Gregor Gysi Es handelt sich partiell um - TP

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Es handelt sich partiell um Siegerjustiz
Interview mit Dr. Gregor Gysi
TP:
Herr Gysi, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 1996,
das die Verurteilungen gegen ehemalige Mitglieder des Nationalen
Verteidigungsrates bestätigte, wurde die Äußerung laut, die Verfassung gelte für die
Ostdeutschen nur noch eingeschränkt. Ist das nicht ein bißchen dramatisiert?
Gysi:
Zunächst einmal gilt ja das Grundgesetz für die Bürgerinnen und Bürger der
ehemaligen DDR sowieso nur eingeschränkt, weil es im Einigungsvertrag heißt, daß
das Grundgesetz, dessen Geltungsbereich wir ja nach Artikel 23 beigetreten sind,
insoweit und solange für die Bürgerinnen und Bürger der DDR nicht gilt, bis die
Verhältnisse andere sind, denn sonst gäbe es ja z. B. das Gebot der gleichen
Lebensqualität unabhängig von der Region oder die Renten müßten gleich hoch
sein. Das alles wird ja damit gerechtfertigt, daß die Verhältnisse noch andere sind
und insoweit das Grundgesetz dann nicht gilt für Bürgerinnen und Bürger der DDR.
Das ist zunächst mal gar nicht so etwas Besonderes. Das steht sogar im
Einigungsvertrag. Auf der anderen Seite ist hier nun nicht – das ist natürlich etwas
überzogen - für die Bürgerinnen und Bürger der DDR, aber für Verantwortliche aus
der DDR tatsächlich dadurch in gewisser Hinsicht ein Sonderrecht geschaffen
dadurch worden, als es in dem von Ihnen erwähnten Urteil des
Bundesverfassunsgericht heißt, daß das Rückwirkungsverbot für etwas wie die
Schüsse an der Mauer - was zum Zeitpunkt der Tat nicht unter Strafe stand zurücktreten muß. Und damit ist zumindest für einen Teil der Bürgerinnen und Bürger
der DDR hier ein ausnahmsloses Recht eingeschränkt worden. Es gibt ja andere
Rechte, bei denen es heißt, daß durch Gesetze Ausnahmen geregelt werden
können, aber das Rückwirkungsverbot völlig strikt ist.
TP:
Was das Bundesverfassungsgericht trotz der Einschränkung sogar ausdrücklich
erklärt hat.
Gysi:
Es
kommt
noch
eine
Besonderheit
hinzu:
In
der
Europäischen
Menschenrechtskonvention gibt es ja dieses Rückwirkungsverbot auch, dort ist
allerdings in einem zweiten Absatz die sogenannte Radbruch'sche Formel enthalten.
TP:
Sie meinen jetzt den Artikel 7, Absatz 2 der Konvention, wonach sich niemand auf
Handlungen und Unterlassungen berufen darf, die nach den allgemeinen von den
zivilisierten Völkern anerkannten Menschenrechten strafbar sind, selbst wenn diese
Handlungen und Unterlassungen nach nationalen Gesetzen gerechtfertigt wären,
also äquivalent zur Radbruchschen Formel, die besagt, dass Gesetze, die zwar
grundsätzlich Geltung haben, sogar auch vorrangig sind, jedoch dann null und nichtig
sind, wenn sie in einem unerträglichen Verhältnis zur Gerechtigkeit stehen?
Gysi:
Ja, das hat man damals gemacht, um eben die Verurteilung von NaziKriegsverbrechern und vor allen Dingen auch von Verbrechen gegen die
Menschlichkeit - wie z. B. die Ermordung der Juden - zu erleichtern, sage ich mal.
Und gerade weil das das Ziel dieser Radbruch'schen Formel in der Europäischen
Konvention war, hat die Bundesregierung gegen diesen Absatz einen Vorbehalt
erklärt, das heißt, der ist nicht bindend für die Bundesrepublik Deutschland. Das könnte ich mir vorstellen - könnte juristisch Schwierigkeiten für die Bundesrepublik
Deutschland bereiten, wenn diese Angelegenheit der Entscheidung des
Bundesverfassungsgericht vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
kommt.
TP:
Es ja nun in der Tat so, wie sie es gesagt haben, daß ein Vorbehalt von der
Bundesrepublik gemacht wurde bei der Umsetzung der Menschenrechtskonvention
im Jahre 1952 und trotzdem mit der Radbruch'schen Formel – wie das mal der
Grünen-Politiker Wolfgang Wieland betont hat - als Hilfskrücke argumentiert. Hat die
Radbruch'sche Formel nicht dennoch irgendwo ihre Berechtigung?
Gysi:
Selbstverständlich hat sie eine gewisse Berechtigung, und das ist ja auch eine ganz
spannende Frage, sich darüber Gedanken zu machen, ob es hier nicht für
Verbrechen, die von Machthabern gesetzlich legitimiert werden, Einschränkungen
geben muß? Nur ist es so, ohne daß ich es daran festmachen will, dass es nicht
einmal das Nazi-Reich gewagt hat, die massenhafte Ermordung von Juden, von
Kriegsgefangenen,
von
Kommunistinnen
und
Kommunisten,
von
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, der Zeugen Jehovas, der Sinti und
Roma, von Homosexuellen etc. gesetzlich zu sanktionieren. D. h., keiner der Wärter
der KZ’s oder Vollstrecker konnte sich dabei jemals auf geltendes Recht
Nazideutschlands stützen. Die Frage wäre nur interessant, wenn sie es sich gewagt
hätten, das Ganze auch noch in Gesetzesform zu kleiden, dann meine ich schon,
daß eine solche Formel Berechtigung gehabt hätte, aber wie gesagt, es war gar kein
geltendes Recht im Nazistaat. Hinzu kommt noch was anderes: die Verurteilung der
Naziverbrechen war von den Alliierten noch während des Bestehens des Nazistaates
angedroht worden und angekündigt worden. Auch das Völkerrecht, das es dafür zu
schaffen galt. Nichts Adäquates gab es selbstverständlich für die DDR. Sie war
Mitglied der Vereinten Nationen, und das eigentliche Problem ist doch ein ganz
anderes. Das eigentliche Problem ist, daß das hier alles an einer falschen Stelle
aufgemacht wird.
TP:
Das Bundesverfassungsgericht sagt ja nun auch, dass in der DDR
Rechtfertigungsgründe ad hoc geschaffen wurden, um das Unrecht an der Grenze zu
legitimieren.
Gysi:
Das Grenzgesetz und die sogenannten Schußwaffengebrauchsbestimmungen
unterschieden sich ja gar nicht so wesentlich von denen anderer Staaten. Dann hätte
man die Möglichkeit zu sagen, solange die eingehalten wurden, gibt es keine
strafrechtliche Verantwortlichkeit. Wo sie dagegen nicht eingehalten wurden, weil z.
B. kein Warnschuß abgegeben wurde, demzufolge also eine Überschreitung der
Gesetzeslage vorlag, da könnte man die strafrechtliche Verantwortlichkeit prüfen.
Das hätte natürlich den Nachteil, daß dann tatsächlich nur die Kleinen zur
Verantwortung gezogen werden könnten, weil ja diejenigen, die sozusagen für das
Gesetzeswerk verantwortlich waren, für dessen Verletzung nicht verantwortlich sind.
Das mag auch das Bundesverfassungsgericht beeinflusst haben bei seiner
Entscheidung.
TP:
Nicht konsequent?
Gysi:
Das
eigentliche
Problem
ist
ein
anderes:
Wenn
sich
die
Schußwaffengebrauchsbestimmungen an der Grenze gar nicht so sehr von denen
anderer Länder unterscheiden, dann ist ja das eigentliche Problem der andere
Adressatenkreis, d. h. daß normalerweise, wenn wir das Recht auf Freizügigkeit
verwirklicht gehabt hätten in der DDR, 99 % der Bevölkerung jederzeit hätte reisen
können, und über das eine Prozent, bei dem es aufgrund von Ermittlungsverfahren
oder - was weiß ich aus welchen Gründen - Einschränkungen gegeben hätte, oder
die eben versucht hätten, irgendwas zu schmuggeln und dann sozusagen den
ungesetzlichen Weg der Grenzüberschreitung gegangen wären, hätte sich dann
auch niemand international, sage ich jetzt mal, aufgeregt, wenn dann dort
gelegentlich auch von der Schußwaffe Gebrauch gemacht worden wäre. Das
Problem für die DDR oder für die Bürgerinnen und Bürger der DDR bestand ja nur
darin, daß ihnen dieses Recht auf Freizügigkeit genommen worden war. D. h., selbst
wenn man eben nichts Übles vorhatte, weder Schmuggel noch sonst was, wenn man
halt von Deutschland-Ost nach Deutschland-West wollte, gab es, zumindest für die
große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der DDR nur die Möglichkeit, das illegal,
also
ungesetzlich
zu
versuchen,
und
damit
richtete
sich
die
Schußwaffengebrauchsbestimmung nicht wie sonst gegen ein paar Schmuggler oder
so, sondern gegen die große Mehrheit der Bevölkerung der DDR. Das kriege ich halt
nicht über die Schußwaffengebrauchsbestimmung geregelt, das kriege ich auch nicht
über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Soldaten und ihrer Vorgesetzten
geregelt, sondern das ist nichts weiter als eine schwerwiegende, harsche, politischmoralische Kritik an der DDR, daß sie ihren Bürgerinnen und Bürgern die
Freizügigkeit nicht gewährt hat, wenn sie so wollen, eine Art kollektiver
Freiheitsberaubung.
TP:
Ist das etwa juristisch irrelevant?
Gysi:
Aber das ist sozusagen nicht Gegenstand dieser Strafverfahren und deshalb halte
ich sie für juristisch falsch, weil sie am völlig falschen Punkt die Sache aufmachen.
Noch mal ein Hinweis zur Unterscheidung der Naziverbrechen, ohne daß ich das
jetzt sozusagen so überbewerten will. Also man kann diese beiden Staaten sowieso
unendlich vergleichen, denn wenn hier Rechtsbeugungsverfahren stattfinden, dann
ja alle unter dem Vorbehalt, daß es doch eben auch einen gewissen Grad an
Rechtsstaatlichkeit gab - nicht daß die DDR ein Rechtsstaat war -, aber eine
Verrechtlichung der Prozesse gab, so daß man überhaupt solche Dinge nur
anwenden kann. Entscheidender ist was ganz anderes: Die Nazis hatten ja nie eine
Wahlmöglichkeit gelassen. So hart das jetzt klingt, aber ich konnte in der DDR immer
noch selber entscheiden, ob ich mich an die Grenze begebe, und mich damit auch
der Gefahr der Anwendung der Schußwaffe aussetze oder nicht. Ein Jude im Dritten
Reich hatte keine Chance, der konnte erzählen, was er wollte, er ist der Vernichtung
preisgegeben worden. Er hatte nie 'ne Chance zu einem anderen Verhalten. Und
schon deshalb, ganz abgesehen davon, daß es hier nie einen industriemäßigen,
massenmäßigen Mord gegeben hat, daß von der DDR kein zweiter Weltkrieg
ausgegangen ist etc., ist es auch juristisch nicht legitim hier einen vergleichsweisen
Ansatz zu suchen und zu finden. Aber nun schon gar nicht durch die Bundesrepublik
Deutschland, die sich bei allen Naziverbrechern konsequent geweigert hat, je auf die
Radbruch'sche Formel zurückzugreifen. Und sie haben deshalb nicht darauf
zurückgegriffen, weil sie aus ihrem irrationalen Antikommunismus heraus es letztlich
abgelehnt haben, die Braunen zur Verantwortung zu ziehen und aus demselben
irrationalen Antikommunismus heraus machen sie es jetzt bei der Aufarbeitung der
Geschichte der DDR umgekehrt und greifen jetzt auf Formeln zurück, die sie damals
abgelehnt haben.
TP:
Die DDR hat 1975 die Helsinki-Schlußakte unterschrieben, hat dann aber nicht in
innerstaatliches Recht umgesetzt, was sie international anerkannt hat, z.B. die
Ausreisefreiheit für Bürger. Und könnte man sie also, wenn ich jetzt mal mit den
Böswilligen fragen will, nicht eben noch dran kriegen wegen Unterlassung dessen,
was sie ihren Bürgern nicht gewährt hat, und demzufolge den Rechtfertigungsgrund
niemals hatte, egal bei wem, die an der Mauer dann zu erschießen, die das Land
verlassen wollten?
Gysi:
Ja, hier werden jetzt wieder völlig unterschiedliche Dinge miteinander vermischt.
Also, selbst wenn ich Ihnen folgen würde, könnte man darüber nachdenken, ob die
Führung dafür zur Verantwortung zu ziehen wäre, wegen Freiheitsberaubung
insgesamt. Daß dann innerhalb der Freiheitsberaubung Maßnahmen ergriffen
werden, um die auch wieder durchzuhalten, ist dann wieder eine völlig andere
juristische Frage. Aber das geht natürlich nicht, aus zwei Gründen nicht: Erstens ist
es ja nun mal das Problem des Völkerrechts, daß es ja fast nie unmittelbar geltendes
Recht ist, sondern nur, wenn es innerstaatlich umgesetzt wird, aber zweitens stand
das auch nie drin im Abkommen von Helsinki. Also das kenne ich ganz gut. Da stand
eben leider nur drin, daß die Bürgerinnen und Bürger das Recht haben müssen,
Anträge stellen zu dürfen, daß sie ausreisen dürfen, und daß sie nach sechs
Monaten erneut die Chance haben müssen, einen solchen Antrag zu stellen, wenn er
abgelehnt worden ist beim ersten Mal. D.h. es wurde sozusagen eine gewisse
Verrechtlichung des Umgangs mit dieser Frage eingefordert. Genau dieses
Freizügigkeitsrecht stand da eben nicht drin.
TP:
Haben die westlichen Staaten nicht darauf bestanden das aufzunehmen?
Gysi:
Dann hätte es die DDR nämlich auch nicht unterschrieben, und die Sowjetunion auch
nicht und die anderen Länder des sogenannten real existierenden Sozialismus auch
nicht. Gucken Sie sich das an, das stand eben leider nicht drin. Denn das HelsinkiAbkommen ist damals vollständig veröffentlicht worden, in der Tageszeitung "Neues
Deutschland". Ich glaube, das war eines der wenigen Male in der Geschichte, daß
sie ausverkauft war. Und das Problem bestand dann darin, daß die Leute sofort
hingegangen sind, ihre Anträge gestellt haben, und da fehlte aber die Umsetzung in
innerstaatliches Recht, und da wurde dann vom Außenministerium darauf
hingewiesen, daß das nur zwischen den Staaten gilt, aber daß sich keine Bürgerin
und kein Bürger unmittelbar darauf berufen kann, sondern daß die DDR höchstens
angezählt werden kann von den anderen Staaten, wenn sie es nicht umsetzt. Aber
dann haben sie ja irgendwann angefangen, diese Dinge zu verrechtlichen, und zwar
genau nach der Grenze, die Helsinki ihnen gelassen hat, aber eben nicht den
Anspruch auf Ausreise, und das stand eben leider auch im Helsinki-Abkommen nicht
drin. Ich bin zwar davon überzeugt, daß die westlichen Staaten versucht haben, es
aufzunehmen, aber die DDR und andere haben sich dagegen geweigert, und
insofern war das dann auch nicht geregelt. Immerhin, es begann damit eine gewisse
Verrechtlichung dieser Fragen in der DDR.
TP:
Glauben Sie, daß eine gewisse Unruhe entstehen würde, wenn juristisch mit der
DDR-Vergangenheitsbewältigung aufgehört werden würde und gewisse Opfer, sage
ich mal, ihr Recht juristisch nicht gewährleistet sehen?
Gysi:
Also letzteres ist ja noch was anderes als ersteres. Letzteres würde ja bedeuten, daß
diejenigen, die wirklich unter Unrecht in der DDR gelitten haben, erst mal in dem
Umfang, wie es ihnen zusteht, Rehabilitierung und auch Entschädigung erfahren.
Das ist ja noch unabhängig von der Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von
Funktionsträgerinnen und Funktionsträgern der DDR. Letzteres darf auf gar keinen
Fall aufhören. Wobei wir schon ein sehr gutes Rehabilitierungs- und
Entschädigungsgesetz durch die Volkskammer verabschiedet hatten, wo alle
betroffenen Gruppen einbezogen waren und übrigens einstimmig, von der CDU bis
zur PDS einmütig angenommen, dieses Gesetz, das bloß im Einigungsvertrag nicht
übernommen worden ist. Und deshalb hörte es am 3. Oktober 1990 auf zu gelten.
Dann erst begann das Stückwerk, das der Bundestag diesbezüglich Schritt für Schritt
beschlossen hat. Weil wir z.B. auch Verwaltungsrechtsakte drin hatten, die zum Teil
viel bedeutender waren, sage ich mal, als vielleicht eine ungerechtfertigte
Untersuchungshaft von vier Wochen. Letztere waren aber zunächst gar nicht drin.
Wenn sie aber ein Ehepaar, daß 50, 55 Jahre alt ist, vom angestammten Ort im
Grenzgebiet 200 km weit entfernt, wirklich zwangsversetzen, sage ich mal, kann das
für deren Leben härter sein, als wenn jemand vielleicht mit 18, 19 mal vier Wochen
aus politischen Gründen - heute unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht mehr
nachvollziehbaren - in Untersuchungshaft war. Der letztere Fall war immer geregelt,
der erste nicht. Wir hatten den aber im unserem Gesetz geregelt. Da stand das alles
mit drin, weil wir halt die DDR auch besser kannten. Und, wie gesagt, später mit den
SED-Unrechts-Bereinigungsgesetzen ist immer nur Stückwerk geliefert worden. Was
die Frage der Verantwortlichkeit betrifft, so bin ich gar nicht dafür, das also
sozusagen generell etwa einzustellen, sondern ich bin nur dafür, daß niemand
verantwortlich gemacht wird für hoheitliches Handeln in der DDR und für die
Ausführung von DDR-Gesetzen. Eine andere Frage ist - bei glatter Überschreitung
kann es das ja geben, sage ich mal - ein an der Grenze schon Festgenommener, auf
den noch geschossen wird, das geht in Richtung Mord oder Totschlag. Das war auch
in der DDR nie erlaubt, auf einen schon Festgenommenen zu schießen.
TP:
Was aber heute irgendwie auch schwer zu beweisen ist.
Gysi:
Ne, ne, da gibt es eben z.B. einen Fall, wo das festgestellt ist. Damit meine ich ja
auch, wenn der schon die Hände gehoben hat und stehen geblieben ist, damit war
dann jeder Grund zum Schießen entfallen. Wer dann noch geschossen hat, und da
gibt es eben Fälle - wohl nicht viele, aber es gibt wohl welche -, wo das festgestellt
worden ist. Oder, wenn ich eben, weiß ich, sagen wir mal, wir haben doch diese
Fälle, wo das Ministerium für Staatssicherheit aus den Postsendungen zwischen Ost
und West Geld und solche Sachen entnommen hat, womit sich die Justiz ewig
beschäftigt hat. So, wenn es dann einer für sich entnommen hat, also genau nicht
mehr im hoheitlichen Handeln, nicht mehr im staatlichen Auftrag, sondern zu seiner
privaten Bereicherung, dann würde ich keinen Grund sehen, warum der nicht mehr
zur Verantwortung zu ziehen ist. Aber ansonsten würde ich sagen, für hoheitliches
Handeln, es hat einfach mit dem Souveränitätsgedanken der DDR zu tun, sollte
keine strafrechtliche Verantwortung stattfinden. Übrigens wäre das auch die einzige
Chance, daß wir endlich eine wirklich tiefgreifende, kritische Aufarbeitung der
Geschichte bekämen. Ich würde sehr gerne sehr kritisch zum Beispiel über die ganze
Frage Mauer, Schüsse an der Mauer und anderes, mich politisch engagiert mit
denen, die das auch zu vertreten haben, auseinandersetzen, und zwar schon einfach
deshalb, weil ich es aberwitzig finde, wie ein Sozialist oder eine Sozialistin auf die
Idee kommen kann, daß man Sozialismus aufbauen kann, indem man seine
Bürgerinnen und Bürger einsperrt und ihnen mit der Schußwaffe droht, falls sie sich
dem entziehen wollen. Das ist ein so asozialistischer Gedanke, ein so
antisozialistischer Gedanke, daß ich mich mit denen, die dafür die Verantwortung
trägen, gerne die politisch-moralische Auseinandersetzung viel schärfer führen
würde. Kann man bloß nicht, solange diese ganzen Ermittlungsverfahren und
Strafverfahren laufen, weil dann bin ich immer gleich auf der Ebene, als ob ich auch
will, daß sie dafür strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Das ist aber
wieder nicht mein Ansinnen, und dadurch bist du irgendwie in all diesen Fragen wie
gelähmt. Hinzu kommt noch, daß dann die Leute ihre Anwälte haben, die sagen
ihnen, was ich nun wiederum als Rechtanwalt gut verstehe, die sollen sich zu all
diesen Sachen nicht äußern, solange gegen sie Ermittlungsverfahren laufen. Auf
diese Art und Weise kriegen wir überhaupt nie eine Aufarbeitung von Geschichte
zustande. Das ist beim MfS ganz genauso! Was hatten wir schon für
Veranstaltungen geplant, die alle ausfielen, weil die Betroffenen mitteilten, daß sie
Ermittlungsverfahren haben und sich solange öffentlich nicht äußern!
TP:
War die DDR wirklich so unsouverän, wie es heute ihre Funktionsträger behaupten?
Diese Frage halte ich wirklich mal für angebracht!
Gysi:
Also, ich will mich in die Verteidigungsstrategie von Beschuldigten und Angeklagten
nicht einmischen, das hängt ja auch immer davon ab, was ist für ein Gericht rechtlich
von Relevanz und was nicht. Natürlich war die DDR immer nur beschränkt souverän,
und das ersehen sie an einem ganz einfachen Punkt. Sie können sich alle Protokolle
der Gespräche Honecker-Kohl ansehen, Sie können sich die Verhandlungen
ansehen zwischen Bahr und unserem Kohl…
TP: … Unterhändler Michael Kohl …
Gysi: Sie können sich alle diese Dinge ansehen, Sie werden alles mögliche an
Forderungen der Bundesrepublik Deutschland finden, nur eines werden Sie nicht
finden:
die
Öffnung
der
Mauer
und
die
Aufhebung
der
Schußwaffengebrauchsbestimmung. Dafür gibt es einen einzigen Grund: weil sie
selber davon ausgegangen sind, das nicht von der DDR fordern zu können, sondern
höchstens von Moskau. Das heißt, aufgrund der Entscheidung, die Grenze
überhaupt dicht zu machen, die Entscheidung des Jalta-Abkommens durchzusetzen
oder nicht durchzusetzen, d.h. die Einflußsphäre der Sowjetunion aufrechtzuerhalten,
einschließlich des östlichen Teils von Deutschlands oder den östlichen Teil von
Deutschland aufzugeben, wie die Mauer zustande gekommen ist, ist mir auch klar,
daß man sozusagen die Rechtfertigung aus östlicher Sicht in der Erhaltung des
Status quo sieht, wie sie durch das Jalta-Abkommen geschaffen worden war. Das
Problem ist nur, daß es trotzdem antisozialistisch ist. Es kann ja sozusagen
machtpolitisch gerechtfertigt sein aus der damaligen Sicht, daß die Sowjetunion
keinen Kilometer ihrer Einflußsphäre zurückgeben wollte. Und sicherlich wird das
auch im Interesse der DDR-Führung gestanden haben, aber nie und nimmer wäre
die DDR-Führung in der Lage gewesen, von sich aus z.B. über die Mauer zu
entscheiden. Und damit war sie auch nicht mehr in der Lage, sie von sich aus
aufzuheben.
TP:
Sie war aber in der Lage 1983 sukzessive in eigener Regie die SM-70-Minen an der
Grenze abzubauen, wenn man das glauben darf? Ist es nicht irgendwo ein
Widerspruch: Wir haben keine Souveränität gehabt?
Gysi:
Nein, ich habe ja nicht gesagt: keine. Ich habe gesagt, eine beschränkte für die
Frage der Sicherung der Grenzen der DDR hin zur NATO. Die Frage, dürfen alle
DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger abhauen oder dürfen sie es nicht, ist die DDR als
Staat zu erhalten oder nicht zu erhalten?, das waren sozusagen
Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und des gesamten Warschauer Vertrages.
Die Frage, wie die Grenze im einzelnen gestaltet wird, welche Maßnahmen man trifft,
um sozusagen möglichst niemanden zu verletzen, sondern dafür zu sorgen, daß
diejenigen, die die Grenze überschreiten wollen, schon im Vorfeld gestellt werden, ob
man dann Minen baut oder nicht baut, das halte ich für eine Frage, wo sich die DDR
durchaus hätte durchsetzen können: also mit Verschärfung oder mit deutlicher
Abschwächung. Soweit ging die Einschränkung der Souveränität der DDR nicht,
obwohl das sicherlich alles Dinge waren, die abgestimmt worden waren. Aber die
Grundsatzfrage selbst, die 1989 entschieden wurde, die Grenze aufzumachen, das
war keine Sache, die sie bis 88 hätten selbst entscheiden können. Das ist einfach
albern, also das ist wirklich aus jedem machtpolitischen Zusammenhang gerissen.
Und wenn ein Politbüromitglied 1976 beantragt hätte im Politbüro, die Mauer zu
öffnen, die Schußwaffengebrauchsbestimmung abzuschaffen und jede Bürgerin und
jeden Bürger der DDR, der es will sozusagen, über die Grenze verkehren zu lassen,
hätten sie den in die Psychiatrie eingewiesen, also auf jeden Fall wäre der keinen
Tag mehr im Politbüro gewesen. Das ist völlig absurd. Also, wenn, hätte er
formulieren können, und auch das wäre nicht gut gegangen, aber das hätte er noch
formulieren können, mit der Sowjetunion Verhandlungen darüber zu führen, ob man
das tun darf.
TP:
Sehen Sie die Prozesse, die im Moment stattfinden gegen Funktionsträger der
ehemaligen DDR, auch gegen Richter, Staatsanwälte, Mauerschützen und wer auch
immer heute angeklagt und verurteilt wird, eher hinderlich für die Wiedervereinigung?
Gysi:
Ja, sicherlich, weil die haben ja alle Familie, die haben alle Freundeskreise, die
haben ja alle ein Umfeld. Das geht ja auch weit, weit in die tausende, -zigtausende
Ermittlungsverfahren. Bei anderen sind es eben andere Punkte. Und dadurch
entstehen natürlich für viele, die, sagen wir mal, ein loyales Verhältnis zur DDR, den
Eindruck hatten, daß eigentlich das kriminalisiert wird.
TP:
Sehen Sie irgendwo wieder die Gefahr eines Rückschritts, viele Leute sollen ja heute
wieder die alte DDR fordern, sehen Sie hier irgendwo eine Gefahr?
Gysi:
Nein, also ich sehe nicht, daß jetzt viele die alte DDR fordern, aber ich sehe, daß
so'n Demütigungsakt bleibt: Daß sie plötzlich für ihre Geschichte vor Gericht stehen,
während die Geschichte der anderen überhaupt nicht hinterfragt wird. Da werden
Rechtsbeugungsverfahren durchgeführt für Urteile in den 50er Jahren, die waren
auch übrigens besonders schlimm, das steht schon fest, aber, wenn es eine
schlimme Zeit bei Urteilen gab in der Bundesrepublik, dann waren das auch die 50er
Jahre. Glücklicherweise nicht ganz so dramatisch in den Strafen, aber für die
idiotischsten Sachen, also für die Forderung: "Deutsche an einen Tisch", den Aufruf
dafür zu unterschreiben oder an solchen Dingen teilzunehmen, war strafbar und hat
durchaus 3,4 Jahre gebracht. Da hat es eben nie 'ne Rehabilitierung gegeben und
nie 'ne Aufarbeitung oder daß man sagt heute: Das war Unrecht und die kriegen
einen Entschädigungsanspruch. Wir haben das ja nun beantragt im Zuge der
Gleichberechtigung und haben gesagt, diese Leute müssen natürlich auch
rehabilitiert werden und eine Entschädigung bekommen. Aber damit tut sich, sage ich
mal, der Bundestag sehr schwer, der ist ja bis heute noch nicht mal bereit, alle Opfer
der faschistischen Militärjustiz zu rehabilitieren. Also insofern kriegen das doch die
Leute mit! Sehen Sie mal, wenn jetzt durch die Nachrichten geht, an einem Tag in
der Tagesschau, das können sie sehen, da wird ihnen mitgeteilt, daß die wegen
Kriegsverbrechen Verurteilten, wenn sie gleichzeitig eine Verletzung im Krieg erlitten
haben als Kriegsopfer eine Rente bekommen. Nun sind das aber eben nicht
Kriegsopfer, sondern Kriegsverbrecher, und dann wird erklärt, daß das wegen des
Vertrauensschutzes nicht anders ginge; und die nächste Nachricht ist, daß die VDNRente von Kurt Hager aberkannt wird. Da gibt es plötzlich keinen Vertrauensschutz,
weil er sich in der DDR an Menschenrechtsverletzungen beteiligt hat, was sozusagen
in irgendeiner Weise seinen Widerstandskampf gegen die Nazis aufhebt. Ja, das ist
doch absurd? Das erste wäre übrigens noch ganz logisch zu erklären, weil du sagst,
es ist derselbe historische Vorgang. Er ist zwar durch den Krieg verletzt worden,
gleichzeitig ist er aber auch Kriegsverbrecher, hat den Krieg selbst mit verschuldet,
und deshalb wird er für diese Verletzung keine Rente bekommen. Das hat noch was
miteinander zu tun. Das wäre bei einem Widerstandskämpfer derjenige, der erst
Widerstand gegen die Nazis leistet und dann mit ihnen kollaboriert hat, z.B. selber
Juden oder andere ans Messer geliefert hat. Da könntest du sagen, durch sein
Verhalten innerhalb dieser gleichen historischen Phase hat er den Anspruch, den er
durch die Handlung A erworben hat, durch die Handlung B verwirkt. Das hätte noch
einen Zusammenhang, aber zu sagen, der hat zwar von 33 bis 45 Widerstand gegen
die Nazis geleistet, aber weil er nach 45 in der Staatsführung der DDR war, hat er
das sozusagen verwirkt, also in einer ganz anderen Phase seines Lebens, in einem
ganz anderen Staat, in einer ganz anderen historischen Phase, ist natürlich völlig
absurd. Und das eben bei einer Rechtsprechung, die immer z.B. bei den
Kriegsverbrechern gesagt hat, die müssen wegen des Vertrauensschutzes eine
Rente bekommen, er hat ja auch auf diese Rente vertraut, denn die war ihm
gesetzlich garantiert, und jetzt, sozusagen, gilt dort kein Vertrauensschutz. Und das
ist natürlich absurd. Das spüren doch die Ostdeutschen sehr genau, sie spüren doch,
wie hier mit ganz unterschiedlichen Maßstäben gemessen wird. Und das trifft dann
eben nicht Hager, den ich ja ansonsten leidenschaftlich gerne kritisieren würde, aber
in dem Punkt muß ich dann eben sagen, geschieht ihm Unrecht. Das macht es
einem dann schon wieder schwer, die andere politische Auseinandersetzung zu
führen. Da wäre wirklich viel zu ihm zu sagen, wenn ich an Kultur und Ideologie in
der DDR denke, die er ja doch in erster Linie verantwortet hat, und irgendwie fühlen
sich alle indirekt davon mitbetroffen, also nicht alle, aber doch sehr viele. Aber ich
meine, ich glaube nicht, daß die Folge davon ist, daß sie zur DDR zurück wollen,
sondern die Folge ist einfach, daß der Druck größer wird, endlich gleichberechtigt
behandelt zu werden und nach gleichen Maßstäben beurteilt zu werden.
TP:
Herr Gysi, eine Frage möchte ich Ihnen nicht ersparen. Die Frage Siegerjustiz: Findet
hier wirklich das statt, was Kinkel mal gefordert hat, Delegitimierung der DDR und
zwar mit allen Mitteln, die die Justiz aufbieten kann, also schlichtweg gesagt:
Siegerjustiz?
Gysi:
Also mit allen Mitteln, das sind immer so absolute Formulierungen! Es sind vielleicht
ja auch noch andere denkbar, die nicht angewandt werden. Aber sicherlich ist es
ganz klar, daß über die Justiz, auch über das Bundesverfassungsgericht, auch über
den Bundesgerichtshof die Delegitimierung der DDR schon versucht wird in
wesentlichen Bereichen. Das kann man, glaube ich, nicht anders sehen. Und damit
handelt es sich tatsächlich auch partiell um Siegerjustiz. Ich will das auch noch mit
einem anderen Beispiel beweisen oder versuchen zu beweisen, was nämlich der
Unterschied ist. Es ist ja kein Zufall, daß es für all diese Dinge keine strafrechtliche
Verantwortlichkeit in Polen gibt, nicht in Rumänien gibt, nicht in Bulgarien gibt, nicht
in Ungarn gibt, nicht in der Tschechischen und nicht in der Slowakischen Republik,
geschweige denn in den ehemaligen Republiken der Sowjetunion.
TP:
In der Tschechischen wohl.
Gysi:
Dafür nicht. Zeigen Sie mir ein einziges Verfahren gegen einen Grenzsoldaten, der
an der Grenze geschossen hat, und da wurde geschossen - auch auf DDRBürgerinnen und DDR-Bürger.
TP:
Jedenfalls wird versucht, sie strafrechtlich in der Tschechei, sagte mir jedenfalls der
tschechische Presseattaché, zur Verantwortung zu ziehen.
Gysi:
Ja, interessant ist nur: Es gibt kein einziges Verfahren. Was sie versucht haben, sie
haben gegen Spitzenleute des Geheimdienstes aufzuklären versucht, auch z.B.
diese Knüppelorgie der Polizei auf dem Wenzelsplatz usw... Da gab es ja hier schon
zu DDR-Zeiten Ermittlungsverfahren gegen einzelne Angehörige der Polizei. Das ist
was anderes, aber die Grenzsachen haben sie nie aufgeklärt. Und zwar, also haben
sie auch nie eine strafrechtliche Konsequenz bisher eingeleitet. Es gibt keinen
einzigen Verurteilungsfall in einem anderen osteuropäischen Land, nur in der
ehemaligen DDR, jetzt Bundesrepublik Deutschland. Und warum ist das so? Das hat
einen ganz einfachen Grund. Sie haben nämlich wieder Grenzsoldaten und die
wollen wieder verhindern, diesmal in erster Linie, daß Flüchtlinge bei ihnen einfach
eindringen. Und sie haben wieder eine Schußwaffengebrauchsbestimmung und sie
erwarten von den Soldaten, daß sie gelegentlich dann auch notfalls diese
Schußwaffe einsetzen. Und sie sind völlig darüber im klaren, wenn sie jetzt
Strafverfahren führen gegen ihre Grenzsoldaten der früheren historischen Phase,
sagen, da hattet ihr zwar auch den Befehl, aber da war er illegitim und den hätte es
so nicht geben dürfen und deshalb bestrafen wir euch jetzt, während wenn ihr es
heute macht, geht es in Ordnung. Dann werden die natürlich sehr mißtrauisch, die
Grenzsoldaten und sagen: Also, dann mach ich das lieber heute auch nicht, denn
morgen kommt wieder eine neue Zeit, und dann wird mir vorgehalten, daß dieser
Befehl illegitim war und damit hätten sie große Verunsicherung, also eine
Rechtsunsicherheit bei den Grenzsoldaten ihrer Länder organisiert. Die
Bundesrepublik kann sich das leisten, weil sie auf die Grenztruppen der DDR
natürlich überhaupt nicht mehr angewiesen war, und weil ja allen Angehörigen des
Bundesgrenzschutzes klar ist, daß es für sie nicht gilt, weder aus der Vergangenheit,
mithin auch nicht in der Gegenwart und auch nicht in der Zukunft, und das hat
weitergehende Konsequenzen, bis dahin, daß z.B. dort ja die Geheimdienste bis auf
die Spitze immer in personeller Identität weiter existieren. Das gilt für die Polizei
entsprechend, das gilt für die Lehrerinnen und Lehrer, es gilt für viele andere
Bereiche. Ich hab gesagt, die PDS war die einzige Partei, die darum kämpfen mußte,
daß eine Schlagersängerin aus der DDR noch mal eine Chance bekommt, einen
Schlager zu singen. In Polen, in der Tschechischen, in der Slowakischen Republik
standen sie vor der Frage, entweder sie nehmen ihre bisherigen
Schlagersängerinnen und Schlagersänger oder sie haben keine mehr. Bei uns war
alles da, im Westen, nichts brauchten sie aus der DDR: keinen Geheimdienst, keine
Polizei, keine Grenzsoldaten, etc. Dadurch können sie anders damit umgehen. Und
das, erst dieser Umstand, nicht das andere, was so bei uns auch immer gesagt wird,
das ist der Umstand, der daraus eine Siegerjustiz macht, weil es letztlich sich nach
dem Zweckmäßigkeitsprinzip richtet. In den Ländern, wo ich es mir aus diesen
Gründen nicht leisten kann, verzichte ich darauf und das einzige Land, was es sich
leisten kann, weil es auf die entsprechenden Strukturen in der DDR in Zukunft nicht
mehr angewiesen ist, ist die Bundesrepublik Deutschland. Deshalb ist sie auch das
einzige Land, wo das so stattfindet. Zeigen Sie mir die Rechtsbeugungsprozesse in
anderen Ländern, bis auf einige wirklich ganz offensichtliche Spitzenfälle, die mag es
übrigens auch in der DDR geben, da hätte ich auch gar nichts dagegen, in diesen
Fällen, aber was diese Breite betrifft, zeigen Sie mir die Grenzprozesse, gibt's alles
nicht. Wenn, dann sind es wirkliche Überschreitungen gewesen, also, was auch
schon nach dem damals dort geltenden Recht nie legitim war. Das ist was anderes,
dagegen hätte ich auch heute hier nichts.
TP:
Heute werden gelegentlich die Grenztoten mit den Toten in der Oder verglichen:
zulässiger Vergleich oder Hilfslosigkeit?
Gysi:
Na, das ist wieder der umgekehrte Fehler. Ich halte diesen Vergleich nicht für
zulässig, oder was heißt nicht für zulässig: ich glaube, er bringt nichts, weil er wieder
unterschiedliche
historischen
Phasen
und
unterschiedliche
rechtliche
Ausgangssituationen sozusagen nicht zuläßt. Natürlich, für den Grenzsoldaten, der
schießt, ist es sozusagen eine sicherlich ähnliche Situation: damals durch Rechts-
und Befehlslage dazu verpflichtet, heute durch Rechts- und Befehlslage dazu
verpflichtet. Der Unterschied ist nur - und den kriege ich nicht weg und deshalb finde
ich das Argument, auch wenn es von PDS-Seite kommt, nicht so besonders
überzeugend -, daß es eben einen Unterschied macht, ob ich weiß, ich schieße hier
auf Bürgerinnen und Bürger, denen zu 99 % untersagt ist, die Grenze gesetzlich zu
überqueren, die eigentlich nichts anderes vorhaben, als sozusagen das Land zu
verlassen, oder ich schieße auf Bürgerinnen und Bürger, die ohne entsprechende,
rechtliche Genehmigung in ein Land hinein wollen. Das ist schon ein Unterschied,
aber natürlich wieder von einem weitgehend humanistischen Standpunkt gesehen,
ist es kein Unterschied, weil ich sage, ob ich jetzt jemanden, der in Not sein Land
verlassen will, erschieße oder ob ich jemanden, der in Not in ein Land kommen will,
erschieße. Die Würde des Menschen ist unantastbar, laut Artikel 1 des
Grundgesetzes, und zwar unabhängig von Nationalität, Motivation für solche Dinge
etc., also insofern kann man schon einen Vergleich ziehen. Identisch, das wollte ich
nur sagen, ist es nicht. Vergleichen kann man es, identisch ist es nicht. Für die
Betroffenen natürlich, aber das ist dann eine ganz komplizierte Frage, weil für den
Betroffenen, auch wenn er durch einen Verkehrsunfall ums Leben kommt, die Folge
die gleiche ist. Also da muß man dann aufpassen, man muß schon die Unterschiede
sehen, aber man muß natürlich auch sehen, daß es ein zutiefst inhumaner Akt ist,
auf Flüchtlinge zu schießen, die in die Bundesrepublik Deutschland eindringen
wollen, statt ihnen zu helfen.
TP:
Ihr Resümee, Herr Gysi, zu dieser ganzen DDR-Vergangenheitsbewältigung! Was
sollte gemacht werden, was sollte unterlassen bleiben, unterlassen werden?
Gysi:
Ach, das ist schwer, wissen Sie, so'n Resümee zu ziehen, weil ich immer vieles in
Betracht ziehen muß. Also das Hauptproblem besteht darin, daß es die DDR nicht
mehr gibt.
TP:
Sollte es sie wieder geben?
Gysi:
Nein. Nein, nein, das habe ich nicht gesagt!
TP:
Ich frage nur.
Gysi:
Ich will nur sagen, daß es für die Aufarbeitung der Geschichte so kompliziert ist.
Wenn eine gesellschaftliche Struktur, eine staatliche Struktur aufhört und eine
Bevölkerung wird, ein Teil, und zwar ein Fünftel einer Gesamtbevölkerung, so daß
nur dieses eine Fünftel vor der Aufgabe steht, und die anderen vier Fünftel nicht,
bekommen sie keine Chancengleichheit, bekommen sie keine angemessenen
Wertmaßstäbe, weil fast jeder im Westen denkt, er wüßte, wie er in der DDR gelebt
hätte, wenn er dort gelebt hätte, was natürlich eine große Illusion ist, und natürlich
hätten sie auch nicht anders gelebt, als es die Bürgerinnen und Bürger der DDR
getan haben. Die Chance hatten wir 45, weil da das ganze Volk aus der gleichen
Verantwortung in eine neue Situation kam, damals ist sie im Westen zumindest
ziemlich vollständig ausgeblieben. Und jetzt ist es natürlich leicht, für den Westen zu
sagen, daß es uns nicht betrifft, sondern nur dieses eine Fünftel: sollen die mal
ordentlich aufarbeiten, nicht? Also, wieso ist denn damals z.B. keiner auf die Idee
gekommen, die Akten aufzulegen, usw., so kann man ja über vieles nachdenken.
Und das macht die Sache so kompliziert und da ja auch die Geschichtsaufarbeitung
geleitet wird aus Bonn, sage ich mal, macht es die Sache noch komplizierter, weil die
Wertmaßstäbe natürlich alle völlig verloren gehen. Daraus entwickelt sich dann so
'ne innere Abwehrhaltung bei den Ostdeutschen, was ich wiederum schade finde,
weil ich nämlich andererseits sage, gerade durch die Öffnung der Akten und vieles
andere hätten wir hier eine Chance, Aufarbeitung zu betreiben, wie es sie noch nie
gegeben hat, und hätten außerdem eine Chance, einen Transparenzdruck zu
erzeugen. Also, indem wir das machen, daß sozusagen auch die westdeutsche
Bevölkerung, aber auch die Bevölkerung Frankreichs und andere sich sagen: Was
die können, können wir schon lange. Wir wollen jetzt auch mal Akten sehen, usw.,
d.h., du könntest einen ungeheuren Transparenzschub organisieren. Deshalb habe
ich im übrigens auch für die Öffnung der Akten gestimmt und muß nun heute auch
als persönliche Niederlage feststellen, das Gegenteil ist der Fall. Wahrscheinlich,
wenn man heute die westdeutsche Bevölkerung befragen würde, ob sie will, daß die
Verfassungsschutzakten, sagen wir mal nur der 50er Jahre zunächst mal,
aufgemacht werden, würden die alle sagen, um Gottes Willen, einmal hat uns
gereicht, Schluß, nicht? Und damals, glaube ich, 1990, hätten sie alle gesagt, klar,
aufmachen. D.h., das Ganze war angedacht, auch, um einen ungeheuren
Öffentlichkeitsschub und einen Transparenzschub zu erreichen und heraus
gekommen ist das ganze Gegenteil. Das liegt wahrscheinlich auch an der Art, in der
Deutsche was machen, wenn sie denn was machen.
TP:
Gründlich?
Gysi:
Ja, es kriegt doch so'n formalen Charakter. Es hat dann so wenig ja wirklich mit
Aufarbeitung zu tun, sondern wir formalisieren und normalisieren ja alles. Dann wird
eben z.B. nicht mehr gefragt, ob jemand denunziert hat, sondern ob er IM war. Dabei
gibt es IMs, die nie denunziert haben, und es gibt Leute, die nie IM waren und
schlimm denunziert haben. Aber das ist dann gar nicht mehr die Frage, sondern es
wird alles formalisiert. So, und deshalb sage ich, es muß aber weiter gehen und
gerade die PDS muß hier sogar einen besonderen Beitrag leisten, weil wir sind auch
in besonderer Weise daran interessiert und dazu verpflichtet. Erstens sind wir in
gewisser Hinsicht die Adresse für Geschichte und zweitens haben wir auch den
meisten Nutzen davon, denn wenn wir überzeugte Sozialistinnen und Sozialisten
sind, und wenn wir da glauben, und ich gehöre dazu, daß der Kapitalismus nicht in
der Lage ist, letztlich wirksam die Herausforderungen, vor denen diese Menschheit
steht, zu bewältigen, dann ist unsere erste Pflicht, aus dem gescheiterten
Sowjetmodell, aus dem gescheiterten 70 jährigen Versuch, die richtigen
Schlußfolgerungen zu ziehen und sich zu überlegen, weshalb war dieser Sozialismus
so zentralistisch, weshalb war er so undemokratisch, weshalb war er so
antiemanzipatorisch? Was muß man an anderen Strukturen organisieren, um einen
wirklich demokratischen Sozialismus zu ermöglichen, wo also nicht nur der
Gleichheitsgedanke, sondern der Emanzipationsgedanke nicht weniger im
Vordergrund steht, wo es nicht die Gegenüberstellung von sozialen und politischen
Rechten gibt, sondern eine Einheit von sozialen und politischen Rechten, usw. Und
insofern, sage ich mal, müssen wir besonders daran interessiert sein, und natürlich
geht es ja auch um psychologische Fragen bis hin zu der Frage: Wie entsteht
eigener Opportunismus? Wie bekämpft man eigenen Opportunismus? Und das sind
doch alles auch Gegenwartsfragen! Da brauchen Sie ja bloß in unseren
Journalistenbereich zu gucken, dann wissen Sie, wie weit der Opportunismus schon
unter Bedingungen verbreitet ist, unter denen ja die Folgen, sich nicht
opportunistisch zu verhalten, viel, viel geringer sind.
TP:
Abschlußfrage: Ich stelle mal einen - vielleicht - unstatthaften Vergleich:
Angenommen, die BRD wäre zusammengebrochen, wäre die BRD-Vergangenheit in
der DDR schon bewältigt?
Gysi:
Sehr schwer zu sagen, weil es so fast unvorstellbar ist. Also Schäuble und andere
behaupten dann ja immer, sie wären in der DDR dann glatt eingesperrt worden und
die wären viel brutaler mit ihnen umgegangen. Ehrlich gesagt, glaube ich das gar
nicht. Also meine Sorge wäre nicht in die Richtung gegangen. So'n paar Linke, die
sich ihnen nicht eingeordnet hätten, denen wäre es wahrscheinlich wirklich
besonders schlecht gegangen, weil sie da sozusagen keinen Widerspruch dulden.
Sie sind die einzigen, die hier sagen, was sozialistisch ist, nicht? Aber die anderen
hätten alle ihre Chance in der Nationalen Front bekommen, und ich denke, im
Gegenteil, sie hätten dann so'ne Sache gestartet, wo dann alle diese Leute die
Chance bekommen hätten, zu sagen, wie sie sich jahrelang geirrt haben und dem
falschen System gedient haben und wie sie heute sozusagen erkannt haben, daß
der Sozialismus und die DDR schon immer ihr Traum war. Und ich befürchte, da
hätten wir einen furchtbaren, massenhaften Opportunismus erlebt, und dann hätt's
einige gegeben, die hätten nicht mitgemacht und die wären dann sicherlich auch
eingesperrt worden. Das allerdings befürchte ich auch. D.h., soweit sie dann
zugegriffen hätten, hätten sie sicherlich schlimmer zugegriffen, als das die
Bundesrepublik Deutschland tut. Das ist schon wahr. Das würde ich auch gar nicht
leugnen wollen, macht es bloß nicht besser, denn es ist ja offenkundig, daß es ihnen
in der Regel, jetzt mal abgesehen von den Nationalen Verteidigungsratsleuten nicht
so sehr darum geht, sie einzusperren, sondern eben zu delegitimieren.
Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 1997
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