung. Eine Gefahr ist der soziale Rückzug, Suchtentwicklung, Suizidalität. Psychodynamik und Persönlichkeit Die Ubiquität von Depressionen Unterdrückung von Affekten und Impulsen durch Rückzug und Wendung gegen die eigene Person (Diese Affekte und Impulse beruhen auf Konflikten im Zusammenhang mit der Selbstbehauptung und der Regulierung des Selbstwertgefühls) Neurotische Depressionen können bei allen Arten von neurotischen Persönlichkeiten und in mehr oder weniger starker Ausprägung bei fast allen neurotischen Störungen auftreten. am häufigsten sind depressive Neurosen bei Menschen mit depressiven oder mit narzißtischen Persönlichkeiten (neurotisch verarbeitete orale und Abhängigkeitskonflikte im Zusammenhang mit dem Autonomiestreben) Bei zwanghaften und hysterischen Persönlichkeiten: in der Depression zeigt sich die Unterdrückung des Liebe-Haß-Konfliktes der ödipalen Entwicklung; der Verarbeitungsmodus dieses Konfliktes ist aber auch hier der Rückzug und Wendung von Affekten und Impulsen gegen die eigene Person. Dabei kann die Regression aufgrund von präödipalen Fixierungen eine depressionsfördernde Rolle spielen. Depressionen bei depressiven Persönlichkeiten Disposition für depressive Neurosen ist meistens eine depressive Persönlichkeit. depressive Persönlichkeiten: ringen ständig um die Zuneigung anderer, die sich in Fürsorge äußert (Fehlentwicklung in oraler Phase); auf Frustrationen dieser basalen Bedürfnisse reagieren sie mit Haß; es entstehen triebfeindliche Überich-Verbote und Verzichts-Ideale, dadurch ein permanent schlechtes Gewissen wegen der eigenen Bedürfnisse, die dadurch zusätzlich gehemmt werden -> Der beständige Verzicht läßt aber auch Haßgefühle gegen die frustrierenden Personen der Umwelt entstehen -> Diese werden durch eine Verstärkung der Kontrolle durch das Überich in Schach gehalten –> es entwickelt sich ein Trieb-Überich-KonfIikt. Sie fühlen sich also wegen ihrer Bedürfnisse und ihrer Haßgefühle schuldig und neigen deshalb dazu, diese zu unterdrücken und zu verleugnen -> sie verfügen nicht über eine ausreichende Selbstbehauptung -> sie suchen indirekte Wege der Bedürfnisbefriedigung: altruistisch sein, sich unterwürfig geben, den Erwartungen anderer anpassen, idealisieren und rationalisieren ihrer Opferbereitschaft, hinter der sich die eigenen ungestillten Triebbedürfnisse verbergen, entwickeln einer Verzichtsmoral und einer übertrieben altruistischen Helferhaltung. Auslösesituationen für die Symptombildung: Orale Versuchungs- und Versagungssituationen -> Situationen, in denen orale Triebbedürfnisse wach werden und zugleich frustriert werden, Abhängigkeitserleben und Neid erwecken Haß und aggressive Impulse und bewirken Schuldgefühle gegenüber den strafenden Beziehungs-Repräsentanzen 50 -> Diese Schuldgefühle bewirken, daß die Aggressionen autoaggressiv gegen die eigene Person gerichtet werden => statt des ursprünglichen Bedürfnisses und des reaktiven Hasses entsteht selbstquälerische Bedrücktheit = oraler Trieb-Überich-Konflikt und Abwehr von reaktivem Haß, die die Angst vor dem Verlust der Liebe des Objektes (bzw. des Überichs) und durch Schuldgefühle motiviert sind => die klassische präödipale Neurose. Depressionen bei narzißtischen Persönlichkeiten narzißtische Persönlichkeiten: haben kein genügend sicheres Selbstgefühl erworben haben sind daher von der Bewunderung anderer Menschen abhängig und beständig davon bedroht, daß diese stützenden und beschützenden Selbstobjekte sie verlassen Im Zentrum des Erlebens steht die Objektverlustangst -> die Betroffenen ziehen sich von anderen durch Größenphantasien und Entwertung zurück oder idealisieren andere Menschen, unterdrücken ihre Autonomiebedürfnisse, um ihre Abhängigkeit nicht zu gefährden. Auslösesituationen für Symptomentstehtung: Erwartete oder reale Trennungen, aber auch Verletzungen der überhöhten Selbstvorstellungen, Demütigungen und Kritik labilisieren die narzißtische Abwehr -> die rufen bei den Betroffenen aggressive Affekte und Impulse hervor, die sich anfangs gegen denjenigen richten, der sie gekränkt, gedemütigt oder verlassen hat. -> es entsteht ein Konflikt entsteht, da die Betroffenen sich nicht nur beängstigt und wütend, sondern zugleich auch äußerst abhängig fühlen. -> die Person, von der sie sich enttäuscht und verlassen fühlen, müssen sie vor ihren zerstörerischen Impulsen schützen -> Sie unterdrücken die eigentlich gegen das kränkende Objekt gerichtete Wut und richten sie autoaggressiv gegen die eigene Person gerichtet -> sie machen sich Vorwürfe, quälen sich mit Gedanken, entwerten sich selbst, bedrohen schließlich das eigene Leben bis hin zu Suizidalität. Typische Modi der neurotischen Depressionsentstehung Persönlichkeit depressiv zentraler Konflikt zentrale Angst oraler Trieb-ÜberichKonflikt Gewissensangst, Verlust der Liebe des Objekts Narzißtisch narzißtischer Selbstwertkonflikt Fragmentierungsangst Angst vor Verlust Bewunderung des Objekts Charakterabwehr Trieb- und Affektverdrängung, z.B. durch Reaktionsbildung Anklammerung, Idealisierung und Entwertung, Rückzug Auslösesituation orale Versuchung/Frustration Verlust und Kränkung zentraler unbew. Affekt Neid, Schuld Wut, Scham Herkunft der Aggression Neidaggression Enttäuschungsaggression pathologische Innenwendung Innenwendung Aggressions verarbeitung Depressionen auf niederem Strukturniveau (Borderlinedepression) Eine Sonderform sind Depressionen bei Borderlinepersönlichkeiten. 51 - - diese Zustände werden subjektiv oft als innere Leere bis hin zur Erstarrung und Selbstentfremdung erlebt Sie unterscheiden sich von der Bedrücktheit der "lebendiger" erscheinenden, trieb- bzw. affektnäheren Depression bei höherstrukturierter Neurosenpathologie; sie beruhen auf einer Entleerung des Selbstgefühls als Folge von Verlassenheitserlebnissen Besonderheit der Borderline-Depression in der Gegenübertragung: der Behandler fühlt sich bei der Depression von Borderlinepatienten selbst in die Entleerung mit einbezogen oder versucht, sich dagegen zu wehren und abzugrenzen. Verhaltenstherapeutische Aspekte entweder das Verhalten, z.B. das Sozialverhalten eines Menschen, ist auslösend oder die Einstellungen, mit denen er Erlebnisse und Ereignisse wahrnimmt und verarbeitet Entsprechend lassen sich lerntheoretische und kognitive Ansätze unterscheiden, die sich gegenseitig ergänzen. Lemtheoretisch betrachtet: das depressive Verhalten ist erlernt durch operante Prozesse: es fehlen v.a. positive Verstärker, so daß positive Erlebnisse sich nicht entwickeln können -> geringe positive Verstärkung löst depressives Verhalten aus und erhält es aufrecht. -> bei aktueller Depressivität Verstärkung des depressiven Verhaltens durch die Umwelt kognitiver Ansatz: v.a. die Lernerfahrungen und die daraus entstehenden Einstellungen für die Depressionsentstehung: Grundlage der Depression ist eine kognitive Störong (z.B. selektive Wahrnehmung), die auf negativen Erfahrungen in der Kindheit beruht und durch aktuelle Belastungen aktiviert wird -> es entsteht die kognitive Triade: Der Depressive beginnt, sich selbst, seine Umwelt und seine Zukunft negativ zu sehen. z.B. Konzept der erlernten Hilflosigkeit (d.h. falsche Attributionen) Diagnostik und Behandlung Relative einfach zu stellen: die typische Leit- und Begleitsymptomatik, die lebensgeschichtliche Disposition und die typischen oralen Versuchungs- und Versagungssituationen sind recht eindeutige Hinweise. Somatisierte (larvierte, vitalisierte) Depressionen können als Somatisierungssyndrome diagnostiziert und müssen nicht von diesen abgegrenzt werden, v.a. wenn der depressive Affekt fehlt und funktionelle körperliche Beschwerden vorherrschen. Abgrenzung zu depressionen mit anderer Ursache abzugrenzen: reaktive Störungen (bei Belastungsreaktionen und somato-psychischen Störungen) Depressionen als Symptome bei Psychosen. endogene Depression Somatogene (symptomatische) Depressionen: die Folge körperlicher Erkrankungen: posttraumatischer, entzündlicher, alterssklerotischer u.a. Himerkrankungen, nach Infektionen und Vergiftungen, bei Stoffwechselstörungen und endokrinen Erkrankungen. Zur Abgrenzung zwischen neurotischen und endogenen Depressionen Die Abgrenzung ist schwierig, da die Übergänge fließend sind. Sinnvoller als eine Abgrenzung ist es daher im allgemeinen, bei endogenen Depressionen den Anteil und die Art der psychischen Hintergrundskonflikte ausfindig zu machen, die bei der Symptomentstehung beteiligt sind und den Krankheitsverlauf beeinflussen. Krankheitsbild ist bei endogenen Depressionen (Melancholien) schwerer, v.a. die vitale Verstimmung (Erstarrung, Gefühllosigkeit) und die Schlafstörungen sind stärker; die Angst ist ausgeprägter. Wahnhafte Phänomene (Verarmungs-, Versündigungs-, Kleinheitswahn) nur bei endogenen Depressionen vor, v.a. phasenhaft und oft mit Tagesschwankungen (Morgentief) auf. Psychodynamik: 52 die endogene Depression läßt im allgemeinen nicht eindeutig von der neurotischen Depression, v.a. bei narzißtischen Persönlichkeiten, abgrenzen: Auch bei der Auslösung von endogenen depressiven Phasen sind sehr häufig konflikthafte Belastungen beteiligt, die mit Veränderungen zusammenhängen und als reale oder befürchtete Trennungen, Verluste oder Kränkungen interpretiert werden können. Psychotherapie neurotische Depression = eine der wichtigsten Indikationen für die analytische Psychotherapie. Ziel: - die Hintergrundsprobleme bewußter machen Abbau von Schuldgefühlen, Aggressions- und Expansionshemmung, Objektabhängigkeit usw. die nach innen gewendete Aggressivität wird in subjektiv nützlichere Formen der Aggressionsverarbeitung umgewandelt Verhaltenstherapie: kognitive Therapie Untersuchung der Einstellungen des Patienten bezüglich ihrer Funktion Identifikation der Einstellungen, die zur Aufrechterhaltung des depressiven Verhaltens beitragen (v.a. eingeengte oder verzerrte Wahrnehmungen der alltäglichen, gegenwärtigen Lebensabläufe, z.B. die Neigung, Befürchtungen als Gegebenheiten einzuschätzen) Korrektur dieser Einstellungen Einübung sozial kompetenten und aktivens Verhaltens 9.2 Angstneurosen Angst (von angust [althochdt.] Enge) islein affektiver Zustand, der mit dem Gefühl, bedrängt und bedroht zu sein, und mit körperlichen Begleiterscheinungen verbunden ist. Bei einer objektivierbaren Gefahr und Bedrohung handelt es sich um eine reale (realistische) Angst. Anders ist es bei irrationalen Angsten, sie kön- nen viele Ursachen haben. Hier interessiert die irrationale Angst aus neurotischen Gründen (neurotische Angst). Krankheitsbilder, die durch neurotische Angst als Symptom geprägt sind, werden als Angstneurosen bezeichnet. Synonyme Bezeichnungen Angstneurosen werden deskriptiv als Angststörungen oder Angstsyndrome klassifiziert (ICD-IO und DSM-lII). Wir verwenden die Bezeichnung "Angstneurose" als Oberbegriff für alle neurotischen Angstsyndrome. Realistische und neurotische Angst In Gefahrsituationen reagiert das Ich mit Angst: Bei der ersten Begegnung mit einer objektiven Gefahr entsteht ein realistisches Gefühl der Bedrohung, die realistische Angst. Da es für dieses Erleben und seine Bewältigung noch kein Vorbild gibt, wirkt die Begegnung mit Gefahrsituationen im Extremfall traumatisch (sog. traumatische Angst). Sie hinterläßt aber eine Erinnerung, so daß bei einer Wiederholung die Angst als Signal (Signalangst) auftritt und das Ich veranIaßt, sich vor der aufkommenden Gefahr zu schützen. Angstneurosen Diffuse Angstneurosen - Angstattacken Phobische Angstneurosen - Situationsphobien 53 - Generalisierte Angstneurose - Isolierte (einfache) Phobien - Soziale Phobien Hypochondrische Neurosen -"Krankheitsphobien" - Dysmorphophobie Bei reaktiven, v.a. posttraumatischen Störungen wird die traumatische Angst zum Symptom, d.h. es entsteht eine fixierte realistische Angst angesichts eines überwältigenden angstmachenden Erlebnisses. <-> bei Neurosenentstehung: die wesentliche Angst ist keine realistische, sondern eine irrationale Angst, die aus neurotischen Konflikten stammt und deshalb als neurotische Angst bezeichnet wird. Unbewußte Angst und Angst als (bewußt erlebtes) Symptom Neurotische Ängste = Relikte der primären Ängste, die mit den EntwickIungskrisen und -konflikten der Kindheit verbunden sind -> können Ängste nicht verarbeitet werden können, werden sie verdrängt und bestehen im Unbewußten fort. Es sind: die Veifolgungs- und Verlassenheitsängste des frühen Individuationserlebens, die Verlust- und Trennungsängste bei der Entwicklung der Autonomie, die Angste vor Liebesverlust, Strafängste und Gewissensängste, die die Entwicklung hin zum Ödipuskomplex begleiten. - - Bei allen Neurosen bilden die aus der frühen Entwicklung stammenden Ängste den psychodynamischen Kern (<-> nicht die bewußte Angst, die als Symptom erlebt wird!) Bei den meisten Neurosen: neurotische Konfliktängste werden durch die Symptombildung unbewußt gehalten es entsteht z.B. ein Zwang häufig an Stelle einer unbewußten Gewissensangst. Bei den Angstneurosen die unbewußte Konfliktangst führt dazu, daß bewußte neurotische Ängste erlebt werden = das Leitsymptom der Gruppe der Angstneurosen. Sie treten in drei Erscheinungsformen: Panik: ungebundene, frei "flottierende", diffuse Angst, anfalls artig oder chronisch, Phobie: gebundene, auf Objekte oder Situationen bezogene Angst, Hypochondrie: die Besorgnis um die eigene Gesundheit, die Angst vor Krankheiten = auf den Leib projizierte Angst. Die Fähigkeit, Angst so zu organisieren, daß sie eine feste Bindung an einen angst-auslösenden Reiz erhält, ist ein Zeichen von Ichstärke -> Uberflutung des Erlebens mit diffuser Angst = Zeichen für ein geschwächtes oder schwaches Ich. -> Phobische Angst v.a. bei einem höheren Strukturniveau, -> diffuse Angst v.a. bei Borderlinestörungen oder bei chronifizierten Störungen, bei denen es zur Erschöpfung der angstbindenden Kapazität gekommen ist. Diffuse Angstneurosen Unter der Bezeichnung diffuse Angstneurosen werden neurotische Angstsyndrome zusammengefaßt, die durch "ungebundene", "frei flottierende", d.h. diffuse Ängste gekennzeichnet sind. Sie umfassen neurotische Angstattacken und die generalisierte Angstneurose. ICD-IO: F41.0 Panikstörung. F41.1 Generalisierte Angststörung. Angstattacken (Panikstörungen) Symptomatik und Verlauf 54 Leitsymptom: wiederkehrende, meist mehrere Minuten oder eine halbe Stunde dauernde heftige Angstanfälle und Vernichtungsgefühle. Dazwischen bestehen angstfreie Intervalle. Angstanfall: intensive Gefühle der Bedrohung und Beklemmung bis hin zu Todesängsten, Depersonalisations- und Derealisationserlebnissen, Atemnot, Hyperventilation, Herzrasen, Schwitzen, Zittern u.a. Im Verlauf entsteht Angst vor der Angst und Angst vor dem Alleinsein und leitet in eine phobische Verarbeitung der Angstattacken über. Symptomentstehung und Weiterverarbeitung Angstauslöser werden meistens nicht wahrgenommen; häufig bestehen sie auch nicht in konkret greifbaren äußeren psychosozialen Situationen, sondern in einem inneren Erleben einer diffusen Gefährdung Panik ist die Form der Angst, die der ursprünglichen Konfliktangst am nächsten ist. Hier fehlt eine Weiterverarbeitung der Angst im Sinne der neurotischen Notreaktion während der Symptombildung, durch die die Angst unbewußt werden würde. Im späteren Verlauf der Erkrankung werden die diffusen, "frei flottierenden" Ängste an bestimmte Situationen gebunden, es wird die Angst in ähnlichen Situationen reproduzie (= Konditionierung im Sinne des gelernten Fehlverhaltens; nicht Konfliktabwehr im engeren Sinne) Die Umweltfaktoren sind vielfältig und haben im allgemeinen keine besondere unbewußte Bedeutung Psychischer Hintergrund Panikanfälle sind oft die Erstmanifestation von Neurosen mit Angstsymptomatik. Z.T. setzt danach rasch eine Angstbindung ein, und die anfänglich wie eine "Panikstörung" erscheinende Erkrankung erweist sich als phobische Angstneurose Später stehen oft die körperlichen Angstkorrelate im Zentrum des Krankheitsbildes, z.B. Hyperventilationsanfälle oder Herz-Angst-Anfälle Die für die eigentlichen neurotischen Angstattacken typischen, chronisch-rezidivierenden Angstanfalle treten vornehmlich auf niederem Strukturniveau auf (fehlende Angstbindung = Zeichen der Ichschwäche) Diagnostisch bestehen v.a. insbesondere die narzißtische Grundstörung mit Identitätsdiffusion, Vernichtungsängsten und Objektangewiesenheit, die als Angst vor dem Alleinsein erlebt wird. Typische Auslösesituationen für die Angstattacken: tatsächliche, drohende oder auch nur aufgrund bestimmter Verhaltensweisen "so erlebte" Verluste von Menschen, die den Kranken als Angstschutz dienen Lebensgeschichtlich besteht häufig eine Disposition durch frühe Trennungen und traumatischen Objektverlust. Abgrenzung Von den neurotischen Angstattacken sind verschiedene andere Formen von Angstattacken abzugrenzen: Posttraumatische Angstattacken im Rahmen posttraumatischer Belastungsreaktionen, endogene Angststörungen: Generalisierte Angstneurose Panik, Hypochondrie und Phobie sind im klinischen Alltag nicht strikt voneinander zu trennen. -> Beim Krankheitsbeginn herrscht meistens eine bestimmte Art des Angsterlebens vor. -> im Verlau werden Panikzustände einerseits immer stärker mit Umgebungsfaktoren assoziiert, an sekundär angstauslösende Situationen gebunden und auf das Körpererleben ausgedehnt, andererseits weiten sich Hypochondrische Krankheitsängste und Situationsphobien im Verlauf aus und umfassen immer mehr Situationen, in denen Angst entsteht -> hypochondrische Besorgnis gipfelt oft in panikartigen Angstanfallen 55 -> bei der Situationsphobie entwickelt sich eine panikartige Angst, wenn die angstauslösende Situation nicht vermieden werden kann. Symptomatik und Verlauf Im Zentrum des Krankheitsbildes stehen multiple Ängste, d.h. umfassende, vielgestaltige chronische Angste, die nicht mehr klar auf spezifische Auslöser zu beziehen sind. Weitere psychische und vegetative Symptome kommen hinzu: psychisch: innere Unruhe, Erwartungsspannung, gelegentlich Angstanfalle und zunehmende Depressivität, körperlich: multiple Beschwerden, die die Abgrenzung vom psychovegetativen AIIgemeinsyndrom schwierig machen können. Entstehung Es handelt sich nur selten um primäre Krankheitsbilder. Meistens sind es Chronifizierungen und Ausweitungen der vorher beschriebenen Angststörungen. Angstattacken scheinen im späteren Verlauf besonders zur Generalisierung zu neigen. Dabei spielt die spezifische Ichschwäche der von Angstattacken bevorzugt betroffenen Borderlinepersönlichkeit eine besondere Rolle: Man kann die Angstausweitung ohne nachhaltige Angstabwehr als Ichschwäche betrachten. Die Nähe zur Konfliktangst, die für die Angstattacken charakteristisch ist, besteht auch bei den ausgeweiteten, multiplen Ängsten. Zur multiformen Ausgestaltung des Krankheits. bildes trägt daneben die sekundäre Verknüpfung von Angsterleben und Umgebungserleben im Sinne einer Konditionierung bei. Bei phobischen und hypochondrischen Neurosen ist eine Erschöpfung der Abwehrkräfte (sekundäre Ichschwäche) der maßgebliche Faktor für die Generalisierung. Sie betrifft vor allem die Situationsphobien und hypochondrischen Krankheitsängste bei narzißtischen Persönlichkeiten. Die anfängliche "strikte" Angstbindung wird da- durch gelockert und die Abwehr gegen die Konfliktangst labilisiert. Der Übergang von relativ klar umgrenzten Angstauslösem zu vielgestaltigen angstauslösenden Situationen und Vorstellungen ist ein Zeichen für die zunehmende Ichschwächung. Die Angsthintergründe und Auslösesituationen ergeben sich aus der Dynamik der ur. sprünglichen Angstattacken bzw. der Situations- und Krankheitsängste. Phobische Angstneurosen Der Begriff Phobie (phobos [griech.]) bedeutet Angst und Schrecken, aber auch Flucht; er bezeichnet "gebundene" Ängste, bei denen die angstauslösenden Reize bzw. Bedingungen vermieden werden können. Bezeichnungen Phobie bezeichnet das Symptom "gebundene Angst", phobische Angstneurose das Krankheitsbild (Syndrom). Phobien kommen allerdings nicht nur bei phobischen Neurosen vor, sondern auch als phobische posttraumatische Reaktionen. ICD- 10: F40.0 Agoraphobie. F40.1 soziale Phobie F40.2 spezifische (isolierte) Phobie. Symptomatik Leitsymptom = phobische Angst -> als Folge entwickelt sich eine Erwartungsangst vor der Angst und schließlich ein Vermeidungsverhalten, mit dem die Betroffenen den angstmachenden Reizen ausweichen und angst frei bleiben können. -> mißlingt die Vermeidung, kann Panik mit allen vegetativen Begleiterscheinungen auftreten (Herzrasen, Hyperventilation, Zittern, Schwitzen usw) -> weitere Folge (v.a. bei narzißtischen Patienten): starke Anklammerung an Personen (als stützende und steuernde Objekte, um vor der Angst zu schützen) 56 wichtigste Formen der Phobien: Situationsphobien Agoraphobie (Agora [griech.] Marktplatz: Platzangst): bis zu zwei Drittel aller Phobien bezieht sich auf den Aufenthalt auf Straßen, Plätzen oder überhaupt in der Öffentlichkeit, speziell in Versammlungen (Vorträge, Konzerte, Theater, Vorlesungen). tritt auf, wenn das Haus allein verlassen werden soll, aber auch beim Warten in Schlangen, in Läden, in der U-Bahn u. v .a. Die Angst bezieht sich darauf, in Ohnmacht zu fallen, und ist meistens von starken vegetativen Symptomen (Herzrasen, Schwitzen) begleitet. Sie kann durch Begleitung (Personen, aber auch Fahrrad, Kinderwagen, Pillen, sog. "steuernde Objekte", s. oben) verringert werden. Klaustrophobie (Claustrum (lat.) Gefängnis): Ängste in geschlossenen Räumen, Fahrstühlen, in Menschenansa:nimlungen. Lokomotorische Phobien treten bei der Fortbewegung auf als Flugangst, beim Eisenbahn- und Autofahren und sind oft von einer Klaustrophobie kaum abgrenzbar. Soziale Phobien Angst vor Menschen (bzw. vor dem Zusammensein mit Menschen): In Gegenwart anderer treten Angste auf, häufig aber auch nur Angstkorrelate wie z.B. Erröten (Erythrophobie), Zittern oder Herzrasen, manchmal auch begrenzt auf bestimmte Tätigkeiten, z.B. beim Essen in Gesellschaft, oder bei der Absicht, öffentlich zu sprechen oder gar einen Vortrag zu halten. Diese Ängste sind für die Betroffenen unverständlich, bisweilen aber auch mit der Befürchtung verbunden, kritisch beobachtet oder verachtet zu werden. Sie stehen dann in enger Beziehung zu unbewußten Scham- und Schuldgefühlen. Isolierte (einfache) Phobien Im übrigen gibt es ein unüberschaubares Spektrum von Möglichkeiten für eine phobische Angstbindung, z.B. Tierphobien: Schlangenphobie, Spinnenphobie, Mäusephobie u.a.; Höhenängste (Akrophobie); Nadelphobie, Messerphobie. Symptombildung Die phobische Angstverarbeitung angsterregende unbewußte Vorstellung, die in der Regel ein unbewußt konflikthaft erlebtes Bedürfnis betrifft oder sich auf Affekte wie Haß, Wut oder auch Verliebtheit, die Konflikte auslösen, bezieht An die Stelle des ursprünglichen Bedürfnisses oder Affektes tritt zunehmend die Angst davor (Verkehrung). die Angst wird durch Verschiebung vom Objekt des Bedürfnisses bzw. Affektes auf ein an sich neutral erlebtes äußeres Objekt oder eine Situation (z.B. Straße, Spinne) abgelenkt. Die ursprüngliche Vorstellung wird dadurch unbewußt gehalten. die resultierende gefürchtete Situation bzw. das gefürchtete Objekt ist letztlich ein Ersatz für eine unbewußt konflikthaft vorgestellte Verhaltensweise oder Beziehung. Die phobische Angstbindung beruht im wesentlichen auf Konditionierungen. eine zunächst diffuse Angst (eine neurotische oder realistische Angst) wird mit einer bestimmten Situation, in der sie auftritt, verknüpft und durch Vermeidungsverhalten verstärkt Durch Verknüpfung mit bestimmten Angstbedingungen, z.B. Situationen, in denen man sich ausgeliefert fühlt (Plätze, Vortragssäle), wird die diffuse Angst deshalb "organisiert" und gerichtet. Aus der diffusen entsteht eine phobische Angst. Es wird erkennbar, daß die Angstbedingung (z.B. bei der Agoraphobie der Aufenthalt außerhalb des Hauses) dabei ein konditionaler Faktor ist, während die Angstursache im ursprünglichen neurotischen Konflikt zu sehen ist. Psychischer Hintergrund 57 - - - - - Phobien kommen v.a. auf höherem und mittlerem Strukturniveau vor, die typischen Auslösesituationen sind Versuchungen und Versagungen im Triebeleben, Kränkungs-, Trennungs- und Verlusterlebnisse und die damit verknüpften Wut- und Haßaffekte. Isolierte (einfache) Objektphobien sind zumeist klassische Neurosen; Sie bilden im allgemeinen einen Trieb-Abwehr-Konflikt ab und sind typisch für Patienten, die im Ödipuskonflikt fixiert sind Eine gewisse Ausnahme bilden Ängste vor verletzenden Gegenständen wie Messer und Nadeln: Sie treten zumeist bei Borderlinepersönlichkeiten als Bindung heftiger sadistischer Impulse und Phantasien auf. Sie sind in diesen Fällen oft mit der Zwangsvorstellung verbunden, sich selbst oder andere zu verletzen. Situations phobien sind oft eine Vermeidung von aktiver Trennung; dahinter verbirgt sich zumeist die Ambivalenz zwischen Trennungswunsch und Trennungsangst aus dem Autonomiekonflikt narzißtischer Patienten.; Ängste im geschlossenen Raum oder bei Fahrten im Auto können aus dem unbewußten Bedürfnis entstehen, sich aus einer unbefriedigenden Beziehung zu lösen, dem kann die Vorstellung entgegenstehen, auf die Stütze des Selbstobjektes nicht verzichten zu können. Diese konflikthafte Dynamik ist typisch für die Fahrphobie und für die Klaustrophobie. Bei der Agoraphobie besteht oft eine unbewußte Angst vor Kontrollverlust im Rahmen der Abwehr von präödipalen oder ödipalen Triebimpulsen (Stehlen, Hingabe usw.). oder es stehen Verlassenheitsängste im Hintergrund der Agoraphobie: Sie erleben in ihren Ängsten mehr die Ungeborgenheit beim Alleinsein. Hier handelt es sich um narzißtische Störungen, bei denen andere als "steuerndes Objekt" und Angstschutz, also letztlich als Selbstobjekt im Sinne der narzißtischen Pathologie verwendet werden und deshalb nicht losgelassen werden können. Hypochondrische Neurosen Hypochondrie ist übertriebene Selbstbeobachtung aus Sorge um das Wohlbefinden, die sich zu Krankheitsänsten verdichten kann. Terminologie Hypochondrie (hypochondrion [gr.] obere Bauchhöhle) ist von der ursprünglich in der Antike üblichen Bezeichnung für den Oberbauch als vermeintlichem Ort der Melancholieentstehung abgeleitet Die Übergänge zu den phobischen Neurosen und Somatisierungssyndrome sind sehr unscharf. die übermäßige Sorge, an bestimmten Krankheiten zu leiden oder erkranken zu können, wird heute überwiegend als Krankheitsphobie bezeichnet, z.B. Herzphobie (früher: Herzhypochondrie), AIDS-Phobie. ICD-IO: F45.2 Hypochondrische Störung; vgl. auch die somatoformen Störungen nach ICD-1O, wenn die körperliche Symptomatik dominiert. Der Körper wird zum Projektionsfeld für Spannungen und Besorgnis, die aus solchen Konflikten entstehen. Die hypochondrischen Klagen bringen diese Konfliktdynamik meistens recht unmittelbar zum Ausdruck: Die Patienten sind "süchtig", ihre Sorgen mitzuteilen, also im Kontakt zu sein, doch sie "kennen nur das eine Thema", sind ganz auf ihre Klagen fixiert und geben dem Partner keine Chance, etwas von ihren eigentlichen Besorgnissen "hinter der Klage" zu erfahren. Sie halten den anderen mit ihren Klagen im Kontakt fest und grenzen sich damit gleichzeitig gegen ihn ab. Deshalb stellen die hypochondrischen Klagen Angehörige und Behandler auch auf eine harte Probe: Man spürt, daß die Kranken auf ihre Klagen angewiesen sind und einen als Adressat auch brauchen, fühlt sich zugleich durch sie aber überflüssig und abgewiesen. Symptomatik Andauernde Besorgnis um die Gesundheit; dauernde Beobachtung des Körpers, seiner Funktionen und des Wohlbefindens, Angst vor Krankheiten, und Angst, bisweilen sogar die Uberzeugung, an bestimmten Krankheiten zu leiden oder daran zu sterben. 58 Symptombildung und Weiterverarbeitung = Projektion von Ängsten auf den Körper und seine Funktionen. Genauer betrachtet: es werden Selbst-Repräsentanzen, einschließlich der Repräsentanz von Gesundheit und Wohlbefinden, zum Projektionsfeld von Konfliktängsten. Diese körperbezogenen Selbst-Repräsentanzen werden als Körper-Selbst bzw. Körperbild bezeichnet. Es bildet sich im Verlauf der Entwicklung als Niederschlag von Erfahrungen. Bei der Hypochondrie ist daß Körperbild durch Störungen der Interaktionen in den sehr frühen Beziehungen mit konflikthaften Erfahrungen verknüpft und dadurch disponiert, zum Projektionsort für späteres Konflikerleben zu werden. durch Verschiebung und Verkehrung werden Bedürfnisse, die sich auf ein Objekt richten, zu Befürchtungen, die sich auf das Körper-Selbst richten. Es besteht aber nicht nur eine Ahnlichkeit mit der Phobie, sondern auch mit der Depression: Die Destruktivität der auf das Selbst gerichteten Ängste erinnert an die Wendung von Aggressionen gegen das Selbst, also an die autoaggressive Verarbeitung von Impulsen bei der Depressionsentstehung. Der hypochondrische Mechanismus kommt bei jedem Struktumiveau vor: Hypochondrien auf mittlerem Strukturniveau sind am häufigsten: Als Folge von realen, drohenden oder phantasierten Kränkungen, die wie ein Objektverlust erlebt werden, kommt es zum narzißtischen Rückzug aus der Objekt- in die Körperwelt. Kränkung und Verlust können dadurch verleugnet, eine "sichere", von anderen unabhängige Beziehung kann hergestellt werden. Autoaggression entsteht durch Identifizierung mit dem Aggressor. Die aggressiven Impulse und Phantasien richten sich ursprünglich gegen das enttäuschende, unzuverlässige, demütigende und kränkende narzißtische Selbstobjekt. Hypochondrien auf höherem Struktumiveau sind seltener. Die Besorgnis um den Körper steht hier für die Sorge um Impulse und Phantasien, die konflikt- und schuldhaft erlebt werden. Bei hypochondrischen Borderlinestörungen wird Verfolgungs- und Vernichtungsangst, die Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit der frühen Individuation auf den Körper projiziert und dadurch sekundär gebunden. Es handelt sich hier also um eine konstruktive Ichleistung, die Vemichtungsangst in weniger belastende, körperbezogene Befürchtungen umwandelt. Beispiele für hypochondrische Syndrome Krankheitsphobien Herzneurosen AIDS-Phobie Dysmorphophobie Leichtere Formen im Rahmen von Adoleszentenkrisen Schwerere Formen als Folge einer umfassenden narzißtischen Problematik, oft im Sinne eines Narzißmus auf niederem Strukturniveau (narzißtische Borderlinestörung). Verhaltenstherapeutische Aspekte Betrachtung der lerntheoretischen, die kognitiven und die psychophysiologischen Faktoren bei der Angstentstehung: lerntheoretisches Model: Angstneurosen durch Konditionierung (zunächst neutrale Reize werden mit bedrohlich erlebten Erlebnissen und Angstreaktionen gekoppelt und durch anschließendes Vermeidungsverhalten verstärkt) -> Zwei-Faktoren-Theorie kognitives Modell: Angstentstehung beruht auf einer inadäquaten Wahrnehmung und Interpretation von Reizen zurück psychophysiologisches Modell: körperliche Veränderungen sind vom Patienten als Signale für Gefahren gelernt worden (Rückkoppelungsprozeß zwischen situativen und emotionalen Belastungen, körperlichen und kognitiven Empfindungen, Assoziationen mit Gefahr sowie Angstreaktionen kommen) Diagnostik und Behandlung der Angstneurosen 59 Abgrenzung und Differentialdiagnostik Angst in ihren verschiedenen Variationen tritt bei vielen Erkrankungen auf: Von den neurotischen sind die reaktiven Angstsyndrome abzugrenzen, insbesondere Angstattacken und Phobien in Anschluß an belastende und traumatische Erlebnisse. Dabei handelt es sich um fixierte realistische Angste, die im Zusammenhang mit überwältigenden Angsterlebnissen entstanden sind. Das Wiederaufsteigen der Angste begleitet den psychischen Bewältigungsprozeß. Panik und chronische diffuse Angst kommen bei Schizophrenien und endogenen Depressionen vor. Die Problematik Unterscheidung zwischen psychogenen und endogenen Angstattacken wurde oben erwähnt. Oft ist eine Abgrenzung zwischen Objektphobien und Zwangsneurosen (speziell Zwangsvorstellungen) schwierig, vor allem in Frühphasen der Erkrankung. Es bestehen fließende Übergänge zwischen Hypochondrie, generalisierter Angstneurose und Angstattacken einerseits und Somatisierungssyndromen andererseits. Das gilt insbesondere für die Herzneurose bzw. Herz-Angst-Neurose, für das Hyperventilationssyndrom und für das psychovegetative Allgemeinsyndrom. Hypochondrische Ängste sind bisweilen schwer von hypochondrischem Wahn bei Psychosen abzugrenzen; bei der neurotischen Befürchtung ist die Krankheitseinsicht im allgemeinen herstellbar, im Wahn ist sie nicht vorhanden. Bei ungebundenen Ängsten sind körperliche Erkrankungen der Schilddrüse (Hyperthyreose) und Stoffwechselstörungen (Hypoglykämie) zu bedenken. Angst tritt auch bei Abhängigkeitskrankheiten auf, insbesondere als Entzugserscheinung. Psychotherapie Die Aufgaben und Probleme der Behandlung von Angstpatienten hängen stark von der Art der Angstneurose und vom Chronifizierungsstadiumab. Die Hauptprobleme sind das Vermeidungs- und Anklammerungsverhalten: Es tritt bei den meisten Angstpatienten im Verlauf auf und führt zum sozialen Rückzug mit all seinen negativen Folgen für das Familienleben, das Berufsleben usw. Es bilden sich auf Dauer häufig sekundär Familienneurosen in Gestalt einer Art Festung um den Angstpatienten herum, der die Familie mit seinen Ängsten unter Kontrolle hält und sich damit Sicherheit schafft. Das Vermeidungs verhalten kann ein Motivationsproblem auch für eine psychotherapeutische Intervention darstellen; die Entwicklung von Medikamenten- und Alkoholabhängigkeit; die Somatisierung der Angst und die iatrogene Fixierung auf die körperlichen Angstäquivalente allgemeinärztliche Versorgung: mit Medikamenten zurückhaltend sein und zügig psychotherapeutische Fachdiagnostik einleiten; akute Angstanfälle medikamentös mit Anxiolytika oder - zur Vermeidung einer Abhängigkeitsentwicklung - mit Antidepressiva behandeln. Fachpsychotherapie: Ausgeprägte Symptombildungen machen eine stationäre Psychotherapie erforderlich, weil heftige oder chronische Angstattacken, Straßenängste, Fahrängste usw. das Leben im Alltag schwer behindern und ggf. den Weg zur ambulanten Psychotherapie unmöglich machen. ambulante analytische Psychotherapie: Ziel: die Hintergründe der Angst verstehen und eine emotionale Veränderung herbeizuführen. Notwendig: Modifikationen, die sich aus der Struktur der Störung ergeben Bei Phobien:aktive Technik, in der der Patient veranlaßt wird, sich den Angstsituationen zu stellen. Hypochondrie: vgl. die bei den somatoformen Störungen genannten Aspekte. unterschiedliche Auffassungen bestehen zur Frage, ob während der analytischen Behandlung auch generell Medikamente gegeben werden sollten. Verhaltenstherapie: besonders bei der Behandlung von Phobien effizient erwiesen (Flooding) 60 - Bei der Behandlung von Angstanfällen: Angstmanagement, kognitive Verfahren, z.B. die Selbstinstruktion, werden eingesetzt, um angstverstärkende Vorstellungen zu vermindern oder zu verhindern. 9.3 Zwangsneurosen Zwänge sind quälende Gedanken, Impulse und Handlungen, die sich dem Betroffenen aufdrängen und die er nicht unterdrücken kann, obwohl er sie als unsinnig erkennt und darunter leidet. Zwangsneurosen sind durch Zwänge geprägte neurotische Syndrome, die ganz überwiegend auf höherem (neurotischem) Struktumiveau bei zwanghaften Persönlichkeiten auftreten. Man beobachtet Zwangssyndrome jedoch auch auf Borderlineniveau. Synonyme Bezeichnungen: Anankastische Syndrome. DSM-III klassifiziert Zwangsneurosen unter der Bezeichnung Zwangssyndrome als Angstsyndrome. I ICD-1O: F42 Zwangsstörung: F42.0 mit vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwang, F42.1 mit vorwiegend Zwangshandlungen, F42.2 mit Zwangsgedanken und Zwangshandlungen gemischt. Symptomatik und Verlauf Zwangsgedanken und -vorstellungen: Wiederkehrende Gedanken und Vorstellungen, denen man sich nicht willentlich entziehen kann, die aber als krankhaft erlebt werden (oft krasse sadistische oder obszöne sexuelle Inhalte); Oft auch nur immer wiederkehrende Wort-Einfälle (meistens anale Schimpfworte); Grübelzwang: ein Gedankengang kann nicht abgeschlossen werden, sondern er wird auf selbstquälerische Weise ständig wiederholt Zwangsimpulse: Zur Handlung drängende Zwangsvorstellungen (z.B. Beispiele: Der Impuls, sich ein Messer in den Bauch zu rammen; das eigene geliebte Kind zu verletzen) Zwangshandlungen: Dranghaft erlebte Handlungen, die an sich zweckmäßig sein könnten, jedoch in der durchgeführten Art unsinnig, übertrieben und gelegentlich absurd wirken (z.B. Waschzwang, Kontrollzwang, Zählzwang Ferner: es bestehen bei Zwangsneurosen auch Ängste und Depressionen, v.a. in frühen Krankheitsstadien -> , Abgrenzung anfangs schwierig Ein Zwang kann nicht einfach unterdrückt werden versucht es der Betroffene versucht, gerät er in zunehmende Angstspannung (bis zur Panik) Gibt er dem Zwang nach, verschafft er sich nur eine vorübergehende Beruhigung, bis die Spannung erneut anwächst. Zwänge treten anfangs einzeln auf, später in Kombination -> Im Verlauf können sie das gesamte Leben okkupieren: Es besteht dann nur noch daraus, von morgens bis abends die Wäsche zn waschen, zu sortieren, einzuräumen und wieder von vom zu beginnen oder sich selbst mehrmals am Tage von oben bis unten zu waschen, abzutrocknen und nach kurzer Zeit wieder beginnen zu müssen. Die zwanghafte (zwangsneurotische) Persönlichkeit = zwanghafte, zwangsneurotische oder "anale" Persönlichkeit. Charaktersymptome: Magisches Denken: Durch Handlungs- und Denkrituale kann Unheil abgewendet und ungeschehen gemacht werden; Zweifelsucht: Jeder Möglichkeit steht eine Alternative entgegen, so daß es nicht zur Festlegung kommt; daraus resultiert eine bisweilen quälende Unentschlossenheit; Abwehr der analen Triebhaftigkeit (Analität und Willkür): Ordentlichkeit, Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Sparsamkeit und Eigensinn; Absicherung gegen Versuchungen: Pedanterie, Übergefügigkeit, moralisierende Grundhaltung. Dynamik: 61 Zwanghafte Persönlichkeiten sind gekennzeichnet durch eine Abwehr anal-aggressiver Triebkonflikte durch Reaktionsbildungen gegen konflikthaft erlebte Triebbedürfnisse zwei unterschiedliche Entstehungsmechanismen: Fixierung eines anal-aggressiven Triebkonfliktes: Beschmutzungs- und Selbstbehauptungsimpulse aus der sog. Trotzphase werden dann aus Angst vor Strafe mit Hilfe der Symptombildung abgewehrt. Primär besteht ein ödipaler Sexual- und Rivalitätskonflikt, der aus Strafangst durch Regression in den analen Erlebnisbereich abgewehrt wird. lebensgeschichtliche Disposition: i.a. ein triebfeindliches, auf Anpassung bedachtes Familienmilieu und eine Erziehung, in der expansive Bedürfnisse unterdrückt und mit Bestrafung verknüpft werden (z.B. dressurartige Sauberkeitserziehung) Maßgeblich: Autonomie, Expansivität, Spontaneität und Selbstvertrauen werden durch atmosphärische Gegebenheiten und kumulativ-traumatische Strafen beeinträchtigt und Gehorsam wird aufgezwungen wird so entwickeln Zwangsneurotiker ein strenges, verbietendes "heteronomes" Überich (sie erleben die Überich-Gebote als fremd und gegen sich gerichtet und nicht als schützend und bewahrend und liegen mit ihnen in ständigem unbewußten Zwiespalt) -> Sie können sich den Überich-Geboten nicht anvertrauen, vertrauen aber andererseits auch nicht auf ihre Spontaneität. Zwangsneurosen auf höherem (neurotischem) Strukturniveau ödipal-sexuelle und anal-aggressive Versuchungs-Versagungs-Situationen können zur Symptomauslösung führen; diese aktivieren unbewußte anale, sadistische, sexuelle, homoerotische, autoerotische, voyeuristische, jedenfalls sozial und vom Überich des Betroffenen verpönte Phantasien und Impulse es entsteht ein Trieb-Überich-Konflikt -> Lösung: konflikthafte Phantasien bzw. Impulse werden entstellt die Zwangshandlung hat symbolische Bedeutung: die Wiederholung dient zur Wiedergutmachung und zur Entlastung von Schuldgefühl. Zwangssyndrome auf Borderlinenniveau Zwangssymptome dienen der Triebabwehr und der Ichstabilisierung; sie beruht darauf, daß die dranghafte Wiederholung eines Gedanken- oder Handlungsablaufes eine Art Denkstruktur und Verhaltensidentität gibt, die vor der Desintegration des Ichs bzw. vor der Fragmentierung des Selbst schützt. In dieser Funktion wird der Zwang bei Borderline-Persönlichkeiten (und bei beginnenden Psychosen) zur Abwehr von Desintegrationsängsten eingesetzt, als Schutz vor Selbstauflösung und Ichzerfall. (Deskriptiv sind diese Störungen von den klassischen Zwangsneurosen kaum zu unterscheiden. Es fehlen aber die Rigidität der typisch zwangsneurotischen Charakterzüge und die triebdeterminierten Auslösesituationen. Auch wirkt das Krankheitsbild alarmierend und vermittelt dem Untersucher ein Gefühl von untergründiger Gefahr und Bedrohung. In der Behandlung wirken auf Trieb-Überich-Konflikte ausgerichtete Deutungen des integrierend und müssen zugunsten ich-aufbauender Interventionen vermieden werden. Verhaltenstherapeutische Aspekte Die Entstehung der Zwangsphänomene = Konditionierungen betrachtet Zwangsgedanken werden zunächst neutral erlebt, durch Konditionierung werden sie aber mit einem angstauslösenden Erlebnis verknüpft und dann selbst zum Angstauslöser; dadurch werden sie drängend und leidvoll empfunden In einem weiteren Schritt können bestimmte Handlungen entdeckt werden, die die Angst vermindern, die mit dem Zwangsgedanken verbunden ist. Durch wiederholte Ausführung können solche Handlungen verstärkt und nun selbst zum Symptom werden. Auf diese Weise entstehen Zwangshandlungen. Diagnose und Abgrenzung 62 - - - In Frühphasen der Erkrankungen sind Zwangsbefürchtungen und Objekt- oder Situationsphobien oft schwer zu unterscheiden: Eine Angst vor spitzen Gegenständen, z.B. vor Messern, kann zunächst einem angstvoll erlebten Impuls, sich oder jemand mit einem Messer zu verletzen, sehr ähnlich sein. Zwänge kommen auch bei Schizophrenien und endogenen Depressionen vor. Wichtig ist die Abgrenzung zwischen Zwang und Wahn: Zwänge werden ichdyston und als krankhaft erlebt und erzeugen bisweilen heftigen Leidensdruck. Der Wahn ist dagegen von einer subjektiven, nicht korrigierbaren Gewißheit geprägt und oft von einer typischen Wahnstimmung begleitet. Auch Hirnerkrankungen können die Ursache von Zwängen sein: Hirntumor, Enzephalitis, Epilepsie, Hirnatrophie, Hirntraumen, Arteriosklerose. Behandlung psychoanalytische Behandlung: gilt als schwierig Die BeeinfIußbarkeit speziell von schweren, chronifizierten Zwangsneurosen ist oft unbefriedigend und erfordert einen großen Aufwand -> deshalb nötig: strikte IndikationsstelIung und Behandlungseinleitung, die durch das zögerliche Verhalten der Betroffenen erschwert wird. Besonders wichtig für die Prognose: das entwicklungsdiagnostische Struktumiveau: Klassische Zwangsneurosen lassen sich viel erfolgreicher psychoanalytisch behandeln als Borderlinestörungen mit Zwangssymptomatik Verhaltenstberapie: Expositionstherapie: am meisten bewährt ist die Reizkonfrontation Bei Zwangsgedanken wird die Exposition in der Phantasie angewendet. Dabei setzt sich der Patient unter Anleitung seinen Zwangs gedanken aus, bis eine Angstreduktion eintritt. Heute wird neben diesem direkt symptomzentrierten Vorgehen auch den Hintergrundproblemen der Patienten mehr und mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei finden vermehrt auch psychodynamische Aspekte in die VT Eingang, z.B. die Bearbeitung von Schuldgefühlen und Konflikten. medikamentöse Alternativen: wichtig bei Zwangserkrankungen Am günstigsten wirken manche Antidepressiva (Clomipramin, Fluvoxamin). ultima ratio: stereotaktische Operationen 9.4 Dissoziative Störungen Unter Dissoziationen versteht man das Zerreißen von Bewußtseinszusamrnenhängen, so daß ein Nebeneinander von verschiedenen Bewußtseinszuständen entsteht, die teilweise dem Gedächtnis verlorengehen können. Die dissoziativen Störungen sind gekennzeichnet durch Bewußtseinsstörungen. Sie umfassen verschiedene relativ seltene, reversible Beeinträchtigungen des Bewußtseins auf dem Boden einer neurotischen oder, wie man heute weiß, posttraumatischen Entwicklung. Synonyme: "Hysterische Neurose, dissoziativer Typ" ICD-IO: F44.0 Hysterische Amnesie. F44.1 Fugue. F44.81 Multiple Persönlichkeit. Zum Begriff: dissoziative Störungen und Konversionsneurosen wurden lange vornehmlich im Zusammenhang mit hysterischen Persönlichkeiten gesehen und als Hysterie zusammengefaßt (als Sammelbegriff für verschiedenartige psychopathologische Phänomene) -> wird wegen seiner Unbestimmtheit im wissenschaftlichen Sprachgebrauch heute nicht mehr verwendet. Symptomatik v.a. verschiedene, zeitlich begrenzte Bewußtseinsveränderungen. Diese hören i.a. so plötzlich auf, wie sie begonnen haben, und hinterlassen keine bleibenden Gedächtnisstörungen. 63 Die wichtigsten Syndrome sind die Amnesie, die Fugue und die multiple Persönlichkeit: Neurotische Amnesie: Einschränkung des Gedächtnisses, zumeist selektiv und krankhaft erlebt. persönliche Daten aus einem umschriebenen Zeitraum werden plötzlich nicht mehr erinnert (Oft wichtige aktuelle Ereignisse wie z.B. Unfälle oder Gewalttaten) das Ausmaß der Erinnerungsstörung schwankt bis hin zum absoluten Vergessen. Auslösend sind traumatische Erlebnisse z.B. Katastrophen, Kampfhandlungen oder Versuchungen und Versagungen, die zu Gewissenskonflikten führen. Neurotisches Weglaufen (dissoziative Fugue): Plötzliches zielgerichtetes Weggehen oder Wegreisen aus der gewohnten Umgebung, verbunden mit dem plötzlichen Wechsel von Verhaltensweisen und Wesensart (Identitätswechsel). kann mit Verwirrtheit verknüpft sein oder völlig geordnet wirken. Der Zustand dauert Stunden oder Tage. Während der Fugue besteht keine Erinnerung an die Herkunft und Identität, d.h., es besteht zusätzlich eine Amnesie. Multiple Persönlichkeit (dissoziative Iderititätsstörung): Die Betroffenen leben abwechselnd in zwei (oder mehreren) voneinander getrennten Persönlichkeiten. Während des Lebens in der einen besteht an die andere keine Erinnerung. weitere dissoziative Syndrome in der psychiatrischen Literatur: Stupor (Regungslosigkeit) Besessenheit Trance Ganser-Syndrom (Vorbei-Antworten). Manche betrachten auch Depersonalisationen als Dissoziation. Symptomentstehung Über die Mechanismen der Symptomentstehung gibt es keine verbindliche Auffassung. Vermutung: die Gemeinsamkeit bei den verschiedenen Störungen liegt in der Spaltung der SelbstRepräsentanz liegt, dadurch können konflikthafte Phantasien und Impulse aus dem Selbst ausgegrenzt werden (Rückzug aus der Objektwelt in die narzißtische Welt) Fugue und multiple Persönlichkeit: wechselnde Identifizierungen mit den gespaltenen Selbstaspekten führen zu wechselnden Verhaltensweisen und Identitäten Amnesie: es besteht Identifizierung mit einem verdrängten Selbstanteil besteht -> Verdrängung wird damit auch zum Symptom. Trotz der Abgrenzung gegenüber der Konversionsneurose drängt sich doch der Ausdrucksgehalt der Bewußtseinsstörungen auf: Die Persönlichkeitsspaltung als Inszenierung der Phantasie, daß "der eine Teil nicht wissen will, was der andere tut". Psychischer Hintergrund Dissoziationen wird heut zumeist im Zusammenhang mit Extremtraumatisierungen gesehen. Die traditionelle Gleichsetzung von Bewußtseinsstörungen mit Hysterie im Sinne einer neurotischen Fixierung des Odipuskomplexes ist jedenfalls nicht aufrechtzuerhalten. dissoziative Störungen auf höherem Strukturniveau: der zentrale Aspekt ist die Abwehr von Schuldgefühlen und Gewissensängsten, die im Zusammenhang mit abgelehnten sexuellen oder aggressiven Phantasien, Impulsen und Erinnerungen entstehen. Schwerwiegende Dissoziationen: sind mit der Spaltungsabwehr der Borderlinepathologie erklärbar und dürften zumeist Folgen von Traumatisierungen sein und gar nicht so oft auf primären Borderlineentwicklungen beruhen. Die Dissoziation schützt dabei vor der Erinnerung an die Traumatisierung und läßt das Trauma als ein abgekapseltes Introjekt im Innem bestehen. Differentialdiagnose posttraumatische Störungen organische Psychosyndrome (Himverletzungen, Epilepsie) chronischer Substanzmißbrauch 64 Behandlung Heute gelten für die Behandlung schwerer dissoziativer Störungen die Kriterien der Borderline- und Traumatherapie, bei denen hypnotherapeutische und imaginative, supportive, übende und psychodynamische Verfahren miteinander verknüpft werden. 9.5 Schizoide Neurosen (Derealisationssyndrome) Die schizoide Neurose ist durch Kontaktstörungen und Entfremdungserlebnisse auf der Basis einer schizoiden Persönlichkeit geprägt. Synonym: Schizoidie Deskriptiv: Derealisations- bzw. Depersonalisationssyndrom DSM-III: wird zu den dissoziativen Syndromen gezählt ICD-1O: F48.1 Depersonalisations-/Derealisationssyndrom. Symptomatik Kontinuierlich bestehende Charaktersymptome: Kontaktstörungen, v.a. Beeinträchtigung der Fähigkeit, eine Beziehung zu anderen zu suchen und als angenehm zu empfinden; Rückzug: Als Folge der Kontaktstörung entsteht die Tendenz, soziale Kontakte zu vermeiden -> es entwickeln sich Erfahrungsdefizite im zwischenmenschlichen Umgang und eine Unvertrautheit und Fremdheit gegenüber der Umwelt -> Kompensatorisch bestehen indirekte Formen des Interesses an anderen (Beschäftigung mit Philosophie, ästhetische Interessen, rationale und theoretische Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Prozessen) Sekundär entstehen: depressive Verstimmungen, Verzweiflung, im Extremfall Suizidalität. Klinische Symptome unter speziellen Belastungen: Entfremdungserlebnisse: Depersonalisation, Derealisation Panikzustände, zumeist in Form von Panikattacken bei Kontaktangeboten; Verfolgungsängste und sensitive Beziehungsideen: Befürchtungen eines herannahenden Unheils und Angst, verrückt zu werden. Die Kranken fühlen sich beobachtet, bisweilen auch beeinflußt. Der Realitätsbezug ist jedoch herstellbar, wenngleich unter dem Eindruck der Ängste eingeschränkt. Schizoide Persönlichkeit Persönlichkeitsorganisation auf niederem Strukturniveau (Variante der Borderlinepersönlichkeit) beruht auf einer Störung des frühen Symbioseerlebens durch emotionale Vernachlässigung, Verlust oder erdrückende Überfürsorglichkeit diese Störung wird durch fortdauernde Ablehnung oder widersprüchliche Kontaktangebote in den späteren Lebensphasen weiter vertief und bewirkt, daß die Betroffenen kein stabiles Selbstgefühl entwickeln; es gerät bei Kränkungen und Verletzungen in Gefahr zu zerfallen basale Bedürfnisse (Annäherung, Bindung, Neugier, Vertrauen) bleiben konflikthaft es entwickelt sich eine distanzierte, mißtrauische Einstellung gegenüber der Welt und den Menschen. Unbewußt besteht neben der Verletzungs- und Bindungsangst ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Bindung und Nähe Das unbewußte Erleben bleibt auf den schizoiden Konflikt zwischen Nähewünschen und Verschmelzungsangst fixiert Es persistiert eine basale Unsicherheit der Selbstgrenzen, des Urvertrauens zur Welt und zum Leben einerseits, eine Sehnsucht nach emotionaler Wärme, Kontakt und Bindung andererseits Dieser unbewußte Konflikt um Nähe und Distanz wird durch Rückzug aus den Beziehungen gelöst. schizoide Persönlichkeiten vermeiden den Kontakt zu anderen Menschen, vermindern ihn auf das Unvermeidliche (sie sind mißtrauisch, halten, wo möglich, Distanz und vermeiden die gefühlsmäßige Bindung, wo Kontakte unvermeidlich sind; statt Interesse für andere Menschen betreiben sie intellektuelle und rationale Beschäftigung mit abstrakten Theorien und Gedanken über die Menschen, die Gesellschaft, das Leben schlechthin) 65 Symptomentstehung und Weiterentwicklung Situationen, die eine Selbstbehauptung im Kontakt oder eine aktive Komaktaufnahme erfordern (z.B. Schul- und Studienbeginn), besonders gefährdend für die labilen Selbstgrenzen sind Situationen, in denen Nähe entsteht oder entstehen könnte, der Konflikt um Nähe und Distanz, um Verschmelzung und Vernichtung bricht dann erneut auf. Angstsymptome sind primäre Desintegrations- und Vernichtungsängst, also eine unverdrängte Konfliktangst. Entfremdungssymptome entstehen durch Spaltung der Selbst-Repräsentanz in einen erlebenden und einen erlebten Teil. Der erlebte Teil, z.B. der als "fremd" empfundene Körperteil, vertritt dabei das bedrohlich erlebte Objekt, das sich annähert oder dessen Nähe man sich wünscht. Der erlebende Teil vertritt das bedrohte Selbst, das sich durch die Spaltung Distanz geschaffen hat -> so kann der Konflikt um Nähe und Distanz unbewußt gehalten und die Vernichtungsangst in eine offenbar leichter erträgliche Erwartungsangst umgewandelt werden; weitergehendere Entlastung tritt ein, wenn im weiteren Verlauf eine hypochondrische Ausweitung eintritt (dann statt des "fremden", bedrohlichen Selbstanteils ein "bedürftiges" Körperselbst). Differentialdiagnose: narzißtischen Persönlichkeitsstörung (Unterschied bezüglich des entwicklungsdiagnostischen Struktuniveaus): Depersonalisations- und Derealisationsphänomene auch als Folge von Traumatisierungen bei chronischen posttraumatischen Störungen möglich Schwierig bei chronischen Entfremdungserlebnissen und Verfolgungsängsten: Abgrenzung gegenüber schizophrenen Psychosen sein. Behandlung analytische Therapie: die besondere Empfindlichkeit für die Nähe muß im therapeutischen Kontakt berücksichtigt werden Modifikationen der Behandlungstechnik können erforderlich sein, um überhaupt erst einmal eine ausreichende Nähe-Toleranz herzustellen. V.a. beachten: die empathische Untersuchung und Klärung des Rückzuges, der bei geringsten Verletzungen in der Behandlung auftritt. Veränderungen der Abwehr und des zentralen Konfliktes lassen sich sicher nur in sehr langfristig angelegten Behandlungen erreichen. 10. Somatoforme Störungen (Organneurosen) Somatoforme Störungen ["körperlich erscheinende" Störungen] sind körperliche Befindensstörungen auf der Basis einer neurotischen Entwicklung. Es handelt sich also um körperliche Manifestationen von Neurosen. Sie wurden früher Organneurosen genannt. Sie umfassen körperliche Mißempfindungen und Störungen von Funktionsabläufen bei pathologisch-anatomisch intakten Organen. Synonym: "funktionellen Störungen" oder (psychogene) Organfunktionsstörungen. ICD-10, DSM-III: "somatoforme Störungen" Zur Diagnose maßgeblich ist eine spezifische Auslösesituation = eine psychosoziale Belastungssituation im zeitlichen Zusammenhang mit der Syptommanifestation, die einen Konflikt wiederholt, den der Betroffene schon früher nicht lösen konnte oder einem solchen zumindest stark ähnelt = die Aktualisierung eines neurotischen Konfliktes. Was für den jeweils Betroffenen "spezifisch", d.h. konflikthaft ist, ergibt sich aus den Fixierungen im Verlauf seiner Entwicklung -> Maßgeblich sind dabei die Art seiner neurotischen Persönlichkeit und die darin gebundenen ungelösten unbewußten Konflikte. Wegweisend für den Verdacht, daß eine körperliche Funktionsstörung seelisch bedingt ist: Diskrepanz zwischen Befindensstörung und dem organischen Befund 66 - - Die Voraussetzung für begründeten Verdacht: im ärztlichen Untersuchungsgespräch mit den Patienten ergibt sich ein Hinweis auf spezielle Konflikte und Belastungen, speziell im zeitlichen Zusammenhang mit dem Symptombeginn Untersuchungs gespräche, die zu diesem Ergebnis führen, schaffen bei den Patienten auch eine Motivation für die Überweisung zur Fachdiagnostik und für die Bereitschaft, im diagnostischen psychotherapeutischen Gespräch zu kooperieren. Der psychoanalytische Ansatz Somatoforme Störungen beruhen auf emotionalen Entwicklungsdefiziten und der Weiterverarbeitung von neurotischen Konflikten. zwei Entstehungsmechanismen: - die Konversion - und die Somatisierung. Die Konversion Die Konversion ist ein spezieller Modus der Konfliktabwehr und der somatoformen neurotischen Symptombildung. Er besteht in einer symbolhaften Somatisierung, d.h., durch die Bildung eines Konversionssymptoms wird ein unverarbeiteter Konflikt oder eine unbewußte Vorstellung, ein Affekt, Bedürfnis oder eine Phantasie auf symbolhafte Weise körperlich zum Ausdruck gebracht und dadurch zugleich unbewußt. Psychodynamisch betrachtet: ein spezifischer aktueller Auslösekonflikt trifft mit einem ungelösten verdrängten früheren Konflikt zusammen und aktiviert diesen Unter dem nunmehr verstärkten Konfliktdruck entsteht das Konversionssymptom als unbewußte Konfliktbewältigung: Der Konflikt wird symbolisch im Körper zum Ausdruck gebracht und braucht nicht mehr wahrgenommen zu werden. Z.B. Sexuelle Schaulust und damit verbundene Schuldgefühle bilden einen unverarbeiteten Kindheitskonflikt; dieser kann im Erwachsenenalter durch den Anblick eines sexuell erregenden Aktes aktiviert werden. Mit Hilfe der Konversion ins Körperliche kahm der Konflikt, hinschauen zu wollen und sich den Anblick verbieten zu müssen, ein typischer Trieb-Überich-Konflikt also, entschärft und schließlich unbewußt werden; stattdessen entsteht eine Sehstörung (Konversion in die Sehfunktion) oder ein Lidkrampf (Blepharospasmus; Konversion in die Einlaßfunktion von optischen Reizen). Der Körper wird auf diese Weise zur Bühne der Konfliktdarstellung. Konversionssymptome sind also ein typischer Kompromiß zwischen Wunschvorstellung, Affekt oder Phantasie und deren Abwehr: Einerseits wird die unbewußte Vorstellung symbolisch über den Körper zum Ausdruck gebracht, andererseits wird sie durch den Rückgriff auf die Körpersymbolsprache derart entstellt, daß ihr Inhalt dem Kranken verborgen bleibt. Konversionssymptome sind reine funktionelle Störungen. Sie beruhen wahrscheinlich auf zentralnervösen Störungen der Informations- und Erregungsverarbeitung. Organisch gibt es, außer der Funktionsstörung selbst, keine pathologischen Befunde. Beispiele für den Ausdrucksgehalt von Konversionssymptomen Der Wunsch, etwas Verbotenes (subjektiv als verboten Erlebtes) zu berühren, kann eine konversions neurotische Handlähmung hervorrufen. der Wunsch, aus einer Beziehung zu fliehen, kann als bedrohlich erlebt werden und eine Gangstörung bewirken. Die Konversion enttäuschter Liebeswünsche kann Herzschmerzen verursachen. die Idee eines oralen Sexualaktes kann verboten erlebt werden und zu einer psychogenen Schluckstörung oder zu einem psychogenen Erbrechen führen. Die Somatisierung Die Somatisierung ist die zweite Art der somatoformen neurotischen Symptombildung. Dabei handelt es sich um einen komplexen Ablauf körperlich-funktioneller und kognitiver Vorgänge. Einerseits werden "alte", in der Frühzeit der Entwicklung angelegte somatische Reaktionsmuster durch psychosoziale 67 Belastungen aktiviert. Andererseits wird die Wahrnehmung auf diese körperlichen Korrelate des Affekterlebens fokussiert und von der seelisch-konflikthaften Dimension des Erlebens abgelenkt. - - - Affekte haben eine seelische und eine körperliche Dimension, d.h., seelische und körperliche Erregung sind eng miteinander verbunden. in der Frühentwicklung des Menschen spielen die körperbezogenen Erfahrungen für die Affektregulierung die entscheidende Rolle, so entstehen unbewußte körperliche Reaktionsmuster, die den einzelnen Affekten zugeordnet sind, sie sind die Vorläufer von späteren Repräsentanzen von Beziehungen (Streicheln – Wohlbefinden > liebevoller Umgang zwischen Mama und mir). Die seelische und die körperliche Seite des Affekterlebens werden im Laufe der Entwicklung nach und nach voneinander getrennt. Die körperliche Seite wird dabei auf die Ebene der vorbewußten Wahrnehmung abgedrängt. Vorbewußt: man nimmt das Erleben im allgemeinen nicht wahr, kann es sich aber wieder zugänglich machen, wenn man sich z.B. darauf konzentriert oder besonders stark erregt ist ("Übelkeit aus Freude"). Dieser Reifungsvorgang ist ein rein psychischer Prozeß. Er kann unter dem Druck von Belastungen und Konflikten rückgängig werden. Dann erlebt man wieder so, als sei ein Affekt eine körperliche Erregung, z.B. die Angst eine Herzfrequenzbeschleunigung. Dieser Vorgang heißt Resomatisierung oder, einfacher, Somatisierung der Affekte. Somatisierung geschieht in mehreren Schritten: ein unlösbarer Konflikt (oder eine psychische Desintegration) führt zu einem neurotischen Affekt in Form von Angst, Depression, Wut, Neid, sexueller Erregung etc. Dabei werden die Organe miterregt, die durch biologische Konstitution und frühkindliche psychologische Kopplungen mit dem betreffenden Affekt verknüpft sind, d.h. Es tritt parallel zu einem neurotischen Affekt eine Aktivierung von Organfunktionen auf = Affektkorrelate, die als Organfunktionsstörung wahrgenommen werden (Jeder Mensch hat seine psychovegetativen Reaktionsmuster, es gibt aber auch gewisse überindividuelle Verknüpfungen, die durch das autonome Nervensystem vorgegeben werden: Abneigung und Ekel erregen den Magen, Schreck "schlägt" auf den Kreislauf, Liebe berührt das Herz, während Sorgen es bedrucken. Angriff verschließt die Spinktermuskeln, Unterwerfung öffnet sie.) Mit der Resomatisierung ist eine Veränderung von kognitiven Prozessen verbunden: Körperempfindungen und speziell die körperlichen Symptome rücken nun in das Zentrum der Wahrnehmung Es entsteht eine besondere Körperorientiertheit. Dadurch wird einerseits der Körper zum Projektionsfeld für vielerlei Mißempfindungen wie Schmerz und Sorge. Andererseits ruckt der Körper auch in das Zentrum der zwischenmenschlichen Kommunikation und Beziehungen. Schließlich "dreht sich alles nur noch um den Körper" (das Symptom). Auf diese Weise entsteht eine Abwehrschranke, die vor dem neurotischen KonflikterIeben schützt. Verhaltenstherapeutische Aspekte Somatoforme Störungen sind fehlgelerntes Verhalten Physiologische Reaktionen sind verdeckte Verhaltensweisen: direkt erworbenes unzweckmäßiges Verhalten oder affektive und emotionale Begleiterscheinungen von Affekten, die auf fehlgelerntes Verhalten zurückgehen. Entstehung von somatoformen Störungen v.a. durch Konditionierungen und soziales Lernen: klassische und operante Konditionierung: schafft nach der kortiko-viszeralen Theorie Verknüpfungen zwischen inneren Organen bzw. Organfunktionen und kortikalen Prozessen -> so können Organfunktionen durch Lernprozesse beeinflußt werde; bei unzweckmäßigem Lernen können Funktionsstörungen hervorgerufen und durch Umlernen auch wieder beseitigt werden. Besonders sensibel erscheinen dabei die Herz-Kreislauf-Funktionen und die Darmmotilität. Modellernen: Übernahme von affektiv belastenden, von Funktionsstörungen begleiteten Verhaltensweisen oder direkte Nachahmung somatischer Handlungsabläufe 68 - Lernen von Kognitionen: bereits die erlernte Erwartung, eine Belastung nicht verarbeiten zu können, führt zu Reaktionen der gelernten Hilflosigkeit, die v.a.vegetative Störungen nach sich ziehen. 10.1 Konversionsneurosen Konversionsneurosen sind neurotische Organfunktionsstörungen und körperliche Mißempfindungen, die durch den Mechanismus der Konversion entstehen. Konversionssymptome sind körpersprachliche Symbole für unbewußte Konflikte, Bedürfnisse, Affekte und Phantasien. Synonyme Bezeichnungen: Konversionssyndrom (ICD-10, DSM-III), pseudoneurologische Störungen, „Ausdruckskrankheiten“. ICD-10: F44.4 dissoziative Bewegungsstörungen F44.5 dissoziative Krampfanfälle F44.6 dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen F44.7 dissoziative Störungen, gemischt F50.5 Pseudogenes Erbrechen Vorkommen: in allen Kulturen, Schichten und Altersgruppen vor Häufigkeit: nichts Sicheres bekannt, Frauen häufiger als Männern. Klinische Erscheinungen Die häufigsten Symptome: motorische Störungen: Gehstörungen, Bewegungs- und Schluckstörungen, Sprechstörungen und schlaffe Lähmungen, sensorische Störungen: Schwindel, Seh-, Riech-, Hor- und Fühlstörungen (Anästhesie, Parästhesien), Anfälle: Ohnmacht (Synkopen), motorische Anfälle, sensorische Anfälle (Absencen), vegetative Störungen: Erbrechen, Konversionsschmerz: Bauchschmerzen, Herzschmerzen, Gliederschmer- zen, Konversionskopfschmerz. jede Körperfunktion kann benutzt werden, um symbolisch einen unbewußten Konflikt zum Ausdruck zu bringen. Konversionsneurosen betreffen jedoch meistens die Willkürmotorik und das Sensorium. Wegen der Ähnlichkeit mit neurologischen Erkrankungen nennt man diese Formen pseudoneurologische Störungen. Daneben gibt es auch vegetative Konversionsneurosen, z.B. psychogenes Erbrechen, Bauchschmerzen oder Herzschmerzen. Das "klassische" Krankheitsbild der Konversion war durch tonische (manchmal tonischklonische) hysterische Anfälle gekennzeichnet. Sie wurden bei Hysterikerinnen beschrieben und imponierten durch Uberstreckung des liegenden Körpers, der einen "Arc de cercle" bildete, während der Unterleib vorgestreckt wurde. In dieser Haltung manifestierten sich nach landläufiger Auffassung unbewußte Koitusphantasien. Gegenüber dem epileptischen Anfall fehlten Zungenbiß und Einnässen, während die Pupillenreaktion erhalten war. Einige Konversionsneurosen und mögliche typische Bedeutungen Abasie bzw. Dysbasie: Gangunfähigkeit bzw. Gangstörung mit schlaffer Lähmung als Konversion von Fluchtimpulsen Bauchschmerzen: z.B. Genitalschmerz bei Schuldgefühlen nach Interruptio Erbrechen als Konversion von "Vor-Wurf" ["Es kotzt mich an"] oder Schwangerschaftsphantasien Globus hystericus: Psychogene Schluckstörung mit Kloßgefühl als Konversion oral-sexueller Phantasien Herzschmerzen als Konversion von Liebes- und Verlustschmerz ["es bricht mir das Herz"] Schreibkrampf Sehstörung 69 - Sensibilitätsstörungen: Handschuhartig lokalisierte Parästhesien, Hypästhesäen usw. bis hin zur Hemianästhesie als Konversion für aktive oder passive Berührungswünsche Sprechstörung (Dysarthrie), Stimmstörungen (Dysphoniel als Konversion des "Unsagbaren", "Unaussprechlichen" Synkopen: Ohnmachtsanfälle als Konversion von Schamkonflikten ["in den Boden versinken"] Torticollis spasticus: Schiefhals Inzwischen hat die Erscheinungsform der Konversionsneurosen sich nachhaltig gewandelt. An der Stelle dramatischer Lähmungen, Blindheit oder Taubheit stehen heute viel häufiger diskretere Störungen, z.B. umgrenzte Gehstörungen, Skotombildungen oder Ohrgeräusche. Psychodynamik Konversion = ein Mechanismus der Symptomentstehung (keine einheitliche Krankheitsgruppe), sie kommt auf allen Struktumiveaus, d.h. bei allen Arten der Neurosenpathologie vor: Konversionsneurosen auf höherem Strukturniveau: Konversion ist Abwehr von Trieb-ÜberichKonflikten (einerseits sexuelle, motorisch-aggressive oder orale Triebimpulse, andererseits strikte, unerbittliche moralische Gebots- und Verbotsvorstellungen) hysterische oder zwangshafte Persönlichkeiten Typische Auslösesituationen: sexuelle Versuchungs- und Versagungssituationen, die die unterdrückten Triebbedürfnisse aktivieren im Hintergrund sozialer Konflikte (v.a. Partnerschafts- und Sexualkonflikte) "Prägenitale“ Konversionsneurosen: Bei narzißtischen und Borderline-Persönlichkeiten werden durch die Konversion vor allem narzißtische Affekte wie Verlustangst, Scham, Wut und Verzweiflung sowie Ängste vor Trennung und Verlassenheit abgewehrt. Auslösesituationen: v.a. Kränkungen, Beschämungen, Trennungen und Verlassenheitserlebnisse oder unbewußte Erlebnisse aus tiefen Persönlichkeitsschichten, v.a. insbesondere Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit Posttraumatische Konversionsstörungen. Menschen mit neurotischen Dispositionen sind besonders gefährdet, durch psychische Traumatisierungen eine posttraumatische Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu erleiden. In der Folge können sich posttraumatische Konversionen entwickeln. Die Konversion symbolisiert v.a. Hilflosigkeit, Schuld- und Schamgefühle Werden mit der Konversion bei einem Partnerverlust oder bei Todesfällen spezifische Verlustängste abgewehrt, dann kann die Verbindung zu der verlorenen Person durch eine Identifizierung im Konversionssymptom aufrechterhalten werden. Das Symptom bringt dann die weiterbestehende Bindung und Verbundenheit zum Ausdruck. So können z.B. Herzschmerzen entstehen, wenn ein Angehöriger an einem Herzinfarkt verstorben ist. Beispiel: Psychogene Sehstörungen Sensorische Ausfälle symbolisieren in Gestalt des Nichtkönnens den Konflikt zwischen Wollen und Nichtdürfen in eindrucksvoller Weise. Bisweilen sind optische Überreizung oder Vorerkrankungen am Auge auslösend. Entscheidend ist aber die unbewußte Abwendung von unannehmbaren optischen Wahrnehmungen im aktu- ellen Erleben. Patienten mit psychogener Blindheit sind - zumindest heute - selten. Partielle psychogene Sehstörungen (Schwachsichtigkeit und begrenzte Skotombildung) sind häufiger anzutreffen. Die Betroffenen leiden unter zumeist plötzlich auftretenden, wechselnden oder anhaltenden Störungen: Flimmern vor den Augen, Gesichtsfeldeinschränkung, Sehen von Flecken, Einschränkung der Sehschärfe. Das führt zu bisweilen dramatischen Verläufen, in die die gesamte Familie miteinbezogen wird und intensiver somatischer Diagnostik. Das Auge ist organpathologisch unauffällig. Die Sehstörung basiert auf einer Beeinträchtigung der Verarbeitung der visuellen Information. Psychisch sind die Patienten verständlicherweise zutiefst beunruhigt; die bewußt erlebte Angst ist sekundär und auf die Sehstörung bezogen. Die durch Konversion abgewehrten primären neurotischen 70 Affekte, vor allem Bestrafungsängste und Verlassenheits ängste, sind dagegen völlig verdrängt. Wenn die Anfangsbeunruhigung abgeklungen ist, wirken die Patienten daher affektiv unauffällig. Manchmal haben sie aber auch von Anfang an ein auffallend "naives" Verhalten und sind merkwürdig unbeteiligt, die sog. belle indifference. Sie ist die Folge einer hysterischen Verdrängung und wird bevorzugt bei Frauen beschrieben. Extrapyramidale Bewegungsstörungen Schreibkrampf: die Abwehr bezieht sich auf Handlungskonflikte u.a. dissoziale Handlungen wie Stehlen, aggressive oder sexuelle Übergriffe Schiefhals: ambivalente Suche nach der Mutterbrust, Selbstbestrafung für Sexualneugier Tics (z.B. manche Formen des Blepharospasmus): präverbale autoerotische und aggressvie oder herabsetzende Impulse, die durch Überfreundlichkeit und andere zwangsneurotische Charakterzüge abgewehrt werden; bei Blepharospasmus richtet sich die Abwehr zumeist gegen Neidimpulse und Verheimlichungstendenzen. Diagnostik Voraussetzung: ein unbewußt konflikthaft oder traumatisch erlebtes Ereignis, das durch die Symptombildung neutralisiert wird, kann im Zusammenhang mit der Symptombildung angenommen werden Konflikte, die als Auslöser bereitwillig berichtet werden, sind im allgemeinen nicht krankheitsbedingend, jedenfalls nicht in der berichteten - bewußten! - Bedeutung. Der Umgang mit Patienten mit Konversionsneurosen wird dadurch erschwert, daß sie dazu neigen, vom Arzt wiederholte und invasive Untersuchungen zu fordern und ihn dazu bringen können, rational unbegründete Untersuchungen durchzuführen. Diese Forderungen beruhen auf unbewußten Schuldkomplexen und dienen der Selbstbestrafung. Differentialdiagnose: ähnlich erscheinende neurologischen und andere körperlichen Erkrankungen v.a. körperliche Erkrankungen mit unklaren multiplen Symptomen wie Himtumor, Multiple Sklerose, generalisierter Lupus erythematodes. Konversionsneurosen sind nicht Simulation, die willkürlich erzeugt wird und den persönlichen Vorteil rasch erkennen läßt. Behandlung Analytische Psychotherapie: Konversionsneurosen auf höherem Strukturniveau lassen sich mit viel besseren Erfolgsaussichten behandeln als prägenitale. Je schwerer die Ichstörung, desto ungünstiger ist die Prognose. Die Motivation zur analytischen Psychotherapie ist aufgrund der starken Konfliktverdrängung oft äußerst unzureichend. Eine forcierte Konfliktkonfrontation bewirkt jedoch Angste und Abwehr. Dagegen kann eine langsam auf die unbewußte Beteiligung hinführende, zunächst stützende Behandlungseinleitung weiterführen. weiteres Problem: die oft bestehende Neigung, sich der Analyse familiärer und beruflicher Probleme durch Agieren im sozialen Umfeld zu entziehen. Familienneurotische Mitreaktionen sind häufig, weil kaum eine Familie sich dem Appellcharakter der Symptomatik und des Agierens entziehen kann. Sie können eine konsequente Therapie, die eine Befriedigung neurotischer Bedürfnisse versagt, behindern. Deshalb müssen bei der Indikationsstellung Psychotherapie versus Familientherapie gegeneinander abgewogen werden. Die Familientherapie kann auch als Einleitung einer Individualbehandlung indiziert sein. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen: 71 - Ziel: v.a. den sekundären Krankheitsgewinn zu vermindern, der sehr ausgeprägt sein kann und einer Besserung entgegensteht. Biofeedback Entspannungsverfahren 10.2 Somatisierungssyndrome (Psychovegetative Störungen) Somatisierungssyndrome sind vegetative Störungen und Organfunktionsstörungen auf der Basis einer neurotischen Entwicklung. Sie beruhen auf dem Mechanismus der Somatisierung, daher der Name. Durch die Somatisierung entstehen körperliche Funktionsstörungen und Mißempfindungen sowie eine ausgeprägte Körperorientiertheit. Die Körpersymptome sind die körperliche Seite von Affekten, die durch die Neurose hervorgerufen werden (Affektkorrelate). Dabei sind die Organe morphologisch intakt. Synonyme Früher: psychovegetative Störungen genannt. Traditionell: "vegetative Dystonie" bekannt geworden. Gegenwärtig : psychophysiologische Störungen, funktionelle Störungen bzw. Syndrome ICD-1O: F45 Somatisierungsstörung/somatoforme autonome Funktionsstörung; F48.0 Neurasthenie, wenn neben den psychovegetativen auch multiple psychische Symptome bestehen. Häufigkeit Somatisierungssyndrome gehören zu den häufigsten Erkrankungen in der gesamten Medizin. Sie kommen in allen Fachdisziplinen vor. Der Altersgipfel liegt im 3. - 4. Lebensjahrzehnt. Mehr Männer als Frauen berücksichtigen, daß psychovegetative Beschwerden als passagere Befindensstörungen auch bei Gesunden vorkommen und daß jeder Mensch unter Belastungen vorübergehend auch "psychovegetativ" reagiert. So findet man psychovegetative Beschwerden besonders häufig auch bei nichtneurotischen reifen Persönlichkeiten im Rahmen von reaktiven Störungen. Klinische Erscheinungen objektivierbare Organftlnktionsstörungen: Im Prinzip kann jede Organfunktionsstörung in die Somatisierung einbezogen werden. Bevorzugt werden die viszeralen Funktionen (Verdauung, Kreislaufregulation, Ausscheidung usw.); organbezogene Mißempfindungen: Organe und Organfunktionen erhalten im Entwicklungsverlauf eine psychische Repräsentanz und können damit Projektionsfeld für Mißempfindungen werden, speziell für seelischen Schmerz, für Spannung, Kummer und Sorge. Sie äußern sich dann als Schmerzen und Druckgefühl am Herzen, Völlegefühl und Magenschmerz, Ubelkeit und Leibschmerz, Harnbrennen, Juckreiz an Haut und Schleimnhäuten u.v.a.; vegetative Beschwerden: Schlafstörungen, Müdigkeit, Mattigkeit, Abgeschlagenheit, Appetitstörungen, Schweißneigung; psychische Begleitsymptome: ängstliche Unruhe, depressive Niedergeschlagenheit. Häufige psychovegetative Funktionsstörungen Herzrhythmusstörungen; Hyper- und Hypotonie; Sekretionsstörungen (z.B. Hyperazidität) und Motilitätsstörungen im Magen-Darm-Bereich, Refluxerscheinungen, Blähungen, Durchfälle, Verstopfungen; Entleerungsstörungen (Polyurie, Inkontinenz, Spasmen) im Urethralbereich; (spastische) Durchblutungsstörungen ("Digitus mortuus"); Urtikaria ("Nesselsucht"); psychovegetative Schmerzsyndrome: insbesondere Spannungskopfschmerz und Rückenschmerzen 72 Typisch sind drei Formen klinischer Syndrome: 1. Psychovegetative Organsyndrome: Symptomatik und die subjektiven Beschwerden beziehen sich auf ein bestimmtes Organ oder Organsystem oder um eine einzelne Organfunktion. Neben dem (namensgebenden) Leitsymptom (z.B. Harnröhrenspasmen beim Urethralsyndrom) bestehen in der Regel weitere Organ- funktionsstörungen, vegetative Beschwerden und - auf Nachfragen auch leichte psychische Beeinträchtigungen. 2. Vegetative Neurosen: Störung einer vegetativen Funktion herrscht vor: Psychogene Schlafstörung, psychogene Inappetenz. Auch hier besteht die o.a. Begleitsymptomatik. 3. Psychovegetatives Allgemeinsyndrom: Typisch für das Allgemeinsyndrom ist der Wechsel der Intensität und Lokalisation der Beschwerden. Häufig läßt sich ein über längere Zeit gleichbleibendes Bild nicht erfassen. Im Vordergrund steht das Unwohlsein. Dieses Krankheitsbild wurde früher als "vegetative Dystonie" beschrieben. Psychodynamik ähnelt stark der von depressiven Neurosen und Angstneurosen. Der wesentliche Unterschied: bei den Somatisierungsyndromen kommt der Mechanismus der Somatisierung hinzukommt und die depressiven und Angstaffekte werden dadurch abgewehrt Die Ursache für die Somatisierung ist nicht erwiesen; neben den oben erwähnten disponierenden psycho-somatischen Kopplungen aus der Zeit der präverbalen Kommunikation werden genetische Dispositionen und affekt feindliche familiäre Kommunikationsstile angenommen, die später eine psychosomatische Regression bahnen. Die Somatisierung tritt bei allen Arten der neurotischen Pathologie auf. Somatisierungssyndrome auf mittlerem Strukturniveau Selbstwertprobleme sind die bei weitem häufigste Basis der Somatisierungssyndrome sind. Sie beruhenauf einer gestörten Autonomieentwicklung und führen dazu, daß das Selbstgefühl fragil bleibt und die Betroffenen in besonderer Weise abhängig von anderen Menschen sind, die sie bestätigen, bewundern und stützen. Bei dieser Verwendung anderer als "Selbstobjekt" erhalten diese die Funktion, ihr Selbstgefühl zu stabilisieren. Die Patienten sind leicht kränkbar und verletzlich, verbergen ihre Verwundbarkeit aber bisweilen hinter einer Fassade der Unabhängigkeit. So entwickelt sich entweder eine offen anklammernde oder eine pseudounabhängige Persönlichkeit. Im Zentrum der Psychodynarnik steht dabei die Abwehr von Depression, von narzißtischer Wut, von Neid und von Trennungs- und Verlustsängsten. Mögliche Symptomauslösende Ereignisse: Reale oder phantasierte narzißtische Kränkungen, die die Betroffenen in einen Selbstwertkonflikt zwischen Größenphantasien und Minderwertigkeitserlegen stürzen (Zurücksetzungen, Demütigungen, Mißerfolg, das Älterwerden, die Wahrnehmung von persönlichen Unvollkommenheiten, Krankheiten, z.T. auch bereits Leistungsanforderungen und Konkurrenz) Reale oder phantasierte Verluste:Neben Todesfällen oder Trennungen, die zusätzlich noch mit Demütigungen oder Verletzungen verbunden sein können, werden von narzißtischen Menschen bereits übliche familiäre Schwellensituationen als Krisen erlebt, in denen Zweierbeziehungen durch das Hinzukommen eines Dritten in einen Triangulierungskonflikt hineinführen und Neid, Rivalität, latente Trennungsimpulse oder Loyalitätsängste hervorrufen. Als besondere Herausforderung wird es dabei erlebt, Zuwendung teilen zu müssen Entwicklungsschritte in die Autonomie: Wenn durch die Entwicklung eine unbewußt fixierte neurotische Mutterbindung in Frage gestellt wird, entsteht ein Autonomiekonflikt; solche Entwicklungsschritte (z.B. die Loslösung vom Elternhaus, Berufs- und Partnerwahl, Familiengründung, Zuwachs an Verantwortung, sexuelle Versuchungen) werden unbewußt als reale oder phantasierte Angriffe auf andere erlebt und mit unbewußten Schuldgefühlen beantwortet. 73 Selbstwertkonflikte, Triangulierungskonflikte oder Autonomiekonflikte rufen unbewußt Angst, Depression, aber auch Aggression, Neid oder Wut hervor. Diese Affekte werden somatisiert und führen zur psychovegetativen Symptombildung. Die Dynamik der Symptomentstehung folgt also der Reihe: Narzißtischer Konflikt > pathologischer Affekt > Somatisierung > psychovegetatives Symptom. Somatisierungssyndrome auf höherem Strukturniveau Es werden psychovegetativen Symptombildung Affekte wie Angst, Schmerz, Ekel, Neid, Schuld und Scham abgewehrt, die bereits das Ergebnis einer mißlungenen Konfliktabwehr sind. Der Inhalt der ursprünglichen Konflikte umfaßt das gesamte Spektrum sexueller, analer und oraler neurotischer Trieb- und Beziehungsthemen. Dynamisch ergibt sich die Reihe: Neurotischer Konfliktn> pathologischer Affekt> Somatisierung > psychovegetatives Symptom. Die Abgrenzung zwischen klassisch-neurotischer Konfliktpathologie und der narzißtischen Psychodynamik ist nicht eindeutig: Das Konflikterieben kann sekundär das Selbstgefühl beeinträchtigen; ebenso haben Personen, die als "Triebobjekte" zur Bedürfnisbefriedigung verwendet werden, oft auch eine selbststilizende narzißtische Funktion als "Selbstobjekt". Das gilt vor allem für die Verquickung von oralen Triebkonflikten und narzißtischen Neidaffekten bzw. für die Funktion mütterlich-versorgender und narzißtisch-stützender Beziehungen. Somatisierungssyndrome auf niederem Strukturniveau sind einerseits selten Andererseits findet man bei vielen Borderlinestörungen als Begleitsymptom auch psychovegetative Symptome = ein Versuch der Bindung von Ängsten, die bei der Desintegration entstehen und wegen der lchschwäche nicht kontrolliert werden können. Auch bei chronischen posttraumatischen Störungen entstehen als Begleitsymptome Affektkorrelate. Sie stehen aber nicht im Zentrum des Krankheitsgeschehens. Anders bei den posttraumatischen Belastungsreaktionen. Hier können vegetative Störungen, z.B. Schlaflosigkeit, das Krankheitsgeschehen beherrschen. Typische Somatisierungsyndrome Die häufigsten: Psychovegetatives Allgemeinsyndrom ICD-IO: F45.0 Somatisierungsstörung (multiple psychovegetative Störung); F48.0 Neurasthenie (multiple psychische und psychovegetative Symptomatik. Synonyme: Neurozirkulatorische Asthenie, Effort-Syndrom, vegetative Dystonie). - wechselnde, multiple Beschwerden: Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Atemnot, Brustschmerz, Tachykardie, Schwitzen, Erschöpfung, Mattigkeit, Angst. flüchtiges und chronifizierendes Krankheitsbild möglich das Klagen, der depressive Affekt wird somatisiert (somatisierte oder "larvierte" Depression), d.h. das Leid wird auf den Leib projiziert (Oft: Leid der Verlassenheit und Ungeborgenheit als narzißtisches, aber auch als orales Problem) Psychogene Schlafstörungen - ICD-IO: F51 Nichtorganische Schlafstörungen. Schlafstörungen sind die am meisten verbreiteten vegetativen Störungen bei psychogenen Erkrankungen. 74 - - Sie kommen bei vielen und bevorzugt bei depressiven Neurosen vor, als reaktive Störungen bei akuten und chronischen Belastungen oder im Rahmen von Somatisierungssyndromen auf der Basis neurotischer Entwicklungen. Als monosymptomatisches Somatisierungssyndrom (Psychogene Schlafstörung im eigentlichen Sinne) sind sie jedoch nicht besonders häufig Sie werden auch als psychophysiologische und im weiteren Sinne primäre Insomnie bezeichnet. Unterscheidung zwischen Insomnie (Schlaflosigkeit) Ein- und Durchschlafstörungen (Aufwachen) nicht objektivierbaren Klagen über chronische Müdigkeit ("Schlafneurose", Pseudoinsomnie): Äußere Einflüsse wie Lärm, Schichtarbeit oder Dauerstreß im Beruf sind zusätzliche schlafstörende Belastungen -> Morgendliche, lange andauernde Zerschlagenheit führt zur Verstärkung von Gereiztheit und Niedergeschlagenheit und schwächt die psychische Bewältigung von Alltagsbelastungen -> es entsteht ein Teufelskreis -> Schlafstörungen haben daher eine starke Chronifizierungstendenz und bilden häufig die Basis für die Entwicklung einer Medikamentenabhängigkeit. Psychogene Schlafstörungen sind Äquivalente von Angst, Depression und angespannter Unruhe. Sie beruhen auf der unbewußten Angst vor Verlust des Selbst und der Kontrolle über sich selbst. zentrale Bedeutung hat dabei chronische unterdrückte Aggression, die sowohl aus narzißtischen Konflikten (narzißtische Enttäuschungswut) stammen kann, aus konfIikthaften Rivalitäts- und Neidimpulsen oder aus Trennungsaggressionen im Autonomiekonflikt. Daneben spielt die Befürchtung eine Rolle, im Schlaf und Traum verdrängten unbewältigten Konflikten und tabuisierten Regungen ausgeliefert zu sein. Differentialdiagnostik: Schlafstörungen bei Psychosen, speziell bei endogenen Depressionen und beginnender Schizophrenie, Schlafstörungen bei organischen Erkrankungen wie z.B. Polyneuropathie, Herzerkrankungen, Hyperthyreose, situative, durch äußere Überreizung, z.B. durch Straßenlärm oder ungünstige Schlafbedingungen bedingte Schlafstörungen, Schlafstörungen durch Substanzgebrauch: Kaffee, Tee, Medikamente, auch nach Absetzen von Schlafmitteln. Durch Untersuchungen im Schlaflabor (Registrierung von EEG, Muskeltpnus usw.) können weitere spezifische organische Schlaf störungen ausgeschlossen werden: Narkolepsie, Schlafapnoe, Myoklonie, Restless-legs-Syndrom. Psychotherapie: Bearbeitung zugrundeliegender Konflikte Beratung bezüglich einer Lebensweise, die die abendliche Entspannung und das Einschlafen fördert: Gewohnheiten vor dem Schlafengehen, Schlafhygiene. Schlafmittel sollten wegen der Gewöhnung nur kurzfristig verordnet werden. Herz-Kreislauf-Syndrome - - ICD-IO: F45.30 somatoforme autonome Funktionsstörung des kardiovaskulären Systems. außerordentlich häufig Die Abgrenzung gegenüber dem psychovegetativen Allgemeinsyndrom sowie gegenüber Angstneurosen ist willkürlich, d.h. die Krankheitsbilder und die Psychodynamik ähneln einander stark In letzter Zeit wird deshalb auch von Herzangstneurose gesprochen. Auf körperlicher Seite können organische Herzbeschwerden bisweilen bahnend sein; gelegentlich wird auch ein ausgeheilter Herzinfarkt neurotisch verarbeitet, so daß sekundär ein Somatisierungssyndrom am Herzen entsteht. 75 - Im allgemeinen sind die Betroffenen organisch aber völlig herzgesund. Psychovegetative Herzbeschwerden sind Korrelate von Angst ("somatisierte Angst") und Aggression. a) Herzneurose (Herzangstneurose, Herzphobie): ein vielgestaltiges Krankheitsbild mit oft wechselnden Beschwerden: Multiple herzbezogene Mißempfindungen: Brust- und Herzschmerz, Herzdruck (abzugrenzen von Konversionsschmerzen am Herzen), Dysregulation der Herzfrequenz: Paroxysmale Tachykardie (Herzrasen), supra-ventrikuläre Extrasystolen (Herzstolpern), sympathikovasale "Herzanfälle" oder Herz-Angst-Anfälle, zunehmende Angst, einen Herztod zu sterben, als Begleitsymptomatik: Schlafstörungen, Müdigkeit, Mattigkeit usw. Typisch bei fortgeschrittenem Verlauf: starke Chronifizierungszeichen in Form von phobischer Vermeidung und hypochondrischer Besorgnis. Die Symptome sind typischerweise Korrelate von abgewehrten Verlust- und Trennungsängsten, von narzißtischer Wut oder von Verselbständigungsaggressionen und damit verbundenen Ängsten. b) Kardiovaskuläres Syndrom Herzrhythmusstörungen (Störungen der Erregungsbildung: Tachykardien, Extrasystolen) als Korrelat von Verselbständigungsaggressionen und von Angsten vor Auslieferung und Verlust der Gefühlskontrolle. c) Hypertonie (essentielle Hypertonie) Chronische oder chronisch rezidivierende Blutdrucksteigerung über 140-160 / 90- 95 mm Hg, auf Dauer auch sekundär fixiert psychosoziales Krankheitsrisiko: unverarbeitete intrapsychische, familiäre und soziale Spannungen Psychodynamik: Konflikte um die Selbstbehauptung -> anhaltende Unterdrückung von aggressiven Impulsen und Affekten und damit verknüpft unbewußte Schuldgefühle, die masochistisch verarbeitet werden (die Position des "Last-Esels"). -> Es handelt sich um Feindseligkeit, Selbstbehauptungs- und Trennungsaggressionen aus dem Autonomiekonflikt. Das Verhalten ist durch zwanghaft kontrollierte Aggressivität, gereizte Helferhaltung und leistungsbetonte Überanpassung mit Ideologisierung gekennzeichnet -> Kompensatorisch für mangelndes Selbstvertrauen besteht oft eine anhaltende Leistungsbereitschaft. Magen-Darm-Syndrome - - ICD-I0: F45.31 somatoforme autonome Funktionsstörung des oberen Gastrointestinaltraktes; F54, K58 Colon irritabile. besonders häufig wegen der zentralen Bedeutung der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung. Sie sind wegen ihrer lebens erhaltenden Funktion und der frühen, damit verbundenen Interaktionen (Füttern, Sauberkeitserziehung) psychologisch besonders stark determiniert. Während kurzfristige "Verstimmungen" im Magen-Darm-Bereich sehr häufig sind, stellen chronische, auf neurotischen Problemen beruhende Störungen ein ernsthaftes medizinisches Problem dar. Es handelt sich um somatische Korrelate von Depressionen, Angsten, Wut und Ekel. Auslöseprobleme sind bei aufmerksamer Anamneseerhebung im allgemeinen leicht ausfindig zu machen: Liebes- und Geborgenheitsverlust, Rivalität, Niederlage und Unterwerfung, gekränkter Ehrgeiz u.v.a. Typisch sind im Verlauf die vielfältigen Beschwerden, die Klagsamkeit und die hypochondrische Verarbeitung. a) Funktionelles Oberbauchsyndrom ("Magenneurose", "Reizmagen ") Schmerzen ("Dyspepsie"), Luftschlucken, Sodbrennen und Aufstoßen, Übelkeit, Erbrechen, Appetitstörungen. Im allgemeinen bestehen orale und oral-aggressive Triebkonflikte, wobei die orale Versorgung ("Fütterung") für die Betroffenen Liebe, Anerkennung, Fürsorge und Zuwendung bedeuten. 76 - Es handelt sich fast immer um sehr fordernde, gelegentlich auch abhängige Patienten. Oft .ist es schwer zu unterscheiden, ob oraler Neid der zentrale psychodynamische Faktor ist oder die Angst, die Anerkennung, Bewunderung und Stütze anderer zu verlieren. b) Funktionelles Unterbauchsyndrom (Colon irritabile, Colitis mucosa) Bauchschmerzen, Völlegefühl, Blähungen, Obstipation, Durchfälle. Manchmal auch chronische monosymptomatische Syndrome: Psychogene Obstipation oder Psychogene Diarrhoe. Im Mittelpunkt der Psychodynamik stehen typischerweise Aggressions-Überich-Konflikte (anale Triebe) im Zusammenhang mit Selbstbehauptung oder Rivalität bei zwanghaften Persönlichkeiten, in anderen Fällen die Wut darüber, andere, auf die man sich angewiesen fühlt, nicht beherrschen zu können. Gallenkoliken können körperliche Wutäquivalente sein, die auf Geltungssucht, Verlust, Enttäuschung zurückgehen. Hyperventilationssyndrom (funktionelles Atemwegssyndrom) - - - - relativ häufige Im Zentrum stehen Aternnotanfälle, die durch "Zureden" unterbrochen werden können, mit Angst und Unruhe, Parästhesien (Kribbeln), evtl. PfötchensteIlung der Hände und Gliederkrämpfen. Es besteht Herzrasen und Tachypnoe, d.h. schnelles, flaches Atmen. Als Nebensymptome können Kopf- und Herzschmerzen und multiple vegetative Symptome bestehen. Die Parästhesien und Muskelverkrarnpfungen sind die Folge der Abatmung von Kohlensäure (CO2-Mangel [Hypokapnie] , Verschiebung des PH-Wertes [Alkalose]). Die Symptomatik ist ein Korrelat von heftigen seelischen Spannungen, zumeist Wut, Zorn und Arger in familiären und beruflichen Konflikten. Oft bestehen auch äußerst ambivalente Abhängigkeitsbeziehungen und, damit verbunden, Trennungsimpulse und -ängste. Die Abhängigkeit kann sich auch auf sexuelle Erlebnisse beziehen. Dann kommt in der Hyperventilation sexuelle Erregung und ein masochistisches Unterwerfungsbedürfnis zum Ausdruck. Die Besonderheit ist, daß die Beziehungen der Kranken zwar überwiegend dem Selbstschutz dienen (Verwendung des anderen als Selbstobjekt), aber stark mit sexuellen Konflikten verschränkt sind (sog. Sexualisierung der Abhängigkeit). Dementsprechend findet man Hyperventilationssyndrome besonders häufig bei Patient(inn)en mit narzißtischer Persönlichkeit und hysterischer Abwehr. Das Hyperventilationssyndrom ist mit den Angstneurosen, insbesondere mit den Angstattacken, und mit der Herzneurose verwandt und kann oft kaum überzeugend da- von abgegrenzt werden. Psychogenes Urethrasyndrom - ICD-1O: F45.33 somatoforme Funktionsstörung des respiratorischen Systems. ICD-IO: F45.34 somatoforme autonome Funktionsstörung des urogenitalen Systems. Spasmen und brennende Schmerzen beim Wasserlassen, Harnträufeln, Druckgefühl und Schmerzen im Dammbereich sind die Hauptsymptome psychischer Hintergrund sind "urethrale" Konflikte: Ehrgeiz-, Abgrenzungs- und Autonomiestrebungen einerseits, Hingabewünsche ("es strömen lassen", "sich verströmen") andererseits. Im urethralen Erleben besteht also eine enge Verbindung zwischen narzißtischen und sexuellen Konfliktthemen. Anders als bei den Konversionsschmerzen im Unterbauch sind hier die prägenitalen Aspekte der Sexualität (Zärtlichkeit, Hingabe) betont. a) Chronisch-rezidivierende Prostatitis beim Mann Leisten- und Hodenschmerzen, Potenzproblemen, gelegentlich Angst und Depression Psychodynamisch handelt es sich um Patienten mit konflikthaften fixierten Vaterbeziehungen; sie bleiben "auf der Suche nach dem Vater", suchen Bestätigung ) und Anerkennung bei Männern und haben gegenüber Frauen latent abwertende Einstellungen. Bisweilen bestehen auch unterdrückte homosexuelle Konflikte (Hingezogensein versus Angst vor homosexuellen Impulsen). 77 b) Chronisch rezidivierende Urethritis, bevorzugt bei Frauen: Plötzlich einsetzende Beschwerden aufgrund einer bakteriellen Harnwegsentzündung (betroffen sind Harnröhre und/oder die Blase): Harndrang, Schmerzen, Hämaturie. c) Reizblase, ebenfalls bevorzugt bei Frauen: Harndrang und Brennen beim Wasserlassen aufgrund einer (nichtbakteriellen) Reizung der Blasenschleirnhaut und einer Übererregbarkeit der Blasenmuskulatur. Bei der chronischen Urethritis und der Reizblase äußern sich prägenitale Bedürfnisse nach Geborgenheit und "feuchter Wärme" (ähnlich wie beim Bettnässen des Kindesalters). Dabei handelt es sich um eine Regression als Konfliktabwehr: Die Geborgenheitswünsche stehen im Zusammenhang mit der Abwehr der reifen Sexualität, die aufgrund unbewußter Konflikte, z.B. einer neurotischen Fixierung an den Vater der Kindheit, abgelehnt wird. Die Symptomatik kann dann auch als eine unbewußte sexuelle Verweigerung aufgefaßt werden und eine aggressive Note erhalten. Sie wird durch sexuelle Absichten oder Erlebnisse ausgelöst, z.B. durch konflikthaften Geschlechtsverkehr, oder durch aversive Einstellungen gegenüber dem Sexualpartner. Urtikaria (ICD-IO: F54, L50) ("Nessel-" oder "Quaddelsucht") Juckreiz, Schwellung der Haut Psychodynamisch: meistens Somatisierung von Trennungsaggressionen, die aus einem, Trennungs-Abhängigkeits-Konflikt (Autonomiekonflikt) stammen, der Autonomiekonflikt und eine somatisierte Trauer Manche Erkrankungen lassen sich allerdings besser als Konversion verstehen; hier wird mit der Symptomatik der ambivalente Wunsch nach Zärtlichkeit ("Streichele mich! ") zum Ausdruck gebracht. Häufiger als eine "reine psychosomatische" Urtikaria ist eine primär allergisch bedingte Urtikaria, die sekundär psychisch verarbeitet wird. Verlauf, Diagnostik und Behandlung Somatisierungssyndrome neigen zur Chronifizierung. Sie gehen jedoch nicht in Organläsionen, also in psychosomatische Organerkrankungen über. In der sekundären Verarbeitung der Symptomatik lassen sich zwei Linien unterscheiden: die phobische Verarbeitung: Sie ist durch zunehmendes Schonverhalten und einen Rückzug aus dem sozialen Leben, z.B. aus dem Beruf und dem Bekanntenkreis, gekennzeichnet. Das Leben dient der Pflege der Erkrankung; die hypochondrische Verarbeitung: In den Mittelpunkt des Lebens rückt die Besorgnis um die eigene Person, die Gesundheit, den Körper oder bestimmte Organe wie das "kranke" Herz Bei beiden Entwicklungen erhält die Krankheit (das kranke Herz usw.) eine narzißtische Funktion: Sie wird zum begleitenden, stets verfügbaren, niemals verlassenden phantasierten Du (Selbstobjekt). Um diese Beziehung zu sichern, entstehen weitere unbewußt motivierte Chronifizierungsschritte: Die familienneurotische Ausweitung, bei der die Familie in die "Symptompflege" einbezogen wird, und die rentenneurotische Entwicklung zur materiellen Sicherung, die als Ausdruck eines unbewußten labilen Sicherheitsgefühls zu verstehen ist. Das Schicksal der Patienten hängt von einer Frühdiagnose der neurotischen Ätiologie der körperlichen Beschwerden ab. Erste Hinweise bietet die Diskrepanz zwischen körperlichem Befund und Befinden. Ausschlaggebend für die Verdachtsdiagnose ist eine einschlägige Auslösesituation: Zumeist ist es eine narzißtische Versagung in den familiären und beruflichen Beziehungen und in den persönlichen Plänen. Ein in diesem Sinne positiver Befund rechtfertigt es, sofern internistisch kein begründeter Verdacht besteht, bis zum Ergebnis der Fachdiagnostik weitere somatische Untersuchungen zu vermeiden. Jede Unsicherheit in diesem Punkt wird als Bestätigung interpretiert, daß der Arzt von seiner Sache nichts versteht, und endet mit seiner Entwertung (Arztwechsel), wodurch der notwendigen psychotherapeutischen Konsultation ausgewichen wird. Die durch das Verhalten des Arztes ausgelöste sog. iatrogene Fixierung einer subjektiven Krankheitstheorie, d.h. die Bestätigung der falschen Annahme, daß eine körperliche Erkrankung besteht, ist das größte Hindernis für einen psychotherapeutischen Behandlungserfolg. 78 Differentialdiagnose Grundsätzlich: körperliche Erkrankungen an den betroffenen Organen ausschließen. reaktive Störungen, z.B. reaktive Schlafstörungen bei chronischem Streß oder Herz-AngstSyndrome nach Traumatisierungen; vegetative Störungen und Körperstörungen bei Psychosen. Diese können oft schwer von psychosenahen oder psychotischen Depersonalisationssyndromen, von coenästhetischen Störungen und körperbezogenen Wahnerkrankungen abgegrenzt werden. Endogene Depressionen sind meistens mit schwerwiegenden vegetativen Beeinträchtigungen verbunden; symptomatische vegetative Störungen bei körperlichen Erkrankungen: Vergiftungen (z.B. mit Holzscutzmitteln) machen Beschwerden, die dem psychovegetativen Allgemeinsyndrom ähneln. Stoffwechselerkrankungen (z.B. Hyerthyreose) , interne Erkrankungen (z.B. Hepatitis) und hormonaktive Tumore können multiple vegetative Beschwerden hervorrufen. Zentralnervös können ähniche Bescllwerden durch Hirnerkrankungen, speziell durcll einen Hirntumor, hervorgerufen werden. Bei Herz-, Bauch- und Genitalschmerzen ist die Abgrenzung zwischen Somatisierungs- und konversionsneurotischen Schmerzen oft schwierig. Die Überweisung zur Fachdiagnostik erfordert von den Patienten die Einsicht, daß ein psychotherapeutisches oder vt-diagnostisches Gespräch notwendig ist und hilfreich für sie sein kann. Ängste, Fehlerwartungen und Vorurteile stehen dem oft im Wege -> Die Überweisung gestaltet sich schwierig, wenn der Weg zum Psychotherapeuten als weitere Kränkung oder Niederlage erlebt wird. spezielle Problematik: neurotische Patienten mit körperlichen Symptomen können den Zusammenhang mit seelischen Hintergrundsproblemen - krankheitsbedingt - zunächst lange nicht nachvollziehen, weil diese ihnen unbewußt sind. Das ärztliche Gespräch Funktion des Hausarztes: dem Patienten im ärztlichen Gespräch einen ersten Zugang zu seinen konfliktbedingten Erlebnisweisen zu verschaffen und ihn zugleich vor unzweckmäßigen Behandlungen zu bewahren. gezielte Erhebung der Krankengeschichte, in der auch die Erkundung der gegenwärtigen biopsycho-sozialen Situation ihren Platz hat, Wie weit ein Hausarzt sich in das psychosomatische Gespräch hineintraut, ist eine Frage seiner Aus- und Fortbildung und seiner Erfahrung. Analytische Psychotherapie Die analytische Psychotherapie kommt in verschiedenen Formen in Frage: Mit einer tiefenpsychologischen, konfliktzentrierten Aufarbeitung der auslösenden Belastungen kann man häufig eine dauerhafte Beseitigung der Symptomatik erreichen. Diese Behandlungen werden manchmal mit Psychopharmaka oder übenden und imaginativen Verfahren unterstützt. Die Veränderung der meistens zugrundeliegenden narzißtischen Störung erfordert eine analytische Langzeitbehandlung; dafür reicht die Motivation der Patienten oft aber nicht aus. Die Behandlung in der analytischen Gruppentherapie hat sich bewährt, weil sie die narzißtisch verarbeiteten sozialen Konflikte im Hier und Jetzt der Gruppe gut zugänglich macht. Zur Behandlungsmotivation kann eine stationäre Behandlungseinleitung nützlich sein. Verhaltenstherapie Entspannungsübungen, Biofeedback Reizüberflutung (flooding) systematische Desensibilisierung aber auch kognitive Umstrukturierung etc. Medikamentöse Behandlung Zur Krisenintervention und zur Unterstützung während der Behandlungseinleitung kann eine psychopharmakologische Behandlung sinnvoll sein. 79 - - Grundsätze und Gefahren der Behandlung mit Tranquilizern beachten -> Im allgemeinen kann man auf Medikamente ausweichen, die nicht abhängig machen, speziell auf Beta-Blocker und niederdosierte Neuroleptika. Generell darf aber eine medikamentöse Therapie die Einleitung einer indizierten Psychotherapie nicht hinauszögern. Prognose Die Behandlungsergebnisse sind bei angemessener Indikation günstig: 65% der Patienten können nach einer Psychotherapie mit einer guten und anhaltenden Besserung rechnen.Die Ergebnisse sind abhängig von der Schwere der Störung, vom Intervall zwischen Symptombeginn und Therapiebeginn (Chronifizierung), von der Ausprägung der sekundären Verarbeitung - und vom sekundären Krankheitsgewinn 10.3 Psychogene Schmerzsyndrome Psychogene Schmerzsyndrome sind Erkrankungen, die durch zumeist chronische Schmerzzustände auf der Grundlage einer neurotischen Entwicklung geprägt sind. Wenn die Schmerzen unmittelbar der Konflikt- und Affektabwehr dienen, handelt es sich um ein primäres psychogenes Schmerzsyndrom. Wenn ein zunächst somatisch begründeter Schmerzzustand neurotisch verarbeitet wird ("unbewußtes Festhalten am Körperschmerz"), dann spricht man von einem sekundären psychogenen Schmerzsyndrom Synonyme Bezeichnungen ICD-1O und DSM-III: F45.4 Somatoforme Schmerzstörung (Psychialgie) Schmerzentstehung und Schmerzwahrnehmung Schmerz ist ein subjektives Erleben. Er ist der häufigste Anlaß, medizinische Hilfe zu suchen. Unterscheidung zwischen akuten Schmerzen (wichtiges Alarm- und Schutzsignal) und chronischen Schmerzen (länger als 6 Monate, oft aus dem somatischen Befund heraus nicht erklärbar) Schmerzen entstehen aus somatischen und psychischen Ursachen. Psychogene Schmerzen beruhen zumeist auf neurotischen Entwicklungen; sie sind in sämtlichen Bereichen der Medizin häufig. somatische bzw. psychische Faktoren stellen oft nur den Auslöser dar, im Verlaufe mancher körperlich begründeter Schmerzen mißlingt die Bewältigung des SchmerzerIebens -> Der Schmerz wird dann aus inneren Gründen (unbewußte Bedeutung, SchulderIeben, Selbstbestrafungstendenzen, Konditionierung und Verstärkung) fixiert => es entstehen sekundäre psychogene Schmerzsyndrome. Zusammenwirkende Faktoren bei der Intensität des Schmerzerlebens: Intensität, Art und Dauer des Schmerzes, ggf. Prognose der somatischen Erkrankung; frühere SchmerzerIebnisse und der Umgang damit; Ausgeliefertsein an das Schmerzerleben; Stimmungen, insbesondere Depressivität, Angstlichkeit und Klagsarnkeit; subjektive Bedeutungen, die dem Schmerz gegeben werden. Schmerzen können ohne Verletzungen oder andere morphologische Befunde entstehen und durch psychische Vorgänge, z.B. durch Suggestion, beeinflußt werden. -> komplexe Regelmechanismen sind an der Schmerzwahrnehmung beteiligt sind (es werden Schmerzimpulse durch hemmende Einflüsse aus verschiedenen Zentren des ZNS moduliert; diese haben eine Art Kontrollfunktion über die Schmerzwahrnehmung - Psychische Gestimmtheiten und Konflikte sind wichtige solcher Modulatoren) Psychogene Schmerzen 80 verschiedene Modi der Schmerzentstehung: Konversionsschmerz: Es handelt sich um einen reinen Erlebnisschmerz, der auf Konversion beruht, d.h. der Schmerz hat einen Ausdrucksgehalt bzw. eine symbolische Bedeutung: Der Körperschmerz "bedeutet" Seelenschmerz, er bringt einen seelischen Schmerz zum Ausdruck. Am Anfang steht oft ein unbedeutendes Schmerzerlebnis. Charakteristisch ist der chronifizierende Verlauf bei gleichbleibender Lokalisation und ohne wesentliche Begleitsymptomatik. z.B. Psychogener Herzschmerz („gebrochenes" Herz"), Genitalschmerz, speziell Adnexschmerzen nach einem Abort oder bei Sexualkonflikten (Verlustschmerz, Schuldschmerz, (z.B. Selbstbestrafung), Orofazialschmerz(Schmerz um den Verlust des jugendlichen Gesichtes, der Jugend schlechthin), Extremitätenschmerz: Beinschmerzen als Konversion des Schmerzes bei Verlassenheit (Weggehen), Armschmerzen als Schuldschmerz bei Aggressionskonflikten (Konversion des Impulses zu schlagen). - - Andere Faktoren: Es bestehen unbewußte Identifizierungen bzw. Lernvorgänge im Sinne des Lernens am Modell, z.B. Herzschmerz als Festhalten an einer geliebten Person, die an einem Herzinfarkt verstorben ist. Somatisierungsschmerz: körperliches Korrelat von Angst, Depression und Aggression. Oft sind Somatisierungsschmerzen in polysymptomatische Syndrome eingebettet und wechseln stark in Lokalisation und Intensität. Als Zwischenglied zwischen Affekt und Schmerzerleben wird bisweilen ein pathophysiologischer Mechanismus angenommen: Affekt > muskuläre Verspannung > Ischämie > Ischämieschmerz. (keine Bedingung für Somatisierungsschmerzen) z.B Spannungskopfschmerz, Nackenschmerzen (Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalsyndrom) als Somatisierung von Wutaffekten bei chronischen Rivalitäts- und Geltungskonflikten. Hypochondrischer (narzißtischer) Schmerz: Schmerz als Folge der Projektion von schmerzlichen seelischen Empfindungen auf Körperorgane (reiner Erlebnisschmerz). So kann die Projektion einer Sorge um sich selbst multiple Körperschmerzen in allen möglichen Bereichen hervorrufen. Die Abgrenzung zum Konversionsschmerz ist dabei oft willkürlich. Meistens handelt es sich aber um die Projektion von schmerzlichen Affekten, die aus narzißtischen Kränkungen und Verletzungen herrühren. Man kann diesen Mechanismus daher auch als narzißtischen Modus der Schmerzentstehung bezeichnen. z.B. Beispiel: Posttraumatischer Schmerz: Genitalschmerz (Adnexschmerz) nach sexuellen Übergriffen; Rückenschmerz, Kopfschmerz nach einem passiv erlittenen Verkehrsunfall -> Körperschmerz steht für den im Trauma erlebten, evtl. verdrängten Seelenschmerz, für Besorgnis in der Gefahr, für Anklage und Vorwurf. Die häufigsten psychogenen Schmerzen - Gesichts- und Zahnschmerz (orofaziafer Schmerz) - Bauchschmerz - Herzschmerz - Urogenitalschmerz - Kopfschmerz - Rückenschmerz - Gliederschmerz Sekundäres psychogenes Schmerzsyndrom Die neurotische Fixierung und Ausweitung von Schmerzzuständen, die ursprünglich organisch bedingt sind, führt zum sekundären Schmerzsyndrom. Nach einem körperlichen Geschehen bleibt der Schmerz trotz eines günstigen somatischen Heilungsverlaufs erhalten und nimmt (ohne erkennbaren somatischen Grund) sogar zu. Die Erkrankung wird zum Auslöser für eine sekundäre neurotische Störung. Dabei handelt es sich meistens um einen hypochondrischen Modus der Schmerzentstehung. z.B. Postoperativer Schmerz (Trauer über das verlorene Organ (z.B. die Gebärmutter) oder eine verlorene Funktion (z.B. die Gebärfähigkeit)), Schmerzen nach Unfällen (Darbietung eines mit dem Unfall erlittenen, ungesühnten Schmerzes und das Festhalten am Anspruch auf Entschuldigung und Wiedergutmachung) Psychodynamik und Persönlichkeit 81 Körperschmerz steht für Seelenschmerz. Dabei wird das SchmerzerIeben durch die Verknüpfung zwischen verschiedenen Erlebnisinhalten gebahnt und konditioniert: z.B. Schmerzerleiden, Schmerzandrohung, Bestrafung durch Schmerz, Ausübung von Macht, Entstehung von Angst, Verlust von Liebe, Trost oder Selbsttröstung. Diese Verknüpfungen beruhen auf frühen Erfahrungen, die unbewußt geworden sind. Der individuelle aktuelle und lebens geschichtliche Hintergrund ist äußerst vielfältig <-> Gemeinsamkeit „Schmerzpersönlichkeit“: eine autoaggressive GrundeinsteIlung, die zu einem Zwang führt, leiden zu müssen. Sie ist als Hintergrund für die Bereitschaft zu betrachten, sich immer neuen, schmerzhaften Erfahrungen auszusetzen, sich z.B. im Verlaufe der Schmerzerkrankung immer neuen, immer invasiveren Untersuchungen auszuliefern. Dieser sog. psychische Masochismus hat, je nach zugrundeliegender Neurosenpathologie, verschiedene Wurzeln. Oft sind die Basis unbewußte Schuldgefühle, häufig aber auch ein unbewußtes Bedürfnis, durch Unterwerfung oder Provokation eines mehr oder weniger sadistischen Verhaltens im anderen ein Verhalten hervorzurufen, das einem aus der Lebensgeschichte bekannt ist, um sich damit Sicherheit zu verschaffen oder ihn festzuhalten. Schmerzsyndrome auf einem höheren Strukturniveau: beruhen auf der masochistischen Schuldverarbeitung von neurotischen Triebkonflikten und Straf- und Gewissensängsten: Körperschmerz entsteht hier aus Gewissensangst, Strafangst oder Liebesverlustangst und dient der Selbstbestrafung für verpönte Triebhaftigkeit. Schmerzsyndrome auf einem mittleren oder niederen Struktumiveau: beruhen auf Verlassenheits- und Verlustängsten: Der Körperschmerz steht hier für die Sorge um die eigene Person, die von Verlust und Verlassenheit bedroht ist. Beispiel: Psychogener Kopfschmerz Psychogene Kopfschmerzen (ICD-10: F54, G44.2 Spannungskopfschmerz)sind außerordentlich häufig. Es sind intermittierende oder dauerhafte Schmerzzustände, im allgemeinen beidseitig oder in der Stirn oder im Hinterkopf lokalisiert. Für Kopfschmerzpersönlichkeiten wird ein recht einförmiger Erlebnishintergrund beschrieben: Es überwiegen zwanghafte und narzißtische Züge mit Ehrgeizhaltungen und Gefühlsisolierung und der Neigung zu Passivität und Feindseligkeit, Kampf und Flucht. Psychodynamisch bestehen meistens daraus resultierende Rivalitäts- und Selbstbehauptungskonflikte. Spannungskopfschmerz, früher vasomotorischer Kopfschmerz, ist ein typischer Somatisierungsschmerz. Er entsteht wahrscheinlich über einen Ischämie-Mechanismus, der von der Verspannung der Nackenmuskulatur ausgeht - daher auch die Bezeichnung "Spannungs"-Kopfschmerz. Die Verspannung der Nackenmuskulatur ist das Äquivalent von Wut und Angriffsimpulsen, vergleichbar dem Aufstellen der Nackenhaare als Angriffsgeste, z.B. bei Hunden. Konversionskopfschmerz hat kein pathophysiologisches Korrelat. Er ist seltener als Spannungs kopfschmerz. Dabei wird z.B. die Idee, "sich den Kopf zu zerbrechen", als Schmerz zum Ausdruck gebracht. Aus verhaltensmedizinischer Sicht werden Konditionierungsvorgänge für die Symptomentstehung bei Kopfschmerzen angenommen. Behandlung: Entspannungstherapie, Bearbeitung der Hintergrundskonflikte, , Biofeedback, kognitive Verhaltenstherapie. Differentialdiagnose: Migräne medikamenteninduzierter Kopfschmerz: paradoxerweise bei chronischem Schmerzmittelgebrauch u.a. Cluster-Kopfschmerz: ätiologisch unklare, einseitige Kopfschmerzattacken; „sekundärer", symptomatischer Kopfschmerz bei körperlichen Erkrankungen, insbesondere posttraumatisch und bei einem Hirntumor. 82 Die unbewußten aggressiven Phantasien und Affekte (fast immer beteiligt) können auch die Nachwirkung traumatischer Erlebnisse sein. Bei chronischen posttraumatischen Störungen sind Schmerzen häufig. Sie stehen im Zusammenhang mit Schuldgefühlen. Diese können realistisch sein, wenn jemand z.B. einen Unfall verschuldet hat. Belastend ist insbesondere die Überlebensschuld, wenn jemand eine Katastrophe überlebt hat, während andere zu Tode kamen. Als typisch neurotische Schuldverarbeitung nach Traumatisierungen gilt die Identifikation mit dem Täter und die unbewußte Übernahme seiner Schuld. es besthet kein einheitlicher psychodynamischer Hintergrund von psychogenen Schmerzsyndromen. Das Schmerzerleben ist eine unspezifische seelische Reaktionsform und kommt auf allen Ebenen der neurotischen Pathologie vor. Die Klärung des individuellen Hintergrundes ist daher für eine positive Diagnose unerläßlich. Verhaltenstherapeutische Aspekte übermäßiges SchmerzerIeben ist ein Ergebnis von Lernprozessen bestätigende Antworten (Zuwendung) im Rahmen des operanten Lernens können zur positiven Verstärkung und Fixierung von Schmerzen führen Drohung, Bestrafung u.a. können SchmerzerIeben konditionieren Auch Erwartungsangst und irrationale Uberzeugungen können die Bewältigung von Schmerzen beeinträchtigen. Diagnostik und Behandlung Die Diagnostik sollte eine umfassende Schmerzanamnese enthalten, die auch die Schmerzerfahrungen und -bewältigung, frühere und gegenwärtige Vorbilder sowie die Frage des "Krankheitsgewinns" in Familie und Partnerschaft berücksichtigt. Entsteht der Verdacht, daß ein Schmerzsyndrom seelisch bedingt ist, sollten die folgenden Tatsachen berücksichtigt werden: Schmerzpatienten nehmen wegen der Verdrängung des Konflikteriebens subjektiv niemals Probleme wahr; ihre "einzigen Probleme" sind die Schmerzen. Der Ausschluß oder die realistische Einschätzung der Bedeutung gleichzeitig bestehender organischer Störungen ist Voraussetzung für die Diagnose. Behandlung: außerordentlich schwer psychotherapeutisch zu behandeln: stabilisierende Funktion der Schmerzen und die untergründig aggressive Einstellung, mit der die Patienten darauf reagieren, wenn sie fürchten, daß ihnen diese Stabilisierung "weggenommen werden soll" -> zwar willig in der Darstellung ihrer Schmerzsymptomatik, aber die Möglichkeit einer Psychotherapie kann leicht als Gefährdung aufgefaßt werden => die größte Schwierigkeit ist der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung. Dynamik der Arzt-Patient-Beziehung: Schmerz für sich selbst als eine Kommunikation auffassen, die zugleich eine Kontaktaufnahme und eine selbstschützende Distanz beinhaltet. Man muß den Kranken daher oft zunächst "ihren" Schmerz lassen und darf ihn nicht voreilig in Frage stellen. Deshalb ist eine simultane Diagnostik und Behandlungseinleitung vorteilhaft, in der körperliche und psychische Aspekte in einer Hand liegen oder, bei Krankenhausbehandlungen, im Rahmen eines Liaisondienstes integriert werden. Medikamentöse Behandlungen (Antidepressiva), balneologische Maßnahmen und körperbezogene Übungen (Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung) kommen dem Bedürfnis der Patienten entgegen, in ihrem Schmerz gesehen und angenommen zu werden. Stationäre Psychotherapie körperorientierten Verfahren paraverbaler Ausdruckstherapie (konzentrative Bewegungstherapie, Musiktherapie usw.) gut zur Behandlungseinleitung geeignet. analytischen Psychotherapie 83 - zumeist erlebnisnahe Problemklärungen angezeigt Tiefergehende regressive Prozesse mit umfassender Konfliktanalyse sind für viele Patienten mit Schmerzsyndromen eine Überforderung Gruppentherapien fördern mit der Möglichkeit der Anlehnung an Mitpatienten die Überwindung der Schwierigkeiten zu Behandlungsbeginn Paar- und Familientherapie: zur Lockerung der familiären Abwehrbarrieren den Ängsten vor Veränderungen entgegenwirken da der krankheitsbedingte Rückzug ins Symptomerleben den Betroffenen oft eine Sonderstellung in der Familie gibt und zu pathologischen Entwicklungen der Familienstruktur ("Symptompflege-Familien") führt Verhaltenstherapie: operante Verfahren zur Verstärkung alternativer Verhaltensweisen Biofeedback Entspannungstraining kognitive Schmerzbewältigung. psychosomatische Schmerztherapie nicht auf Psychotherapie bei primär seelisch bedingten Schmerzen beschränkt, sondern umfaßt insbesondere die Bewältigung chronischer somatogener Schmerzzustände (Tumorschmerzen, postoperative Schmerzen, rheumatische Schmerzen usw.) umfaßt. In speziellen Schmerzkliniken arbeiten Anästhesisten, Balneologen, Physiotherapeuten, psychodynamische und verhaltens orientierte Psychotherapeuten in Programmen zusammen, die vorrangig das Ziel haben, ein möglichst unbeeinträchtigtes "Leben mit dem Schmerz" zu ermöglichen. 10.4 Funktionelle Sexualstärungen Über Sexualität Sexualität = eines der zentralen Themen des menschlichen Lebens: sie stiftet Interesse, schafft Bindungen, ist die Basis von weiten Bereichen des Gefühlslebens und eine Quelle der Kreativität. Biologisch dient sie der Fortpflanzung und dem Arterhalt. Das sexuelle Verhalten und Erleben des Kulturmenschen ist jedoch zugunsten der sexuellen Funktionslust davon weitgehend abgelöst. Dafür ist die Dominanz der Großhirnsteuerung gegenüber der hormonell-vegetativen autonomen Steuerung der Sexualität bei den Primaten verantwortlich. Psychologisch: Sexualität steht in enger Beziehung zum Gefühlsleben: v.a. Liebe zwischen Erwachsenen ist eng mit sexuellem Begehren und sexueller Befriedigung verbunden. Zärtlichkeit und Zuneigung und viele Formen der üblichen sozialen Zugewandtheit enthalten auf sublime Weise ebenfalls sexuelles Interesse. Aber auch Haß, Eifersucht, Neid, Rivalität und viele andere Motive entstammen dem Erleben und der Verarbeitung von sexuellen Bedürfnissen. Sexualität ist ein bedeutsamer Bestandteil des Identitätsgefühls. Befriedigende Sexualität ist die Basis für Lebenszufriedenheit und Glück. Sie setzt ein stabiles Selbstwertgefühl, Abgegrenztheit, eine positive Einstellung zu den eigenen Bedürfnissen, zum eigenen Körper und Interesse und Wertschätzung am Partner oder an der Partnerin voIaus. Uber die Triebbefriedigung hinaus, wird die Sexualität auf diese Weise zur Grundlage von befriedigenden und beglückenden Beziehungen. Die Sexualität wird von biologischen, psychologischen und soziokulturellen Faktoren geprägt: Biologisch vom "Trieb" 84 - psychologisch von Identifizierung, Lernen und Erfahrung und soziokulturell von Werten, Normen und Ethik. Die Spielarten der Sexualität äußerst vielfaltig: vom "normalen" heterosexuellen Geschlechtsverkehr über Selbstbefriedigung und homosexuelle Akte bis hin zu perversen Handlungen Dieser Vielfalt stehen, als Regulativ, gesellschaftliche Vorstellungen von einer "normalen Sexualität" und eine bis vor nicht langer Zeit sexual feindliche Erziehung und Moral entgegen. Die Idee, reife Sexualität konzentriere sich auf einen ehelichen heterosexuellen genitalen Geschlechtsverkehr, dürfte einem solchen gesellschaftlichen Ideal entsprochen haben. Kinsey-Report: hat deutlich gemacht, daß die Ideale weit von der Realität des tatsächlichen Sexualverhaltens entfernt ist -> Durch gesellschaftliche Normen werden individuelle Gestaltungen des Sexuallebens reglementiert und "Abweichungen" mehr oder weniger stark tabuisiert und sanktioniert. Dadurch wurden sexuelle Minderheiten immer wieder diskriminiert. Sigmund Freud: Für ihn stand die Sexualität im Zentrum der Erforschung des menschlichen Seelenlebens. Mit seiner Entdeckung, daß bereits Kinder eine spezifisch infantile Sexualentwicklung durchmachen, löste er breite Empörung aus. Allerdings hat seine Triebtheorie der Neurosen, wonach die Unterdrückung der Sexualität seelische Erkrankungen hervorruft, wesentlich zur "sexuellen Revolution" und Befreiung in unserem Jahrhundert beigetragen. Dabei muß man allerdings bedenken, daß Freud die Sexualität als "Libido" sehr weit definiert hat und auch das orale und anale Begehren libidinös verstanden hat. Funktionelle Sexualstörungen Funktionelle Sexualstörungen sind chronische Störungen des sexuellen Reaktionsablaufes ohne körperliche Grundlage. Man gebraucht die Diagnose "funktionelle Sexualstörungen" , wenn diese das Leitsymptom eines klinischen Syndroms sind. Synonym: Sexuelle Dysfunktion. ICD-IO: F52 nichtorganische sexuelle Funktionsstörung. Differentialdiagnose: sexuelle Verhaltensstörungen (die früher als "Perversionen" bezeichneten Deviationen der sexuellen Orientierung) Folgen von sexueller Traumatisierung, speziell durch sexuellen Mißbrauch und Vergewaltigung. Aus der zentralen Position, die die Sexualität im Seelenleben hat, ergibt sich auch ihre besondere Disposition für Störungen. Einerseits wirken Konflikte um die Sexualität sich als Beeinträchtigungen auf das gesamte Seelenleben aus, haben maßgeblich Anteil an der Entstehung von psychogenen Störungen und beeinträchtigen die Sexualfunktionen. Andererseits ist die Fähigkeit zum ungetrübten sexuellen Begehren und Genuß von der seelischen Befindlichkeit abhängig: Von Stimmungen, Selbstvertrauen und Selbstsicherheit, Ausgeglichenheit, körperlicher Kondition und Unversehrtheit u.v.a. Schließlich wirken Störungen der Sexualität sich ihrerseits negativ auf die Befindlichkeit aus, führen zu Angst und Depression, zu zwischenmenschlichen und Selbstwertkonflikten und können auf diese Weise Sexualstörungen noch verstärken. Klinische Erscheinungen Funktionelle Sexualstörungen kommen gelegentlich als isolierte Phänomene vor. Sie sind meistens aber in ein breit angelegtes Somatisierungssyndrom eingebettet; häufig bestehen ängstliche und depressive Verstimmungen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Mattigkeit. Als Folge der Sexualstörung entstehen depressive Gereiztheit, Erwartungs- und Versagensängste, Minderwertigkeitsgefühle und Selbstvorwürfe. Ursachen Folge einer neurotischen Entwicklung, 85 - häufiges Symptom bei Belastungsreaktionen, bei einer Vielzahl chronischer Erkrankungen als somatopsychische Störungen, bei vielen neurotischen Syndromen als Begleitsymptom. Psychodynamik und Persönlichkeit bei neurotischen Sexualstörungen Die Sexualität hat auf jeder Ebene der neurotischen Pathologie und bei allen Formen neurotischer Persönlichkeiten eine spezifische Konflikthaftigkeit. Deshalb ist bei jeder funktionellen Sexualstörung der individuelle Hintergrund zu erkunden. Die Dynamik zentriert bei allen Formen jedoch um die Beeinträchtigung, sich im Akt hinzugeben bzw. von der Partnerinbzw. vom Partner Besitz zu ergreifen oder sich in Besitz nehmen zu lassen. Diese Beeinträchtigung hat ihre Wurzel in einem großen Spektrum möglicher Konflikte und Phantasien. Sie betreffen die biologische Geschlechtlichkeit (Geschlechtskemidentität) , die seelische geschlechtliche Identität und die soziale Rolle als Frau bzw. als Mann. Sehr häufig sind neurotische Sexualstörungen mit Partnerschaftskonflikten oder einer neurotischen Geltungs- und Leistungsproblematik verbunden. Mögliche belastende und auslösende Faktoren: negative Sexualerfahrungen, Ängste vor Verletzungen, Ängste vor Krankheiten, z.B. vor AIDS, Konflikte mit Werten und Normen,z.B. kann ein vorehelicher Verkehr ein auferlegtes Keuschheitsideal verletzen, Partnerschaftsprobleme, z.B. Schamgefühle und Verletzungen in "Streitehen", Überich-Konflikte, z.B. Schuldprobleme bei heimlichen außerpartnerschaftlichen Sexualkontakten, unbewußte Bindungen, die Befangenheit verursachen, z.B. eine unbewußte Mutterbindung, die den Akt mit der Partnerin unbewußt als Inzest und Verrat an der Mutter erscheinen läßt, aggressive Phantasien, die den Akt unbewußt als Verletzung erscheinen lassen, eine konflikthafte Geschlechtspartnerorientierung, d.h. praktisch, daß während des heterosexuellen Verkehrs eine untergründige homosexuelle Präferenz bekämpft wird; verdrängte perverse Phantasien, diec im Akt aktiviert werden und unbewußt gehalten werden müssen, mangelnde Selbstsicherheit durch unbewußte Minderwertigkeitsgefühle, aktuelle Selbstwertkrisen, z.B. beim Versagen im beruflichen Bereich, Bedrohungen der Abgrenzung zwischen Selbst und Objekt im Akt auf der Basis unbewußter Verschmelzungswünsche und -ängste. Funktionelle Sexualstörungen Störung des sexuellen Verlangens: Lustlosigkeit (Libidoverlust, Alibidinie) Störung der sexuellen Erregung: bei der Frau: Frigidität; beim Mann: Erektionsstörung Störung beim Eindringen bzw. Koitus: bei der Frau: Vaginismus (Scheidenkrampf), Dyspareunie (Schmerzen beim Verkehr); beim Mann: vorzeitiger oder verzögerter Samenerguß (Ejaculatio praecox sive retardata) Störung des Orgasmus: Anorgasmie Störungen der sexuellen Entspannung und Befriedigung Auslösesituationen je nach dem Konflikthintergrund sehr verschieden und sehr vielfaltig. Traumatische Sexualerlebnisse, Partnerschaftskonflikte, Mißerfolge, aber auch chronische Belastungen und sozialer Streß sind häufig. Bei Jugendlichen kommen die entwicklungsbezogene Unsicherheit gegenüber der Sexualität und mangelnde Erfahrung hinzu. Eine besondere Situation besteht jenseits der Fünfzig, wenn einerseits das sexuelle Begehren nachläßt und andererseits organische Faktoren wie Herz- und Kreislauferkrankungen oder Diabetes an der Entstehung von Sexualstörungen beteiligt sein können. Die Intensität und Geschwindigkeit der sexuellen Abläufe nimmt mit dem Alter ab; die Erregung entsteht langsamer und ist weniger stark, die Refraktärzeit nach einem Orgasmus ist deutlich verlängert. Unkenntnisse über diese Tatsachen können Fehlerwanungen und Druck hervorrufen, der ein Versagen fördert. Diagnostik und Behandlung Die Schwerpunkte der Diagnostik: 86 - - das sexuelle Erleben und Verhalten, die Partnerschaft, die Bedingungen des Symptombeginns (Belastung, Trauma, Krankheit, neurotische Auslösesituation) und der aktuelle Lebensrahmen mit den darin enthaltenen Belastungen, Sorgen und Konflikten, die Abklärung, ob und in welchem Ausmaß eine individuelle neurotische Entwick- lung und eine neurotische Partnerschaftsdynarnik besteht, ggf. die somatische Differentialdiagnostik. Grundsätzlich ist es wichtig zu entscheiden, ob man die Partnerin bzw. den Partner zum Gespräch hinzuzieht oder nicht. Bei jungen Menschen, die im sexuellen Bereich noch auf der Suche sind und auch noch nicht fest gebunden sind, wird das Gespräch sich im allgemeinen auf den Betroffenen selbst beschränken. Bei Patienten mit etablierten Beziehungen, z.B. Ehepaaren, kann die gemeinsame Klärung von Sexualproblemen nützlich sein, die oft mit langfristigen, nie offengelegten Fehlerwartungen, verleugneten Verletzungen, Kränkungen und Mißachtungen verbunden sind. Wenn die Sexualstörung aber die Funktion hat, sich in der Partnerschaft abzugrenzen, indem man sich gleichsam verweigert, dann sollte das Gespräch einen geschützten Raum bieten, in dem der Betroffene sich zunächst offenbaren und entlasten und die Erfahrung machen kann, mit seinen Problemen dort einen Bereich für sich zu haben und Interesse zu finden. Die Sexualberatung ist zunächst eine Klärung der bestehenden Probleme, der Vorstellungen, die die Betroffenen von einer "normalen" Sexualität haben, der Möglichkeiten, die sie für sich selbst verwirklichen wollen, und der Ursachen, die sie selbst für die Sexualstörung verantwortlich halten. Ein wichtiger Aspekt der Beratung ist die Information und Aufklärung über seelische, körperliche und gesellschaftliche Faktoren im Zusammenhang mit der Sexualität, z.B. in Hinblick auf natürliche Sexualängste und -tabus, auf das vermutete oder wahrscheinliche sexuelle Erleben der Partnerin bzw. des Partners, über Möglichkeiten und Grenzen, darüber zu sprechen, über Empfängnisverhütung, HIV Prävention usw. Oft ist es bereits hilfreich, darauf Einfluß zu nehmen, daß die Partner sich nicht überfordern, nicht äußeren Vorbildern nacheifern, Ieine angemessene Situation für das intime Zusammensein schaffen, gegenseitig einen ausreichenden Intimbereich wahren und anerkennen, daß rücksichtsloses, vorwurfsvolles und verletzendes Verhalten in der Partnerschaft als erstes die Sexualität beeinträchtigt. Nützlich ist es auch, anhand der Sexualanarnnese Wertkonflikte, Ängste und Befürchtungen zu erkunden und zu erörtern. Bei ausgeprägten und insbesondere bei chronischen Sexualstörungen auf der Basis neurotischer Entwicklungen kommt eine analytische Psychotherapie in Betracht. Hier besteht ein breites Spektrum von Möglichkeiten, die je nach der Art der Konflikte, der Persönlichkeit und der Schwere der Störung Anwendung finden: In der individuellen tiefenpsychologischen Behandlung werden die neurotischen Probleme und Konflikte geklärt und bearbeitet. Die Gruppentherapie kann vor allem auf die zwischenmenschlichen Beziehungen ausgerichtet sein. Selten behandelt man eine isoliert auftretende funktionelle Sexualstörung auch in einer analytischen Langzeitbehandlung. Wenn schwerwiegendere Partnerschaftsprobleme bestehen, kommt eine Paartherapie oder auch Paar-Gruppentherapie in Frage, die den Fokus auf spezielle Bereiche der Partnerschaft lenken kann. Die Verhaltenstherapie verwendet Aufklärung, Verhaltensanweisungen, Rollenspiel, Entspannungsübungen und systematische pesensibilisierungen. Spezielle Sexualtherapien für Paare vereinen Anweisungen und Ubungen zum Sexual verhalten mit Übungen der Partnerschaftskommunikation. Die "klassische" Paar-Sexual therapie in diesem Sinne wird mit täglichen Sitzungen über 3 bis 4 Wochen von einem Therapeutenpaar als spezifische Desensibilisierung durchgeführt. Sie umfaßt Entspannungsübungen des Paares und sukzessiv Berührungen unter Anleitung bis hin zu sexuellen Stimulierungen (Petting). Die Übungen werden vom Paar zwischen den Therapiesitzungen weitergeführt, die Erfahrungen dabei in der Behandlung besprochen. Die Erfolge dieses Vorgehens sind beträchtlich, es werden anhaltende Effekte bei rund drei Viertel der Behandelten berichtet. Inzwischen ist das Verfahren variiert worden: Die Sitzungen finden seltener statt, werden von einem einzelnen Behandler oder auch als Gruppentherapie durchgeführt und bei Bedarf auch mit psychoanalytisch orientierten Gesprächen kombiniert. 87 11. Verhaltensstörungen Als Verhaltensstörungen werden in diesem Buch pathologische Verhaltensmuster von Krankheitswert bezeichnet und den Störungen der Persönlichkeit, des Erlebens sowie der körperlichen Funktionen gegenübergestellt. "Verhalten": kennzeichnet die nach außen und auf die eigene Person gerichteten Lebensäußerungen des Menschen, die Art und Weise, wie er sich mit seiner Umwelt und mit sich selbst in Beziehung setzt und - im engeren Sinne - wie er handelt und eine bewußte oder unbewußte Absicht verwirklicht. <-> Erleben bezieht sich dagegen auf die Wahrnehmung des Seins und der Bezogenheit zu sich selbst und zur Umwelt. Verhalten und Erleben sind eng miteinander verbunden und aufeinander bezogen. So kann es z.B ohne Erleben von Motivationen einerseits kein Verhalten geben; am Verhalten wird andererseits die Motivation erlebbar. Verhaltensstörungen: der Krankheitswert der Störungen betrifft die Handlungsvollzüge betrifft. Es werden damit Erkrankungen beschrieben, bei denen Störungen der Handlungsmotivation unmittelbar in pathologische Verhaltensmuster umgesetzt werden, während die Hintergrundserlebnisse, insbesondere Angste oder Depressionen, klinisch keinen Symptomwert haben. Zu diesen Verhaltensstörungen gehören vor allem: Eßstörungen Suchtverhalten Störungen der aggressiven Impulskontrolle autoaggressive Verhaltensstörunge suizidales Verhalten sexuellen Verhaltensstörungen (funktionellen Sexualstörungen, Zwangshandlungen, dissoziative Störungen wie die Fugue) 11.1 Psychogene Eßstörungen Psychogene Eßstörungen sind Störungen des Eßverhaltens auf der Bassis einer neurotischen Entwicklung. Das gestörte Eßverhalten erhält dabei die Funktion, innerseelische Konfliktspannungen zu vermindern und Einfluß auf zwischenmenschliche Beziehungen zu nehmen. Zur Klassifikation der Eßstörungen Anorexie, Bulimie und Adipositas: traditionell als psychosomatische Erkrankungen im engeren Sinne beschrieben. Aber: Diese Zuordnung problematisch, weil die maßgeblichen körperlichen Symptome, insbesondere die Adipositas bzw. Kachexie, eine Folge der gestörten Verhaltensmuster sind und nicht ein primär psychosomatisches Geschehen. Auch die psychosomatischen Funktionsstörungen wie Amenorrhoe und Obstipation treten erst als Folge des verhaltens induzierten veränderten körperlichen ICD-IO: F50.0 Anorexia nervosa; F50.2 Bulirnia nervosa; F54, E66 Adipositas. Zur Psychosomatik der Oralität Nahrungsaufnahme als ein menschliches Grundbedürfnis ist vielfach determiniert. instinktiv-triebhafte (z.B. Saugreflex) psychologisch-interaktionelle (Einfluß von Stimmungen, Spannungen, Umgebunfsfaktoren auf das Eßverhalten) und physiologische Faktoren wirken zusammen und steuern das Eßverhalten (Steuerung des Prozesses zweischen Hunger und Appetit durch humorale, hormonelle und zentralnervöse Einflüsse; z.B. 88 Füllungszustand des Magendarmkanals, Blutzuckerspiegel, Konzentration von Adrenalin und Acetylcholin und Stimulierung höherer Hirnzentren über den lateralen Hypothalamus) Entwicklung: Nahrungsaufnahme und Fütterung haben eine zentrale interaktionelle Funktion. Die Fütterung ist begleitet vom Erlebnis, gehalten und gewärmt zu werden sowie Hautkontakt und Körperbewegung zu spüren; so vermittelt sich die Erfahrung einer fundamentalen zwischenmenschlichen Bezogenheit Eine gelungene orale Bedürfnisbefriedigung wird daher zur basalen Erfahrung von Fürsorge und Geborgenheit. Übermäßige orale Entbehrungen, Verwöhnung oder Willkür führen zu nachhaltigen Irritationen in den frühen Beziehungen, die die Entwicklung der psychischen Grundstruktur schwer beeinträchtigen können. "Oralität“ meint mehr als die Zufuhr von Nahrung. Die Erlebnisseite der Oralität ist die Lust, Bedürfnisspannungen durch Erwerb und Einverleibung zu befriedigen; daran knüpft sich das Besitzstreben als eine Art der menschlichen Grundbedürfnisse. die Oralität erhält im Verlauf der Entwicklung immer stärker eine selbstwertregulierende Funktion, die auf verschiedenen damit verbundenen narzißtischen Bedürfnissen beruht: abhängig zu sein, in seinen Bedürfnissen erkannt zu werden, in seiner Eigenart anerkannt und wohlwollend behandelt zu werden und schließlich in die Unabhängigkeit entlassen zu werden. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist eine maßgebliche Quelle des Selbstgefühls: Angemessene und zeitgerechte Enttäuschung der oralen und oral-narzißtischen Bedürfnisse stimuliert später den Prozeß der psychischen Verselbständigung und fördert Autonomie Orale Abhängigkeiten behindern dagegen die Selbständigkeit und bewirken tiefgründige Konflikte zwischen Bedürfnisbefriedigung und Anpassung, Autonomiestreben und Verlustängsten Umgekehrt können Störungen der Individuations- und Autonomieentwicklung die Oralität in besonderer Weise konflikthaft belasten. Solche Konflikte bilden die Grundlage dafür, spätere Konflikte um Individuation, Autonomie und Identität als orale Konflikte auszutragen. Diese Art der neurotischen Konfliktverarbeitung kann einerseits zur Entstehung von Somatisierungssyndromen oder Psychosomatosen führen und z.B. in eine Ulkuskrankheit münden. Andererseits bildet sie die Grundlage für die Entstehung der psychogenen Eßstörungen und des Suchtverhaltens. Anorexia nervosa (ICD-IO: F50.O) u.U. eine lebensbedrohliche Erkrankung v.a. bei jungen Mädchen krankhaftes Bedürfnis, das Gewicht zu vermindern; das Bedürfnis veranlasst aber nicht dazu, Hilfe zu suchen; erst die Folgen der "Magersucht", insbesondere der Gewichtsverlust oder die Amenorrhoe, führen die Patient innen zum Arzt. Bedrohlich sind die somatischen Komplikationen, die zum Tode führen können. Synonyme Bezeichnung: (Pubertäts-)Magersucht. Symptomatik "Magersucht": Furcht vor einer Gewichtszunahme, die nicht leidvoll erlebt und oft lange verheimlicht wird Es besteht ein bewußtes Schlankheitsideal, dem die Betroffenen nacheifern, und eine Störung des Körperschemas: Die Kranken fühlen sich dick, obwohl sie u. U. extrem untergewichtig sind. 89 Anorexie: verminderte Nahrungsaufnahme, dabei werden Hunger und Appetit zunächst bewußt unterdrückt, später stellt sich kein Hungergefühl mehr ein. Oft besteht auch Übelkeit und Widerwillen gegen das Essen, speziell gegen Fleisch. Als Grenzgewicht gilt 15 % unter dem Normalgewicht. Es kommen extreme Abmagerungen unter 30 kg vor. Induzierte Gewichtsabnahme: Durch Erbrechen, Abführmittel und Diuretika und übersteigerte körperliche Anstrengungen wird das Gewicht zusätzlich reduziert. Anlaß zur Einnahme von Abführmitteln sind, neben dem Wunsch nach Gewichtsabnahme, Verstopfungen; sie können psychosomatisch bedingt sein, sind später aber Folge unzureichender Nahrungsaufnahme im Verbund mit dem Laxanzienabusus. Häufig besteht ein Medikamentenmißbrauch, speziell mit Schmerzmitteln oder Diuretika. Bei den zumeist betroffenen jungen Mädchen kommt es zur sekundären Amenorrhoe; diese ist teils psychosomatisch, teils auf die Unterernährung zurückzuführen. Sie tritt schon in Anfangsphasen der Erkrankung auf, häufig noch bevor eine stärkere Gewichtsabnahme erkennbar ist. „Eßstörung: Im Rahmen der Magersucht beschäftigen die Betroffenen sich beständig mit dem Essen. Es wird das beherrschende Thema des Lebens. Manche sammeln heimlich Nahrungsmittel, andere vernichten sie. Statt selbst zu essen, kochen und backen sie für andere. Gelegentlich kommt es zu "Freßanfällen" mit anschließendem Erbrechen. Um das ohnehin geringe Gewicht niedrig zu halten, treiben manche Patientinnen übertrieben Sport, benutzen Treppen statt Fahrstühle oder entwickeln andere kalorienkonsumierende Bewegungsarten. Wenn anstelle des provozierten Erbrechens diese Form der Gewichtskontrolle im Vordergrund steht, spricht man auch von restriktiver Form der Anorexie. Typisches Auftreten und Verlauf bevorzugt bei Mädchen (nur 5 % der Betroffenen sind Jungen) beginnt meistens während der Pubertät, gelegentlich auch früher oder später. Erstes Zeichen ist oft die sekundäre Amenorrhoe. Die Eßstörung wird möglichst lange verheimlicht. Verlauf: Auffällig ist zuerst, daß die Betroffenen beginnen, das vorbereitete Essen bei Tisch abzulehnen und sich., z.B. in der Küche, selbst zu versorgen und heimlich zu naschen. Später wird das Eßproblem zum "Familienthema": Durch Zureden, Drängen, schließlich Hinauswerfen entsteht ein zunehmend aggressives Klima in der Familie. Die Mahlzeiten werden zur gemeinsamen Tortur. Mit der Gewichtsabnahme fällt schließlich auch das Erbrechen auf, während der Laxanzienabusus meistens sehr lange geheimgehalten wird. Das zwangartige bzw. suchtartige Wesen der Erkrankung läßt eine Krankheitseinsicht und einen offensichtlichen Leidensdruck lange vermissen. Erst bei starker Abmagerung wird meistens eine Behandlung akzeptiert. Dann sind durch das Untergewicht und die durch Erbrechen und Durchfälle bedingten Elektrolytstörungen (Kaliummangel) bisweilen schon sekundäre körperliche Störungen erkennbar: Kälte der Glieder, Odeme, Bradykardie, Herzrhythmusstörungen und Hypotonie. Im Zusammenwirken mit Schmerzmittelabusus entstehen außerdem Leber- und Nierenschädigungen. Bei 5-10% endet die Krankheit tödlich durch Kachexie, Infekte, Nierenversagen oder durch Suizid. Dabei steigt das Mortalitätsrisiko mit dem Verlauf: Rund ein Drittel der chronischen Anorektikerinnen verstirbt irgendwann infolge der Erkrankung. Ein Teil der Verläufe mündet in eine Schizophrenie. Psychodynamik konflikthafte Selbstfindung im Rahmen einer zugespitzt krisenbaften Pubertätsentwicklung. übergeordneter Konflikt: zwischen Veränderung und Festhalten am Bisherigen. 90 Typische Auslösesituation: das Gewahrwerden von Veränderungen in den verschiedensten Varianten (körperliches Wachstum, räumliche Trennungen, Wahrnehmung von Triebregungen und sexueller Attraktion, von familiären Veränderungen usw.) Entsprechend der Kernthematik der Pubertät, der Sexualität, wird dieser Konflikt im Felde des Sexualerlebens und der sexuellen Identität ausgetragen. Die Furcht vor dem "Dickwerden" ist eine Ablehnung der reifen, runden weiblichen Körperformen, stellvertretend für die Ablehnung der biologischen und sozialen Rolle der erwachsenen Frau. In der Anorexie äußert sich das Bedürfnis, die Kontrolle über den eigenen Leib, über die Reifung, Entwicklung und über die sexuellen und autonomen Bedürfnisse zu behalten, die sich in dieser Entwicklung verstärkt regen. Diese Ausübung der Kontrolle wird durch einen Mechanismus der Selbstspaltung ermöglicht: Im Körperselbst werden bedrohliche Anteile vom übrigen Selbst getrennt gehalten und auf diese Weise unter Kontrolle gehalten. Die Nahrungsaufnahme bedeutet, etwas in sich aufzunehmen, das von der Mutter kommt und einen wie die Mutter macht. Unbewußter Haß in der Beziehung zur Mutter bewirkt, nicht wie die Mutter werden zu wollen. Dieser Haß stammt zumeist aus einer mißlungenen lndividuations- oder Autonomieentwicklung. Ebenso kann eine negativ erlebte Rolle der Mutter in der Beziehung zum Vater, z.B. als Folge fortwährender gegenseitiger Entwürdigungen, das Frau-Sein verhaßt machen und die weibliche Sexualität als Beschmutzung und Demütigung erscheinen lassen. Diese Dynamik weist darauf hin, daß die ödipale Entwicklung gescheitert ist; darin liegt die Disposition zur Regression in orale Erlebnisweisen. Belastend wirken auch Konflikte aus der Vater-Tochter-Beziehung: Mangelndes Einfühlungsvermögen des Vaters in das Erleben des pubertierenden jungen Mädchens, verführerisches, werbendes Verhalten, abwertende Außerungen über Weibliches oder über den Körper der Tochter und speziell natürlich die Überschreitung von Intimgrenzen, sexuelle Annäherungen und Ubergriffe. Die Aversion gegen die erwachsene weibliche Sexualität wird auf die Oralität verschoben. Diese Regression wird durch Fixierungen der oralen Triebentwicklung und Störungen der Autonomieentwicklung gebahnt. Nicht zu essen ist ein Ausdruck ersehnter Autonomie. Die Qualen der Askese entlasten von Schuldgefühlen und erlauben es, die omnipotente Beherrschung des eigenen Körpers und seiner Triebe zu erleben. Sie geben ein Gefühl der Sicherheit in den Stürmen der Pubertät und später des jungen Erwachsenenalters. Persönlichkeiten in der Pubertät, besteht eine altersspezifisch labile Persönlichkeitsorganisation, die Adoleszentenkrise. Je nach Intensität und Weiterverarbeitung unterscheidet man: Die anorektische Reaktion: Die leichtere Form der Anorexie beschränkt sich auf Sexual- und Rollenkonflikte der altersspezifischen Adoleszentenkrise. Sie hat die beste Prognose und zeigt eine recht hohe Spontanremission. Die chronifizierende Anorexie: Patientinnen, bei denen die Anorexie mit einem tiefgehenden Haß verbunden ist, neigen zu Spaltungen ihrer Selbst- und Objekt- Repräsentanzen und zeigen eine Borderlinepathologie. Sie ist am stärksten durch Chronifizierung gekennzeichnet und hat die schlechteste Prognose. Bei anderen Patienten steht die Ablösung, Eigenständigkeit und das Bedürfnis nach Sicherheit im Vordergrund. Hier dominiert die narzißtische Dynamik. Die Anorexie ist häufig in eine recht typische Familiendynamik eingebettet: In den Familien wird Autonomie wenig respektiert; es bestehen keine eindeutigen Grenzen. Stattdessen versucht einer, den anderen zu dominieren. Die Erkrankung der Tochter neutralisiert einen schwelenden DominanzUnterwerfungs-Konflikt, der zwischen den Eltern oder zwischen Eltern und Kindern besteht. Statt der Patientin ihre Eigenständigkeit zuzugestehen, wird sie durch Schuldgefühle an die Familie gebunden. Mit ihrem Symptom und der Sorge aller um sie hält sie die Familie zusanunen; zugleich rächt sie sich unbewußt mit der quälerischen Verweigerung für das Opfer, das sie der Familie bringt. Diagnostik 91 durch das typische Krankheitsbild (Magersucht, Amenorrhoe, Verstopfung) an sich leicht zu stellen, sie wird aber dadurch erschwert, daß die Kranken die Krankheit verheimlichen und das Krankheitsbild verschleiern. Oft täuschen sie bewußt falsche Tatsachen vor. Differentialdiagnostisch Bulemie Appetitstörungen bei Depressionen (kein Bedürfnis, abzumagern) Eßstörungen im Zusammenhang mit einer Konversionsneurose, v.a. psychogenes Erbrechen Eßstörungen bei der Schizophrenie, z.B. verbunden mit Vergiftungswahn. Bei Erstmanifestation insbesondere im späteren Alter sind körperliche Erkrankungen, z.B. konsumierende Tumore oder Hirntumore, auszuschließen. Tritt die Magersucht im Anschluß an eine Geburt auf, so ist eine postpartale Hypophyseninsuffizienz (Sheehan-Syndrom) zu erwägen. Behandlung Ziel der Anorexiebehandlung: ein ausreichendes Gewicht (aber: die Angst vor der Gewichtszunahme ist damit nicht behoben und führt zum Rezidiv; plötzliche außeninduzierte Gewichtszunahmen bewirken sogar heftige Angstzustände und Entfremdungserlebnisse, die die Kranken gefährden. Klärung, Bearbeitung und Stabilisierung des persönlichen Hintergrundes. Indikation zur Behandlung: richtet sich nach dem körperlichen Zustand und nach der Behandlungsmotivation. Psychotherapie setzt voraus, daß die Patienten ein Minimalgewicht haben, das zwischen 35 und 40 kg liegt (Menschen mit weniger Gewicht, befinden sich in einem hirnorganisch bedingten Zustand verminderter emotionaler Ansprechbarkeit, in dem psychotherapeutische Maßnahmen wenig nutzen. Bei Körpergewichten unter 45 - 42 kg wird eine ambulante Behandlung wegen drohender körperlicher Komplikationen problematisch. Meistens psychosomatische KIinikbehandlung notwendig, um einen ausreichenden Allgemeinzustand und eine hinreichende Psychotherapiemotivation herzustellen. Um ein ausreichendes Gewicht zu erreichen, sind häufig Sonden- oder sogar Infusionsernährungen, Bettruhe und Sedierung erforderlich, grundsätzlich jedenfalls eine Überwachung der Nahrungsaufnahme, des Gewichtes, der Elektrolyt- und Eiweißindizes, gelegentlich ein Medikamentenscreening. psychotherapeutisches Vorgehen in Kliniken: konfliktorientierte und verhaltensorientierte Maßnahmen erlebnisorientierte Verfahren, z.B. Bewegungstherapie, Mal- und Musiktherapie, die das Körpererleben beeinflussen und bewußter machen. Je nach der Art und Schwere der Störung sind die Dauereffekte solcher Behandlungen sehr unterschiedlich. Im besten Falle gelingt es, eine solide Basis für eine erfolgversprechende psychotherapeutische Langzeitbehandlung aufzubauen. analytische Psychotherapie ist schwierig, solange die Kranken keinen tragfähigen Veränderungswunsch verspüren. es kommt meistens zur Krise, wenn die Patienten weiter an Gewicht verlieren. Oft entwickelt sich daraus ein Machtkampf um Essen und Autonomie. Die Behandlungen können daran scheitern. Wenn es geling, die darin enthaltenen Übertragungen zu bearbeiten, kann es zur Wende kommen. Familientherapie: Um die familiendynamischen Verklammerungen zu lösen, werden Anorexien seit langem durch Familientherapie behandelt. Dabei ist es das Ziel, die Autonomie der einzelnen Familienmitglieder zu fördern. Die Erfolge familientherapeutischer Interventionen, in schweren Fällen auch durch "paradoxe Interventionen", sind beträchtlich. 92 Verhaltenstherapie: z.B. Ernährungsberatung Diät Selbstkontrolle (Eß-Tagebücher, Planung der Mahlzeiten) Einüben von Alternativen zum Essen Exposure, z.B. bezüglich kalorienreicher Nahrung kognitive Einstellungsänderungen gegenüber der Nahrungsaufnahme. Selbsthilfe: Selbsthilfegruppen bieten Austausch mit gleich Betroffenen über den Umgang mit der Erkrankung und ihren Folgen, sie bieten Solidarität und haben dadurch eine supportive Funktion. Bulimia nervosa (ICD-IO: F50.2) Die Bulimie ("Ochsenhunger) ist erst seit wenigen Jahrzehnten gehäuft auftretende Erkrankung. Sie ist durch episodischen Heißhunger mit Freßattacken, anschließende Selbstvorwürfe und die Angst vor daraus entstehendem Kontrollverlust geprägt. Das Krankheitsbild ist gekennzeichnet durch Freßattacken: Heimliches Verschlingen großer Mengen kalorienreicher Nahrung, bevorzugt abends und nachts in stundenlangen "Sitzungen" beim Alleinsein, oft Pudding, Schokolade. Dabei erleben die Betroffenen einen Kontrollverlust über ihr Eßverhalten; anschließend Bauchschmerzen durch Überdehnung des Magens und meistens Erbrechen aus Angst vor Gewichtszunahme; das Gewicht kann auch durch Fasten oder Gebrauch von Abführmitteln konstant gehalten werden; als Folgeerscheinungen des Erbrechens entstehen Elektrolytstörungen (Hypokaliämie) mit Ödemen, Muskelschwäche, Obstipation, Herzrhythmusstörungen und Hypotonie sowie Zahnschäden durch die Einwirkung der Magensäure, vor allem an der Zungenseite der Zähne. Subjektiv leiden die Kranken darunter, daß sich "alles nur noch um das Essen dreht", es bestehen wegen der Eßstörung starke Schamgefühle und Selbstvorwürfe -> die Betroffenen ziehen sich aus ihren sozialen Kontakten mehr und mehr zurück und isolieren sich Die Kranken haben meistens annähernd Normalgewicht, das durch Erbrechen, zwischenzeitliches Fasten, durch Diät und Abführmittel gehalten wird oder leicht nach oben und unten schwankt. Es gibt aber auch Bulimie mit Unter- oder Übergewicht. Vorkommen und Verlauf Erkrankung der Spätadoleszenz und des frühen Erwachsenenalters Junge Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Häufig geht eine Anorexie voraus; manchmal wechseln auch anorektische und bulimische Phasen miteinander ab, dann spricht man von Bulimarexie. Im Verlauf wechseln Phasen mit gehäuften Freßattacken und Zeiten mit normalem Eßverhalten. Insgesamt verläuft die Krankheit chronifizierend. Wegen starker Schamgefühle wird sie lange geheimgehalten. Erst nach heftigem inneren Ringen wird ein Arzt aufgesucht. Psychodynamik und Persönlichkeit Die Psychodynamik der Freßattacken wird als durchbruchsartige Befriedigung sonst verleugneter Bedürftigkeit verständlich. Die Patientinnen neigen dazu, ihre Triebbedürfnisse zu unterdrücken, weil sie sich unbewußt gierig erleben und fürchten, durch ihre Gier die Liebe anderer zu verlieren. Die körperliche orale Gier ist Ausdruck seelischer Bedürftigkeit; Gier im Seelischen wird gleichsam: im körperlichen Bereich bekämpft. Auslösend für Freßattacken: meistens Enttäuschungen, die subjektiv als Objekt- und Liebesverlust erlebt werden. Diese Erlebnisse bewirken eine plötzliche Regression, durch die orale, anal-aggressive und auch infantil-sexuelle Impulse auftauchen. Sie werden in einer orgastischen Form gestillt: Die Nahrung wird 93 hineingestopft, zermalmt, verschlungen und herausgewürgt. Dieser "orale Orgasmus" dient nicht nur der Triebbefriedigung, er gibt auch das Gefühl, nicht allein und gut versorgt zu sein und sichert das Gefühl, existent zu sein, gegen Verlust- und Verlassenheitsangst. Er hat auch einen selbsttröstenden Aspekt: den Rückzug aus der enttäuschenden Welt in "verläßliches", verfügbares Verhalten. Er ist aber auch ein selbstschädigendes Verhalten, indem die Wut der Verzweiflung, verlassen zu sein, sich gegen die eigene Person wendet. Mit der Übersättigung stellen sich Schuldgefühle, quälende Selbstvorwürfe und Selbsthaß ein. Jetzt betrachten sich die Betroffenen aus der Sicht der verurteilenden inneren Objekte und richten den Haß gegen sich, weil sie im Eßanfall ihre Gier nicht beherrschen konnten. Dabei gilt die Verachtung den Triebbedürfnissen, mehr aber noch der Bedürftigkeit nach Liebe und Zuwendung. Im Selbsthaß schützen sich die Betroffenen davor, die Kontrolle über ihre Bedürftigkeit endgültig zu verlieren und sich gleichsam selbst auf Dauer aufzugeben. Psychodynamik der Persönlichkeit: keine eindeutigen Unterschiede gegenüber der Anorexie: Auch bei der Bulimie spielen Probleme des weiblichen Körpererlebens - stellvertretend für die weibliche Identität und die Rolle als heranreifende Frau - die zentrale Rolle bei der Krankheitsentstehung. Allerdings ist das spätere Auftreten der Bulimie im Vergleich zur Anorexie damit verbunden, daß auch als Krankheitsanlaß Probleme der späteren Lebensphase auftreten: Bei der Bulimie scheinen Probleme der Bindung im Vordergrund zu stehen, bei der Anorexie die der Loslösung. Bindungskonflikte sind z.B. solche zwischen Hingabewunsch einerseits und andererseits Hingabeangst, die im Einzelfall sehr unterschiedliche Akzente haben kann: Angst vor Selbstverlust, vor Selbstaufgabe, vor Kontrollverlust, aber auch Angst vor Ablehnung, Kritik, Kränkung usw. Diese Dynamik scheint bei der Bulimie am häufigsten im Rahmen einer narzißtischen Störung vorzukommen. Bulimische Reaktionen treten aber auch als Neurosen auf höherem Struktumiveau auf, während sich schwere Verlaufsformen als Neurosen auf Borderlineniveau entlarven können. Diagnose und Behandlung Die Bulimie ist manchmal schwer von der Anorexie abzugrenzen, zumal es Übergänge zwischen beiden Erkrankungen gibt, ansonsten ist das Krankheitsbild leicht zu erkennen. Die Behandlung ist oft schwierig, weil die Betroffenen lange warten, bis sie Hilfe suchen, und die Symptomatik dann chronifiziert ist. Oft ist deshalb eine stationäre Behandlungseinleitung sinnvoll, in der symptomatische (verhaltensorientierte) und konfliktzentrierte (analytische) Ansätze verknüpft werden können. Bezüglich der ambulanten Behandlung gelten die bei der Anorexie dargestellten Aspekte. Psychogene Adipositas (ICD-IO:F54, E66) Unter psychogener Adipositas versteht man eine Übergewichtigkeit um mehr als 30 Prozent des Idealgewichts durch übermäßige Nahrungsaufnahme als Folge einer neurotischen Entwicklung. Das Idealgewicht ist das Gewicht mit der höchsten Lebenserwartung.Es ist von Größe, Alter, Geschlecht und Körperbau abhängig. Bei Frauen um 25 Jahre mit mittelschwerem Körperbau beträgt es bei 160 cm Körpergröße 50 - 55 kg, bei 170 cm 56 - 63 kg; entsprechend bei Männern mit 170 cm 60 - 66 kg, bei 185 cm 72 - 79 kg. Zur Groborientierung dient das Normgewicht nach Broca; Gewicht = Körpergröße (cm) - 100 (für Männer) bzw. - 90 (für Frauen). Synonyme Bezeichnungen: Fettsucht, Obesitas und Hyperorexie. Häufigkeit: alle Altersgruppen beider Geschlechter Verbreitung: soziale Konnotation des Dickseins spielt eine Rolle: In manchen Ländern bedeutet es, "gewichtig" zu sein, in manchen Epochen "schön" zu sein. Bei der psychogenen Adipositas kommt das Übergewicht dadurch zustande, daß mehr Kalorien aufgenommen werden als verbraucht werden. Das Essen richtet sich dabei nach einer inneren Bedürfnislage und nicht nach dem tatsächlichen Bedarf. Dieses Mißverhältnis wird subjektiv meistens aber gar nicht bemerkt. Symptomatik Hyperorexie: Rauschartige, anfallsartige, fortwährende oder auf bestimmte Situationen (Alleinsein) oder Zeiten (nachts) begrenzte übermäßige Nahrungsaufnahme; 94 - - psychisch bestehen teilweise recht widersprüchliche Auffalligkeiten: innere Unruhe, Getriebenheit, Betriebsamkeit einerseits, dysphorische Stimmungen, innere Leere, Antriebsarmut und Leistungsschwäche andererseits. Das soziale Verhalten wird oft von einer wahren Kontaktsucht beherrscht, wobei die Kontakte oberflächlich bleiben, oder es besteht eine auffällige Kontaktscheu. Folgeerscheinungen können Störungen des Fettstoffwechsels, Gefäßsklerose, Hypertonie, Diabetes mellitus sowie Bindegewebsschwäche und orthopädische Beschwer- den sein. Psychodynamik entspricht der von Depressionen bei narzißtischen Persönlichkeiten -> es bestehen Größenphantasien und unrealistische Erwartungen an andere Menschen, die mit Fehleinschätzungen der eigenen Person verbunden sind. Fettsüchtige unterschätzen oft den Aufwand an Kraft und Ausdauer, der erforderlich ist, um Ziele zu erreichen oder Kontakte zu anderen Menschen herzustellen. Schon das Ausbleiben eines Erfolges erscheint ihnen als Versagung, selbst wenn sie sich gar nicht aktiv um Erfolg bemüht haben. Wenn Selbstzweifeln bezüglich der sexuellen Rollenidentität hinzukommen, werden solche Versagungen als Beweis gewertet, als Junge/Mann bzw. als Mädchen/Frau nicht begehrenswert zu sein. Disposition: orale Verwöhnungen in der Kindheit als Ersatz für emotionale Zuwendung: Oft handelt es sich um Menschen, die gewohnt sind, daß ihnen bei jedem Kummer "der Mund gestopft" wird; dahinter steht das Schuldgefühl von Eltern, die glauben, z.B. wegen eigener Probleme dem Kind nicht genug zu geben oder geben zu können. Oft sind Adipöse auch Menschen, die durch Überprotektion zur Bequemlichkeit und Unselbständigkeit erzogen wurden, denen man alle Hürden aus dem Weg räumte und die es dann vor allem als Jugendliche unbewußt als eine Zumutung betrachten, daß sie sich bewähren und für ihre Ziele und Interessen kämpfen müssen, und die dann bei Niederlagen verzagen. Auffällig ist die familiäre Häufung: Mag dabei auch ein Anlagefaktor in Betracht kommen, so sind es doch "orale" Beziehungsstile, die Gleichsetzung von Zuwendung mit Fütterung, die dabei maßgeblich sind. Symptomauslösend wirken v.a. Objektverluste, Trennungen, Kränkungen, Enttäuschungen im persönlichen und im beruflichen Bereich. bei Jugendlichen: häufig Trennungen vom Elternhaus und Enttäuschungen bei der Partnersuche beim Alterwerden die Enttäuschung über den Verlust der Jugendlichkeit. Oft auch Leistungsanforderungen wie z.B. Prüfungen Das Essen ist einerseits ein Ersatz für verlorene oder nicht erlangte Liebe, Bewunderung und Bestästigung - eine Selbsttröstung, die von der enttäuschenden Umwelt unabhängig macht. Im Übermaß des Essens äußert sich aber andererseits bereits die Innenwendung der gegen den enttäuschenden, kränkenden anderen gerichteten Aggressivität. Selbstdestruktivität zeigt sich dann vollends in den Folgen: in der unförmigen Körpergestalt, der Unattraktivität oder dem sogar abstoßenden Äußeren. Diagnose und Behandlung Diagnose: kann dadurch erschwert werden, daß die Betroffenen keine Vorstellungen von einem realistischen Kalorienbedarf haben und subjektiv glaubhaft versichern, nicht besonders viel zu essen. Differentialdiagnoe: endokrine Störungen (allerdings sind sie viel seltener als angenommen: Über 90% Prozent der Fettsüchtigen leiden an einer psychogenen Eßstörung) Behandlung auf jeden Fall versuchen, durch Diät und Förderung von Bewegung, Aktivität und Kontakten beratend und anleitend Einfluß zu nehmen. 95 analytische Therapie: zielt auf die Aufarbeitung der narzißtischen Defizite. Verhaltenstherapie: fördert die Selbstkontrolle des Essens, z.B. durch genaue Buchführung über die Nahrungszufuhr. Besondere Bedeutung haben die Selbsthilfegruppen für Eßgestörte ("Overeaters anonymous") 11.2 Suchtverhalten Abhängigkeits- und Suchterkrankungen sind durch einen anhaltenden Drang gekennzeichnet, bestimmte Substanzen zu konsumieren oder bestimmte Handlungen, insbesondere Spiele, auszuführen. Bevorzugte Suchtmittel sind Alkohol, Medikamente oder psychotrope Drogen. Die Abhängigkeit zeigt sich im suchtartigen Verlangen. ICD-I0: Abhängigkeitssyndrom F10.2 von Alkohol F11.2 von Opioiden, F12.2 von Canabinoiden F13.2 von Sedativa oder Hypnotika F19.2 von multiplem Substanzgebrauch F55.2 Mißbrauch von Analgetika. Stoffgebundene Abhängigkeit Der Konsum von Stoffen, die anregend oder entspannend auf das Erleben einwirken, ist weit verbreitet (Rauchen, Trinken, Tabletteneinnahme usw.) -> Er wird unter bestimmten Voraussetzungen von der Gesellschaft sogar legitimiert oder zumindest geduldet. So ist die Einnahme von Medikamenten als medizinische Behandlungsmaßnahme unter Einhaltung bestimmter Regeln ein gewünschtes soziales Verhalten. Es wird zwischen normalem Gebrauch einer Substanz, chronischem Mißbrauch und krankhafter Abhängigkeit unterschieden. Mißbrauch: ein pathologischer, regelmäßiger Konsum einer Substanz, der trotz negativer Folgen im sozialen oder körperlichen Bereich fortgeführt wird, weil auf ihre psychische Wirkung nicht mehr verzichtet werden kann (z.B. um leistungsfähig zu bleiben, um gute Stimmungen herbeizuführen oder um Ängste zu vermeiden) beruht auf einer Gewöhnung und führt zur psychischen Abhängigkeit. So wird z.B. Alkoholmißbrauch durch das Bedürfnis gekennzeichnet, täglich zu trinken. Abhängigkeit: meint eine körperliche Abhängigkeit Sie ist durch ein unbeherrschbares Verlangen und chronischen Mißbrauch gekennzeichnet. Es werden immer größere Mengen des Suchtmittels erforderlich, um den gewünschten Effekt zu erreichen. Zugleich kann der Konsum nicht mehr ohne Entzugssymptome wie Angst, Zittern, Unruhe, Delir usw. ausgesetzt werden. Abhängigkeit ist mit körperlichen, seelischen und sozialen Gefahren verbunden. Komplikationen sind u.a. psychischer Verfall (Leben für die Sucht), sozialer Abstieg, organische Schäden (z.B. Lebererkrankungen, Alkoholpolyneuritis) und hirnorganische Störungen (z.B. drogen induzierte Psychosen). Formen des Suchtverhaltens häufigste Suchtmittel in unserem Kulturraum: Nikotin, Koffein, Alkohol und Barbiturate Alkoholabhängigkeit gehört zu den häufigsten chronischen psychischen Störungen in Deutschland und betrifft 2-3 % der Bevölkerung. Hinzu kommen psychotrope Drogen, speziell Heroin und Kokain. zunehmend findet in den letzten Jahrzehnten die nicht stoffgebundene Sucht z.B. als Spielsucht Verbreitung. Alkoholismus 96 Alkoholmißbrauch: Inadäquate Verwendung von Alkohol, z.B. im Straßenverkehr, mit oder ohne Rauschzustand Alkoholabhängigkeit (chronischer Alkoholismus): Chronisch-progrediente psychische und/oder körperliche Abhängigkeit mit Rauschzuständen, Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen sowie zunehmenden sozialen und körperlichen Schäden Art des Trinkens: Alpha-Typ (Konflikttrinker): psychisch abhängig, kein Kontrollverlust Beta-Typ {Gelegenheitstrinker): nicht abhängig, kein Kontrollverlust Gamma-Typ (Süchtige Trinker): psychisch, später körperlich abhängig, Kontrollverlust, aber abstinenzfähig Delta-Typ (Spiegel- oder Gewohnheitstrinker): psychisch abhängig, kein Kontrollverlust, nicht abstinenzfähig Epsilon-Typ (Episodische Vieltrinker): psychisch abhängig, Kontrollverlust, abstinenzfähig Gamma-Delta-Mischtyp Faktoren des Suchtverhaltens Die umfangreichen speziellen Fragen der Epidemiologie, Phänomenologie, des Verlaufes, der Folgen und der Behandlung von Abhängigkeits- und Suchterkrankungen sind das Arbeitsgebiet der Psychiatrie und werden in den psychiatrischen Lehrbüchern dargestellt. Hier werden lediglich einige Aspekte der Psychodynamik erläutert. Dabei muß beachtet werden, daß Suchterkrankungen nicht monokausal betrachtet werden können. Mit den psychodynamischen Faktoren wirken sehr verschiedene andere Faktoren zusammen wie lernpsychologische Faktoren, z.B. die positive Verstärkung des Suchtverhaltens durch die entspannende und anregende Wirkung der Suchtmittel, die soziale Situation des einzelnen und der Gesellschaft, die Verfügbarkeit von Suchtmitteln; dazu gehört auch die Sorgfalt im ärztlichen Umgang mit Medikamenten, kulturelle und familiäre Normen, z.B. die Bewertung von Suchtverhalten, (negative) Vorbilder, genetische Dispositionen, z.B. die genetisch determinierte Metabolisierung des Alkohols. Zur Psychodynamik des Suchtverhaltens Sucht: dient der Verminderung innerer Spannungen, die aus verschiedenen Quellen stammen können. Häufige Ursachen: quälende Gefühle der inneren Leere, der Sinnlosigkeit und Langeweile, Erlebnisse der Einsamkeit und Verlassenheit, Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit, Ängste und Konflikte, Enttäuschungen und Sorgen. Mit Hilfe von Alkohol, Medikamenten, Drogen oder Spiel ersetzen die Betroffenen itmere Spannung, Unlust, Gekränktheit oder Wut durch Entspannung oder Euphorie. Das kann einen Teufelskreis in Gang setzen, der über die Gewöhnung, den Mißbrauch und die Abhängigkeit zur sozialen Isolierung und Desintegration führt und immer neue Spannungen schafft. Sie müssen durch zunehmenden Suchtmittelkonsum oder gesteigertes Suchtverhalten betäubt werden. Die Folge sind eine Einengung des Verhaltens sowie eine Verarmung der Persönlichkeit und des sozialen Lebens. Ängste, Leeregefühle und Konflikte können die vielfältigsten psychodynamischen Wurzeln haben => den Suchterkrankungen liegt kein einheitlicher Persönlichkeitstyp zugrunde. Gemeinsamkeit in der Art der Verarbeitung der verschiedenen Primärkonflikte. Die Neigung, Problemen passiv zu begegnen, statt sie aktiv anzugehen, und sich aus der Welt enttäuschender und quälender Wahrnehmungen in eine Phantasiewelt zurückzuziehen, in der alles gelöst oder beherrschbar erscheint => Suchtverhalten ist ein narzißtischer Rückzug als Versuch der Problembewältigung, der auf einer Störung der Autonomieentwicklung beruht (Seelische Spannungen, Konflikte, Kränkungen und Enttäuschungen bewirken bei den Betroffenen eine Verunsicherung des labilen Selbstgefühls. Sie werden von ihnen so erlebt, als seien sie von ihrem versorgenden Objekt verlassen worden. Sie rufen unbewußt eine unstillbare Sehnsucht nach Menschen wach, die ihre Sicherheit wiederherstellen, z.B. indem sie die Spannung, die Sorge mindern) -> Das Suchtmittel oder das Spiel werden zum Ersatz für ein stützendes narzißtisches Selbstobjekt. Sie sind in einem psychischen Sinne gleichsam stets verfügbar. Das Suchtverhalten stellt damit die 97 verlorene Sicherheit wieder her, die im Konflikterieben, durch Kränkungen oder Enttäuschungen verloren gegangen ist. -> Es ist also ein Versuch der Selbstheilung. Der selbstdestruktive Aspekt der Sucht zeigt, wie destruktive Regungen aus Enttäuschung über ausbleibende Hilfe im Symptom gegen die eigene Person gewendet werden. Zur Psychotherapie Suchtbehandlungen erfordern umfassende und gestufte Behandlungsprogramme, die in der Regel in Spezialkliniken durchgeführt werden. Vorrangig ist die Entgiftung, die Kontrolle der Abstinenz, die Strukturierung des Alltags und die Regulierung der sozialen Situation der Betroffenen. Dabei sind verhaltenstherapeutische Prinzipien ebenso zu berücksichtigen wie psychodynamische und familienbezogene. Eine primär ambulante Psychotherapie kommt in aller Regel nicht in Betracht. Eine einmal etablierte Alkohol- oder Tablettensucht ist im allgemeinen durch Konditionierungen dermaßen verfestigt, daß die Kranken den Belastungen einer solchen Behandlung nicht standhalten. solange die Abhängigkeit einen Ausweg aus solchen Belastungen bietet. Oft verheimlichen sie dann die Sucht und führen eine Art Doppelleben zwischen Therapie und Alltag. Andererseits kann der Verzicht auf das Suchtverhalten oftmals erst das Ergebnis einer wirkungsvollen Aufarbeitung der Primärkonflikte sein. Dieses Dilemma kann im stationären Rahmen oft erfolgreicher gehandhabt werden als unter ambulanten Bedingungen 11.3 Autoaggressives Verhalten Autoaggressives Verhalten, d.h. absichtliche Selbstschädigung, hat im Alltag der psychotherapeutischen Medizin eine zunehmende Bedeutung. Wegen der Dramatik der damit verbundenen Interaktionen sind diese Störungen außerordentlich eindrucksvoll. Man kann zwischen offen und heimlich autoaggressivem Verhalten unterscheiden. Offene Selbstbeschädigung bei Borderlinesyndromen am häufigsten als Symptom im Rahmen eines Borderline-Syndroms oder posttraumatischer Borderlinestörungen auf, wenn die Patienten unter inneren Druck geraten und die damit verbundenen Spannungen nicht bewältigen können -> Zur Spannungsabfuhr verletzen solche Patienten sich selbst. Am häufigsten Schnittwunden an den Unterarmen bei Keine Verheimlichung der Selbstverletzung, oft werden die Verwundungen anschließend offen zur Schau getragen Meistens suchen Betroffene Hilfe und lassen sich angemessen behandeln. Dieses Verhalten wird zwar oft als parasuizidale Handlung bezeichnet, es ist aber meistens nicht mit suizidalen Absichten verbunden. Die Patienten berichten glaubhaft, daß sie sich nicht umbringen wollten, sondern nur Ruhe und Entspannung gesucht hätten und sich tatsächlich anschließend auch besser fühlten. Unbewußt scheinen solche Handlungen die "Besetzung" der Haut als Abgrenzungsorgan zu fördern und dadurch Verschmelzungswünschen und -ängsten entgegenzuwirken. Das geschieht insbesondere, wenn die Sehnsucht nach anderen Menschen überhand nimmt und die damit verbundene Verzweiflung nicht verarbeitet werden kann. Selbstbeschädigungen treten demnach auf, wenn bei Ichschwachen Menschen die Toleranz für Kränkungen und Trennungen durch regressive Prozesse geschwächt wird. Im Alltag sind das bevorzugt Kränkungen oder Trennungen in Partnerschaften. Man beobachtet Selbstbeschädigungen aber auch besonders häufig im Rahmen analytischer Psychotherapien oder bei Klinikbehandlungen, in denen es im allgemeinen zu stärkeren regressiven Prozessen kommt. So wirkt die Trennung vom Psychotherapeuten ebenso auslösend für Selbstbeschädigungen wie Konfrontationen durch Mitpatienten oder durch das Pflegepersonal auf einer Psychotherapiestation. Behandlung: 98 - - - Selbstschädigendes Verhalten erfordert in der Borderlinebehandlung besondere Aufmerksamkeit. Im Zentrum der analytischen Behandlung: die Erhellung der auslösenden Gefühle und ein einfühlender, bestätigender Umgang mit den sichtbar werdenden Verletzungen und Verlassenheitsgefühlen. Ziel: eine angemessenere Bewältigung der dahinterstehenden Spannungen. Dazu werden vorausplanend Verhaltensmuster erarbeitet, z.B. wie der Patient sich im Falle überwältigender Selbstbeschädigungsimpulse verhalten und an wen er sich wenden kann. Im Rahmen einer Verhaltenstherapie können neben solchen Strategien auch Belohnungs- und Bestärkungstechniken für günstiges Bewältigungsverhalten eingesetzt werden. Kritisch kann es sich allerdings auswirken, wenn der Fortgang der Behandlung an die Bedingung geknüpft wird, daß die Selbstverletzung beherrscht bzw. unterdrückt werden kann. Heimliche Selbstbeschädigung: Artefizielle Störungen (ICD-1O: F68.1) Das gemeinsame Merkmal des heimlichen selbstbeschädigenden Verhaltens, zu dem als Sonderform auch das Münchhausen-Syndrom gehört, ist die glaubhafte Vortäuschung von Erkrankungen, die, z.B. durch Selbstverletzung, heimlich selbst herbeigeführt werden. Besonders häufige Selbstverletzungen: Manipulationen an der Haut: Kratzen, Hautritzen, Zufügen oberflächlicher Schnittwunden, Verbrennungen, Verätzungen, Verbrühungen, Störung von Wundheilungen durch Manipulationen, Injektionen von Substanzen unter die Haut mit Abszeßbildungen, Einnahme oder Injektion von symptombildenden Substanzen, z.B. Allergene bei bekannter Allergie, herzrhythmusstörende und gerinnungshemmende Medikamente, Vortäuschung von Schmerzen, insbesondere Bauchschmerzen, und Fieber (durch Manipulation des Thermometers oder MedIkamente); im übrigen können Vortäuschungen in allen medizinischen Fachgebieten vorkommen. z.T. wird die medizinische Vorgeschichte gefälscht -> durch gleichzeitig bestehende, tatsächliche Erkrankungen kann die Situation völlig undurchschaubar werden -> Nicht selten werden dann invasive diagnostische Maßnahmen und sogar Operationen durchgeführt. Auffällig: eine gewisse Gleichgültigkeit vieler der Patienten gegenüber dem Krankheitsverlauf und den Befunden -> Es entwickeln sich emotional äußerst belastende, verstrickte Arzt-Patient-Beziehungen. Sie sind durch Verzweiflung, Selbstzweifel, Verheimlichen, Lügen und daraus entstehende Aggressionen und letztlich Entwertungen und Behandlungsabbrüche gekennzeichnet -> Ebenso schwierig sind die Beziehungen zum Pflegepersonal bei Behandlungen in Kliniken. Vorkommen: bei Frauen deutlich häufiger vor als bei Männern Oft sind Angehörige der medizinischen Berufe betroffen (z.B. Krankenschwestern). Disposition und Psychodynamik narzißtische Borderline-Persönlichkeiten und posttraumatische Persönlichkeiten überwiegen. In der Lebensgeschichte findet man eine Häufung realer Traumatisierungen wie schwere Krankheiten und Alkoholismus in der Familie oder Trennungen und Heimaufenthalte. Besonders häufig sind aggressiver und sexueller Mißbrauch. Psychodynamisch: es besteht eine masochistische Verarbeitung aggressiver und destruktiver Impulse, Affekte und Phantasien, die nicht verarbeitet werden können und stattdessen gegen das eigene Selbst gerichtet werden. Symptomauslösend: Spannungen und Konflikte im Zusammenhang mit Verlusterlebnissen und Trennungen, Kränkungen und Enttäuschungen. 99 Diese werden wie eine Wiederholung der traumatisierenden Erfahrungen erlebt. Das zentrale Motiv für Wut und Aggression ist dabei die Verlassenheit in dem Gefühl, ausgeliefert zu sein, und die damit drohende Desintegration. Ähnlich wie bei der offenen Selbstbeschädigung berichten die Patienten, daß sie sich schneiden, um sich besser zu spüren, und daß sie sich beruhigt und lebendig fühlen, wenn sie sich verletzt haben. Darin äußert sich die unbewußte Funktion der Selbstschädigung: Sie vermittelt eine Grenz-Erfahrung, stützt die Selbstkohäsion und schützt vor Verschmelzung. Das zeigt eindrücklich die Identitätsdiffusion als ein Merkmal der Borderlinepersönlichkeit, d.h., daß diese Patienten keine stabile Vorstellung davon haben, ein abgegrenzter Mensch zu sein, und das Gefühl für sich selbst verlieren, wenn sie sich verlassen und bedroht fühlen. Die Selbstverletwng bewirkt dann eine Spaltung des Ichs bzw. des Selbst in einen handelnden und einen erleidenden Teil, ähnlich wie bei der Hypochondrie und der Derealisation. Verlauf die Manipulationen werden zunehmend dranghaft und lassen sich willensmäßig schließlich nicht mehr kontrollieren. Sie werden in einem dissoziativen Zustand durchgeführt, so daß die Betroffenen in einer bestimmten Weise selbst davon überzeugt sind, die vorgetäuschten Krankheiten zu haben. Wenn die Manipulation aufgedeckt wird, entstehen kritische Situationen: Sie wird vehement bestritten, u.U. wird mit Suizid gedroht. Diagnostik Klassifizierung: "vorgetäuschte Störungen" (facticious disorders) (DSM-IV) oder "artefizielle Störungen" (ICD-lO) Entwicklungsdiagnostisch: alle Strukturebenen betroffen Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Adoleszentenkrisen treten bisweilen passagere, leichtere autoaggressive Störungen im Sinne von reaktiven Störungen auf. Häufiger handelt es sich aber, zumindest bei den anhaltenden, zur Chronifizierung neigenden Verläufen, um Patienten mit Borderline-Strukturen und posttraumatischen Persönlichkeiten, für die dissoziative Zustände und eine gestörte Impulskontrolle geradezu typisch sind. In der Vorgeschichte fallt auf, daß die Symptome entweder schon mehrfach und ohne nachhaltigen Erfolg intensiv untersucht und behandelt wurden oder daß schon vorher einmal Behandlungen wegen eines sehr unklaren Krankheitszustandes stattgefunden haben oder gegen ärztlichen Rat abgebrochen wurden. Auffällig ist die große Bereitschaft, sich invasiven Untersuchungen zu unterziehen, ggf. auch eine Häufung vorangegangener Eingriffe (Narben!). Auffallig ist in diesem Zusammenhang auch eine manchmal aggressiv fordernde Haltung der Kranken. Wegweisend kann die genaue Beachtung der Lokalisation von Symptomen sein, z.B. treten induzierte Abszesse in Körperregionen auf, die mit der Hand erreichbar sind. Differentialdiagnoe: Simulation (verschafft einen bewußten Vorteil, kann jederzeit willentlich beendet werden) offenes selbstschädigendes Verhalten wahnbedingte Selbstbeschädigungen bei schizophrenen Psychosen. Münchhausen-Syndrom Vortäuschung von Krankheitssymptomen wie bei anderen artefiziellen Störungen. Doktor-Shopping Pseudologie: besondere Variante: Syndrom Münchhausen by proxy –>eine andere Person, v.a. ein Kind oder ein Pflegebedürftiger wird manipuliert, indem z.B. heimlich Medikamente verabreicht werden, die zu Funktionsstörungen führen und Krankheitszustände vortäuschen. Behandlungsprobleme bei artefiziellen Störungen Entscheidend für die Behandlung der heimlichen Selbstbeschädigung ist es, ob es gelingt, sich mit den Patienten darauf zu einigen, daß sie überhaupt eine Behandlung brauchen. 100 Oft wirkt das Eingeständnis von Heimlichkeit und Täuschung dermaßen beschämend, daß eine psychotherapeutische Behandlung nicht zustandekommt. Deshalb nützt es nichts, den Patienten nach der Entdeckung der Täuschungen damit unvorbereitet zu konfrontieren. Besser: die Entdeckung zunächst nur beiläufig erwähnen und über andere Themen einen Kontakt und eine Vertrauensbeziehung herstellen -> Man gelangt sonst unweigerlich in ein "kriminalistisches" Klima, in dem kein Vertrauen entsteht. Stattdessen wird man häufig "zweigleisig" arbeiten müssen, d.h. konservative medizinische Behandlungen neben den Gesprächen fortzusetzen. Antidepressive oder niederdosierte neuroleptische Medikation kann zusätzlich entlastend wirken. Wichtig ist der stützende und verstehende Umgang mit der Schamproblematik. Gelingt es, das Vertrauen zu gewinnen, ergibt sich die Indikation zur üblichen psychotherapeutischen Behandlung. 11.4 Abweichendes Sexualverhalten Homosexualität Homosexualität wird heute nicht mehr als Krankheit betrachtet, sofern eine homosexuelle Geschlechtsidentität besteht. Man spricht in diesem Sinne auch von Neigungshomosexualität. Sie ist eine der möglichen Varianten der sexuellen Orientierung. 3 bis 5 Prozent der Erwachsenen haben eine homosexuelle Sexualpräferenz. Unterscheidung: homosexuelle Neigung, homosexuelles Verhalten und homosexuelle Lebensweise. Aus dem Spannungs feld zwischen heterosexueller Norm und homosexueller Orientierung können Konflikte entstehen, die zu seelischen Störungen disponieren: Bereits in der Kindheit kann die im allgemeinen heterosexuell orientierte Erziehung bei latent gespürter homosexueller Neigung unlösbare Identitätskonflikte erzeugen. Sie können zu neurotischen, speziell zu narzißtischen Störungen disponieren. Im Zusammenhang mit dem homosexuellen "Coming out", d.h. dem Beginn einer offen homosexuellen Lebensweise, aber auch in anderen Schwellensituationen des Lebens können situative Konflikte um die homosexuelle Orientierung auftreten und reaktive Störungen mit Depressionen und Entfremdungserlebnissen hervorrufen. Die Geschlechtsorientierung urnfaßt bei allen Menschen ein Spektrum von Möglichkeiten, das beim einzelnen unterschiedlich breit angelegt ist. Homosexuelles Verhalten kann daher auch bei überwiegend heterosexueller Geschlechtsidentität vorkommen. Von der Neigungshomosexualität ist die Konflikt-Homosexualität überwiegend heterosexueller Menschen abzugrenzen. Sie entsteht aus Konflikten, die zumeist im heterosexuellen Bereich liegen und durch homosexuelles Verhalten abgewehrt werden. Häufig handelt es sich dabei um Bindungs-, Hingabe- oder Sexualkonflikte. Sie bewirken, daß die Betroffenen im homosexuellen Akt Anlehnung an das eigene Geschlecht suchen, um Defizite ihres sexuellen Selbstgefühls aufzufüllen. Perversionen (Sexuelle Verhaltensstörungen) Perversionen sind Abweichungen in bezug auf die Objekte oder Handlungen, die zur sexuellen Erregung und Befriedigung verwendet werden. Synonyme Bezeichnungen und Abgrenzungen: Perversionen werden auch als sexuelle Verhaltens störungen, sexuelle Deviationen, Paraphilien (DSMlII) bezeichnet. ICD-1O: F65 Störungen der Sexualpräferenz. Differentialdiagnose: funktionelle Sexualstörungen, chromosomal begründete Sexualstörungen, Störungen der sexuellen Identität (ICD-10: F64 Störungen der Geschlechtsidentität): Transvestitismus, Transsexualismus 101 Wesen und Formen der Perversionen Perverse Phantasien und Handlungen sind in mehr oder weniger starkem Maße Teil der "normalen" Sexualität und steigern bei vielen Menschen die Erregung, die sich schließlich im genitalen Akt entläd. Das Wesen der Perversion als Verhaltensstörung liegt darin, daß die Betroffenen sich hauptsächlich von Objekten oder Handlungen sexuell erregt fühlen, die üblicherweise in der Sexualität eine beigeordnete oder auch gar keine Rolle spielen. Von einer Perversion spricht man nur, wenn der Betroffene darauf angewiesen ist, daß das Objekt der Perversion vorhanden ist, oder wenn die perverse Handlung nötig ist, um eine sexuelle Befriedigung zu erreichen. Neuerdings wird der Begriff sogar noch weiter eingeschränkt und als pervers nur noch eine sexuelle Beziehung bezeichnet, bei der einem anderen eine sexuelle Handlung aufgezwungen wird. Andere Formen werden daregen als kreative Ausdrucksformen des Sexuellen betrachtet und als Neosexualität bezeichnet. Betroffen sind überwiegend Männer. Ein primäres Krankheitsgefühl fehlt im allgemeinen. Perversionen sind für die Betroffenen nach Abklingen der Erregung oft aber beschämend oder verursachen Schuldgefühle und werden deshalb verborgen. Bei nicht-perversen sexuellen Akten bestehen bei den Betroffenen meistens funktionelle Sexualstörungen. Leidensdruck, ggf. auch reaktive Ängste und Depressionen entste- hen durch die Folgen von Perversionen in der Partnerschaft, durch Ächtung in der Gesellschaft und ggf. durch Konflikte mit dem Gesetz. Fetischismus: Sexuelle Erregung durch Fetische wie Kleidung oder Schuhe; wenn die Kleidung des anderen Geschlechts benutzt wird, um sich zu verkleiden, spricht man von Transvestitismus. Dieser wird als Perversion bezeichnet, wenn das Verkleiden der sexuellen Erregung dient. Verkleidet sich jemand aber, um die Erfahrung zu machen, wie er sich in der Rolle des anderen Geschlechtes fühlt, handelt es sich um eine sexuelle Identitätsstörung. Pädophilie: Sexuelles Verlangen nach Kindes des anderen oder des eigenen Geschlechts, die die Pubertät noch nicht erreicht haben. Dabei werden meistens keine manifest sexuellen Handlungen ausgeführt, sondern die Aktivität begrenzt sich auf das Anschauen oder Streicheln. Von der Pädophilie ist der sexuelle Mißbrauch von Kindern zu unterscheiden, bei dem es zu manifesten sexuellen Manipulationen kommt. Exhibitionismus und Voyeurismus: Exhibitionisten erregen sich, indem sie vor zumeist überraschten Unbeteiligten ihr Glied herzeigen; es handelt sich also in der Regel um männliches Verhalten. Voyeure erreichen sexuelle Erregung, indem sie heimlich beobachten, wie andere sich entblößen oder nackt sind, oder indem sie Zärtlichkeit und Sexualität zwischen anderen beobachten. In beiden Fällen wird durch gleichzei- tige oder anschließende Masturbation ein Orgasmus erreicht. Sexueller Sadismus und Masochismus: Sexuelle Erregung wird durch Zufügen oder Erleiden von Schmerzen, Demütigungen und Erniedrigungen erlangt. Meistens besteht ein gegenseitiges Einverständnis. Der sadistische und der masochistische Part können in sadomasochistischen Beziehungen getauscht werden. Persönlichkeiten bei allen Arten der Neurosenpathologie vor Die "Reife" der Persönlichkeit geht parallel zur Integration der Perversion in die Sexualität und zur Reife und Integration der Objektbeziehungen, in die diese eingebettet ist. Es besteht ein Kontinuum von perversen Phantasien und Handlungen, die die genitale Sexualität begleiten, bis hin zu "verselbständigten" Perversionen, die den genitalen Akt völlig ersetzen. Parallel dazu besteht ein Spektrum von integrierten, reifen Objektbeziehungen einerseits und sexualisierten Teilobjektbeziehungen andererseits. Auf der einen Seite des Spektrums steht die Perversion auf höherem (neurotischem) Strukturniveau. Die Perversion ist hier eine Abwehr sexueller Triebbedürfnisse, die konflikthaft erlebt werden und deshalb durch Regression verändert werden: Hier steht z.B. Schlagen und Geschlagenwerden für den aktiven und passiven Modus sexueller Befriedigung. Die Perversion ist in Beziehungen integriert, sie erscheint nicht übermächtig, läßt auch anderen Formen der Sexualität Raum. Diese Form der Perversion ist gewissermaßen eine verdeckte Form der Genitalität. 102 - Auf der anderen Seite stehen "verselbständigte" perverse Akte bei Borderlinepersönlichkeiten. Sie dienen dem Ziel, die Integration des Ichs und die Kohärenz des Selbst zu sichern. Dazu werden prägenitale Objektbeziehungen sexualisiert. Diese Form der Perversion ist eine verdeckte Form des Sicherheitsbedüifnisses. Psychodynamik der Perversion auf niederem Strukturniveau Viele perverse Verhaltensweisen lassen sich als ein Versuch verstehen, durch eine Sexualisierung einer zumeist sadistischen Objektbeziehung die Kontrolle über den anderen auszuüben und sich auf diese Weise Sicherheit durch Anwesenheit des anderen zu verschaffen. Durch die Sexualisierung wird eine enge Verbindung mit dem Partner angestrebt, indem sie in "geheimnisvolle", lustvolle:, höchst "intime" Praktiken eingebettet wird. So wird z.B. im Arrangement von Herrschen und Beherrschtwerden die Intensität des Wunsches nach einer innigen, ausschließenden Beziehung deutlich, im Grunde nach Verschmelzung. In der Perversion äußert sich die Sexualität zugleich auf eine Weise, die es dem Betroffenen erlaubt, selbst noch im sexuellen Akt sichere Grenzen aufrechtzuerhalten: Die Individualität des anderen und die Abhängigkeit von ihm wird verleugnet, denn das Objekt der Perversion, der Fetisch, ist verfügbar, die perverse Handlung von der gelebten Beziehung unabhängig. Der Fetisch rückt zudem zwischen das Selbst und den anderen. Beim Voyeurismus wird die Lust projektiv am beobachteten Paar befriedigt, während das Selbst in Sicherheit bleibt. Im Sadomasochismus werden "Rollen gespielt", die dem Selbst fremd sind, als sei es gar nicht betroffen. Im Schmerzerieben, das im allgemeinen ein Oberflächenerleben ist (Schlagen, stechen usw.) und anderen, auf die Haut bezogenen sexuellen PraktikeQ (z.B. Bekoten) kommt die Grenz-Erfahrung hinzu. Sie sichert das Gefühl zu existieren und lebendig zu sein. Beim perversen Akt geht es bei Borderline-Persönlichkeiten also nur vordergründig um sexuelle Befriedigung. Das eigentliche Ziel der Perversion ist hier die Sicherung der Anwesenheit des anderen und die Sicherung der Ichintegration und des Selbstgefühls. Sie ist damit ein Selbstheilungsversuch eines unsicheren, in der Verschmelzung ebenso wie in der Verlassenheit bedrohten Selbst, eine das Ich und das Selbst schüt- zende Inszenierung. Behandlung Perversionen erzeugen selten primär ein Krankheitsgefühl. Damit besteht im allgemeinen keine Psychotherapieindikation. Gelegentlich werden Psychotherapien durch gerichtliche Auflagen erzwungen; dafür ist allerdings die Basis recht schmal, wenn die Perversion, was selten ist, nicht leidvoll erlebt wird. Es kommen dann am ehesten verhaltenstherapeutische Maßnahmen in Betracht, die am Symptom ansetzen und z.B durch Desensibilisierung Einfluß nehmen. Dabei ist allerdings zu beachten, daß das perverse Verhalten eine Möglichkeit ist, ein labiles Ich oder bedrohtes Selbstgefühl zu sichern, so daß bei der Indikationsstellung insbesondere Gefahren wie Suizidalität und psychotische Dekompensationen berücksichtigt werden müssen. Unser psychodynamisches Wissen über die Perversionen stammt aus relativ seltenen psychoanalytischen Langzeitbehandlungen von betroffenen Patienten. Anlaß dazu gibt meistens nicht die Perversion selbst, sondern die damit verbundene Persönlich- keitsstörnng. Mit hochfrequenten, langzeitigen Behandlungen läßt sich in solchen Fällen eine Nachreifung der Objektbeziehungen erreichen, die auch neue Möglichkei- ten der sexuellen Befriedigung eröffnen kann. 11.5 Suizidales Verhalten Suizidalität bezeichnet die Neigung, sich selbst zu töten, und einen Zustand, der durch Selbstmordgedanken, -absichten und -versuche gekennzeichnet ist. Sie tritt im Rahmen akuter Krisensituationen und im Verlauf verschiedener psychischer Erkrankungen auf. In diesem Buch steht die Suizidalität bei Belastungsreaktionen und neurotischen Störungen im Vordergrund. Suizid [lat.] ist vollendete Selbsttötung. 103 Synonyme: Suizid, Selbstmord, Selbsttötung gebraucht. suizidale Handlungen, die nicht zum Tode führen: Selbstmordversuch, Parasuizid, im ärztlichen Jargon: Tentarnen. ICD-1O: X60 Suizidversuch mit Schmerzmitteln; X61 Suizidversuch mit Psychopharmaka. Häufigkeit Jährlich werden in Deutschland mehr als 12.000 Suizide registriert (im früheren Bundesgebiet gab es bis zur Vereinigung pro Jahr mit 9.600 mehr Selbstmorde, als Menschen bei Verkehrsunfällen starben (ca. 7.100 Verkehrstote)) Die genaue Anzahl von Suizidversuchen ist sehr schwer zu ermitteln. Man vermutet, daß auf einen vollzogenen Selbstmord 10 Selbstmordversuche kommen. Dabei steigt der Anteil vollendeter Selbsttötungen an der Gesamtzahl der Selbsttötungsversuche mit dem Alter deutlich an: Bei alten Menschen führen Selbstmordhandlungen sehr häufig tatsächlich zum Tod. Frauen etwa doppelt so häufig betroffen wie Männem. Der Altersgipfel der Suizidalität liegt zwischen 15 und 25 Jahren. In dieser Altersgruppe der relativ jungen Menschen gehört der Suizid zu den häufigsten Todesarten. eine besonders gefährdete Berufsgruppe sind Ärzte. Die Suizidrate bei Ärzten liegt zwei- bis dreimal höher als in der Gesamtbevölkerung. Unter den Arzten haben die Psychiater das höchste Suizidrisiko aller medizinischen Fachrichtungen. Auftreten und Disposition insbesondere in Krisen- und Belastungssituationen, bei psychischen und sozialen Konflikten, in Situationen der Hilflosigkeit, der Hoffnungslosigkeit oder bei Kränkungen auf. Häufig, aber nicht immer, ist sie ein Symptom im Verlaufe psychischer Erkrankungen. Am häufigsten tritt Suizidalität als Komplikation von depressiven Neurosen und narzißtischen Krisen auf. An zweiter Stelle stehen Belastungsreaktionen. Seltener ist die Suizidalität das Symptom einer Psychose, meistens einer endogenen Depression; sie ist in diesen Fällen besonders gefährdend. Beim vollendeten Selbstmord haben die Psychosen große Bedeutung: Über ein Drittel der Betroffenen leiden an endogenen Depressionen oder – seltener - an Schizophrenie. Ahnlich groß ist die Gruppe der Suizidenten, bei denen eine neurotische Störung bzw. Persönlichkeitsstörung zugrundeliegt. Die übrigen verüben Selbstmord im Zusammenhang mit Belastungsreaktionen oder mit depressiven Reaktionen im Alter. Echter Bilanzselbstmord in auswegslosen Situationen ohne psychische Disposition kommt dagegen recht selten vor. Verlauf der Suizidalität bei Belastungsreaktionen und neurotischen Störungen Bei neurotischen Störungen und Belastungsreaktionen kündigt sich suizidales Verhalten, zumindest im Erleben des Betroffenen, im allgemeinen vorher an, meistens sprechen sie auch davon. Gelegentlich tritt eine Selbstmordhandlung oder ein Suizid "wie aus heiterem Himmel" auf. Meistens handelt es sich dabei um lange vorbereitete Bilanzselbstmorde oder um Suizide bei Psychosen. Das suizidale Verhalten beginnt bei diesen Patienten im allgemeinen nach einem überwältigenden belastenden Ereignis oder einer neurosenspezifischen Auslösesituation. Dabei handelt es sich bei der überwiegenden Mehrheit um den Verlust wichtiger Menschen oder um schwerwiegende Kränkungen. Aus Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit und Angst entstehen narzißtische Krisen, in denen Wut und Aggression erweckt werden. Sie werden schließlich gegen die eigene Person gerichtet und in der Suizidhandlung abreagiert. Suizidales Verhalten wird durch suggestive Momente, Identifizierungen und familiäre Haltungen gebahnt: Filme, Romane, Suizidhandlungen von Idolen und insbesondere von nahestehenden Menschen fördern Phantasien, sich als Ausweg aus schwierigen Situationen das Leben zu nehmen. In Familien, in denen Selbstmordhandlungen sich häufen, erscheint die Schwelle erniedrigt, sich selbst etwas anzutun. 104 Im weiteren Verlauf verdichten sich Suizidphantasien und -absichten zum präsuizidalen Syndrom. Es besteht aus drei Anteilen: Einengung: Unter dem Eindruck, keinen Ausweg zu sehen, entsteht eine zunehmende Notsituation. Die Betroffenen geraten unter Druck, werden verzweifelt, fühlen sich wertlos, verlieren den Zugang zu anderen Menschen und ihren eigenen Interessen und finden "das Leben sinnlos"; Autoaggression: Gehemmte Aggression, die häufig aus einer Enttäuschung, einer Verletzung oder einer Angst resultiert, wird gegen die eigene Person gerichtet; Selbstmordphantasien: Statt ihre Situation handelnd zu verändern, ziehen die Betroffenen sich in eine durch (Selbsttötungs-) Phantasien geprägte Scheinwelt zurück und verlieren den Kontakt zur äußeren Wirklichkeit. Die Idee, nicht mehr existieren zu wollen, geht über in die, sich umzubringen, die schließlich durch konkrete Phantasien darüber abgelöst wird, wie man sich töten könnte. Der eigentlichen Suizidhandlung geht im allgemeinen eine plötzliche und für den Aussenstehenden nicht leicht nachvollziehbare scheinbare Beruhigung voraus. Was bisweilen wie eine "Lösung" wirkt, erweist sich durch die dann unvermutet eintretende Selbstmordhandlung als Rückzug von der Welt und vom Leben und als Zeichen für einen festen Selbstmordentschluß. Psychodynamik Das zentrale Thema der Suizidalität sind Aggression und Haß, die durch Enttäuschungen, Verlust und Kränkungen in den Betroffenen wachgerufen werden. Dabei ist der Selbsthaß, der in der Suizidhandlung zum Ausdruck kommt, das Ergebnis von Haß auf andere oder von Haß, den andere gegen einen selbst gerichtet haben. Die Suizidalität ist eine masochistische Verarbeitung von Schuldgefühlen, die aus dem Haß entstehen. Sie stellt zugleich eine Inszenierung unbewußter Beziehungs- phantasien dar, die durch das auslösende Ereignis belebt und nun in Handlungen umgesetzt werden: Fusionäre Suizidalität ist charakterisiert durch den unbewußten Wunsch nach einer Beziehung, in der Selbst und Objekt miteinander verschmelzen. Diese Regression in symbiotisches Erleben der frühesten Lebensphasen enthält unbewußte Phantasien von Flucht aus der erschreckenden Gegenwart, von friedvollem (Todes-) Schlaf, Aufgehen im Universum, Neubeginn und Wiedergeburt. Antifusionäre Suizidalität ist bestimmt von dem unbewußten Bedürfnis, über sich selbst zu bestimmen und sich zu vergewissern, ein eigenständiger, von (bedrohlichen, enttäuschenden, kränkenden) anderen getrennter Mensch zu sein und sich vor Verschmelzungsphantasien zu schützen. Manipulative Suizidalität verfolgt das Ziel, andere oder die Beziehungen zu ihnen zu verändern: Im allgemeinen soll eine Trennung oder ein Verlust verhindert oder rückgängig gemacht oder eine Kränkung gesühnt werden. Damit versuchen die Betroffenen sich Sicherheit zu schaffen. Hier handelt es sich um Versuche, der Verlassenheits- und Verlustangst entgegenzuwirken. Resignative Suizidalität enthält die Phantasie, aufgegeben und es nicht wert zu sein, in einer Beziehung zu anderen aufgehoben zu sein. Unbewußt fühlen die Betroffenen sich überflüssig und verlassen, ohne jede Möglichkeit, den anderen zu erreichen. Schuldgefühlsbedingte Suizidalität schließlich hat die Funktion einer Flucht vor dem Gewissen oder auch vor unbewußter Selbstbestrafung. Umgang mit Suizidalität Erkennen der Suizidalität Eine Schwierigkeit der Diagnostik ist es, Suizidalität überhaupt zu erkennen und das Suizidrisiko einzuschätzen, da Selbstmordphantasien keineswegs immer offen geäußert werden. Versteckte Hinweise auf Selbsttötungsabsichten können sich hinter folgenden Außerungen verbergen: "Ich falle jedem zur Last", "Ich mache das nicht mehr mit", "Meine Lage wird sich nie bessern", "Ich möchte, daß das alles aufhört", "Die werden schon noch sehen ...", "Mein ganzes Leben ist sinnlos gewesen", "Manchmal möchte ich nur noch schlafen", "Ich will einfach Ruhe haben" . Erhöhte Suizidgefahr bei neurotischen Störungen und Belastungsreaktionen Einengung im Denken, Gefühl absoluter Auswegslosigkeit, Todesphantasien Gelassenheit bei der Schilderung von Suizidabsichten konkrete Vorbereitungen von Suizidhandlungen 105 - ungewöhnliche Ruhe nach anfänglich beunruhigend wirkenden Suizidideen Beschädigungsträume Alarmierende Zeichen für eine bevorstehenden Suizidhandlung: plötzlich eintretende "Beruhigung" und Gelassenheit, unvermittelter Rückzug oder Kontaktabbruch. In Psychotherapien äußern sich suizidale Zuspitzungen oft in den Träumen: Die Patienten träumen von Verletzungen oder Selbstverletzung, von beschädigten Tieren, zerbrochenen Gegenständen, von Ausgeliefertsein und bedrohlichem Alleinsein. Wenn konkrete Vorbereitungen zur Suizidhandlung getroffen werden, wenn z.B. Medikamente gesammelt werden, dann besteht in jedem Falle eine besonders große Selbstmordgefahr, selbst wenn das Verhalten "demonstrativ" wirkt. Bei Menschen, die durch einen oder mehrere der folgenden Risikofaktoren belastet sind, besteht nach klinischer Erfahrung und empirischen Untersuchungen eine besondere Gefahr, daß sie in suizidalen Krisen gefährliche Suizidhandlungen unternehmen oder erfolgreich Selbstmord begehen: Depressionen verschiedener Genese, hohes Lebensalter, Vereinsamung, Arbeitslosigkeit, Lebenskrisen, Psychosen, vorausgegangene Suizidversuche. Außerdem gelten Menschen mit latent selbstgefährdenden Verhaltensweisen, insbesondere Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabusus, als besonders suizidgefährdet. Die Behandlung suizidaler Patienten Suizidalität ist immer eine Gefährdung für den Betroffenen und erfordert konsequente Maßnahmen. Es erweist sich als Fehlschluß zu glauben, daß Menschen, die z.B. auf demonstrative Weise mit Selbstmord "drohen", wahrscheinlich keinen Selbstmordversuch machen. Die Hilfestellung für selbstmordgefährdete Patienten ist eine Aufgabe, die in erster Linie in den Händen von Allgemeinärzten, Fachärzten und Psychologen und speziellen Beratungsdiensten liegt. Erstes und wichtigstes Ziel im Umgang mit suizid gefährdeten Patienten ist es, zu ihnen möglichst schnell einen guten Kontakt herzustellen, im zweiten Schritt geht es um die Klärung des Ausmaßes der suizidalen Gefährdung, im dritten um die erforderlichen Sofortmaßnahmen, im vierten um die Ursachen derSuizidalität, insbesondere um die mögliche Grunderkrankung (Krise, Neurose, Psychose), im fünften um mittelfristige und langfristige Folgemaßnahmen. In der konkreten Situation stellt sich meistens die Frage, ob eine stationäre Aufnahme zur psychotherapeutischen Krisenintervention oder in eine (geschlossene) psychiatrische Station erforderlich ist, um den Patienten vor Selbstschädigungen zu schützen. Die Aufnahme ist nicht nur bei starker Gefahrdung notwendig, sondern auch in Zweifelsfällen, insbesondere wenn man den Patienten und seine Reaktionen nicht gut kennt und das Ausmaß der Suizidalität oder die Grunderkrankung schwer abzuschätzen sind. Wenn ein guter Kontakt besteht und die Suizidalität für den Patienten beherrschbar er. scheint, reicht die ambulante Betreuung bzw. Krisenintervention. Wenn es gelingt, den Patienten zu gewinnen und ihn zu motivieren, seine Angste und Probleme, seine Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu schildern, entsteht meistens schon eine Entlastung und eine tragfahige Beziehung. Die Probleme, die hinter einem suizidalen Hilferuf stehen, werden auf diese Weise zunächst supportivangegangen. Die vertiefende Problernklärung ist ein weiterer stabilisierender Schritt. Oft wird diese schwierige Aufgabe erleichtert, wenn es gelingt, die unmittelbaren Konfliktpartner mit in die Gespräche einzubeziehen. Manchmal können auch andere Personen, zu denen ein Vertrauens verhältnis besteht, hinzugezogen werden, oder man kann den Patienten veranlassen, sich an Vertrauenspersonen zu wenden. In der ambulanten Betreuung von Suizidalen empfiehlt es sich, mit ihnen einen Suizidpakt, z.B. auch schriftlich, auszuhandeln und zu vereinbaren, daß sie sich innerhalb eines bestimmten, überschaubaren Zeitraums nicht das Leben nehmen und nach Ablauf dieser Zeit zur Rücksprache kommen, sich im Notfall melden oder an eine bestimmte Person wenden. Ein solcher Pakt bildet einen schützenden Rahmen und fördert Selbstverantwortung. Natürlich hat er auch Entlastungsfunktionen für den 106 Therapeuten, was auch nicht verschwiegen werden muß. Das Entscheidende aber ist, daß durch einen solchen Pakt eine Beziehung etabliert wird, die eine Basis für weitere stützende, konfliktzentrierte und schließlich psychotherapeutische Interventionen darstellen kann. In einer tragfahigen Beziehung wird man die Zu- und Abnahme einer suizidalen Gefährdung, jedenfalls bei nicht-psychotischen Patienten, recht zuverlässig einschätzen können. Eine unverständlich erscheinende Beruhigung, die nicht mit einer nachvoll- ziehbaren Problembewältigung verbunden ist, sollte skeptisch stimmen. Behandlung nach Suizidversuchen Nach Selbstmordhandlungen erfolgt meistens als erster Schritt eine Aufnahme in eine Klinik zur medizinischen und chirurgischen Behandlung. Unabhängig von der vermeintlichen Schwere oder Ernsthaftigkeit einer suizidalen Handlung sollte jeder Patient als psychisch Kranker spezifisch untersucht und behandelt werden. Optimal scheint sich dabei das Konzept eines psychotherapeutischen oder psychiatrischen Liaisondienstes zu bewähren. Die meisten Allgemeinkrankenhäuser verfügen allerdings eher über einen entsprechenden Konsiliardienst, der hinzugezogen werden muß, solange die Patienten unter dem unmittelbaren Eindruck ihrer suizidalen Handlung stehen. Dabei sollte die Grunderkrankung diagnostiziert und verbindliche Schritte in Richtung auf eine angemessene Behandlung eingeleitet werden: Die Verlegung in eine psychotherapeutische oder psychiatrische Abteilung, die Vereinbarung einer ambulanten Psychotherapie, sozialpsychiatrische Maßnahmen usw. Umgang mit Suizidalen und Suizidenten Suizidalität stets ernst nehmen, sie klar und offen ansprechen, den Hilferuf ergründen und benennen, der in der Suizidalität zum Ausdruck kommt, die Hintergrundsprobleme erkunden und vertiefen, die gegen andere gerichteten aggressiven Impulse als Ausdruck einer Verzweiflung betrachten und nicht vorrangig beachten, die eigene Einstellung zur Selbsttötung reflektieren, Gegenübertragungen wie Resignation, Allmachtsgefühle, Idealisierungsbedürfnisse und Gegenhaß beachten Es ist eine alte und immer wieder bestätigte Erfahrung, daß in der Phase abklingender Labilität ein nützlicher therapeutischer Kontakt etabliert werden kann, während danach rasch eine starke Verleugnung der Autoaggression und der Probleme stattfindet, die den suizidalen Hilferuf begründen. Behandlungsprobleme Sowohl die Behandlung von Suizidgefährdeten als auch die Nachbehandlung nach Suizidversuchen ist eine schwierige Aufgabe. Das liegt daran, daß Suizidale und Suizidenten ihre Helfer mit der ganzen subjektiven Hoffnungslosigkeit ihrer Situation belasten: Die Helfer werden durch die Ubertragung der Hoffnungslosigkeit und Resignation stark mit der eigenen resignativen Latenz konfrontiert und geraten dadurch in Konflikt mit persönlichen und beruflichen Idealen. Dieser Konflikt wird durch Betonung der eigenen Überlegenheit und Stärke abgewehrt. Oft kommt es zu einer ÜbertragungsGegenübertragungs-Kollusion, in der der Arzt vordergründig als großartiger Helfer idealisiert wird, um spätetnur Um so stärker enttäuschend erlebt zu werden. Es kommt hinzu, daß man als Behandler von Suizidalen und Suizidenten rasch mit den Grenzen der eigenen Möglichkeiten konfrontiert wird und einer starken untergründigen Entwertung ausgesetzt ist. Aus der Aktivierung eigener latenter Depressivität, Idealisierung und Entwertung kann schließlich eine Empathiestörung entstehen, die den Kontakt zwischen Suizidalen und ihren Behandlern beeinträchtigt: Es kann ein mangelndes Interesse daran bestehen, die Hintergründe der Suizidalität zu klären oder sie in ihrem Gewicht und ihrer Bedeutung für den Patienten zu würdigen. Insbesondere können Trennungsängste übersehen oder verharmlost werden. 107 - - Statt die Problernsituation vertiefend zu erkunden und zu bearbeiten, kann die Verleugnungsabwehr des Patienten ("es war ja gar nicht so gemeint") bestärkt werden, während Scheinänderungen als echte innere Veränderungen mißverstanden werden. Auch die Autoaggressivität kann als "gar nicht so gemeint" verniedlicht werden, oder der Patient kann in uneinfühlsamer Weise damit konfrontiert werden, daß seine Autoaggression" sich ja eigentlich gegen jemand anderes" richtete - er wolle das nur nicht zugeben oder wahrhaben. Um Gefühle wie Haß und Gegenhaß, Macht und Ohnmacht in der Arzt-Patient-Beziehung auszuhalten und die Betroffenen nicht unbesonnen abzulehnen und den Kontakt zu gefahrden, ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, daß Haß und Ohnmacht-Erlebnisse meistens Grunderfahrungen im Leben der suizidalen Patienten spiegeln. Das Ziel im Umgang mit suizidalen Patienten besteht darin, diese Grunderfahrungen anzuerkennen, ohne sich nun selbst zum Opfer der Haßgefühle machen zu lassen oder diese Patienten zu hassen, weil sie ihre Helfer mit eigenen Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit konfrontieren. 108 12. Psychosomatosen Psychosomatosen (chronische seelisch-körperliche Leiden [griech.]) sind organische Erkrankungen mit faßbaren molphologischen Veränderungen, auf deren Entstehung und/oder Verlauf neurotische EntWicklungen nachweisbar einen wesentlichen Einfluß haben. Dabei steht die Bildung eines somatischen Symptomes im Zusammenhang mit einer primären Wiederbelebung unbewußter emotionaler Mangelzustände oder einer Regression, die durch Konflikte auf allen Ebenen der Neurosenpathologie ausgelöst werden kann. Über Psychosomatosen Häufigkeit: Ca. 2-3% der Bevölkerung leiden an psychosomatischen Organerkrankungen multifaktorielle Ätiologie: Erbfaktoren, somatische Faktoren (z.B. Entzündungen), psychische Faktoren und Umweltfaktoren. psychische Disposition: v.a. eine neurotische Entwicklung in Betracht. Das Gewicht der psychischen Teilursachen ist individuell jedoch unterschiedlich groß -> vor jeder Psychotherapieindikation sorgfältig untersuchen, ob eine neurotische Entwicklung besteht und ob diese bei der Auslösung der Erkrankung oder eines Rezidivs erkennbar beteiligt ist. Entscheidend ist die Frage, welchen Anteil ein seelischer Krankheitsfaktor im Einzelfall an der Entstehung, am Verlauf und am Heilungsprozeß hat. Es setzt sich immer mehr die Auffassung durch, daß man psychosömatische Erkrankungen in einem umfassenden bio-psycho-sozialen Modell betrachten muß. Traditionell in der Psychosomatik besonders beachtete Organerkrankungen - Asthma bronchiale - Essentielle Hypertonie - Ulcus pepticum - ventriculi et duodeni (Morbus Basedow) - Neurodermitis (atopisches Ekzem) - Rheumatoide Arthritis - Hyperthyreose - Colitis ulcerosa Später kam die Enteritis regionalis (M. Crohn) hinzu Synonyme Bezeichnungen: psychosomatische Erkrankungen im engeren Sinne. Die spezifische Wechselwirkung zwischen primären und sekundären seelischen und körperlichen Krankheitsfaktoren = Somato-Psychosomatosen. ICD-10: keine eigene Gruppe Stattdessen werden die organischen Erkrankungen deskriptiv den entsprechenden internistischen, dermatologischen usw. Krankheitsgruppen zugeordnet. Ätiologisch bedeutsame psychologische Faktoren werden durch den Zusatz F54 gekennzeichnet (z.B. F54, L40 Psoriasis) 12.1 Krankheitsentstehung und Persönlichkeit Ätiologische Modelle: psychische Komponente bei der Entstehung der organischen psychosomatischen Erkrankungen: psychische Spannungszustände fördern somatische Prozesse z.B. entzündlicher, allergischer oder immunologischer Art, die ihrerseits zu morphologischen Veränderungen führen. (z.B. ist erwiesen, daß psychosozialer Streß und intrapsychische Konflikte und Belastungen, v.a. VerlusterIebnissen, die Immunabwehr schwächen und allergische Reaktionen fördern) Der psychoanalytische Ansatz 109 - Psychosomatosen entstehen unter dem Einfluß von unbewußten emotionalen Zuständen, auf die die Betroffenen primär körperlich reagieren. Auslösend können dabei Konflikte aus allen Bereichen der Neurosenpathologie sein, die eine starke Regression einleiten. Das (psycho-)somatische Symptom selbst steht für eine Erfahrung, die nur eine körperliche Erinnerungsspur und keine seelische Repräsentanz hinterlassen hat. Psychosomatosen sind Krankheiten mit einer speziellen psychischen Ätiopathogenese, die sich unter drei Aspekten betrachten läßt: Psychische Faktoren, die an der Ursache beteiligt sind, Auslösefaktoren, Faktoren, die den Verlauf der Erkrankung und den Heilungsprozeß beeinflussen. Ätiologische Faktoren das Aussetzen einer effizienten Konfliktverarbeitung. Das Entstehen von Körpersymptomen sind primär körperliche Zeichen für konflikthafte affektive Zustände, die im Verlauf der Entwicklung keine seelische Repräsentanz gefunden haben. Die Reaktion des Körpers stehen also an Stelle einer Erfahrung, für die es keine psychische Vorstellung (Symbol, Repräsentanz) gibt, sondern nur ein körperliches Zeichen. Für diese Modellvorstellung benutzen wir die Metapher "körperliches Erinnern". (Allerdings kennt man die Mechanismen nicht genau, wie dieser psychische Faktor mit somatischen Krankheitsfaktoren zusammenwirkt und zur Bildung von Organschädigungen führt -> Wahrscheinlich handelt es sich bei dem Bindeglied um anhaltende körperliche Aktivierungszustände, die auf Dauer Organläsionen bewirken.) => Die körperliche Erinnerung beruht auf einer Entwicklungfixierung im vorsprachlichen bzw. vorsymbolischen Bereich. Krankheitsauslösung Unter dem Einfluß von unlösbaren Konflikten oder extremen psychischen und körperlichen Belastungen kann eine Ichregression entstehen, bedingt durch die Überlastung der Bewältigungsmechanismen oder durch Konfliktabwehr -> Durch die Ichregression werden die vorsprachlichen emotionalen spaimungszustände wiederbelebt, die den organischen Krankheitsprozeß "triggern". Disposition für solche Regressionen: ausgeprägte emotionale Mangelerlebnisse + wahrscheinlich ererbte konstitutionelle Faktoren Auslösend für eine Ichregressionen wirken Konflikte aus allen Bereichen der Neurosenpathologie. Sie können entweder in Konflikten bestehen, die die neurotische Persönlichkeit labilisieren, oder im Erleben von seelischen Entbehrungen und Verlusten, die unmittelbar an die disponierenden Mangeleriebnisse anknüpfen. Krankheitsverlauf Die Verarbeitung von Erkrankungen wird von verschiedenen seelischen Faktoren beeinflußt. Neurotische Konflikte und Einstellungen beeinträchtigen die Krankheitsbewältigung. So kann das Erleben, ausgeliefert und hilflos zu sein, negativ die auf die Krankheitsbewältigung zurückwirken und den Krankheitsverlauf maßgeblich mitbestimmen. Ahnlich können sich Angste, Depressionen oder Wut auswirken. Solche neurotischen Einflüsse auf das Krankheitserleben und -verhalten sind oft der Ansatz für psychotherapeutische Behandlungen. Die psychische Disposition zur Psychosomatose: Die psychosomatische Grundstörung Disposition für psychosomatische Erkrankungen: eine mißlungene frühe Individuationsentwicklung -> später fördern unbewußte Verlassenheitsängste und daraus entstehende Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Wut die Entstehung einer somatischen Krankheit fördern. -> Die mißlungene Individuationsentwicklung führt zu einer Fixierung auf niederem Strukturniveau. Sie bewirkt eine umfassende Störung des Selbstgefühls, der bjektbeziehungen und des Ichs = psychosomatische Grundstörung 110 - - - Das gestörte Selbstgefühl äußert sich in der Schwierigkeit, mit Verlassenheit und Trennung umzugehen. Z.T. ergibt sich daraus ein schwerwiegendes Problem in der Nähe-DistanzRegulierung, d.h. eine schizoide Kontaktstörung, wobei die Betroffenen andere zum Selbstschutz auf Distanz halten. Die Objektbeziehungen sind durch eine Objektangewiesenheit geprägt -> v.a. aggressive Affekte, die bei Kränkungen, Trennungen und Verlusterlebnissen entstehen, können nicht angemessen verarbeitet werden Der hauptsächliche Stabilisierungsmechanismus besteht in der Spaltung: Es kommt zur Aufspaltung von Beziehungen in "gute", d.h. versorgende und schützende, Sicherheit gebende Aspekte einerseits und "schlechte", schmerzhafte oder sogar feindselige Aspekte andererseits. Die Ich-Pathologie besteht in einer mehr oder weniger ausgeprägten strukturellen Ichstörung. Sie äußert sich vor allem in der Schwierigkeit, konflikthafte Gefühlszustände differenziert wahrzunehmen und zum Ausdruck zu bringen. Die Ichstörung führt letztlich dazu, daß die Affekte, die durch Nähe-, Trennungs- und Verlassenheitserlebnisse hervorgerufen werden, körperlich "erinnert" werden. Die Beeinträchtigung, Gefühle und Konflikte zu erleben, hat zu dem Versuch geführt, die Entstehung psychosomatischer Organerkrankungen auf eine spezifische Alexithymie ("Seelenblindheit") zurückzuführen = ein Mangel, Phantasien und Gefühle zu erkennen und in Worten zum Ausdruck zubringen. Als Folge kann man bei vielen "psychosomatischen" Patienten ein mechanistisch und unlebendig wirkendes Denken beobachten. Allerdings geht man heute nicht mehr davon aus, daß die alexithyme Persönlichkeit spezifisch für Patienten mit Psychosomatosen ist und nur bei ihnen vorkommt. Ebenso bezweifelt man, daß sie die notwendige Voraussetzung für die Entstehung einer psychosomatischen Organerkrankung ist. Die Persönlichkeit bei Psychosomatosen Je nach der Art der Entwicklung nach der Individuationskrise gibt es später zwei verschiedene Arten von Persönlichkeiten bei Psychosomatosen: a) Die psychosomatische Grundstörung tritt offen zutage: neurotische Entwicklung auf niederem Strukturniveau, die als Borderlinepersönlichkeit, zumeist in der Variante der narzißtischen Borderlinepersönlichkeit, oder auch als schizoide Persönlichkeit, in Erscheinung tritt. Darin manifestieren sich in direkter Weise die Spuren der gescheiterten lndividuationsentwicklung. b) die Grundstörung wird durch eine neurotische Weiterentwicklung nach der Individuationsentwicklung überformt: man neurotische Entwicklungen auf mittlerem oder auf höherem Strukturniveau. Die Persönlichkeit hat bei diesen Patienten also eine zweischichtige Struktur. Die Grundstörung ist bei ihnen in der weiteren Entwicklung durch eine neurotische Abwehr kompensiert worden. Entwicklungsdynamisch betrachtet, handelt es sich dabei um eine gelungene Bewältigung der Grundstörung (sog. "progressive" Abwehr). Diese Bewältigung gewährleistet eine weitgehende Anpassung an die späteren Entwicklungsaufgaben. Die Grundstörung ist daher oft nicht erkennbar. Erst wenn durch persönlichkeitsspezifische Konflikte eine massive Regression einsetzt und ein organdestruktiver Prozeß entsteht, wird die tieferliegende Störung sichtbar. Diese Konstellation wird als eine zweiphasige Abwehr bezeichnet. Die Persönlichkeit bei Psychosomatosen Die psychosomatische Grundstörung Die neurotische Weiterentwicklung Niederes Strukturniveau: mittleres und höheres Strukturniveau Labiles Selbstgefühl zumeist Objektangewiesenheit - narzißtische Persönlichkeit Nähe-Distanz-Probleme - depressive Persönlichkeit "Alexithymie": - zwanghafte Persönlichkeit Körperliches Erinnern Auslösesituationen Je nachdem, ob die Grundstörung oder die neurotische Weiterentwicklung die prämorbide Persönlichkeit bestimmt, gibt es bei der Entstehung von Psychosomatosen zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Auslösesituationen: 111 - - Psychosomatosen auf niederem Strukturniveau entstehen bevorzugt in realen oder phantasierten Verlassenheits- und Trennungssituationen. Darin äußert sich die Dynamik der Grundstörung, die oben ausführlich erörtert wurde. Diese Situationen bewirken unbewußte Gefühle starker Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ("giving up - given up"). Sie werden von Wutund Haßreaktionen, von destruktiven Phantasien und Impulsen begleitet. Zurückweisungen, Kränkungen, Beziehungsprobleme, Entwicklungsschritte usw. werden von diesen Patienten wie Verluste von Sicherheit und Geborgenheit erlebt. Das zentrale psychische Moment für die somatische Dekompensation ist die Mobilisierung verdrängter aggressiver Affekte sowie destruktiver Phantasien und Impulse, die bei diesen Patienten durch emotionale Mangelzustände hervorgerufen werden. Psychosomatosen auf mittlerem und höherem Strukturniveau: Bei Patienten mit zweiphasiger Abwehr entstehen die körperlichen Symptome, wenn spezifische neurotische oder narzißtische Konflikte auftreten und die reifere Abwehr nicht standhält und zusammenbricht. Der Zusammenbruch der Abwehr bewirkt die Ichregression und führt zum Aufbrechen der tieferliegenden Wunde und zur Aktivierung der Körpererinnerung. Beobachtet man den Verlauf, dann gelingt es diesen Patienten nur selten, das höhere oder mittlere Struktumiveau spontan wiederzuerlangen. Die für den Verlauf bestimmenden Themen zentrieren sich stattdessen immer stärker um die Suche nach Sicherheit, während Brüche und Schwankungen in den Beziehungen mit Hilflosigkeit, Verlassenheits angst und Wut beantwortet werden und häufig eine bereits erreichte körperliche Stabilität wieder gefährden. Symptomwahl und Organwahl Die Mobilisierung von verdrängten aggressiven Affekten sowie destruktiven Phantasien und Impulsen durch Verlassenheitserlebnisse und Trennungen ist ein verbreitetes Verhaltensmuster. Es kommt bei allen Störungen auf Borderlineniveau vor. Es ist also nicht spezifisch für Psychosomatosen. Spezifisch ist aber die Art der Symptombildung in Form einer morphologischen Veränderung. Früher wurden die Körpersymptome bei Psychosomatosen metaphorisch gedeutet. So wurde in der Luftnot und dem damit verbundenen Ringen um Luft (Stridor) beim Asthmatiker ein Schrei nach der Mutter gesehen. Solche Ansätze gelten heute als zu vereinfachend und sind überholt. Für die Symptomwahl, d.h. die Symptombildung im Bereich des Körpers, kommen, wie bereits oben erwähnt, verschiedene Ursachen in Betracht. Vorrangig sind es eine erbliche somatische Disposition, z.B. beim Ulkus eine angeborene Erhöhung des Pepsinogen-Spiegels oder bei der Neurodermitis eine angeborene immunovegetative Dysregulation; eine erworbene somatische Disposition: Entzündungen, mechanische oder klimatische Reize usw.; die psychische Disposition, die oben als psychosomatische Grundstörung dargestellt wurde. Eine psychologische Bedeutung kann die Organwahl haben, d.h. die Wahl eines bestimmten Organs als Ort der Symptombildung. Diese Bedeutung beruht, sofern sie besteht, darauf, daß Körperorgane und Körperfunktionen im Verlauf der Entwicklung eine seelische Repräsentanz erlangen. Wenn das geschehen ist, können die Organfunktionen auch durch entsprechende symbolische Reize, z.B. durch Versorgungsphantasien anstelle von Hunger, aktiviert werden. So kann die Symptombildung an der Magenschleimhaut bei der Ulkuskrankheit durch konflikthaft erlebte passive Versorgungswünsche und eine Dauerstimulation der Magenperistaltik gebahnt werden. Daneben erhalten erkrankte Organe durch das Erleben einer Erkrankung sekundär eine psychische Bedeutung. Sie kann in Kärperphantasien ("mein armer Magen") Niederschlag finden und den Krankheitsverlauf mitbestimmen. Psychosomatosen versus somatoforme Störungen Psychosomatosen unterscheiden sich aufgrund ihrer Ätjopathogenese grundsätzlich von somatoformen Störungen: Bei Psychosomatosen sind die Organläsionen durch seelische Zustände mitbedingt, die dadurch entstehen, daß Konflikte nicht erlebt werden können. 112 - Bei somatoformen Störungen ist die Körpersymptomatik eine Folge von seelischen Konflikten, die zunächst als solche erlebt werden, dann aber abgewehrt werden. Dabei gibt es zwei pathogenetische Entstehungsmodi: Die Konversion und die Somati- sierung. Verhaltens therapeutische Aspekte Von der Verhaltensmedizin wird angenommen, daß chronische affektauslösende äußere Reize oder enterozeptive Reize aus dem Körperinneren an die vegetativen Zentren weitergeleitet werden und über die Konditionierung autonomer Reaktionen zu Organläsionen führen. Nachgewiesen ist die Konditionierung psychophysiologischer Reaktionen bei psychosomatischen Organerkrankungen: z.B. die Konditionierung von Atemnotsanfällen beim Asthma bronchiale. Auch die Folgen von Streß und Streßbewältigung wurden untersucht. Dabei konnten Kofaktoren der Krankheitsentstehung herausgearbeitet werden. Streß wirkt z.B. ulkusfördernd, wenn er mit Handlungsmöglichkeiten verbunden ist, die es erlauben, sich dem Streß zu entziehen, während kein Ulkus entsteht, wenn er ertragen werden muß. Andererseits wirkt eine passive Auslieferung an den Streß sich schwerwiegender aus als Versuche, den Streß zu kompensieren. Die Beziehung zwischen Streß und Organfunktionsstörung einerseits und Entstehung einer Organläsion andererseits ist allerdings schwer aufklärbar. Im Zentrum des verhaltenstherapeutischen Ansatzes bei der Betrachtung der Psychosomatosen stehen aber weniger die Krankheitsursachen als die Krankheitsfolgen, d.h. die krankheitsspezifischen Belastungen und Bewältigungsaufgaben. Dabei werden kognitiv-emotionale Aspekte (z.B. Angst und Unsicherheit) von Handlungsaspekten (z.B. Rückzugs- und Vermeidungsverhalten) unterschieden. Diese Verhaltensweisen können den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen und dazu beitragen, daß die Erkrankung fortbesteht oder sich sogar verschlechtert. Allgemeines zur Psychotherapie Psychotherapie allein ist höchstens in beschwerdefreien Intervallen ausreichend. Jede Art der Behandlung muß die besondere Objektangewiesenheit der psychosomatisch Kranken berücksichtigen: Arzt-Patient-Beziehungen haben für die Patienten eine vor allem stützende Funktion. Deshalb ist es wichtig, in der Behandlung Kontinuität zu gewährleisten, während wechselnde Beziehungen Angst und Mißtrauen hervorrufen und die Kranken labilisieren. Deshalb hat die langfristig haltgebende Beziehung besonderes Gewicht. Kombination von supportiven Behandlungsmaßnahmen mit der somatischen medikamentösen, physikalischen und ggf. auch operativen Behandlung. Dabei kommt der integrierten psychosomatischen Behandlung besondere Bedeutung zu: Am besten liegt die somatische und die psychotherapeutische Behandlung, sofern es sich nicht um explizit analytische Verfahren handelt, in einer Hand. In Institutionen sollte ein enges Ineinandergreifen der somatischen und psychologischen Behandlungsmaßnahmen gewährleistet sein. Schon daraus ergibt sich, daß eine isolierte Psychotherapie, zumindest in akuten Krankheitsphasen, kontraindiziert ist. Wie bei allen anderen chronischen Krankheiten sind auch bei der psychosomatischen Behandlung die Krankheitsfolgen, d.h. die besonderen Bewältigungsaufgaben, die durch die langfristigen Verläufe entstehen, besonders zu beachten: Die prognostische Unklarheit des Krankheitsverlaufes, Beeinträchtigungen des Befindens und der Lebensqualität, Abhängigkeit von Behandlung und Behandlern u.v.a. Hieraus können sich spezielle Aufgaben für psychotherapeutische Interventionen ergeben, die auf die Verbesserung der Krankheitsbewältigung abzielen. Aspekte wie die subjektive und lebensgeschichtliche Bedeutung einer Krankheit, Erwartungsängste bezüglich Verlauf und zunehmender Beeinträchtigung und die Unterstützung im sozialen Netz sind dabei besonders zu beachten. Analytische Psychotherapie Eine ambulante analytische Psychotherapie kann in den Intervallen zwischen akuten Krankheitsschüben begonnen werden einmal angefangen, muß sie natürlich auch fortgeführt werden, wenn ein Patient unter der Behandlung, vor allem bei Belastungen in seinem Lebensalitag oder durch Ubertragungsprobleme, somatisch dekompensiert. 113 - - - - - auch während der akuten Schübe kann man versuchen, die gerade dann oft offener erkennbaren und auch dem Patienten leichter zugänglichen Konflikte im Sinne einer "haltenden Beziehung" unterstützend zu besprechen, um damit die Basis für eine spätere weitergehende Bearbeitung zu legen. Wichtiger als die Konfliktaufdeckung ist bei vielen Patienten die Förderung der Wahrnehmung und Differenzierung ihrer Gefühle und Phantasien. Dieser Aspekt spielt sowohl in der supportiven als auch in der analytischen Therapie eine bedeutende Rolle. Bei psychosomatischen Patienten mit deutlich erkennbarer Borderlinestruktur werden meistens strukturierte konfliktorientierte und im Sinne der Gefühls- und Phantasiewahrnehmung stützende Behandlungsformen angewandt. Intensive konfliktaufdeckende Behandlungen kommen bei leichteren Verläufen und bei jenen Patienten in Frage, bei denen die Neurosenpathologie auf höherem und mittlerem Strukturniveau im Vordergrund steht (Diagnostik: umschriebene neurotische Konflikte im Zusammenhang mit der Krankheitsentstehung erkennbar; Behandlungsziel: die Konflikte, die im Verlauf der Weiterentwicklung im Anschluß an die Grundstörung neurotisch verarbeitet und in der Auslösesituation wiederbelebt wurden, erhellen und aufzulösen, um die Häufigkeit und Schwere körperlicher Dekompensationen durch Förderung der Konfliktlösungsmöglichkeiten zu vermindern; Methodisch: die tiefenpsychologische Psychotherapie, einzeln oder auch in Gruppen) Eine frequente analytische LaIlgzeitbehandlung wird bei Patienten mit Psychosomatosen selten durchgeführt, weil die Arbeit in der Übertragung die Regression forciert und der körperliche Zustand, aus den oben dargestellten Gründen, dadurch labilisiert werden kann. Supportive Behandlungsmaßnahmen bei Psychosomatosen - Aufbau einer stabilen Objektbeziehung aktiv-stützende Haltung Besprechung belastender Situationen, z.B. Vorwegnahme möglicher Enttäuschungen Anwendung entspannender Verfahren, z.B. Autogenes Training Einsatz expressiv-entlastender Verfahren, z.B. Gestaltungstherapie (Kunsttherapie) ggf. Aufnahme in eine stationäre Einrichtung am besten mit integriert-psychosomatischem Behandlungsköpzept Familientherapie v.a. bei Kindern mit psychosomatischen Organerkrankungen indiziert. Verhaltenstherapie v.a. Methoden der Selbstkontrolle, d.h. die Förderung eines verbesserten Umgangs mit der Krankheit und der Situation als Kranker. Dabei werden möglichst viele Aspekte des Krankseins und die Wechselwirkungen zwischen ihnen berücksichtigt. Methodisch wird mehrdimensional vorgegangen. Dazu einige Beispiele: Es wird, z.B. durch Information und Aufklärung über die Erkrankungen und ihre Beeinflußbarkeit, auf die Einstellungen zur Erkrankung Einfluß genommen, durch Desensibilisierung werden Ängste in bezug auf die Erkrankung angegangen, Entspannungsübungen dienen der Bewältiigung begleitender Schmerzzustände, Beratung unterstützt die Compliance bezüglich der medizinischen Maßnahmen, durch Selbstbeobachtungstraining wird die Wahrnehmung, z.B. von belastenden und symptomfördernden Verhaltensweisen, verbessert, Problernlösungs-, Interaktions- und Kommunikationstraining unterstützt die Bewältigung von psychosozialen Belastungen. 12.2 Häufige Krankheitsbilder (die wichtigsten Erkrankungen, bei denen besonders häufig psychische Faktoren angetroffen werden) Asthma bronchiale (ICD-IO: F54, J45) 114 Krankheitserscheinungen Asthma beruht auf einer intermittierend auftretenden Bronchialobstruktion. Bei Kindern die häufigste chronische Erkrankung (2%), verliert sich aberbis zur Pubertät in 50%. klinische Leitsymptome: Körperlich: Atemnot, verlängertes Expirium, pfeifendes Atemgeräusch (Stridor), Husten, zäher Auswurf, Tachykardie. Psychisch: Die Anfalle sind von heftiger Angst begleitet. Später dominiert die Angst vor den Anfallen. Langfristige Entwicklung von Folgeerscheinungen: Emphysem, Corpulmonale, respiratorische Insuffizienz Krankheitsfaktoren: verschiedene Faktoren in wechselndem Ausmaß Psychische Belastungen, allergische Dispositionen, z.B. Staub-, Pollen-, Nahrungmittel- u.a. Allergien, entzündliche Prozesse, insbesondere Bronchitis, neuropathologische Komponenten, z.B. eine Vagotonie, klimatische Faktoren, z.B. Uberempfindlichkeit gegen feuchtkalte Witterung. Psychodynamik: Nähe-Distanz-Konflikt als Folge einer mißlungenen Individuationsentwicklung. zumeist um schizoide Persönlichkeiten oder narzißtische Persönlichkeit (-> AbhängigkeitsUnabhängigkeits-Konflikt (Autonomiekonflikt)) -> offene oder verdeckte Ablehnung und die damit verbundene Ungeborgenheit in der frühen Entwicklung -> Zustände, die Erlebnisse von Hilf- und Hoffnungslosigkeit herbeiführen -> Fixierung der Konflikte macht die bestehenden familiären Bindungen unauflösbar -> häufig verinnerlichte Bilder: Mutterfigur überprotektiv, dominierend, willkürlich und zurückweisend, der Vater schwach, uninteressiert und wenig verfügbar Persönlichkeit: v.a. starke narzißtische Kränkbarkeit hochgradig ambivalente Objektangewiesenheit. Im manifesten Verhalten: schizoide Näheangst, zwanghafte Kontrolliertheit Auslösend für die Anfälle: v.a. Verlassenheitserlebnisse, Verluste und Trennungen, die real bestehen oder auch nur befürchtet werden das labile Gleichgewicht der Regulatjon von Nähe und Distanz stören -> Kränkungen werden wie Verlustsituationen phantasiert -> sie rufen Wut hervor, die andere (das Objekt) bedroht -> zärtlich hingebende Gefühle und unbewußte Ängste vor Zurückweisungen können symptomauslösend wirken -> Alle diese Situationen rufen "Erinnerungen im Körper" an traumatisch erlebte Nähe, Getrenntheit oder Zurückweisung hervor. Diagnostik und Behandlung bei ca. 1/3 der Asthmakranken deutlich erkennbare psychische Faktoren als Auslöser und im Krankheitsverlauf Arzt-Patient-Beziehung: Angst vor Nähe und Überfürsorglichkeit und Zurückweisung muß beachtet werden; Trennungssituationen (Urlaub, Klinikentlassung) müssen sorgfältig und frühzeitig vorbereitet werden Therapie: zusätzlich zu internistischer und physikalischer Therapie Bei Kindern: häufig ein familienneurotisches Umfeld vorhanden -> Familientherapie erforderlich. analytische Psychotherapie: wenn die damit verbundene Nähe ausgehalten werden kann; Ziel: Bearbeitung der Nähe-Distanz-Probleme; meistens als niederfrequente Einzelbehandlung Verhaltenstherapie: systematische Desensilibisierung bzw. Dekonditionierung des Asthmaverhaltens (z.B. durch Verminderung der Beachtung des Anfalls); krankheitsorientierte Gruppen zur emotionalen Entlastung durchgeführt; Einfluß auf die Medikamenteneinnahme 115 - Basistherapie: Entspannungsverfahren (Autogenes Training, Entspannungstraining nach Jakobson) Ulcus ventriculi et duodeni (ICD-IO: F54, K25; F54, K26) Krankheitserscheinungen Geschwürbildungen der Magen- bzw. Darmschleirnhaut Magenulzera sind dreimal häufiger als Darmulzera. Leitsymptom: krampfartige oder drückende Schmerzen im Epigastrium häufig periodisch oder rezidivierend, v.a. nachts und im nüchternen Zustand. Magenulkus: Schmerz sofort nach der Nahrungsaufnahme; Duodenalulkus: Spätschmerz; Zusätzlich kann Aufstoßen, Erbrechen und Inappetenz bestehen. Komplikationen: akute oder chronische Blutungen (25%), Perforationen, narbige Stenosen sowie eine maligne Entartung. Psychisch: gelegentlich Depressionen Epidemiologie Jeder Zehnte erkrankt mindestens einmal in seinem Leben an einem peptischen Ulkus. Männer dreimal häufiger betroffen als Frauen Im jüngeren Alter überwiegen Männer mit Duodenalulzera und Hyperazidität Ulkusbeschwerden gehäuft im Frühjahr und im Herbst auf. Ulkuserkrankungen häufen sich in sozialen Krisenzeiten. Krankheitsfaktoren Basis der Krankheitsentstehung: aggressive, schädigende pathophysiologische Mechanismen: Hypersekretion und eine spastisch bedingte durchblutungsstörung, die die Widerstandskraft der MagenDarm-Schleirnhaut schwächen und die Entstehung der Organläsionen bedingen. Beim Großteil der Patienten kommt eine Infektion mit dem Erreger Helicobacter pylori hinzu. Auf diese Prozesse hat die krankheitstypische Regression ("körperliches Erinnern") einen fördernden Einfluß. Psychodynamisch bestehen vor allem Konflikte zwischen verdrängten oral-rezeptiven Geborgenheitsund Abhängigkeitswünschen ("Gefüttertwerden") und dem (bewußten) Kampf um Unabhängigkeit und Erfolg. Feindselige Aggressionen und Wut aus Enttäuschung und Frustration, aber auch Neid beherrschen das unbewußte Erleben. Persönlichkeit: Disposition zur somatischen Symptombildung: mißlungene frühe Interaktionen mit offener Ablehnung oder unberechenbarem Wechsel zwischen Zurückweisung und Überfürsorglichkeit. die Folgen der daraus resultierenden psychosomatischen Grundstörung treten hier auf niederem Strukturniveau als Phantasie- und Gefühlsferne unmittelbar in Erscheinung. Je nach der Art der Weiterentwicklung beherrschen bei anderen Ulkuspatienten spätere Konflikte und Bewältigungsstrategien die manifeste Persönlichkeit, so daß kein einheitlicher Persönlichkeitstyp besteht. Im Verhalten imponiert neben dem erwähnten Grundstörungs-Typ ein passiver Typ: Er lebt "Versorgungswünsche", Hilflosigkeit und Aggressionshemmung offen aus und neigt zur AnkIammerung; ein aktiver Typ: Bei ihm werden die unbewußten Geborgenheitswünsche durch Reaktionsbildungen wie Ehrgeiz und zwanghafte Selbstkontrolle überdeckt. Daneben gibt es einen überangepaßten Typ, der durch Vorwegnahme der Forderun- gen Spannungen vermeidet und scheinbare Harmonie schafft. typische Auslösesituation: die für diese Typen spezifische Konflikte oft Trennungen und Verlust von Geborgenheit oder Anerkennung (z.B. Arbeitsplatzverlust, Migration bei Gastarbeitern), oft auch Zunahme von Verantwortung und Reifungsanforderungen -> Damit verbunden oft Ängste, zu versagen und abgelehnt zu werden, oder Ängste, den 116 anderen durch die phantasierte Abwendung zu verletzen. Auch Kränkungen, z.B. Zurücksetzung gegenüber Konkurrenten, die wie eine Abwendung des anderen erlebt wird, erscheinen häufig symptomauslösend. Diagnostik und Behandlung Die überangepaßten Ulkuspatienten sind ein Prototyp des "bequemen" Patienten. Therapeutisch empfiehlt es sich unter Kenntnis dieses Hintergrundes, den aktiven Typ nicht zu sehr einzuengen: "Empfehlung" statt "Verordnung", beim passiven Typ die Versorgungswünsche z.B. durch symbolische Präsenz des Arztes ("DiätSchema") nur indirekt zu erfüllen, jedoch der Regressionsneigung (Krankschreibung, Klinikeinweisung) außerhalb des akuten Stadiums nicht nachzugeben, ohne die dahinterliegenden Konflikte zu thematisieren, beim überangepaßten Typ die Neigung der Patienten, ja nicht auffallen und belasten zu wollen, nicht als willkommene Entlastung zu fördern oder gar als konstruktive Kooperation mißzuverstehen. Neben der medikamentösen Prophylaxe mit H2-Blockern sowie antibiotischer Helicobacter-pyloriTherapie kommen - insbesondere bei häufigen Rezidiven mit erkennbarer psychosomatischer Komponente - folgende Ansätze der Psychotherapie in Frage: Alle Formen der analytischen Psychotherapie: Die Indikation richtet sich nach der Persönlichkeit und dem Strukturniveau. Man kann dabei nicht voraussetzen, daß behandlungsbereite Patienten anfangs auch bereits einen Zugang zu Hintergrundsproblemen haben; ein Gespür für Konflikte und Angste zu erlangen, ist bei fast allen Ulkuspatienten, insbesondere beim Grundstörungstyp, bereits ein Therapieziel. Die Unterstützung des Wahrnehmungs- und Differenzierungsvermögens für Gefühle und Phantasien ist daher ein wichtiger methodischer Aspekt in der Behandlung. Entspannungsveifahren: Autogenes Training. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen: Beeinflussung der Risikofaktoren Nikotin- und Alkoholabusus. Biofeedback zur Verbesserung der Selbstregulation der Magenmotilität und azidität befindet sich noch im experimentellen Stadium Colitis ulcerosa (ICD-IO: F54, K51) Krankheitserscheinungen eine relativ häufige entzündliche Darmerkrankung, familiär gehäuft und meistens im jungen Erwachsenenalter, gelegentlich aber auch im Alter. befällt zuerst den Rektosigmoidbereich, geht dann auf den gesamten Enddarm über, seltener auch auf den absteigenden Dickdarm, in besonders schweren Fällen sogar auf gesamten Dickdarm. Sie ist gekennzeichnet durch - krampfartige Bauchschmerzen (Tenesmen), blutige, schleimige Durchfälle, die chronisch-rezidivierend auftreten, starkes allgemeines Krankheitsgefühl, Fieber, Anämie und Gewichtsverlust. Psychisch bestehen gelegentlich Depressionen. eine schwere, bisweilen lebensbedrohliche Erkrankung Komplikation: akut massive Blutungen; Im Rahmen einer toxischen Colitis Durchbruch der Darmwand mit Peritonitis oder Ausbildung eines toxischen Megakolons kommen. Erhöhtes Risiko eines Dickdarmkarzinom Gleichzeitig besteht oft ein Erythema nodosum, eine Arthritis, Iridozyklitis, sklerosierende Cholangitis u.a. Kolitiker scheinen auch besonders gefährdet zu sein, an einer Schizophrenie zu erkranken. Krankheitsfaktoren komplex und teilweise noch unklar; Erbliche Faktoren, v.a. Autoimmunprozesse, Infektionen, als .Teilursachen diskutiert; Psychische Krankheitsfaktoren sind für den Verlauf mitbestimmend lebensgeschichtliche psychische Disposition: 117 besteht in frühen Erlebnissen von Ablehnung und Zurückweisung -> Dabei ist die Ablehnung oft durch eine "erdrückende" Uberfürsorglichkeit verdeckt -> besondere Bedeutung haben hohe Anforderungen, denen diese Kranken als Kinder ausgesetzt sind und die sie übernehmen, so daß sie sich später beständig selbst überfordern. => als Folge dieser Erfahrungen ein labiles Selbstgefühl mit starker Abhängigkeit von der Realpräsenz anderer Menschen, die sie bemuttern, und Verleugnung der dabei aufkommenden Enttäuschungen und Aggressionen -> Die Objektbeziehungen dienen der narzißtischen Stabilisierung und sind leicht verwundbar. Die manifeste Persönlichkeit ist nicht einheitlich. oft narzißtische und schizoide Borderlinezüge oft auch zwanghaft wirkendes Verhalten (im Sinne der neurotischen Weiterentwicklung der Grundstörung) typische Auslösesituationen: bei Patienten auf Borderlineniveau: Trennungs- und Verlassenheitserlebnisse -> sie werden als Zurückweisungen und Kränkungen erlebt und bedeuten zugleich Verlust der Sicherheit -> Es entstehen Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und ohnmächtiger Zorn -> Die aggressiven Impulse werden gegen die eigene Person gerichtet, um den anderen, von dem die Betroffenen sich existentiell abhängig fühlen, zu schonen -> . Das Selbst wird dabei mit dem eigenen Körper gleichgesetzt, wobei der Modus des somatischen Erinnerns, d.h. der Umsetzung von Affekten in Körperläsionen unklar ist. Bei Patienten mit höherstrukturierten, insbesondere zwanghaften Persönlichkeiten: Dominanzund Unterwerfungskonflikte, durch welche regressive Prozesse eingeleitet werden Diagnostik und Behandlung Wünsche nach Realpräsenz und ausgeprägte Verletzbarkeit durch reale oder vermeintliche Zurückweisungen belasten die Arzt-Patient-Beziehung und lösen beim Behandler Distanzierungsbedürfnisse oder Überforderungsgefühle aus, die den langfristigen Umgang mit den Patienten belasten. Internistisch werden vor allem Azulfidine und Kortison eingesetzt. Therapeutisch muß der betroffene Darmabschnitt insbesondere bei Darmwanddurchbruch und schwerer Blutung operativ entfernt werden. Psychotherapie: psychodynamisch oder verhaltenstherapeutisch fundierte supportive Maßnahmen, die die Krankheitsbewältigung unterstützen. Kombination von internistischen Maßnahmen mit supportiver Psychotherapie ist bezüglich Schwere und Häufigkeit der Schübe und Vermeidung von Operationen einer rein medikamentösinternistischen Therapie deutlich überlegen. Analytische Psychotherapie: Indikation bei weniger kranken Colitispatienten des mittleren und höheren Strukturniveaus im allgemeinen wird im beschwerdearmen Intervall begonnen Ziel: Verminderung der narzißtischen Verletzlichkeit und die Verminderung der Brisanz der Konflikte, die in der Symptomauslösung zum Tragen gekommen sind -> der Krankheitsverlauf wird gemildert und die Häufigkeit und Schwere der Schübe vermindert. Enteritis regionalis (Morbus Crohn) (ICD-IO: F54, K50) Krankheitserscheinungen Der Morbus Crohn ist eine chronische, segmentale Entzündung, die vorwiegend im jüngeren Erwachsenenalter auftritt und, nach epidemiologischen Befunden, in den letzten Jahrzehnten an Häufigkeit zunimmt. Sie kann den gesamten Verdauungstrakt, also auch Magen und Speiseröhre betreffen. Am häufigsten werden das terminale Ileum (Ileitis terminalis) und das Kolon befallen. Die Krankheit kann durch extraintestinale Manifestationen (wie bei Colitis ulcerosa) und durch Malabsorption, Stenosen und Fistelbildung kompliziert sein. Die Leitsymptome sind: - Abdominal: Bauchschmerzen, oft ähnlich wie bei einer akuten Appendizitis, Durchfälle, z. T. auch blutige Stühle; bei Lokalisation im Dünndarm bestehen Absorbtionsstörungen. Allgemeines Krankheitsgefühl, Gewichtabnahme und Fieber. Begleitende extraintestitinale Krankheitserscheinungen wie bei der Colitis ulcerosa. 118 - Auffällig ist die Häufung psychischer Störungen und Symptome: Ängste, Depressionen, Suchterkrankungen, Borderlinesyndrome. Krankheitsfaktoren Die Krankheitsursachen sind noch nicht aufgeklärt. Wahrscheinlich besteht auch hier eine gewisse erbliche somatische Disposition. Über vermutete immunologische Fehlsteuerungen oder auch Infektionen als Krankheitsursachen ist wenig bekannt. Psychosomatische Faktoren sind nicht regelhaft nachgewiesen, spielen in Einzelfällen aber eine entscheidende Rolle. Die Unterschiede zur Colitis ulcerosa sind - wenn überhaupt - nicht sehr deutlich. Im Zentrum der Psycbodynamik stehen unbewußt stark ambivalent erlebte Abhängigkeitsbeziehungen, die von Ablehnung und/oder individuationshemmender Überfürsorglichkeit bestimmt sind. Die Ambivalenz ist oft von starken Schuldgefühlen begleitet, die im Zusammenhang mit Verselbständigkeitswünschen aufkommen. Die Abwehr von Abhängigkeitskonflikten äußert sich in einer pseudo-unabhängigen Persönlichkeit, einer Variante der narzißtischen Persönlichkeit: Es besteht ein betont lockeres Auftreten mit starker Tendenz zu Verleugnung und Abspaltung von Gefühlen. Diese Verleugnung wirkt sich auch als eine Tendenz zum Bagatellisieren auf das Krankheitsverhalten aus. Auslösend für die Krankheitsschübe sind drohende oder reale Trennungen. Behandlung Die Arzt-Patient-Beziehung gestaltet sich noch schwieriger als bei Colitiskranken: Die Ambivalenz von anklammerndem Verhalten und Distanzierung, die eine Folge der Pseudounabhängigkeit dieser Patienten ist, ist schwer zu handhaben. Therapeutisch und prognostisch gelten dieselben Grundsätze wie bei der Colitis ulcerosa. Neurodermitis (Atopischesoder endogenes Ekzem) (ICD-IO: F54, L2Q) Krankheitserscheinungen Die Neurodermitis ist eine schubweise verlaufende, stark juckende Hautentzündung. Somatisch bestehen chronisch oder rezidivierend auftretende, stark juckende, rötliche, papulöse Effloreszenzen. Sie neigen zur Lichenifizierung. Durch Kratzen entstehen Sekundäreffloreszenzen. Die typische Lokalisationen sind die Gelenkbeugen, Gesicht und Hals. Gleichzeitig bestehen oft andere atopische Erkrankungen: Rhinitis allergica, Asthma bronchiale. Beim Kleinkind kommt außerdem der Milchschorf als entzündliche Schuppung am behaarten Kopf und auf den Wangen vor. Psychisch sind vor allem die akuten Krankheitsphasen von intensiven Depressionen und Gefühlen der Hoffnungslosigkeit, von Selbstmitleid und Aggressivität begleitet. Juckreiz führt zu Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Die Kranken schämen sich wegen der Kratzläsionen und Narben. Sie ziehen sich zurück und beginnen, den Kontakt zu anderen zu vermeiden. Auftreten und Krankheitsverlauf Auftreten: als Ekzem und Milchschorf in der Regel bereits im Säuglingsalter Häufigkeit: ca. 5% aller Kinder Ersterkrankungen: meist in den ersten fünf Lebensjahren, während der Pubertät oft Remissionen. Die Symptome verschwinden in 80% spontan bis zum 20. Lebensjahr. Rezidive treten häufig in Schwellensituationen auf, besonders zu Beginn des Erwachsenenalters (z.B. Partnerbindung), Neurodermitis kann aber auch erst im Erwachsenenalter beginnen. Krankheitsfaktoren Die somatische Krankheitsdisposition besteht in einer eindeutigen erblichen einer immunologischen (zeigt sich in einer Übererregbarkeit der sympathisch innervierten Hautfunktionen, in einer erhöhten Histaminfreisetzung und einer vermehrten IgE-Produktion. Diese beruht möglicherweise auf einem Kontrolldefekt der Suppressorzellen oder einzelner Untergruppen von T-Lymphozyten. Physikalische Einflüsse (z.B. Wärme, Wolle, Druck) und Infektionen fördern die Symptomentstehung) einer allergischen und einer psychosomatischen Disposition (Verknüpfung von Haut und Objektbeziehung ist durch die Bedeutung der Haut als "Kontaktorgan" vorgegeben. Sie wird in der frühen Mutter-Kind- 119 Beziehung durch körpernahe, coenästhetische Empfindungen, v.a. durch Wärme, Berührung und das Gehaltenwerden vermittelt. In der Individuationsentwicklung gewinnt die Haut aber auch die Funktion der Abgrenzung, des Schutzes und der Wahrung der körperlichen Integrität. Sie vermittelt die Wahrnehmung spezifischer Stimulationen. Störungen der Mutter-Kind-Beziehung, z.B. durch besondere Gereiztheit der Mutter, können als Ablehnung erlebt werden und sich als Erleben an der Haut vermitteln. Daraus kann die Disposition entstehen, später zu regredieren und psychische Spannungen, z.B. Zurückweisungen, als "Körpererinnerung" an der Haut zu erleben) Beziehung der Mütter zu den Kindern: im allgemeinen schwierig, weil die Mütter sich durch das Aussehen ihrer Kinder und das andauernde Kratzen belastet fühlen, Berührungen scheuen und zunehmend gereizt reagieren. Durch die notwendige intensive Körperpflege erhalten die Kinder aber auch besondere Aufmerksamkeit und taktile Stimulierung. oft starkes Schwanken zwischen Zuwendung und Distanzierung -> es entsteht eine hohe psychische Empfindlichkeit in der Regulierung von Nähe und Distanz, von Hingabewünschen und Empfindlichkeit für Ablehnungen und Trennungen. Sie führt zu Kontaktstörungen und ist der Kern der leicht verwundbaren, schizoiden Persönlichkeit vieler Neurodermitispatienten. Oft ist die Kontaktstörung hinter einer hysterischen oder zwangsneurotischen Abwehrfassade verborgen. Auslösesituationen für Neurodermitisschübe: häufig körperliche, z.B. auch sexuelle Annäherungen oder Distanzierungen. Annäherung ist dabei unbewußt mit der Angst verbunden, Schutz und Abgegrenztheit zu verlieren. Daraus entsteht eine Bedrohung des Selbst; Distanzierung führt dagegen zur Angst vor Verlassenheit. Darüber hinaus sind Lebensveränderungen, z.B. im Zusammenhang mit Beziehungsabbrüchen, Krisen in der Elternehe, Wohnortwechsel, Studienbeginn usw. symptomauslösend. Man kann annehmen, daß durch diese Situationen unbewußt Gefühle von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit hervorgerufen werden, die den Prozeß der Regression einleiten und die Symp!ombildung triggern. Die Verhaltenstherapie legt das Gewicht auf die Bedingungsanalyse der auslösenden Stimuli, die einen Circulus vitiosus von Juckreiz und Kratzen auslösen. Diagnostik und Behandlung Die Diagnose wird aufgrund der Hautsymptome und des klinischen Verlaufes gestellt. Im Untersuchungsgespräch erkennt man oft emotionale Faktoren, die mit der Symptomentstehung im Zusammenhang stehen. Es sind insbesondere Kontaktprobleme zum Zeitpunkt der Krankheitsentstehung. In der Regel stehen die Patienten psychosomatischen Zusammenhängen aber reserviert gegenüber, so daß diese erst angesprochen werden können, wenn eine sichere Beziehung entstanden ist. Die Arzt-Patient-Beziehung ist gekennzeichnet von Nähebedürfnissen einerseits und von Kontaktangst andererseits. Da die Arzt-Patient-Beziehung per se ein Kontaktangebot ist, gefährdet sie die als notwendig erlebte Distanz. Um sie dennoch aufrecht zu erhalten, verhalten die Kranken sich oft feindselig. Dieses Verhalten ist für den Arzt belastend und kann leichter ertragen werden, wenn man dahinter den Nähe-Distanz-Konflikt erkennt. Zur Klärung der eigenen, auf Dauer meist ablehnenden Gegenübertragungsreaktionen kann die Teilnahme an einer Balint-Gruppe nützlich sein. Dermatologisch steht die lokale Behandlung mit Externa und zeitweise die Kortisonbehandlung im Vordergrund, daneben die Bekämpfung des Juckreizes mit Antihistaminika sowie Klimabehandlungen. Einer Psychotherapie steht der größere Teil der Patienten skeptisch gegenüber: Die Reflektion ihrer inneren Erlebnisse ist ihnen fremd. Sie suchen beim Psychotherapeuten höchstens Anleitung und Führung. Indiziert sind neben supportiver Psychotherapie auch Entspannungsverfahren: Autogenes Training oder Progressive Relaxation. Die Indikation zur analytischen Psychotherapie: bei Patienten, die im Verlaufe einiger klärender und diagnostischer Gespräche an die Wahrnehmung innerer Konflikte herangeführt werden können und die eine Bereitschaft entwickeln, sich in einen Prozeß der inneren Auseinandersetzung mit sich selbst zu begeben. 120 In einer analytischen Psychotherapie werden insbesondere die Probleme der Nähe sowie die Dynamik der selbstschützenden Feindseligkeit durchgearbeitet. verhaltensmedizinische Maßnahmen zur Reduktion des Kratzens: systematische Selbstbeobachtung und operante Methoden, bei denen Vermeidung von Kratzen belohnt und alternative Verhaltensweisen erlernt werden durch Biofeedback geförderte Selbstentspannung Training sozialer Kompetenz und Kommunikation mit dem Ziel, spannungsauslösende Belastungen, die im Kratzen abreagiert werden, abzubauen. Bei angemessener Indikation bewirken die psychotherapeutischen Maßnahmen eine Verbesserung der Behandlungsergebnisse und stabilere Remissionen und kürzere Schübe sowie einen geringeren Bedarf an Kortikosteroiden als Behandlungen ohne Psychotherapie: Eine mit analytischer Psychotherapie kombinierte dermatologische Behandlung hat 45% Besserungsraten, während dermatologische Behandlungen allein nur bei 15% der Neurodermitispatienten stabile Besserungen bringen. Eine Heilung der körperlichen Disposition kann nicht erreicht werden. Rheumatoide Arthritis (Chronische Polyarthritis) Krankheitserscheinungen Autoimmunerkrankung, die durch chronische Gelenkschmerzen gekennzeichnet ist. Es bestehen symmetrisch auftretende Entzündung der Finger-, Hand-, Zehen- und Sprunggelenke. Frauen, vor allem im höheren Lebensalter, sind dreimal häufiger betroffen als Männer. Die Leitsymptome: Bewegungs- und Druckschmerz, Schwellung und Rötung der Gelenke, evtl. auch Ergußbildung, sowie fortschreitende Bewegungseinschränkung mit Morgensteifigkeit, Deformation und Versteifung der Gelenke, unspezifische Allgemeinerscheinungen: Schwäche, Müdigkeit, Erhöhung der Körpertemperatur und Appetitlosigkeit, Depressionen, systemische Komplikationen durch Beteiligung der Lunge, des Herzens und der Augen. Krankheitsfaktoren Die Basis der Erkrankung sind Autoimmunprozesse, die die Entzündungen hervor rufen. Diese können durch psychische Krankheitsfaktoren beeinflußt werden: Häufig trifft der Beginn der Krankheit oder ein Schub mit belastend erlebten Einschränkungen motorischer Bedürfnisse (z.B. ein Sportverbot nach Verletzungen) zusammen. Dieser Symptombeginn korrespondiert oft damit, daß die Kranken in ihrer Entwicklung starke motorische Kontrolle erfahren haben, so daß ihre Bereitschaft gehemmt ist, emotionale Spannungen muskulär abzuführen. Häufig stehen am Symptombeginn aber auch Beziehungskrisen, in denen die Betroffenen sich starken aggressiven Impulsen ausgesetzt fühlen. psychodynamischer Hintergrund: Konflikt zwischen aggressiven Regungen und dem Bedürfnis, das "Objekt" vor der eigenen Aggression zu schützen. Dahinter steht häufig ein ungelöster Autonomiekonflikt, in andern Fällen aber auch ein zwangsneurotisch verarbeiteter Macht- und Unterwerfungs-Konflikt. Die manifeste Persönlichkeit: Geprägt durch das chronische SchmerzerIeben, ein Teil der Patienten erlebt schon bei geringer Gelenkveränderung intensive Schmerzen und darunter leidet, ein anderer Teil fühlt sich jedoch bei zunehmenden Schmerzen subjektiv entlastet = zwei Formen der masochistischen Verarbeitung von Schuldgefühlen im Zusammenhang mit der Aggressionsproblematik dieser Patienten: Die einen spüren gleichsam den Schuldschmerz, die anderen fühlen sich durch die "Bestrafung" subjektiv entlastet. Insofern besteht eine Verwandschaft zur Persönlichkeit bei psychogenen Schmerzen. Dem entsprechen auch die Persönlichkeitsstrukturen: 121 - Zwanghafte Patienten entwickeln Perfektionismus und Unterwürfigkeit als Kontrolle ihrer Aggressionen gegen andere, depressive und narzißtische Patienten haben mit Verzichtsbereitschaft und Selbstaufopferungeine typisch masochistische GrundeinsteIlung; daneben besteht bei ihnen oft auch eine verdeckte Herrschsucht, mit der sie sich die Zuwendung und Anwesen- heit anderer sichern wollen. Diagnostik und Behandlung In der Arzt-Patient-Beziehung sind diese Patienten emotional schwer erreichbar. Da sie Konflikten ausweichen, sich einerseits unterwürfig geben, andererseits die untergründige Aggression im Kontakt spürbar wird, besteht die Gefahr, sich als Arzt frustriert zurückzuziehen. Therapeutisch empfiehlt sich eine psychosomatische Behandlung, wie s.o. skizziert wurde. Medikamente (Schmerz- und Rheumamittel), physikalische Therapie u.a. werden dabei mit psychotherapeutischen Interventionen verknüpft. Wichtig ist die Herstellung einer tragfähigen Beziehung, in der der Patient es wagen kann, Forderungen zu stellen, offen aggressiv zu sein und Hilfe anzunehmen. In frühen Krankheitsstadien sollte der Versuch gemacht werden, durch tiefenpsychologische Psychotherapie auslösende Ursachen und psychosoziale Probleme konfliktzentriert zu bearbeiten. Im übrigen liegt der Schwerpunkt bei der Krankheitsverarbeitung. Dazu gibt es inzwischen bewährte verhaltenstherapeutische Schmerzbewältigungsprogramme. Außerdem kommen, neben einer psychologisch fundierten ärztlichen Führung, Entspannungsübungen (z.B. Autogenes Training) und körpertherapeutische Interventionen (z.B. Konzentrative Bewegungstherapie) in Betracht. 122 13. Psychosomatik in einzelnen Fachgebieten 13.1 Allgemeinmedizin - Psychosoziale Aspekte des Krankseins, v.a. Krankheitsbewältigung und die Arzt-PatientBeziehung allgemeine psychosomatische Diagnostik: ärztliches Untersuchungsgespräch Umgang mit chronisch Kranken und Sterbenden allgemeine ärztliche Psychotherapie und die psychosomatische Grundversorgung stützende Behandlung und Krisenintervention, die Behandlung neurotischer und psychosomatischer Patienten mit Psychopharmaka 13.2 Augenheilkunde enge Verknüpfung von Sehen (optischer Prozeß) und Wahrnehmung (Erlebnisprozeß), v.a. bei Konversionsneurosen (psychogene Sehstörungen), lridozyklitis (Colitis ulcerosa und Morbus Crohn), Uveitis, Blepharospasmus, Glaukom Uveitis posterior (Chorioretenitis) chronische Entzündung der Aderhaut (Choreoidea, hintere Uvea [lat.] "Traubenhaut") Störungen des Sehens: Gesichtsfeldausfalle, Verschleierung und Nachlassen der Sehkraft. Ätiologie unklar: scheinbar psychische Belastungen, v.a. Konflikte im Zusammenhang mit Neugier, sexuelle Konflikte und Verlusterlebnisse; autoaggressive Verarbeitung von Schuldgefühlen an der Krankheitsentstehung Differentialdiagnose: vgl. auch Konversionsneurosen und Multiple Sklerose. 13.3 Chirurgie - v.a. chronische Darmerkrankungen: Ulcus ventriculi et duodeni, Colitis ulcerosa und Morbus Crohn. Z.T. Patienten mit Selbstbeschädigung, Zunehmend Probleme der Krankheitsverarbeitung, z.B. im Vorfeld und in Folge von Operationen (Herzoperationen), in der Onkologie und Intensivmedizin 13.4 Dermatologie - - - - Akne vulgaris: Die hormonabhängigen Hautveränderungen ("Pickel") Atopisches Ekzem siehe Neurodermitis Artefakte Siehe artefizielle Störungen Spezielle artefizielle dermatologische Syndrome: Acne excoriee des jeunes filles. Malträtieren der Haut, bis schießlich Narben entstehen. Anlaß bilden geringe Unreinheiten oder Pickel, die ausgedrückt werden, manchmal ein Juckreiz; oft auch gar keine Anlässe vorhanden; Trichotillomanie (Haareausreißen) und Onychophagie (Nägelkauen). Alopezie: Psychisch mitbedingter Haarausfall; Bei erfolgreicher Behandlung völlig reversibel. zwei Varianten auf: Alopecia areata. Kreisrunder Haarausfall, der später das ganze Kopfhaar (A. totalis) betreffen und schließlich zum Verlust der gesamten Körperbehaarung führen kann (A. universalis); vermutlich die Folge einer psychoimmunologischen Regulationsstörung. Alopecia diffusa. Diffuser, manchmal objektiv auch gar nicht nachweisbarer (subjektiver) Haarausfall. Ein Depressionsäquivalent nach Verlusteriebnissen, wobei die Trennungswut autoaggressiv verarbeitet wird ("Sich die Haare ausraufen"). Exkoriationen siehe Artefakte. Glossodynie (Psychogenes Zungenbrennen) Herpes simplex: Durch Herpesviren bedingte Bläschenerkrankung im Bereich der Lippen (H. labialis) oder im Genitalbereich (H. genitalis); verläuft chronisch-rezidivierend; Auslöser für Rezidive u.a. starke Sonnenbestrahlung (UV-Licht) oder Fieber, auch durch Erschöpfung und psychischen Streß, unterdrückte Angst, Trauer, Wut u.a. aversive Affekte, z.B. Ekel; Typische Auslösesituationen: Prüfungsangst , (sexuelle) Anforderungen und Paarkonflikte, Verluste und Trennungen sowie Kränkungen. Neurodermitis 123 - - - Pruritus (psychogener Juckreiz): Zentralnervöses Jucken (Haut- oder systemische Erkrankungen sind ausgeschlossen); Symptomverstärkung bei Ruhe und Wärme; Zumeist Konversionsneurose; bevorzugte Lokalisation: Genital- und Analbereich; Psoriasis vulgaris (Schuppenflechte): Schubartige, vielfältige Hautschuppungen; gehäuft nach emotionalen Belastungen; werden sekundär oft depressiv verarbeitet werden; psychischer Faktor: eine Störung der frühen Individuationsentwicklung. Urtikaria 13.5 Gynäkologie - - Im geburtshilflichen Bereich: Schwangerschaftserkrankungen, v.a. Schwangerschaftserbrechen, Spätgestosen, habituelle Abortneigung In der Reproduktionsmedizin: Fragen der Familienplanung, Probleme des Schwangerschaftsabbruchs, Beratung bezügliche künstlicher Befruchtung In der Gynäkologie: funktionelle Syndrome im Urogenitalbereich, v.a. Zyklusstörungen, psychogene Urethralsyndrom, funktionelle Sexualstörungen; psychogene Bauchschmerzen; psychoonkologische Aufgaben im Zusammenhang mit Brust- und Genitalkrebserkrankungen. Zyklusstörungen: primäre Amenorrhoe: psychosomatische Faktoren im allgemeinen primär als Störungsursache nicht beteiligt sekundäre Amenorrhoe: häufig Reaktion auf seelische Belastungen und Konflikte und kommt auch als Symptom bei anderen neurotischen Erkrankungen vor, z.B. bei der Anorexie, bei Psychosomatosen oder bei depressiven Neurosen. je nach Art der Auslöser: o reaktive sekundäre Amenorrhoe als Reaktion auf Streß und Traumata (Vergewaltigung!), o Amenorrhoe im Rahmen von adoleszenten Entwicklungskrisen, in denen es um Probleme der Rollenfindung als Frau geht o Die eigentlich neurotische sekundäre Amenorrhoe bei chronischen psychosexuellen und Partnerschaftskonflikten. 13.6 Hals-Nasen-Ohrenheilkunde - Schwindel, Meniere-Erkrankung, Globusgefühl, psychogene Sprechstörungen Tinnitus: Pfeifen oder andere Ohrgeräusche (Klingeln, Rasseln) ohne äußeren akustischen Reiz, vorübergehend oder andauernd, ein- oder (meistens) beidseitig oder "im Kopf“ lokalisiert. Hörsturz: Plötzlich eintretende, ein- oder beidseitige Verminderung der Hörintensität. Der Hörsturz kann mit Schmerzen, Schwindel und Ohrdruck verbunden sein. 13.7 Innere Medizin v.a. Artefizielle Störungen und Münchhausen-Syndrom Erbrechen Eßstörungen, speziell Adipositas Anorexia nervosa Bulimie Fibromyalgie Hypertonie Psychosomatosen, speziell Asthma bronchiale Colitis ulcerosa und Enteritis terminalis (M. Crohn) Rheumatiode Arthritis (Chronische Polyneuritis) Ulcus ventriculi et duodeni Somatisierungssyndrome, v.a. im Bereich des Herz-Kreislauf-Systems: Herzneurose, Hypertonie im Magen-Darm-Bereich: Magenneurose, funktionelles Ober- und Unterbauchsyndrom, Gallenkolik Hyperventilationssyndrom Schmerzsyndrome 124 13.8 Neurologie - - - - - Epilepsie: Emotionale Spannungen können psychomotorische Anfälle provozieren; Ziel begleitender Psychotherapien: die Reduzierung der Anfallshäufigkeit und –stärke und Verarbeitung der emotionalen Folgen, insbesondere Depressivität und Suizidalität. Extrapyramidale Bewegungsstörungen: Schreibkrampf, Schiefuals, Tic, Blepharospasmus. Multiple Sklerose (M.S.) und Myasthenia gravis: Organische Erkrankungen mit deutlichem Einfluß emotionaler Faktoren auf den Verlauf, wahrscheinlich auf der Basis psychoimmunologischer Kopplungen. Die M.S. ist eine schubweise verlaufende, progrediente Erkrankung mit herdförmigem Zerfall der Markscheiden in Hirn und Rückenmark, wodurch multiple Beschwerden (Parästhesien, Sehstörungen, Gangstörungen u.v.a.) entstehen. Die Myasthenie ist eine Autoimmunerkrankung, die durch Schädigungen im Bereich der Nervenendplatten zur intermittierenden Muskelerschlaffung, bevozugt der Kopfmuskeln ("Einnicken"), führt. Fibromyalgie Migräne: Anfallsartige, halbseitig lokalisierte Kopfschmerzen ("Hemikranie") mit Übelkeit und Überempfindlichkeit gegenüber Licht und Lärm bei unauffälligem neurologischen Befund; Pathophysiologie: Kontraktionen und Erschlaffungen der Hirngefäße, Thrombozytenaggregationen und Übererregbarkeit der Hirnrinde; Behandlung: Entspannungstherapie, narzißtische Stützung und angemessene, nicht zu stark labilisierende Konfliktklärungen bzw. kognitiver Verhaltenstherapie, medikamentös mit Betablockern und, im akuten Anfall, Ergotamin. Pseudoneurologische Konversionsneurosen: Zumeist plötzlich auftretende, wechselnde oder anhaltende Funktionsstörungen ohne organpathologische Befunde mit bisweilen dramatischem Verlauf ("plötzlicher Sehverlust... "). Psychogene Anfälle: Psychomotorische, dramatisch erscheinende Anfälle bei geschlossenen oder starr blickenden Augen, gelegentlich mit Einnässen und Zungenbiß. Die Pupillenreaktion auf Licht ist intakt. Schwierig ist oft die Abgrenzung gegenüber tetanischen und synkopalen Anfällen sowie insbesondere gegenüber epileptischen, vor allem wenn gleichzeitig eine Epilepsie besteht (konversionsneurotische Uberformung einer Epilepsie). Die Disposition bilden dramatisch erlebte Bedrohungen und Traumatisierungen, bei denen das Erleben der existenziellen Gefahr im Anfall konvertiert wird. Man kann annehmen, daß psychogene Anfälle, ätiologisch betrachtet, zumeist chronische posttraumatische Syndrome sind. Schwindel. Intermittierend oder andauernd auftretender Schwindel gilt in rund 10% der Fälle als psychogen. Er entsteht auf der Basis von Hingabestörungen oder "schwindelerregenden" Größenphantasien. Bei der Meniere-Erkrankung bestehen anfalls artiger Drehschwindel, Ohrensausen und multiple vegetative Beschwerden als Abwehr narzißtischer Ohnmachts- und Kränkungserlebnisse. Psychogene Sehstörungen, psychogene Blindheit Hörstörungen Psychogene Lähmungen. Vielgestaltige klinische Bilder als Bewältigung "klassischer" Trieb-Überich-Konflikte zwischen Bedürfnis und Schuldgefühl. Gangstörungen: Gangunfähigkeit (Abasie) bzw. partielle Gangstörung (Dysbasie) mit schlaffer Lähmung ohne objektivierbaren neurologischen Befund. Bei chroruschem Verlauf mit langdauernder Inaktivität entsteht in den betroffenen Partien sekundär eine Muskelatrophie. Globus hystericus (Schluckstörung) Psychogene Sensibilitätsstörungen. Handschuhartig lokalisierte Parästhesien (Kribbeln), Hypästhesien (Unempfindlichkeit) usw. bis hin zur Hemianästhesie (halbseitige Mißempfindungen bzw. Sensibilitätsausfall); sie folgen nicht der anatomischen segmentalen Nervenversorgung. Als Motive liegen häufig konflikthafte Wünsche, zu berühren oder berührt zu werden, zugrunde, z.B. nach Verlust eines langjährigen geliebten Menschen, nach dessen Berührung man sich sehnt. Psychogene Schlafstorungen Psychogene Schmerzsyndrome: v.a. Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Migräne 125 13.9 Orthopädie Am häufigsten: psychogene Schmerzsyndrome (Fibromyalgiesyndrom), chronische Rückenschmerzen, pseudoneurologische Konversionsneurosen von Bedeutung. Fibromyalgie: chronische Schmerzen, v.a. an den Sehnenansätzen an mehreren Stellen des Bewegungsapparates; Ausgehend von einem einzigen Schmerzpunkt, reift die Symptomatik zur Generalisierung; Definition: für eine positive Diagnose müssen mindestens fünf Schmerzpunkte bestehen; Zusätzlich bestehen oft Schlafstörungen, Abgeschlagenheit und Kopfschmerzen. Objektive Befunde, z.B. auffällige Laborund Röntgenbefunde, fehlen; Schmerzentstehung ist eine Somatisierung oder eine Konversion oder Mischforrnen; Krankheitsverhalten: großer "Konsum" von Ärzten, ("Koryphäenkiller-Syndrom"); wichtigste Differentialdiagnosen: entzündlich rheumatische Erkrankungen, Polymyalgia rheumatica Rückenschmerzen: Zervikal-, Thorakal- und Lumbalsyndrom (je nach Lokalisation); z.T. eine Somatisierung mit muskulären Verspannungen oder Konversionsschmerz; häufiger Grund für Krankschreibung und vorzeitige Berentung; Differentialdiagnose: körperlich bedingte Rückenschmerzen (Rheuma, Entzündungen, Verkalkungen, Tumore bzw. Metastasen); Behandlung: Grundsätze der psychosomatischen Schmerztherapie 13.10 Pädiatrie neurotische Störungen im Kindes- und Jugendalter sind im allgemeinen als Folge von Reifungs- und Entwicklungskrisen und sind eng in die Dyanamik der Familien eingebunden sind: Oft dekompensiertqas Kind als "schwächstes Glied" im Familiensystem, obwohl der Fokus der familiären Pathologie z.B. in einer Störung der Elternehe liegt => grundsätzlicher Ansatz der Kinder- und Jugendlichenpsychosomatik ist v.a. ein familienmedizinischer und familientherapeutischer. wichtigste Themen und Probleme, an denen psychologische und psychosomatische Faktoren beteiligt sein können: im Säuglingsalter: Gedeihstörungen, Eßstörungen und Erbrechen, Schmerzen ("Koliken "), Milchschorf und Neurodermitis, Kontaktstörung, Apathie, Depressionen; im Kleinkindalter: Störungen der physiologischen und psychischen Reifung: Sprechen- und Laufenlernen, Sauberkeit; Hyperrnotorik, Aggressionsprobleme, depressive Gereiztheit, Ängste und Phobien, "das stille Kind"; im Vorschul- und Schulalter: Dunkelängste, Phobien, Bettnässen, Einkoten, Jaktationen, Asthma bronchiale, Infektionsneigung, Störungen bei der Kontaktaufnahme und im Zusammenspiel, aggressives Verhalten, hyperkinetisches Syndrom, Stottern, Tic, sozialer Rückzug, Lernstörungen, Schulversagen , Stehlen; im Jugendalter: Kontaktstörungen, Depressionen, Suizldalität, Schlafstörungen, Eßstörungen, anorektische Episoden, jugendliche Fettsucht, Kopfschmerzen, Ohnmacht, adoleszente Entwicklungskrisen. 13.11 Urologie - psychogenes Urethralsyndrom funktionellen Sexualstörungen Krankheitsbewältigung bei Dialysebehandlungen 13.12 Zahnmedizin Gesicht und Mund -> zentrale Stellung für das Selbsterleben, es verdichten sich im Mundbereich oraltriebhafte, narzißtische, zärtlich-sexuelle und kommunikative Funktionen -> Der Mund-Gesichts-Bereich ist daher auch ein Ort, auf den Konflikte projiziert und an dem psychische Probleme abgehandelt und psychosomatische Krankheiten ausgetragen werden. Orofaziale Schmerzen Konversionsschmerzen, häufig mit "Parafunktionen" (Zähneknirschen) und nachfolgenden funktionsbedingten Schmerzen im Kiefergelenk und in den Kaumuskeln verbunden; Behandlung: Schmerzbewältigungstrainings, Biofeedback, konfliktorientierte Psychotherapie; Glossodynie (Psychogenes Zungenbrennen), Prothesenunverträglichkeit: Brennen der Mundschleimhaut und der Zunge, oft nach Implantation von Zahnersatz; meist Konversionsneurose - Orale und oral-sexuelle Bedürfnisse (Einverleibung, mit der Zunge berühren), oral-aggressive Impulse (Zubeißen, Beißhemmung, Rivalität, das "Revier 126 verteidigen"); auch als Somatisierungssyndrom, z.B. als Äquivalent von Trauer und Depression beim Verlust der Zähne; der Schönheit, des "Ansehens", der Kraft im Verlauf des Alterungsprozesses; Behandlung siehe orofazialen Schmerzes.