Wortprotokoll Recht 15 / 40 15. Wahlperiode Plenar- und Ausschussdienst Wortprotokoll Ausschuss für Verfassungsund Rechtsangelegenheiten, Immunität und Geschäftsordnung 40. Sitzung 27. Mai 2004 Beginn: Ende: Vorsitz: 13.10 Uhr 15.30 Uhr Abg. Gram (CDU) Vor Eintritt in die Tagesordnung Siehe Beschlussprotokoll. Punkt 1 der Tagesordnung (alt 2) Besprechung gem. § 21 Abs. 5 GO Abghs Umsetzung der veränderten Impressumspflicht im Land Berlin (auf Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP) Siehe Inhaltsprotokoll. Punkt 2 der Tagesordnung (alt 1) Aktuelle Viertelstunde Siehe Inhaltsprotokoll. Vors. Gram: Wir kommen zu Punkt 3 der Tagesordnung Besprechung gemäß § 21 Abs. 5 GO Abghs Drastische Zunahme der Jugendgewalt in Berlin – Was unternimmt der Staat? (auf Antrag der Fraktion der CDU) Die Anzuhörenden habe ich vorhin schon begrüßt. Ich werde im Einzelnen noch einmal sagen woher sie kommen. Ich möchte zunächst Herrn Kollegen Braun zur Begründung das Wort erteilen, und dann schlage ich vor, dass wir in der Reihenfolge Berndt, Lück, Meißner und Schweitzer die Statements abgeben. Ich sehe Einverständnis. – Bitte, Herr Kollege Braun! Redakteurin: Carola Reitis, Tel. 23 25 1464 bzw. quer (99407) 1464 Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 2 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – Abg. Braun (CDU): Vielen Dank, Herr Vorsitzender! – Ich hatte vom Oktober letzten Jahres eine Kleine Anfrage, die noch im Dezember beantwortet wurde, zu dem heutigen Thema. Wir haben das als CDUFraktion dennoch noch einmal aufgerufen, weil durch die Beantwortung meiner Kleinen Anfrage der Eindruck entstanden ist, dass der Senat im Bereich der Prävention zwar sehr umfangreich informiert und aktiv ist, also, alles das, was man macht, um Kindern frühzeitig beizubringen, dass man Konflikte möglichst ohne Gewalt löst und vieles andere mehr und dass da eine Menge getan wird. Was aus dieser Antwort nicht hervorkam und wo der Senat auch offensichtlich Kenntnislücken einräumte, war die Frage: Was mache ich eigentlich mit Straftätern insbesondere mit Gewalttätern, wenn sie tatsächlich mehrfach in Erscheinung getreten sind? Wie wirke ich repressiv auf diese Täter ein, damit sie es künftig zu ihrem eigenen Schutz und insbesondere auch zum Schutz der Allgemeinheit insgesamt unterlassen, Straf- und Gewalttaten zu begehen? – Das war die Intention der heutigen Besprechung. Ich habe gesehen, Sie haben das heute gleich im „Tagesspiegel“, à la bon heure, genutzt, da haben Sie einen Journalisten gefunden, der nicht so ganz wusste, worauf er hinaus wollte, und da haben Sie es einfach noch einmal wiedergegeben. Das war nicht schlecht gemacht. Uns geht es darum, dass Sie uns als Justizsenatorin erklären, was man eigentlich macht. Wie wirkt man repressiv auf sie ein, dass sie das unterlassen? – Wir haben den Eindruck, dass da zu wenig passiert, insbesondere wenn man sieht, wenn die Leute dann erst einmal aus dem Gefängnis entlassen sind, was dann passiert. Sie machen dann häufig weiter. Da möchten wir noch einiges mehr von Ihnen hören. – [Abg. Dr. Felgentreu (SPD): Darf ich eine kurze Nachfrage stellen?] – Vors. Gram: Danke schön! – Ja, eine kurze Nachfrage ist jederzeit gestattet! Abg. Dr. Felgentreu (SPD): Herr Braun, nur eine kurze Nachfrage: Worauf gründet sich Ihr Eindruck, dass es eine drastische Zunahme der Jugendgewalt in Berlin gegeben hat? Abg. Braun (CDU): Wollen wir zunächst einmal die Antwort abwarten? – Das war das, was uns mitgeteilt wurde, und das, was gemeldet wurde, waren die ermittelten Straftaten. Wir wissen, dass die Dunkelziffer weit höher ist als das, was ist. – Herr Felgentreu, ich möchte mich einer Kommentierung im Moment enthalten, weil wir alle genau wissen, dass die Zunahme der Jugendgewalt in Berlin erheblich ist, dass wir genau wissen, dass heute insbesondere die Jugendlichen ihre Konflikte anders lösen, als im Wege der Auseinandersetzung und dass heute die Aggression sehr viel höher ist, als sie vielleicht in Ihrer oder meiner Schulzeit gewesen ist, dass heute durchaus von Jugendlichen nachgetreten wird, wenn sie schon am Boden liegen. Deswegen sage ich, dass die Jugendgewalt insgesamt zunimmt, nicht nur in Berlin, sondern darüber hinaus in unserer Gesellschaft insgesamt. Wenn Sie die Kleine Anfrage gelesen haben, werden Sie sehr schnell feststellen, dass es hier um die ermittelten Straftaten geht und dass das aber die Dunkelziffer ist. Das, was hier nicht angezeigt wird oder deshalb nicht verfolgt wird, weil die Kinder unter 14 Jahren sind, ist in dieser Stadt durchaus ein Problem. – Da gibt es gar nichts zu Grinsen! Vors. Gram: Verehrter Herr Kollege Braun! – In diesem Ausschuss wird nicht gegrinst, da wird höchstens geschmunzelt, und der Ernsthaftigkeit des Anliegens sind wir uns alle bewusst. Wir sollten den anderen Kollegen erst einmal die Möglichkeit geben, dazu Stellung zu nehmen. Dazu kann dann jeder – schmunzelnd oder ernst – dazu Stellung nehmen. Dann sollte die Frau Senatorin kurz etwas dazu sagen, und dann unsere anzuhörenden Gäste. – Dann habe ich noch Herrn Dr. Felgentreu. Bislang ist Schweigen im Walde und vornehme Zurückhaltung. – Dann erst Frau Senatorin. Der Ausschuss sollte die Gelegenheit haben, von Ihnen das zu hören, was wir in der Presse schon lesen konnten. – Bitte schön! Frau Bm Schubert (Just): Vielen Dank! – Pressearbeit und Ausschussarbeit sind zwei unterschiedliche Dinge, und deswegen habe ich gesagt, ich werde dem Interviewwunsch einer maßgeblichen Berliner Tageszeitung nicht widerstehen und habe deswegen auch das Interview gegeben. – Zu der Frage des Herrn Abgeordneten Braun: Herr Braun, wir haben in der Tat Erkenntnisse, dass die Anzahl der Straftaten im Jugend- und Heranwachsendenbereich seit 1997 zurückgeht. Was wir nicht haben, sind Erkenntnisse über den Umfang der Dunkelziffer. Das ist eine Frage der Definition. Dunkelziffer ist Dunkelziffer, und da kann man Vermutungen anstellen oder nicht. Richtig ist, dass die Brutalität zunimmt und dass man dagegen auch etwas machen muss. Wir haben deswegen Anfang des Jahres 2003 eine Spezialabteilung bei der Staatsanwaltschaft initiiert. Zustande gekommen ist sie dann erst zum 1. 6. Das hatte zur Ursache, dass wir zusammen mit der Polizei und den Jugendbehörden Richtlinien errichten müssen, um überhaupt erst einmal Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 3 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – festzustellen, wen wir in dieses Sonderprogramm der intensiven Verfolgung von Intensivstraftätern hineinnehmen. Wer ist ein Intensivstraftäter nach unserer Definition? – Das hat etwas Zeit in Anspruch genommen, weil die Vorstellungen der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Gerichte etwas auseinander gingen, aber diese gemeinsame Richtlinie, die zur Verfolgung von Intensivstraftätern erlassen worden ist und in ihren ersten Paragraphen die Definition des Intensivstraftäters enthält, ist dann zustande gekommen. Diese Abteilung bei der Staatsanwaltschaft, die ein Teil der Hauptabteilung des heute anwesenden Oberstaatsanwalts Schweitzer ist, der sicherlich auch darüber berichten wird, war ein Teil unserer Intention, etwas zu verhindern, was meines Erachtens immer dazu geführt hat, dass Intensivstraftäter durch ein großes Raster fallen, nämlich die Verantwortlichen zur Zusammenarbeit zu zwingen und dass es keine Schwierigkeiten zwischen den Zuständigkeiten der jeweils in bestimmten Verfahren zuständigen Behörden gibt. Ihre Frage nach den Repressionen wird Ihnen sicherlich auch Herr Schweitzer beantworten können. Wir haben diese Spezialabteilung seit einem Jahr. Deswegen gab es heute auch die Pressenachricht, weil diese Abteilung am 1. Juni gegründet worden ist. Es gibt mittlerweile auch rechtskräftige Urteile, woraus man erkennen kann, was gemacht worden ist. Das weitere Problem: Wie geht man mit Intensivstraftätern um, wenn man sie dann in Haft hat, ist eine Frage der Ausgestaltung des Jugendvollzuges, und da wird eine Menge gemacht. Ich könnte dem Rechtsausschuss auch einmal anbieten, sich in der Jugendanstalt Kenntnis davon zu verschaffen, was dort im Einzelnen mit den Jugendlichen gemacht wird, die vielen Ausbildungsgänge, die wir dort haben, die vielen Unterrichtsstunden, die dort erzielt werden und auch der Hauptschul- und Realschulabschluss, der dort gemacht wird, aber insbesondere die Behandlungsangebote an solche Jugendlichen, sich mit ihren Taten und mit den Opfern usw. auseinander zu setzen. Das ist ein weites Feld. – Im Übrigen liegt zurzeit ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ausgestaltung des Jugendstrafvollzuges vor, den wir sehr sorgfältig prüfen werden. Wir haben seit 1995 darauf gewartet, dass es so etwas gibt. Jetzt gibt es endlich einmal einen Entwurf. Das beste Beispiel für Sie, was mit ihnen wird, wenn wir sie haben und wenn sie verurteilt sind, wäre ein Besuch in der Jugendanstalt. Vors. Gram: Herr Braun, bitte! Abg. Braun (CDU): Sie haben partiell eine Frage beantwortet, die ich nicht gestellt habe. Es ging mir nicht um Jugendkriminalität oder jede Form von Kriminalität, sondern es geht mir um die drastische Zunahme von Jugendgewalt. Das heißt: Was machen wir gegen diese Gewalt, auch im Rahmen von Gewalttätern? – Das ist die Frage, die ich gestellt habe. Dass diese anderen Maßnahmen, die dort gemacht wurden – den meisten Mitgliedern des Rechtsauschusses und allen anderen sind sie bekannt – sehr ehrenvoll und gut sind, bestreitet hier keiner. Mir ging es ganz konkret darum, dass jugendliche Täter, die nur in der Lage sind, ihre Konflikte durch Messerstechereien oder sonstige Gewalttaten zu lösen, lernen, wie man sich konkret mit diesen Konflikten beschäftigt. Deswegen machen wir heute auch die Anhörung. Es ging mir nicht um Jugendkriminalität insgesamt, sondern es geht mir um Jugendgewalt und die drastische Zunahme insoweit und was man dagegen unternimmt, damit man die Allgemeinheit vor solchen Tätern gegebenenfalls schützt. Vors. Gram: Wollen Sie dazu noch etwas sagen? – Zwei Sätze und dann die Anhörung! Frau Bm Schubert (Just): Ich hatte Sie deswegen missverstanden, weil Sie von repressiver Einwirkung gesprochen haben. Sie meinen aber auch die präventive Einwirkung. Dass wir im Vorfeld auf diese Jugendlichen und auf diejenigen, die noch nicht strafmündig sind, die unter 14-Jährigen, einwirken müssen, war auch unsere Erkenntnis. Deswegen haben wir im vergangenen Jahr diese Arbeitsgruppe, die sich dort gebildet hat, nicht nur aus Teilen der Justiz und der Polizei zusammengesetzt, sondern wir haben die Jugendbehörden und die Ausländerbehörde mit hineingenommen. Wir haben uns an die Schulen gewandt. Ich habe ganz bewusst den Senator Böger mit ins Boot genommen, weil ich gesagt habe: Wir müssen in den Kindergärten und Schulen anfangen und müssen dort herausfiltern, was man machen kann. Vors. Gram: Danke schön! – Ich empfehle, dass die einzelnen Anzuhörenden zu Wort kommen, und selbstverständlich die Damen bei uns immer zuerst. – Frau Berndt, Sie sind herzlich willkommen. Wir haben Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 4 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – ein relatives Zeitlimit. Ich weiß, dass Ihnen zirka zehn Minuten anvisiert worden sind. Wenn Sie diese nicht ausschöpfen, sind wir Ihnen nicht undankbar, um die fünf Minuten wäre sehr angenehm. Das gilt für alle. – Bitte schön! Frau Berndt (Gangway e. V.): Ich danke Ihnen herzlich, auch wenn ich ein bisschen irritiert bin, weil ich aus einem nicht repressiven Bereich komme. Ich hoffe, dass ich jetzt auf die richtige Frage reagiere. – Ich habe mir die Zeitzahlen der Kriminalitätsstatistik in Berlin in der Vorbereitung noch einmal genauer angesehen. Es gibt tatsächlich ein paar Bereiche, die eklatant nach oben gegangen sind. Das sind Felder oder Gerichtsbereiche wie Untreue, Warenbetrug, Verbreitung von Kinderpornographie oder Missbrauch von Kindern, denen man entnehmen kann, dass das keine jugendspezifischen Delikte sind, sondern Erwachsenenkriminalität, wo sich Jugendliche maximal im Dunstkreis bewegen. In den Jugenddelikten, das wurde schon gesagt, sind wir in diesem Jahr im Rückgang, und vielleicht darf man einmal sagen: Alle Berufszweige, die praktisch vor Ort mit Gewalt zu tun haben, auf der Straße und in der Sozialarbeit – ich weiß es aber auch von der Polizeijustiz und Schule –, sind darüber froh, dass wir so eine Entwicklung haben. Zu diesen Jugendlichen Kontakt zu haben, ist schwer genug. Das sollte auch politisch noch einmal unterstützt werden. Ich bin trotzdem dankbar, dass Sie außerhalb der Schlagzeilen dieses Thema auf der Tagesordnung haben, weil wir die Erfahrungen in den letzten Jahren gemacht haben – wir hatten viel schwerere Gewalttaten bei Jugendlichen vor zehn, zwölf Jahren, ohne die gesamte Geschichte noch einmal aufzurollen –, dass wir gerade im Bereich Jugendkriminalität durch Lebensbedingungen, durch bestimmte Szeneeinflüsse sehr schnelle Veränderungen haben können. Es kann sehr schnell gehen, dass sich die Statistik ändert. – Richtig ist, dass es im Bereich der so genannten Hoheitsdelikte nicht so starke Rückgänge wie in anderen Deliktbereichen gibt. Das heißt, es gibt auch weiterhin ein bestehendes Gewaltproblem. Das sollte man hier gar nicht wegreden. Ich möchte kurz vier Punkte sagen, von denen ich denke, dass die gar nicht so strafrechtlich relevant sind, aber Sie alle sind Abgeordnete und politisch tätig, und wir müssen in der nahen Zukunft sehr viel politische Sensibilität haben. – Der erste Punkt ist: Wir haben eine Altersgruppe, die auf der Straße an den Szenetreffpunkten der Jugendlichen in den letzten zwei, drei Jahren verstärkt auftaucht. Das ist die Altersgruppe der 10- bis 13-Jährigen, die sich aus vielerlei Gründen in ähnlicher Weise verhalten, wie Jugendliche in unseren Hauptaltersgruppen das ansonsten so tun. Wir haben gerade in Berlin ein ehrgeiziges Ganztagsgrundschulkonzept, das ich richtig und vernünftig finde, was aber bei fehlenden Ressourcen in manchen Stadtteilen dazu führt, dass alle Ressourcen auf diese Ganztagsgrundschule gebildet werden. Jeder, der einmal Kinder erzogen hat, weiß, dass solche Betreuungskonzept funktionieren, bis die Kinder neun oder zehn sind, und dann in der Regel nicht mehr. Es fehlen in vielen Stadtteilen die stationären Orte der Jugendarbeit, wo gerade ältere Kinder hingehen können. Wenn wir sie auf der Straße haben, dann ist die Schwelle zu Gewalt und Kriminalität zumindest ein Stück herabgesetzt, wenn Orte nicht da sind. Wenn wir solche Kindercliquen ansprechen, was sie brauchen und was sie wollen, dann ist die Antwort: Wir brauchen einen Raum, wo wir uns treffen können. Das ist ein Phänomen, das vor allem in den Bezirken gelöst werden muss, aber es entwickelt sich zu einem ernsthaften Problem. Die zweite Altersgruppe, die Sorgen macht, sind die 18- bis 21-Jährigen, die jungen Heranwachsenden. Da gibt es einen riesigen Umorientierungsprozess – das kennen Sie alle – mit Hartz IV, in der Arbeitslosen- und Sozialhilfe und auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt. Hier wird Orientierung erschwert, und wir haben Ausfransungen nach oben von jugendentsprechendem Verhalten bis in die Altersgruppe von Mitte 20, wenn Jugendliche ihren Weg nicht finden. Wir brauchen Instrumentarien, um Integrationsangebote zu machen, sonst gibt es hier eine Gefahr. Noch zwei ganz kurze Punkte: Wir versuchen über die Streetworker vor Ort, zu Jugendlichen, die in der Jugendstrafanstalt einsitzen, über die Haft hinweg Kontakt zu halten, um hinterher Reintegration zu ermöglichen und um die Kontakte zu haben. Das ist nicht einfach, weil es unsere Ressourcen sprengt, und wir denken: Hier müsste eigentlich noch mehr an Antigewaltarbeit und Verhaltenstraining innerhalb der Haft getan werden. – Wir haben ganz viele öffentliche Debatten darüber, wo man es strafrechtlich noch verschärfen sollte. Wir vermissen ein wenig die öffentlich Debatte darüber, was denn innerhalb der Haft Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 5 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – passiert, weil es bei allen Jugendlichen so ist, dass sie relativ bald auch wieder herauskommen und wir sie irgendwie wieder in dieser Stadt haben. Letzter Punkt: Aus juristischer Sicht gibt es im Schuldenbereich die Verbraucherinsolvenz. Die greift bei unseren Jugendlichen ganz oft nicht. Wir brauchen eine stärkere soziale Schuldnerberatung. Wir haben viele Jugendliche, die ihren Weg, weil sie Schulden haben und sie schwer abbauen können, in eine Ausbildung, Arbeit oder was man sonst im Leben machen könnte, was noch bleibt, nicht finden, um ein sortiertes Leben zu beginnen. Ein Termin bei einer Schuldnerberatung in dieser Stadt zu bekommen, dauert ein halbes bis dreiviertel Jahr. Das ist für Jugendliche verdammt lang. Das heißt, wir fangen hier ganz oft etwas auf und arbeiten Probleme ab, bevor Jugendliche überhaupt dahin kommen, und auch das setzt die Schwelle herab. Wenn ich merke, ich habe keine Perspektive, dann wäre das auf andere Art und Weise näher. – Ich möchte das gar nicht weiter ausweiten, vielleicht so viel aus einem anderen Bereich. Vors. Gram: Danke schön! – Ich denke, wir machen die Fragen zum Abschluss. – Herr Lück, bitte! Herr Lück (Antigewaltzentrum Berlin-Brandenburg): Guten Tag, verehrte Damen und Herren! Verehrte Presse! – Ich bin etwas erstaunt über das, was ich so höre, und ich denke, einige sind doch ein wenig in Ihren Positionen ganz natürlich von der Realität entfernt, was auf der Straße los ist. – Mein Name ist Lars Oliver Lück, ich bin Leiter des Antigewaltzentrums in Berlin-Brandenburg, lizensierter und praktizierender AATTrainer, sprich: Antiaggressivitätstrainer. Zudem bin ich noch Konflikt- und Kommunikationstrainer und leite Antiaggressivitätsgruppen mit straffällig gewordenen und aggressiven, gewaltbereiten Jugendlichen. Wir haben innerhalb der letzten anderthalb Jahre die Erfahrung gemacht, dass wir ein regelrechtes Einstürmen von außerhalb – das sage ich ganz klar, das ist kein Quatsch und kein Nonsens – von Hilfesuchenden haben, was Gewalt und Aggressivität angeht, und zwar von professioneller Seite, betreuender Seite, familiärer Seite und auch von Seiten der Jugendlichen. Die Opfer haben stark zugenommen. Die Opfer zeigen nur noch sehr selten an. Das ist noch einmal ein Link zu den Zahlen. Das ist eine Sache, die wir gemerkt haben, dass kaum noch angezeigt wird. Es gibt Schlägereien und Messerstechereien in bestimmten Kiezen und bestimmten Bezirken, wo keine Anzeigen erstattet werden. In Spandau haben wir beispielsweise in den letzten zwei Monaten in zwei Kiezen, in zwei Bezirken etliche Messerstechereien mit Schwerverletzten und einem Toten gehabt. Jetzt ist endlich etwas passiert, was ich sehr positiv bewerte, aber lange Zeit ist gar nichts passiert, lange Zeit ist weggeschaut worden. Das darf nicht sein, das ist in anderen Bezirken genauso. Es gibt Bezirke, in denen Jugendgangs ihre Gewalt praktizieren. Es traut sich niemand, dort eine Anzeige zu erstatten, wenn er zusammengeschlagen wird, weil sie genau wissen, was dann passiert. Ich werde das nicht überdramatisieren und werde auch nicht sagen, dass wir Verhältnisse haben wie in New York in der Bronx, aber wir haben Kieze, Bereiche und soziale Räume, die dabei sind, zu kippen. Die sollten wir auf keinen Fall kippen lassen. Das Antigewaltzentrum ist ein privater Träger. Wir machen dieses Training viel an Schulen, Hauptschulen. – [Zuruf] – Wir sind sehr viel an Schulen, vor allem an Hauptschulen tätig, und gerade da hat die Gewalt extrem zugenommen. Da ist nichts von Gewaltrückgang zu sehen. Wenn ich verzweifelte Lehrer in Schulungen habe, die weinend vor mir zusammenbrechen, weil sie mit der Aggressivität, der Verrohung und der Gewalt der Schüler nicht mehr zurecht kommen, dann ist das Realität und kein Quatsch. Gerade in Schulen werden selten Gewalttaten angezeigt. Es wird gedeckelt. Es wird gesagt: Wir haben hier keine Probleme. Das habe ich auch schon von vielen Kommunalpolitikern in bestimmten Bezirken und Bereichen gehört, weil das ein Ansehensverlust für den Bezirk oder den Bereich wäre. Meiner Meinung nach wäre es eine Steigerung des Ansehens, wenn man solche Dinge zugeben kann und sagen kann: Wir packen das jetzt an, wir tun etwas. – Spandau macht das im Übrigen zurzeit und hat damit sehr großen Erfolg und bekommt im Bereich der Bürger sehr viel Nachhaltigkeit und positives Feedback. Wenn Jugendliche in die Trainings kommen, die schon drei- bis viermal angeklagt worden sind, beim dritten Mal dann endlich 20 Sozialstunden bekommen haben, die eine lächerliche Zahl sind, dann lachen die sich tot. Die kommen zu uns ins Training und sagen: 20 Sozialstunden, das ist doch ein Scherz. Die nehmen mich ja gar nicht ernst. Was machen die? Ich dachte, ich komme in den Knast oder irgendetwas. – Das heißt Grenzen setzten. Das ist eine Geschichte in unserer Gesellschaft, die nur noch ganz selten auf familiärer Ebene gemacht wird. Kindergärten im Verlauf der Sozialisation, Schulen, Lehrer und Pädagogen sind da vollkommen überfordert. Es fehlt ihnen Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 6 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – das Handwerkszeug. Es fehlen ihnen die Handlungsstrategien. Ich bekomme tagtäglich das Feedback, dass Leute um Hilfe rufen und sagen: Wir brauchen neue Handlungskompetenzen. Wir müssen etwas härter durchgreifen und klarer Grenzen setzen. Wir müssen funktionierende Strukturen und Regeln erstellen, die dann auch mit Konsequenzen belegt werden. Was nützen uns Regeln und klare Strukturen, wenn diese Grenzen überschritten werden und nichts passiert. Wir arbeiten sehr konfrontativ und provozierend, auch mit dem Advocatus Diaboli, das heißt, wir gehen ganz klar und deutlich auf die Tat der Jungs und Mädchen ein. Übrigens steigt die Gewalt, Gewaltbereitschaft der Mädchen rasant an, vor allem die Qualität. – Ich möchte noch einmal kurz etwas zu den Zahlen sagen: Es ist nicht nur so, dass wir immer von der Anzahl ausgehen, sondern wir müssen auch von der Qualität ausgehen, und die Qualität der Brutalität, die Qualität der Gewalt nimmt zu. Es ist nicht nur die Quantität oder dass vielleicht ein Teil zurückgeht, sondern wie etwas ausgeführt wird. Gestern haben mir bei einer Fortbildung Leute gesagt: Früher gab es eine Ganovenehre unter gewaltbereiten Jugendlichen oder Gangjugendlichen. Da gab es noch ganz klare Hierarchien. Die fallen heute weg, die gibt es nicht mehr. Es gibt diese „Ganovenehre“ unter jugendlichen Gewalttätern nicht mehr. Es geht wirklich bis ins Letzte, mit dem Kiefer auf den Bordstein und dann die Macht auszuüben, Gott zu sein, Gott zu spielen und draufzutreten. Ich entscheide: Überlebt dieser Mensch oder überlebt er nicht? Wie richte ich ihn zu? Werte und Moralvorstellungen gibt es nur noch ganz selten. Ich spreche jetzt von den Kreisen, wo wir diese Täter haben, aber auch an weitergehenden höherführenden Schulen bemerken wir immer mehr, dass diese Werte und diese Moral und auch dieses, wie wir uns früher vielleicht gekloppt haben, da ging es auf die Schulter, und wenn man die Schultern dann im Sand hatte, dann war okay, diese Grenzen gibt es heute nicht mehr. Die werden heute permanent überschritten, und zwar sehr oft, und das erzeugt viele Täter, das erzeugt immense Kosten, und zwar Kosten, die im Endeffekt der Staat tragen muss. Wir müssen da die Opfer schützen und versuchen, mehr Maßnahmen in diese Richtung einzuleiten, wie es die Polizei im präventiven Bereich schon ganz wunderbar macht und ganz hervorragende Arbeit leistet. Wir arbeiten selber viel mit der Polizei zusammen, mit dem Präventionsbeauftragten. Die Antigewaltprogramme sind erstklassig, vor allem an den Schulen, allerdings immer Opferarbeit. Wir versuchen, das schon relativ oft parallel zu machen, die Polizei die Opferarbeit und wir die Täterarbeit. Das funktioniert auch ganz gut, zum Beispiel mit der Direktion 4. Da sollte etwas geschehen, da muss mehr gemacht werden. Es gibt aber natürlich weder Köpfe noch sonstige finanzielle Möglichkeiten, solche Dinge durchzusetzen. Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 7 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – Zweiter Punkt ist der Strafvollzug: Meine Idee wäre, und ich fände es ganz hervorragend, wenn straffällige Beitäter innerhalb des Strafvollzugs besser behandelt werden können mit Antiaggressivität oder Antigewaltmaßnahmen, denn das passiert so nicht. Ich habe guten Kontakt zu allen Jugendvollzugsanstalten. Ich kenne nur einen Mann, Herrn Ackert, das ist ein lieber Kollege und Freund von mir, der das am Kirchhainer Damm macht. Ansonsten passiert da leider auch aus Personalmangel heraus nicht viel und weil die Finanzen und die ausgebildeten Leute fehlen. In der Richtung passiert relativ wenig. Es ist eine gute Idee, wenn man von der richterlichen Seite aus mehr jugendlichen Straftätern als Bewährung solche Verhaltenstrainings aufdrückt und auch zum Beispiel als Auflage nach dem Knast, wenn sie herauskommen und sagt: Begleitend über andere soziale Maßnahmen müsst ihr eine Maßnahme mitmachen, damit es keine neuen Opfer gibt. Vors. Gram: Herr Lück, ich möchte Sie an die Zeit erinnern! Herr Lück (Antigewaltzentrum Berlin-Brandenburg): Das ist es im Großen und Ganzen auch. Wir sollten diese Täter ernst nehmen und auch deren Wunsch danach, Grenzen gesetzt zu bekommen und damit konfrontiert zu werden, was sie machen, denn das geschieht kaum bis gar nicht. Vors. Gram: Herzlichen Dank für Ihre Ausführungen! – Herr Meißner, Sie sind Bundesvorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen. Bitte schön! Herr Meißner (Stellv. Bundesvorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen – DrJJ): Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! – Zunächst einmal herzlichen Dank für die Einladung. Ich bin nicht der Bundesvorsitzender, sonder ich bin einer seiner Stellvertreter. Ich bitte meine Verspätung zu entschuldigen. Ich hatte heute Morgen versucht anzurufen, weil ich eine Terminkollision hatte. Vors. Gram: Sie sind auch entschuldigt worden. Herr Meißner (Stellv. Bundesvorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen – DrJJ): Sie haben das Problem, Sie laden sich verschiedene Experten ein, sicherlich in der Erwartung, verschiedene Meinungen zu hören. Auch ich werde Ihren Erwartungen vollkommen gerecht, da die Meinung und meine Einschätzung und die Einschätzung unseres Verbandes in wesentlichen Teilen eine andere ist, als beispielsweise die Einschätzung des Antigewaltzentrums Berlin. Zwei Vorbemerkungen zu der Einleitung von vorhin: Es gibt tatsächlich keinen Experten in diesen Bereichen der Kriminalrechtspflege, der diese These, dass Repression rückfallverhindernd wirken kann, ernsthaft stützt. Es gibt gerade eine veröffentliche Rückfallstatistik, die auch – wenn ich mich recht entsinne – vor nicht einmal einem Monat auch von Frau Bundesministerin Zypries vorgestellt worden ist, aus der ganz klar hervorgeht: Wenn ich einen Rückfall verhindern will, dann ist das, was an stationären Angeboten da ist, und dazu gehören Jugendarrest und Jugendstrafhaft, das ungeeignetere Mittel als die ambulante Betreuung. Über die Form der ambulanten Betreuung gibt es ein sehr breites Spektrum im Rahmen der Angebote und Leistungen der Jugendhilfe, aber auch im Rahmen der Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz. Es ist einfach falsch, davon auszugehen, dass durch die Repression Rückfallvermeidung betrieben werden kann. Empirische Daten sprechen eindeutig dagegen. Dann möchte ich etwas zu der Frage der Dunkelziffer sagen: Es gibt eine Studie, die derzeit im Rahmen der Arbeit des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen läuft, wo unser ehemaliger Vorsitzender, Prof. Dr. Christian Pfeiffer, im Moment Direktor ist. Im Rahmen dieser Studie kommen Herr Pfeiffer und seine Mitarbeiter auch zu dem Schluss, dass im Bereich dieser Delikte, nämlich Hoheitsdelikte, die Dunkelziffer eher geringer ist als in anderen Bereichen, weil die Anzeigebereitschaft grundsätzlich höher ist. – Ich gebe Herrn Lück Recht, was die Deliktbereiche Körperverletzung und gefährliche Körperverletzung angeht. Da wird sehr viel erpresst, dass also nicht angezeigt wird. Was aber die quantitativ wesentlich größere Gruppe der Hoheitsdelikte ausmacht, sind die Raube und räuberischen Erpressungen. In diesem Bereich ist das Anzeigeverhalten sehr hoch. Das hat folgenden Grund: Wenn Kinder nach Hause kommen, die morgens mit einem Handy losgegangen sind oder mit einem teuren Accessoire oder Kleidungsstück, und haben das mittags nicht mehr dabei, dann ist es vollkommen egal, ob diese Kinder erpresst worden sind oder Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 8 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – nicht, denn die Eltern fragen in aller Regel spätestens zwei Tage später nach: Sag einmal, wo ist denn das geblieben? – Dann kommt es irgendwann heraus: „Das ist mir“ – ich benutze jetzt einmal das schöne Wort, was die Jugendlichen auch immer benutzen – „abgezogen worden“. – In diesem Bereich haben wir eine erheblich geringere Dunkelziffer zu vermuten, als in anderen Bereichen. Es gibt allerdings, und das ist natürlich mit Sorge zu sehen, obwohl die nackten Zahlen es nicht hergeben, eine drastische Verschärfung in der Qualität bei Hoheitsdelikten. Das ist gar keine Frage. Parallel dazu gibt es aber auch eine drastische Zunahme in dem Maß der Berichterstattung über Einzelfälle. Wenn Sie in diesem Ausschuss die Frage zu erörtern haben, was macht der Senat für Berlin für oder mit Gewalttätern, dann sollte man die Masse im Blick haben und nicht diese Einzelfälle, die oft genug dazu führen, dass wie bei den Wetterberichten nicht so sehr die Gradzahlen entscheidend sind, sondern mehr die gefühlte Temperatur. Das ist bei der Kriminalitätsbelastung leider mittlerweile auch sehr häufig. Die gefühlte Kriminalitätsbelastung – und auch dafür gibt es genug empirische Beispiele – ist eine deutliche höhere als die tatsächliche. In einem Punkt bin ich unbedingt der Meinung von Herrn Lück: Grenzen setzen gehört zu einer Erziehung. Grenzsetzung bedeutet aber auch, dass man diese Grenzverletzung konsequent behandelt. In welcher Weise, darüber würden wir wahrscheinlich streiten. Ob es sinnvoll ist, jemanden auf einen heißen Stuhl zu setzen und ihn von anderen so lange fertig machen zu lassen, bis er weint, ist dann die Frage und ob es nicht das ist, was er ohnehin schon sein ganzes Leben erlebt. Die Frage und eine der Erkenntnisse aus der Studie, die das kriminologische Forschungsinstitut zurzeit bearbeitet, ist nämlich: Gewalttätiges Verhalten hat zwei wesentliche Ursachen. Das eine ist das Verhalten, das man im Laufe seiner Sozialisation erlernt. Das heißt, im Elternhaus ist Gewalt innerfamiliär bei einer ganz großen Anzahl als Gewalttäter klassifizierten und verurteilten die Regel gewesen. Zumeist kommen Gewalttäter aus Lebenssituationen, die ihnen sehr wenig Selbstbestätigung vermitteln. Es sind in überdurchschnittlich häufigem Maß bildungsferne junge Menschen, die auch sehr wenig Chancen und Perspektiven haben, zu unserer Gesellschaft etwas Vernünftiges beitragen zu können und sich über diesen vernünftigen Beitrag auch ein bisschen Bestätigung zu holen, zum einen in materieller Form, zum anderen in der ideellen Form von Anerkennung. Ein wesentlicher Grund meiner Meinung, und nicht nur meiner, sondern das lässt sich auch belegen, für die Anwendung von Gewalt, ist Macht. Das hat Herr Lück auch ganz klar gesagt. Dieses Erleben von Macht, ich kann einen anderen Menschen durch die Anwesenheit von mir mit einem Stock in der Hand dazu zwingen: Ziehe dir deine Turnschuhe aus, und gib sie mir, und ich werde sogar das Gefühl haben, er hat sie mir mehr oder weniger freiwillig gegeben, weil der im Voraus allem gehorcht, weil er weiß, dass ich das, was ich in der Hand habe, möglicherweise benutze, und mir die Schuhe gibt. Deshalb ist ein Ohnmachtserlebnis eines der ganz großen Begleiter für viele dieser jungen Gewalttäter durch ihre Kindheit und ihre frühe Jugend. Das sind Dinge, die wir nicht mit Repression behandeln können, sondern nur durch Angebote, die auf die Erziehungsförderung zielen. Die gibt es im Bereich des Strafgesetzbuches für Jugendliche, im JGG, die gibt es jetzt verstärkt in den Gesetzentwürfen zum Jugendstrafvollzugsgesetz, und die gibt es erst recht – und für Berlin ist es wahrscheinlich wesentlich wichtiger – im Bereich des Kinder- und Jugendhilfegesetzes des SGB VIII. Das Instrumentarium, das wir mit den paar haben – ich sage es einmal ganz deutlich –, die dann wirklich Schlagzeilen machen und für einen Großteil der Hoheitsdelikte verantwortlich sind, um mit ihnen umzugehen und sogar fertig zu werden, ist absolut ausreichend. Vors. Gram: Vielen Dank, Herr Meißner! – Herr Schweitzer, bitte! Herr Schweitzer (Oberstaatsanwalt): Verehrter Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! – Zunächst verspreche ich Ihnen, dass ich mich an die fünf Minuten halte, wenn ich auch die Zeit für die anderen nicht wieder hereinholen kann. – Dieses Thema reizt natürlich sehr dazu, sich in Theorien weitschweifig zu ergehen. Ich greife einmal ein Wort auf, das mir sehr gut gefallen hat: Gefühlte Kriminalitätsbelastung. Das ist fantastisch. Gefühlt ist die, über die wir reden, nun im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben dabei die Opfer natürlich im Blick zu behalten. Das ist wohl auch das, was mit Recht zu dieser Anfrage geführt hat. Wir haben auf der einen Seite die tatsächliche Kriminalitätsbelastung und auch die Frage des Sicherheitsempfindens der Allgemeinheit. Ich vermeide es, mich in Spekulationen darüber zu ergehen, von welcher Dunkelziffer wir denn auszugehen hätten, und beschränke mich auf die nackten Zahlen, die mir zur Verfügung stehen. Da ist sicherlich eines richtig. Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 9 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – Herr Braun, gestatten Sie mir diese kleine Anmerkung: Wir haben im Bereich der allgemeinen Jugendkriminalität tatsächlich nicht nur nach polizeilicher Kriminalitätsstatistik, sondern auch nach unseren eigenen von mir erhobenen Zahlen einen merkbaren Rückgang der Jugendkriminalität. Erstens kann uns das nun schon einmal wieder Hoffnung geben. Zweitens ist das Problem das, über das wir hier nun ernsthaft reden müssen und sollen und uns allen zu verschärften Überlegungen Anlass geben sollte, das der zunehmenden Brutalisierung im Bereich der Gewaltkriminalität. Wir haben uns alle auf dem Schulhof geschlagen, darüber reden wir aber jetzt gar nicht, sondern wir haben eine exorbitant überbordende Gewalt zu verzeichnen, so dass Reaktionen erforderlich sind. Welche Reaktionen können da nun erfolgen? – Die Senatsverwaltung für Justiz hat dankenswerter Weise ins Werk gesetzt, dass wir uns zunächst einmal über organisatorische Maßnahmen unterhalten konnten. Diese organisatorische Maßnahmen sind erfolgt und auch am 1. Juni vergangenen Jahres mit der Einrichtung der Intensivtäterabteilung umgesetzt worden. Hier geht man dem Gedanken nach: Wie schaffen wir es denn – im Übrigen auch eine Forderung des Jugendgerichtsgesetzes –, entsprechend und möglichst rasch und konsequent zu reagieren? – Das geschieht durch andere organisatorische Abläufe im Verhältnis Polizei und Staatsanwaltschaft, was dazu führt, dass wir mittlerweile 158 Intensivtäter als solche erkannt haben und weitestgehend dadurch einer Strafverfolgung zuführen konnten, dass sich spezielle Sachbearbeiter mit der Kriminalpolizei ins Benehmen setzen, beide an einem Strang ziehen, und nicht, wie bei Mahmut R. etwa 54 polizeiliche Sachbearbeiter neben her sind. Das führt zu einer Aufsplitterung von Kräften, die hier nicht erwünscht sein kann. Wir kommen also zu einer konsequenten und schnellen Strafverfolgung, und zwar, und das ist das Interessante und das Neue, vor der vollen Vita dieses betreffenden jungen Menschen, der immer und immer wieder straffällig geworden ist, um das den Gerichten nunmehr mundgerecht auftischen zu können, in der Hoffnung und Erwartung, dass die entsprechenden Reaktionen gerichtlicherseits dann auch erfolgen. Richter urteilen unabhängig. Wir haben keinerlei weitergehende Einflussmöglichkeiten, als ihnen genau den Sachverhalt, so, wie er sich dargestellt hat, und auch den bisherigen Lebensweg des Betreffenden aufzuzeigen. Wir haben die Möglichkeit, unsere Anträge zu stellen. Das geschieht. Diesen Anträgen wird entsprochen. Da ist die Jugendrichterschaft keine homogene Einheit, sondern da sind bei der Richterschaft verschiedene Erkenntnishorizonte vorhanden, denen dann auch durch entsprechende Verurteilungen Raum gegeben wird. Das gibt es immer und überall, darüber braucht man sich nicht zu wundern. Wir arbeiten daran, die Richterschaft auf dieses Phänomen aufmerksam zu machen und unsere Vorstellungen von Reaktion und Sanktionen durchzusetzen. Das gelingt mit Strafen, die wir so bislang nicht erzielen konnten. Ob das tatsächlich das Allheilmittel ist, ist die Frage. Ich fühle mich jetzt etwas allein gelassen, wenn ich höre, dass vollzogene, vollstreckte Jugendstrafen wiederum auch nichts bringen. Wo ist denn da die Alternative? Sollen wir denn nun gar nichts tun? – Das kann es auch nicht sein, sondern es ist wichtig, tatsächlich auch erwartete Sanktionen zu verhängen, das höre ich in diesem Bereich auch immer wieder, die erwarten, dass irgendetwas passiert und nicht 120 Freizeitarbeiten verhängt werden, sondern dass tatsächlich reagiert wird. Das geschieht nun in zunehmendem Maße. Dann hängt es davon ab, was im Vollzug passiert. Darauf haben wir keinen Einfluss. Das, was bis jetzt passiert, auch vor dem Hintergrund des noch nicht vorhandenen Jugendstrafvollzugsgesetzes, ist schon eine ganze Menge, wie ich aus persönlicher Erfahrung weiß. Das ist noch längst nicht das Allheilmittel und reagiert längst noch nicht auf die Probleme, die sich speziell im Bereich der Intensivtäter ergeben. Es führt kein Weg daran vorbei, zu sagen, dass das auch im Wesentlichen ein Problem Nichtdeutscher und Deutscher mit Migrationshintergrund ist. Das sind Probleme, denen man sich in spezieller Weise zuwenden muss, Integrationsprobleme etc. Das ist Ihnen alles bekannt, das muss ich Ihnen an dieser Stelle nicht wiederholen. Es bedarf aber einer sicherlich ganz speziellen Befassung und Aufnahme der damit verbundenen Probleme, um dagegen angehen zu können. Eines darf allerdings nicht passieren: Wir haben es hier mit der Crème de la Crème sehr brutaler Gewalttäter zu tun. Es führt überhaupt kein Weg daran vorbei, dass vollzogene Jugendstrafe, die sich aus dem JGG, über dem der Erziehungsgedanke mit riesengroßen Buchstaben steht, ergibt, also auch als erzieherische Maßnahme Jugendstrafe begriffen wird und dass sich das in den Köpfen der Richter zunehmend, jedenfalls, was dieses Klientel betrifft, verankert, so dass ich guter Hoffnung bin, dass zunächst einmal die entsprechenden Reaktionen erfolgen und wir dann allerdings, wenn diese eine Jugendstrafe nicht geholfen hat, vielleicht die nächste und die übernächste wieder darauf setzen müssen, so lange bis er es gelernt hat. Etwas anderes fällt mir für diesen speziellen Bereich, der sicherlich in Prozenten im 0 %-Bereich liegt und nur auszudrücken ist, nicht ein. Hier muss Obacht gegeben werden. Das hat damit zu tun, dass Opfer – und das ist erwähnt worden – das berühmte Steine-walzen, der Kopf wird dabei zertrümmert, es wird auf den Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 10 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – Kopf getreten, dass es nur so kracht – – Das sind alle Dinge, die wir sehr wohl wahrnehmen und sehen dabei auch die Opfersicht. Es muss in angemessener Weise reagiert werden. Das geschieht auch, aber wir dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und nun das gesamte Jugendstrafrecht deshalb umkrempeln, das im hohen 90-Prozent-Bereich selbstverständlich ausreicht. Wir müssen uns hier etwas ausdenken. Ein erster – wie ich meine – erfolgreicher Schritt ist mit der Einrichtung der Intensivtäterabteilung getan. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft arbeiten hier in hochmotivierter Weise zusammen. Wir haben da bislang noch keine Friktion feststellen müssen. Wir haben eine etwas kritische Zurückhaltung innerhalb der Richterschaft zu überwinden, aber ich bin guter Hoffnung, dass wir auch das noch schaffen und im Einzelfall schon geschafft haben. – Das mag von dieser Stelle aus erst einmal genug sein. Ich danke Ihnen. Vors. Gram: Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Schweitzer, und auch bei den anderen Anzuhörenden! – Ich habe eine lange Wortmeldungsliste. – Herr Kollege Lederer! Abg. Dr. Lederer (PDS): Ich habe zwei Fragen. Die eine richtet sich an Frau Berndt und die andere an Herrn Lück. Die erste Frage bezieht sich auf das, was Sie angesprochen haben, dass es offenbar nötig ist, eine Strategie weit über die Ressorts, über die einzelnen Arbeitssektoren, die mit Jugendlichen zu tun haben, hinweg zu entwickeln. Da interessiert mich Ihre Wahrnehmung. Sie sind schon sehr lange beim einem freien Jugendhilfeträger im Land Berlin beschäftigt und verfolgen die Diskussion um Jugendgewalt und Jugenddelinquenz über eine gewisse Zeit. Wie ist Ihr Eindruck, was die Zusammenarbeit der Ressorts sowohl der bezirklichen als auch der Landesebene angeht? Hat sich da etwas getan? Hat sich da etwas verbessert? Ist man im Austausch über Strategien, die nicht nur an einer Stelle einsetzen, sondern versuchen, die verschiedenen sozialen, kulturellen und die Probleme im Umgang mit dem Bildungsressort mit bestimmten Gewalterscheinungen junger Menschen zu bearbeiten? Hat sich da etwas bewegt? – Das ist eine Schlüsselfrage an Frau Berndt. Die zweite Frage ist: Ich finde es völlig normal, dass, wenn man eine bestimmte Erfahrung hat, die einen jeden Tag wieder begleitet, weil man im Fischladen arbeitet, hat man eine besondere Nähe zu Fischen. Könnten Sie sich vorstellen, Herr Lück, dass die Wahrnehmung, die Sie selbst hier vorgetragen haben, eine Wahrnehmung ist, die nahe legt, wenn man wie Sie den lieben langen Tag mit den Extremen zu tun hat, dass man sich dem Eindruck irgendwann nicht mehr so ganz entziehen kann, dass die ganze Welt so ist, wie man das da wahrnimmt, weil die provozierende konfrontative Methode, allen anderen, einschließlich denen, die hier am Tisch sitzen, ihre eigene Wahrnehmung wegzureden, ist nicht so ganz der geeignete Weg, um sich dem Thema – das ist durchaus etwas differenzierter zu sehen, wie wir jetzt auch aus den anderen Stellungnahmen mitbekommen haben – tatsächlich zu nähern. Da stellt sich mir jetzt die Frage: Welche anderen Erfahrungen, als die aus Ihrer unmittelbaren Arbeit, haben Sie denn da? Wie soll das Grenzen setzen und im Dunkelzifferbereich ablaufen? Können Sie den Satz: Da muss man etwas machen, vielleicht noch etwas näher konkretisieren, außer die Tatsache zu konstatieren, dass das derzeitige strafrechtliche Instrumentarium aus Ihrer Perspektive nicht ausreichen wird? Vors. Gram: Danke schön! – Frau Berndt, bitte! Frau Berndt (Gangway e. V.): Das ist eine sehr komplexe Frage. Ich versuche trotzdem, das kurz zu beantworten. Wir haben in dieser etwas chaotischen Stadt immer gegenläufige Tendenzen, also immer lautere Formen, die wie im D-Zug fahren, und man weiß nicht, an welcher Stelle die sich verketteln. Vors. Gram: Das ist nicht nur in der Stadt so! Frau Berndt (Gangway e. V.): Das stimmt, aber ich betrachte ja diese Stadt. – Ich habe noch gar nicht gesagt, aus welcher Ecke ich komme. Ich bin Geschäftsführerin des Vereins für Straßensozialarbeit Gangway seit zehn, elf Jahren. Insofern habe ich, wenn ich Gewalt vergleiche, durchaus unsere Gangs im Kopf. Da ging manches anders ab als heute, ohne dass ich damit irgendetwas relativieren möchte, was an schlimmer Gewalt auch heute passiert. Zu dieser Frage zur Entwicklung: Es gibt gerade auf diese letzten zehn, zwölf Jahre betrachtet, eine Menge Entwicklungen innerhalb der Polizei, ohne sie jetzt im Detail auszuführen. Es gibt die Strukturveränderungen Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 11 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – in der Staatsanwaltschaft, die wir sehr begrüßen. Es gibt eine ganze Reihe von Punkten, wo sich zum Beispiel auch Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der Problematik annehmen und dadurch ressortübergreifendes Handeln ermöglichen. Wir haben die größten Probleme, Jugendliche zu erreichen, wenn sie sich im weitesten Sinne im Umfeld mehr oder weniger organisierter Kriminalität bewegen. Dann kommen wir schnell an den Punkt, wo es schwierig ist, weiterzumachen. Wir haben auch ein paar gegenläufige Tendenzen, die gut gemeint sind und trotzdem manchmal etwas schwierig enden. Wir haben zum Beispiel eine große Entwicklung in der Sozialraumorientierung. Die nimmt bei sinkenden Ressourcen manchmal so Blüten an, wo wir sagen: Müssen wir jetzt den Sozialraumausweis einführen? – Das heißt, wo enges Ressortdenken, auch vor Ort, wieder stärker wird. Wir sehen, dass an diesen Schnittstellen vorübergehende Handlungsunfähigkeit besteht. Ich nenne einmal ein Beispiel: Es werden Ressorts mit allgemeinem sozialpädagogischen Dienst, Jugendarbeit, Soziales und Gesundheit und wer noch alles darin sitzt, gebildet. Sobald dann die Clique auftaucht, wo denn die Grenzen von drei Sozialräumen aufeinander kommen, ist keiner mehr handlungsfähig, weil die in drei verschiedenen Sozialräumen in die Schule gehen und dass sie ein Drogenproblem wissen wir nicht so genau. Das heißt, hier sind Prozesse in Gang, die es in diesen Reformen manchmal etwas schwer machen, kurzfristig zu handeln. Jugendliche haben die dumme Angewohnheit, dass sie älter werden. – [Zurufe] – Das heißt, ein Jahr nicht handeln ist in der Praxis für uns schwierig. Das sieht in der Verwaltung nicht so aus, und wir sagen: Das ist eigentlich zu lange, hier muss viel schneller etwas passieren. – Ansonsten, die Leute dieser Stadt reden noch miteinander, ich hoffe, die Kollegen auch. Vors. Gram: Sie sehen ja die Gesprächskultur hier im Ausschuss. – Herr Lück, ich fasse einmal zu dem Thema zusammen, ob Sie vielleicht im Glashaus sitzen und nichts anderes mehr sehen. – Bitte schön! Herr Lück (Antigewaltzentrum Berlin-Brandenburg): Das war nett gesagt. – Es ist so, ich arbeite seit sieben, knapp acht Jahren im Bereich mit deliquenten Jugendlichen und auch mit denen, die mit diesen Jugendlichen zu tun haben, sprich: mit Schulen, Lehrern, Pädagogen, Sozialpädagogen, Psychologen etc. Innerhalb dieser acht Jahre ist der Bedarf wesentlich größer geworden, neue Handlungsmethoden und neue Handlungskompetenzen zu erlangen, um mit der steigenden Bereitschaft an Gewalt und mit der steigenden Aggressivität, das ist sicherlich auch ein gesamtgesellschaftliches Problem, besser klar zu kommen. – Ich möchte ein bisschen von den Zahlen wegkommen. Auf der einen Seite ist es sehr schön, dass die Zahlen der Gesamtjugendkriminalität zurückgegangen sind. Das ist sicherlich auch eine ganz feine Sache. Trotzdem bleibt die Steigerung der Qualität. Ich gehe jetzt einmal nicht so viel von Raubdelikten aus, sondern mein Spezialgebiet ist die Körperverletzung, von leichter bis schwerer bis zum Totschlag. Dort hat die Qualität der Gewaltausübung immens zugenommen. Das ist nicht nur meine Wahrnehmung aus dem Glashaus heraus, sondern meine Wahrnehmung resultiert aus der Wahrnehmung vieler Menschen, die mit diesen Jugendlichen zu tun haben. Aus dem gesamten Jugendförderbereich, aus dem ganzen Schulbereich und aus dem Jugendhilfebereich kommen diese Meinungen zu mir. Das ist im Laufe der Jahre immer mehr geworden. Man hätte Strichlisten darüber führen können, wie viele noch vor ein paar Jahren angerufen haben und wie viele heute täglich anrufen, dann könnte ich Ihnen das zeigen. Ich mache nun keine Strichlisten, wer wann wie anruft, aber daran merkt man ganz deutlich, dass diese Problematik zugenommen hat. Vors. Gram: Danke schön! – Herr Kollege Braun! Abg. Braun (CDU): Herr Schweitzer, nicht, dass Sie mich da missverstanden haben: Natürlich müssen Täter verurteilt werden, und ich wäre der Letzte, der nicht sagt: Da müssten gegebenenfalls einmal Haftstrafen ausgeurteilt werden, wenn die Voraussetzungen vorliegen. Worum es mir eigentlich ging, war die Frage: Wenn sie verurteilt sind und in eine Haftanstalt kommen, was passiert da? – Ich habe jedenfalls von Frau Berndt und Herrn Lück gehört, dass da zu wenig bis gar nichts passiert. Das haben beide übereinstimmend gesagt, und deswegen, ohne das irgendeiner von uns – dafür sind wir ja alle Juristen – in die Unabhängigkeit der Richter eingreifen würde oder dass irgendeiner das JGG umschreiben will, stellt sich für uns die Frage: Was geschieht mit den Gewalttätern in den Berliner Haftanstalten? – Dafür ist der Rechtsausschuss zuständig. Geschieht da genug? Passiert da etwas, oder ist der Eindruck, den die anderen dort haben: Sie werden zwar untergebracht, aber nicht in dem Sinne behandelt, wie man eigentlich mit Schwerstgewalttätern umgehen müsste. Das war die Frage, vielleicht können Sie konkret etwas dazu sagen. – Wie ist eigentlich die Erfahrung bei den Gerichten? Ist diese Problematik da erkannt? – Oder ob man das, was Herr Lück Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 12 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – vorgeschlagen hat, zum Beispiel mit einer Bewährungsauflage versieht, dass man sich zum Beispiel einer bestimmten Therapie unterzieht. Wäre das sinnvoll, oder sollte man so etwas machen? Sollte man solche Empfehlungen geben? – Uns wurde erzählt, es kämen solche Bewährungsauflagen. Gäbe es denn überhaupt genug Einrichtungen, die sich mit solchen Tätern beschäftigen? Gäbe es überhaupt ein Angebot, dass man sagen könnte: Gehe dort oder dort hin, so dass die Bewährungsauflage auch erfüllt wird? Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 13 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – An Herrn Lück habe ich noch eine konkrete Frage: Was sind das für Leute, von denen Sie sprachen? Können uns Sie ganz kurz einen Lebenslauf oder eine Beschreibung der kriminellen Karriere dieser Leute geben, so dass wir einmal eine Vorstellung davon haben, mit welchen Leuten Sie umgehen? Vors. Gram: Herr Schweitzer, bitte! Herr Schweitzer (Oberstaatsanwalt): Verehrter Herr Braun! – Es ist so, ich bin nicht der Zuständige – ich möchte auch nichts Falsches erzählen – für den Jugendstrafvollzug, sondern ich bin Strafverfolger. Nichtsdestotrotz verschaffe ich mir natürlich schon Kenntnis darüber, was mit denen passiert. Da gebe ich Ihnen partiell Recht. Abgestimmte Maßnahmen wären sicher in größerem Umfang als bisher machbar und äußerst wünschenswert. Was geschieht da? – Sie werden in der Jugendstrafanstalt psychologisch betreut. Da gibt es sehr praxiserfahrene Leute, mit denen man sich unterhalten kann, die auch schon ihre speziellen Konzepte entwickelt haben, wie und in welcher Weise man die Zeit während der Inhaftierung vernünftig nutzen kann. Es gibt Ausbildungsangebote, die von fachkompetenten Menschen durchgeführt werden, und zwar knallhart, so wie ich es selbst kennen gelernt habe. Wer da aus dem Ruder läuft, bekommt als Schulnote im Betragen eine sechs und ist dann davon ausgesperrt, an der weiteren Ausbildung teilzunehmen. Das klingt vielleicht alles etwas naiv oder lächerlich, aber viel mehr Möglichkeiten sind dort im Moment nicht gegeben. Und diese Möglichkeiten, die man da hat, werden allerdings auch genutzt und haben ihre Wirkung. Wenn ich die Beispiele von Schulnoten erzähle, sollte man fast der Meinung sein, dass das gar keine Wirkung hat, hat es aber eben doch, denn sie fühlen sich in diesen Gruppen, in denen sie wiederum zusammengepfercht sind, durchaus ausgegrenzt und versuchen sich dann an Normen und Grenzen zu halten. Und das ist der Beginn dessen, was wir anstreben, wieder eine Art Wertebewusstsein zu schaffen, überhaupt Normen zu vermitteln. Das steckt – und da gebe ich Ihnen vollkommen Recht – bisher noch in den Anfängen und bedarf einer Intensivierung, soweit es diesen speziellen Täterkreis betrifft. Ich habe auch schon zu früheren Zeitpunkten gesagt: Hier reden wir nicht – das muss man ganz klar erkennen – über Resozialisierung, sondern zunächst schon einmal über Sozialisierung. Das sind Erkenntnisse, die sich in den entsprechenden Haftanstalten durchgesetzt haben, und man bemüht sich, dem nachzukommen. Wir würden uns deutlich mehr Unterstützung wünschen, aber auch da scheitert das dann wieder an den fehlenden Ressourcen, und das ist ein Kapitel, das ich Ihnen vollständig überlasse. An Ideen mangelt es nicht. Nun komme ich zum zweiten Teil Ihrer Frage: An Ideen mangelt es auch der Richterschaft insoweit nicht. Natürlich werden Bewährungsstrafen ausgesprochen und mit bestimmten Auflagen versehen. Das sind dann soziale Trainingskurse. Es gibt Angebote. Ich erwähne es fast nur ungern: Es waren auch diese Reiseangebote in tolle Gegenden, wo wir auch selbst gerne einmal hinfahren würden und es uns fast nicht leisten können. Auch darum habe ich mich einmal gekümmert. Es ist billiger, als wenn wir hier solche Maßnahmen vollziehen würden. Ein Platz in der U-Haftvermeidung kostet im Monat etwa 7 000 Euro. Da bleibt eine Menge Geld. Für soziale Trainingskurse gibt es Angebote, die nicht nur in warmen Ländern stattfinden, sondern es hat neulich jemand vorgesprochen, der solche Trainingskurse auch in Russland, in der Nähe von Sibirien durchführt. Das heißt, es gibt dann erst einmal nichts zu essen und zu trinken, und das Wasser, mit dem sie sich waschen müssen, wird aus dem Fluss geholt. Und wenn Sie trinken wollen, wird das Wasser abgekocht. So müssen wir anfangen, so muss gedacht werden. Das sind Trainingsmaßnahmen, die dann auch ihre Wirkung haben. Diese Möglichkeiten müssen wir wieder verstärkt einsetzen, aber die Richterschaft ist sich dem durchaus bewusst. Es muss also ein großer Fächer von Maßnahmen sein, den wir aggressiv angehen wollen, und ich kann nur sagen, was die Staatsanwaltschaft betrifft: Wir haben uns positioniert und sind da auch sehr gut aufgestellt. Ich arbeite dort mit sehr engagierten und hochmotivierten Mitarbeitern zusammen, die wissen, wovon sie reden. Das sind überwiegend Frauen, die ein, zwei, drei Kinder haben. Die kann wirklich nichts mehr überraschen. Ich denke, das Unsrige tragen wir dazu bei. Richtig ist, dass man sich sicherlich im Bereich des Vollzuges noch einiges einfallen lassen muss. Ich hoffe, die Frage ist beantwortet. Vors. Gram: Danke schön! – Herr Lück, mit der Bitte um eine kurze Antwort! Herr Lück (Antigewaltzentrum Berlin-Brandenburg): Zu der Frage von Herrn Braun: Ich habe in einer meiner Gruppen einen jungen Mann, der 17 Jahre alt ist. Er ist zweimal wegen grober schwerer Körperverletzung, härtesten Schlägereien mit harten Verletzungen angezeigt worden. Er hat beim zweiten Mal 20 Sozialstunden bekommen, die ich vorhin bereits erwähnt habe. Er ist dann ein Jahr später wieder Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 14 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – wegen einer Messerstecherei angezeigt worden, hat daraufhin ein halbes Jahr Jugendstrafe bekommen, kommt dann heraus und hat die nächste Messerstecherei. Das Verfahren läuft noch. Er ist jetzt bei uns im Training, und auch er wird auf den heißen Stuhl gesetzt. Es ist jedem 17-jährigen Jugendlichen zuzumuten, der schon so eine Latte an Opfern und Leid produziert hat, dass auch er Leid erfährt und erfährt, wie ein Opfer gelitten hat. Er erfährt das nicht körperlich, indem wir ihm ein Messer hineinrammen, sondern er erfährt es kommunikativ. Wir vermitteln ihm dabei die Möglichkeit, wie wir Konflikte in Zukunft lösen können. So eine Sache, wie der heiße Stuhl, ist längst nicht mehr so heiß, wie er früher einmal war. Vielleicht sollten Sie sich, Herr Meißner, einmal erkundigen, wie die heutige Entwicklung stattgefunden hat, aber ich denke, dass jeder Straftäter, der anderen Menschen Gewalt und Leid zugefügt hat, und damit einem Opfer sehr viel an Lebensenergie entzogen hat, erfahren darf, wie das ist. Die können das gut ab und kommen hinterher und sagen: Ihr seid uns so hart angegangen. Ihr seid die Ersten, die uns Ernst genommen haben. – Das ist ein Ausspruch, den wir oft hören. Die können das ertragen. Wie sollen sie denn sonst das Opferleid ertragen? Wie sollen sie denn da ein wenig Empathie entwickeln? Vors. Gram: Danke schön! – Herr Kollege Ratzmann! Abg. Ratzmann (Grüne): Entschuldigung, aber der letzte Beitrag lässt mich ein wenig an das germanische Recht zurückdenken und nicht an rechtsstaatliche Vollstreckungsmaßnahmen. – Ich habe eine Frage an Herrn Schweitzer. Herr Schweitzer, ich habe Ihrem Beitrag entnommen, dass sich die Behandlung von Intensivtätern darauf konzentriert, auch im organisatorischen Bereich zusammenzuführen und zusammenzufassen. Wir haben jetzt sehr viel darüber gesprochen, was im Bereich der Staatsanwaltschaft passiert ist und wie die Kommunikation mit der verfolgenden Polizei verbessert worden ist. Unter dem 19. 11. 2003 hatte die Senatsverwaltung für Jugend, Familie, Schule und Sport ein 14 Seiten umfassendes Papier veröffentlicht. Das ist überschrieben mit Beiträgen der Jugendhilfe zur Prävention krimineller Karrieren und zum sachgerechten Umgang mit Intensivtätern. In Ihrem Beitrag ist nicht einmal das Wort Jugendgerichtshilfe und Jugendhilfe und die Zusammenarbeit in diesem präventiven Bereich außerhalb der repressiven Institutionen aufgetaucht. Was macht denn die Staatsanwaltschaft, um das, was sie an Erkenntnissen bisher in diesem Bereich gewonnen hat, dazu zu nutzen, es nicht nur repressiv, sondern auch präventiv in den von mir skizzierten Bereichen und Institutionen einzusetzen? Zum Zweiten ist mir noch nicht ganz klar, Sie haben beschrieben, dass das ein großer Fortschritt ist, was Sie an organisatorischen Maßnahmen gemacht haben. Ich kenne es aus meinen Verteidigungen im jugendstrafrechtlichen Bereich durchaus, dass die gesamte Vita eines Jugendlichen in der Akte zu ersehen war. Ich habe auch von der Jugendgerichtshilfe immer Berichte bekommen, die sehr wohl zusammengefasst haben, was mit den Jugendlichen passiert ist. Ich kann eine Neuerung in der Konzentration, mit der einen Ausnahme, dass es eben eine Person ist und insbesondere bei der Polizei zu Erfolgen führt, im justiziellen Bereich nicht so richtig sehen. Vors. Gram: Herr Schweitzer! Herr Schweitzer (Oberstaatsanwalt): Herr Ratzmann, um gleich das Letzte aufzugreifen: Es ist eine völlig andere Art der Anklagegestaltung, die wir uns jetzt vornehmen, und zwar bereiten wir die strafrechtliche Vergangenheit in historischer Abfolge auf. Und erst vor dem Hintergrund dieser historischen Abfolge erschließen sich solche Erkenntnisse, nämlich: Wann wird denn ein jugendlicher Täter erneut straffällig? Ist das etwa, gleich nach dem er den Gerichtssaal wieder verlassen hat, aus dem er mit 20 Stunden Freizeitarbeit entlassen worden ist, oder hat das noch irgendwelche nachhaltigen Wirkungen und Erfolge? – Daraus ergeben sich schon gewisse Erkenntnisse, die uns dann erst die Möglichkeit verschaffen, vernünftige und angemessene Sanktionen zu erreichen. Das hat auch bei der Richterschaft zu Erkenntnissen geführt, die mir so auch expressis verbis vermittelt worden sind, die vorher so nicht vorhanden waren. Wir bereiten den Fall anders auf. Sie haben sicher Recht, dass es einen kurzen Bericht im Gericht gibt – den es nach wie vor noch gibt –, wo in kurzen Worten der Lebensweg des Betroffenen dargestellt wird. Hier gehen wir ins Detail, und wir reden auch nicht – und das darf nie vergessen werden – über Kleinigkeiten, sondern wir reden über kriminelle Karrieren, von teilweise 50, 60, 70 Straftaten. Das ist in eine Abfolge historischer Art zu bringen, verehrter Herr Ratzmann, und zwar genau danach aufgedröselt, wann etwas passiert ist. Ist vielleicht etwas während der Haftverschonung passiert, oder während der Unterbringung in Jugendhilfeeinrichtungen usw.? Das hat schon seine Bedeutung und ermöglicht uns, in bestimmter Weise tätig zu werden. Ich freue mich, Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 15 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – wenn Sie das in bestimmten Anklagen auch schon vorher gelesen haben sollten. Der Regelfall war das allerdings nicht. – [Zuruf des Abg. Ratzmann (Grüne)] – Nein! Wenn ich danach gefragt werde, antworte ich gerne darauf. – Herr Ratzmann, es ist so, dass wir unsere Zuständigkeitsregelungen haben, die sich dann an bestimmten Ecken auch einmal beißen, und zwar da, wo es um die Begehung von Spezialdelikten geht, da, wo es danach geht, wer als Erster auf dem Aktendeckel steht. Das hat gerade bei Mahmud R. dazu geführt, dass er von 54 polizeilichen Sachbearbeitern bearbeitet wurde und auch bei uns im Hause in die verschiedensten Hände geraten ist, was dann wiederum dazu führte, auf Grund der Häufigkeit dieser Straftaten, dass sich der Not folgend und auf Grund der personellen Knappheit der eine oder andere doch schon mit einer Verfahrenseinstellung nach § 154 auf ein Verfahren gestürzt hat, wo irgendeiner war, der tatsächlich einmal eine Anklage erhoben hat. Das passiert jetzt eben nicht. Hier wird alles aufbereitet. Das sind schon ganz gravierende Unterschiede. Wir haben nur noch einen polizeilichen Sachbearbeiter, wir haben nur noch einen staatsanwaltlichen Sachbearbeiter. Das ist schon eine andere Qualität, die vorher so nicht erreicht werden konnte, bevor diese strukturellen Maßnahmen ergriffen worden sind. Vors. Gram: Herr Schweitzer, ich glaube, es ist deutlich geworden. – Ich muss ein bisschen auf die Zeit achten, auch im Interesse aller. – Ich habe noch eine Wortmeldung. Ich kenne Herrn Dr. Felgentreu als präzisen Fragensteller und übergebe ihm das Wort! Abg. Dr. Felgentreu (SPD): Vielen Dank, Herr Gram, aber ein, zwei Überlegungen muss ich doch noch an das anschließen, was Herr Schweitzer gesagt hat. Die Diskussion des vergangenen Jahres hat gezeigt, Herr Ratzmann, dass in einigen Fällen offenbar der Überblick verloren ging. Insofern ist diese Konzentration wieder erfolgt und auch im Rahmen der Spezialabteilung „Jugendliche Intensivtäter“ sinnvoll. Ich habe eine Frage an Herrn Schweitzer, nämlich, ob er aus seiner Erfahrung bestätigen kann, oder ob es darüber – das wäre mir eigentlich lieber – irgendeine Form von Buchführung oder Statistik gibt, dass die Qualität – [Vors. Gram: Konzentrieren wir uns auf die Frage, Herr Kollege Dr. Felgentreu!] – der Jugendgewalt angewachsen ist. Im Unterschied zur CDU glaube ich, dass die polizeiliche Kriminalstatistik durchaus in der Lage ist, das Problem in ein etwas schärferes Relief zu werfen. Wir haben zwar einen Rückgang bei der allgemeinen Kriminalität, wir haben aber im Bereich der Körperverletzung keinen Rückgang. Das bedeutet für meine Begriffe zwar nicht, dass man belegen kann, dass die Jugendkriminalität drastisch angewachsen wäre, es bedeutet aber, dass sie im Bereich der Jugendkriminalität heute einen größeren Stellenwert einnimmt, als das vielleicht früher der Fall gewesen ist und dass das insofern eine wichtige Diskussionsgrundlage auch für uns ist, was die polizeiliche Kriminalitätsstatistik da festgehalten hat. – Können Sie belegen, das wäre mir lieber als einen bloßen Eindruck zu schildern, dass tatsächlich die Qualität dieser Gewalt zugenommen hat? – Die Quantität hat anscheinend nicht zugenommen. Wichtig ist, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass 90 % aller jugendlichen Kriminellen Einmaltäter bleiben und nicht rückfällig werden. Das heißt, dass, was uns beschäftigt, sind die 10 %, die mehr als einmal auffällig sind, unter denen vor allen Dingen diejenigen, die im Bereich der Gewaltkriminalität tätig werden. Die Reaktionsgeschwindigkeit und die Reaktionsgenauigkeit können meiner Meinung nach durch die Spezialabteilung erhöht werden. Ich habe allerdings eine Frage an Herrn Meißner. Herr Meißner, Sie hatten sich grundsätzlich gegen Repression als ein erzieherisches Mittel ausgesprochen, es sei weniger Erfolg versprechend als andere anleitenden Verfahren. Können Sie das auch für den Bereich bestätigen, und zwar da, das hängt auch zusammen mit sozialräumlicher Orientierung, wo in bestimmten Familien eine Art Rekrutierung für mafiose Strukturen bereits im Jugendlichenbereich erfolgt? Ist das ein Bereich, wo Sie sich vorstellen können, dass eine frühzeitige Repression eine wirkungsvollere Maßnahme wäre als die üblichen Verfahren, zu denen Sie aus Ihrem Arbeitsbereich Zugang haben? Ein letzter Punkt: Die Frage nach dem Sicherheitsempfinden und der Dunkelziffer. Ich kann mit allgemeinen Angaben über Dunkelziffern und das Gefühl, dass alles schlimmer geworden ist, wenig anfangen. Ich kann allerdings mit einem konkreten Beispiel aufwarten, dass mit sozialräumlicher Arbeit zu tun hat: In einer Großsiedlung, die ich intim kenne, ist man sehr intensiv dazu übergegangen, über das Quartiersmanagement und die Polizei unmittelbar auf die Bevölkerung einzuwirken, um dort das Anzeigeverhalten zu verbessern und zu engen Formen der Zusammenarbeit zwischen den gesellschaftlichen Akteuren in diesem Kiez zu kommen, und zwar mit dem Ergebnis, unter anderem durch ein direktes Einwirken auf jugendliche Kriminelle, dass dort die Kriminalitätsrate innerhalb eines Jahres um 14 % gesunken ist. Das zeigt mir, dass Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 16 Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur – die Zahlen, die wir erheben, auch aussagekräftig sind und dass sich an der Stelle das Sicherheitsempfinden deutlich verbessert hat. Das ist auch ein Argument für die Aussagefähigkeit der Statistiken, die wir erheben. Ein allerletzter Punkt, nur für Herr Braun: Ich halte es mit Konfuzius. Wer lächelt, statt zu toben, ist immer der Stärkere! Vors. Gram: Da kann ich nur sagen: Auch ein langer Marsch beginnt mit einem ersten Schritt! – Herr Schweitzer, bitte! Herr Schweitzer (Oberstaatsanwalt): Ich verspreche allen, die jetzt schon unruhig werden: Ich fasse mich wirklich absolut kurz. – Ich habe für Sie ein paar Zahlen die wichtig sind: Raub, eine Steigerung um 0,8 %, Körperverletzung, eine Steigerung um 0,7 %, also doch eher marginal. Das sind Zahlenspiele, die sich auf das breite Spektrum der Jugendkriminalität allgemein richten. – Zur Qualität und zum Inhalt kann man sagen, dass sich auch da breitflächig letztlich eine Qualitätssteigerung nicht feststellen lässt. In der Tat ist diese Qualitätssteigerung aber in dem Bereich, in dem wir reden, nämlich im Intensivtäterbereich. Die ist derartig erheblich, dass es die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu Recht erregt. Die fußt auf verschiedenen Dingen. Es werden Pillen eingenommen, die jegliche Angst, Furcht und Schmerz nehmen. Die Betreffenden berserkern durch Polizisten einfach geradeaus durch. Auch ein Polizeifesthaltegriff tut da nicht mehr weh. Solchen stellt man sich auch gar nicht entgegen, die hauen einfach drauf zu. Das ist eine Qualität, die neu ist. Die hatten wir früher nicht, und auf die muss geachtet werden. Eine breitflächige qualitative Ansteigerung der Brutalisierung können wir so allerdings nicht bestätigen. Vors. Gram: Danke schön! – Herr Meißner, Sie waren auch angesprochen! Herr Meißner (stellv. Bundesvorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen – DVJJ –): Ich habe zwei Dinge, die möglicherweise missverstanden wurden. Zum einen habe ich noch eine Nachfrage zu Ihrer Frage, und zum anderen bin ich vielleicht missverstanden worden, was die Repression angeht. Ich habe vorhin in meinem Statement nur gesagt, dass eigentlich erwiesen ist, dass Repression als Werkzeug zur Rückfallvermeidung die ungeeignetere Maßnahme ist. Repression: Wenn wir von jugendlichen Straftätern in mafiosen Familienstrukturen ausgehen, diverse Familien mit einem Ä oder einem Bindestrich oder Ähnlichem, ist meine Frage: Gegen wen soll sich die Repression richten? – Alle nach Sibirien und dort auf den heißen Stuhl, weil Sibirien kalt ist? Vors. Gram: Herr Kollege Ratzmann bekommt schon wieder einen entsetzten Gesichtsausdruck, aber lieber Herr Ratzmann, in diesem Bereich der Kriminalität sollten wir uns im Ausschuss einig sein. Abg. Dr. Felgentreu (SPD): Es gibt Repression immer nur da, wo eine Straftat vorgelegen hat. Herr Meißner (stellv. Bundesvorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen – DVJJ –): In den Strukturen ist es unglaublich schwierig, sowohl mit justiziellen Mitteln noch mit pädagogischen Mitteln etwas an Verhaltensveränderungen beim Einzelnen zu erzeugen. Ich wage einmal die These, dass in diesen Strukturen eine repressive Behandlung eines 14-jährigen Ersttäters ihn eher dazu adeln würde, in diesem Familienverband endlich angekommen zu sein und sich dazugehörig zu fühlen, als ihn davon abzuschrecken oder sich sogar gegen seine Familie zu stellen und zu sagen: Geht ihr alle den krummen Weg, ich will aber den geraden Weg ganz allein für mich gehen. – Ich denke, dass das in diesen Strukturen schwierig ist. Vors. Gram: Danke schön! – Meine Herrschaften, wir sind, zumindest was die Diskussionsbeiträge angeht, zum Ende gekommen. Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre sehr lehrreichen Ausführungen. Sie sind willkommen, dem Rechtsausschuss, so lange er öffentlich tagt, weiter beizuwohnen. Sollten Sie jedoch den Wunsch verspüren, nach Hause oder zurück zum Amt gehen zu wollen, wünsche ich Ihnen einen guten Weg. – Ich bedanke mich noch einmal ausdrücklich. Abgeordnetenhaus von Berlin 15. Wahlperiode Seite 17 Punkt 4 der Tagesordnung Antrag der Fraktion der Grünen Änderung der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin Drs 15/2179 Siehe Inhaltsprotokoll. Punkt 5 der Tagesordnung Antrag der Fraktion der FDP Gesetz zur Änderung des Personalvertretungsgesetzes (PersVG) I Drs 15/2187 Siehe Inhaltsprotokoll. Punkt 6 der Tagesordnung (nichtöffentlich) Antrag auf Entscheidung über die Aufhebung der Immunität eines Mitgliedes des Abgeordnetenhauses gem. Schreiben des Anwaltsgerichts Berlin – 1 AnwG 40/03, 1 AnwG 52/03 – vom 5. April 2004 Siehe Inhaltsprotokoll. Punkt 7 der Tagesordnung Verschiedenes Siehe Beschlussprotokoll. Ausschuss-Kennung : Rechtgcxzqsq Wortprotokoll Recht 15 / 40 27. Mai 2004 – rei/ur –