146 ALBER TEXTE PHILOSOPHIE 1.Gerechtiglteit ist eine Eigeiiscliaft, die von verschiedenei-i Gegei-iständen ausgesagt wird. Zunächst von einein Menschen. Maii sagt, ein Mensch, ii-isbesondere ein Gesetzgeber oder Richter sei gerecht oder uiigerecht. Ii-i dieseln Sinn ist Gerechtigkeit als eine Tugend der Menscl-ien dargestellt. Wie alle Tugend ist auch die Tugeiid der Gerechtiglteit eine inoralische Qualität; und insofern liegt Gerechtigkeit innerhalb des Bereiches der Moral. Die einem Menschen zugesprocheiie Eigenschaft oder Tugend der Gerechtiglteit äußert sich aber in seinem Verhalten, und zwar in seinem Verhalteii gegenüber anderen Menschen, das heißt in seinein sozialen Verlialteii. Das soziale Verhalten eines Menschen ist gerecht, wenn es einer Norm entspricht, die dieses Verhalten varschreibt, das heißt als gesollt setzt und so den Gerechtigkeitswert konstituiert. Das soziale Verhalten eines Meiiscl-ien ist ungerecht, wenn es einer Norm widerspricht, die ein bestiinmtes Verhalten vorschreibt. Die Gerechtiglteit eines Menschen ist die Gerechtiglteit seines sozialen Verhaltens; und die Gerechtigkeit seines sozialen Verhaltens besteht darin, daß es einer den Gereclitiglteitswert koiistituierenden und in diesem Sinne gerechten Norm entspricht. Diese Norin kann man als Gerechtigkeitsnorm bezeichnen. Da die Noriiien der Moral soziale Normen, das heißt Norniei-i sind, die das Verl-ialteii von Menscl-ien gegenliber anderen Menschen regeln, ist die Gerechtigkeitsnorm eine Moralnorin; und so fallt der Begriff der Gerechtigkeit auch in dieser Hinsicht innerhalb des Begriffes der Moral. Aber nicht jede Moralnorm ist eine Gerechtigkeitsnorin, nicht jede Norm einer Moral konstituiert den Gereclitigkeitswert. Als Gerechtiglteitsi-iorin Itani-i nur eine Norin gelten, die eine bestimmte Belin~~dlung eines Menschen durch einen anderen Menschen, insbesondere die Beliandluiig der Menschen durch einen Gesetzgeber oder Richter vorschreibt. Die Norin: inan soll sich selbst nicht töteii, kann die Norm einer Moral sein, die solches Verhalten wegen seiner üblen Wirkungen auf die Gemeinschaft verbietet, aber diese Norm kann nicht eine Gerechtigkeits-Norm sein, da sie nicht die Behaiidlung eines Menschen durch einen anderen Menschen vorschreibt; das heißt: Selbstmord kann als unmoralisch, nicht aber als I. Die Normen der Gerechtigkeit Das Problem der Gerechtigkeit (1960) Hans Kelsen Rechtsphilosophie ungerecht beurteilt werden. Aber, daß man Selbstinörder nicht auf eii~einallgeineiiieii Friedhof, sondern abgesonder~bestattet oder den Versuch eines Selbstinordes bestraft, 1tani-i als gerecht oder ungerecht beurteilt, das l-ieißt nach eiiier Noriii beurteilt werden, die eine bestiil-iinte Behandlung von Menschen vorsclireibt, das lieißt gebietet oder verbietet, und so einen Gerechtigkeitswert ltoiistituiert, deii Charakter einer Gerechtiglteitsiiorm hat. 2. Gerechtigkeit ist somit die Eigenschaft eines spezifischen menschlichen Verhaltens, eines Verhaltens, das in der Behandlung anderer Menschen besteht. Das Urteil, daß ein solches Verhalten gerecht oder ungerecht ist, stellt Be-urteilung, Bewertung des Verhaltens dar. Das Verhalten, das ein in Zeit und Rauin existentes Seins-Faktum ist, wird mit einer Gerechtigkeits-Norm, die ein Sollen statuiert, koi-ifrontiert. Das Ergebnis ist ein Urteil, das entweder aussagt, daß das Verhalten so ist, wie es - geinäß der Gerechtigkeitsnorm - sein soll, das lieißt: daß das Verhalten wertvoll ist, nämlich einen positiven Gerechtigkeitswert hat, oder daß das Verhalten nicht so, weil das Gegenteil davon ist, wie es - gemäß der Gerechtigkeitsnorm - sein soll, das heißt: daß das Verhalteii wertwidrig ist, näizilicl-i einen negativen Gerecl-itigkeitswert hat. Gegenstand der Be-urteilung, Bewertung ist ein Seins-Faktum. Nur ein Seins-Faktum kann, wenn ltonfroiitiert mit einer Norm, als wertvoll oder wertwidrig beurteilt werden, kann einen positiven oder negativen Wert haben. Mit anderen Worten: Was bewertet wird, was wertvoll oder wertwidrig sein, einen positiven oder negativen Wert haben kann, ist die Wirkliclilteit. 3. Dem scheint d& Tatsache zu widersprechen, daß Gerechtigkeit - so wie Ungerechtigkeit - als Eigenschaft auch von Normen ausgesagt wird, daß inan auch Normen als gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht beurteilt, wenn inan von eine111 guten oder schlechten, gerechten oder ungerechten positiven Recht spricht. Es scheint, daß inan dabei die Noriiien des posii-iven Rechts init einer Cerechtigkeitsnorm vergleicht, also eine Norin durch eine andere bewertet, und dabei zu dein Urteil gelangt, daß die Norn-i des positiven Rechts gerecht ist, werin sie der Gerechtiglteitsnorni entspricht, sofern sie statuiert, was die Gerechtigkeitsnorm vorschreibt, oder daß sie ungerecht ist, wenn sie der Gerechtigkeitsnorin nicht entspricht, sofern sie das Gegenteil dessen statuiert, was die Gerechtigkeitsnorm vorsclireibt. Dies setzt voraus, daß die Gerechtigkeitsnorin und die Norm des positive11 Rechts zu gleicher Zeit als gültig ange- Das Problein der Gerechtiykeit 147 Da eine Norin weder wahr noch unwahr, sondern nur gültig oder uiigültig sein kann, ist ein Norinenkonllikt kein logischer Widerspruch iiii strikten Sinne. Vgl. supra C . 26. Wenn von einander nwidei-syrecliendcnx Normen gesprochen wird, sind Normen gemeint, die iuiteinander in Konflikt stehen, so zwar, da13 die eine vorschreibt, daR man sich in bestin~niterWeise verhalten soll, die andere, daß man sich so niclit verhalten soll. Die Geltung der einen Norin ist mit der Geltung der anderen unvereinbar. Daher köiiiien beide niclit zugleich gelten. Iii diesem Sinne verwendet auch Kant das Woi-t »widersprechen«. Vgl. infra C. 369f. ' sehen werden. Dies ist aber nicht i ~ i ö ~ l i cwei-in h, beide Norinen zueinander in Widerspruch, das heißt: initeinander in Konflikt stehen'. Dann kann nur eine von beideii als gültig angesehen werden. Einer als gültig vorausgesetzte11 Gerechtigkeitsnorm gegenüber kann eine ihr widersprechende Norm des positiven Rechtes nicht als gültig, einer als gültig vorausgesetzten Norm des positiven Rechts gegenüber kann eine ihr widersprechende Gerechtigkeitsnorin nicht als gültig angesehen werden. Dabei ist unter »Geltung« objektive Geltung zu verstehen. Daß eine Norm positiven, das heißt durch menschliche Akte gesetzteil Rechtes »gilt«, bedeutet, daß der subjektive Sinn des Aktes: daß sich Menschen in bestimmter Weise verhalten sollen, auch als seik'objektiver Sinn gedeutet wird. Jeder Befehlsakt hat den subjektiven Siiin, daß sich derjenige, an den der Befehl gericlitet ist, in bestiiuinter Weise verhalten soll. Aber der subjektive Sinn nicht jedes Befehlsaktes wird als sein objektiver Sinn, das heißt: als verbindliche Norm gedeutet. Dadurch uiiter-. scheidet sich der Befehlsaltt eines Straßenräubers von dem Befehlsakt eines Rechtsorganes. Unter welcher Bedingung der subjektive Sinn eines Befelilsaktes als sein objektiver Sinn, als verbindliche Norm, gedeutet wird, wurde in1 Vorhergehenden gezeigt. Eine Beurteilung des positiven Rechts als gerecht oder ungerecht erfolgt insbesondere vorn Standpunkt der Naturrechtslehre, derzufolge das positive Recht nur gilt, wenn es dein einen absoluten G e r e ~ h t i ~ k e i t s w ekonstituierenden rt Naturrecht entspricht. Nimmt inan das an, dann Itann eine naturrechtswidrige Norin positiven Rechts i-iiclit als gültig angeselien werden. Es können nur naturrechtsgeil-iäße Normen positiven Rechtes gelten. Wenn die Norin eines positiven Rechts nur insofern gilt, als sie dem Naturrecht entspricht, dann ist, was in der Norm des positiven Rechtes gilt, nur das Naturrecht. Das ist in der Tat die Konsequenz einer Naturrechtslehre, die neben, ja über dem positiven Recht die Geltung eines Naturrechts behauptet, und dabei den Geltungsgrund des po- Hans Kelsen I I I I I 1 ! ! 1 I I ! I i 1 Gereclitiykeit Rechtsphilosophie Rechtspositivisinus. Eine Gerechtiglteitsnorm schreibt ein bestiiiiiiites Verlialten voii Menschen gegenüber Mei-ischeii vor. Dieses Verhalten kai-iri iii der Setzung von N o p i e n besteheii. Sofern sich eine Gereclitigkeitsnorm auf das positive Recht bezieht, fordert sie eine bestimmte inhaltliche Gestaltung seiner Norineii; sie schreibt die S e t z l / i ~ von y Normen bestinimten Inhalts vor. Das heißt aber: sie ist auf die ErZeugung des positiven Rechtes gerichtet. Das Verhalten, das sie vorschreibt, ihr Gegenstand, sind Akte, durch die Normen gesetzt werden. Diese Akte können der Gerechtiglceitsnorn~entsprechen oder widersprechen. Sie eiltsprechen der Gerechtigkeitsnorm, wcnii die Norin, die sie setzen, den Inhalt hat, den die Gerechtigkeitsnorin z u setzen vorschreibt, sie widersprechen der Gerechtigkeitsnorm, wenn die Norm, die sie setzen, den gegenteiligen Inhalt hat. Da Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit in dein Entsprechen oder Widersprechen des Setzung-Aktes bestellt, sind es diese die Normen des positiveii Rechts setzenden Akte, das Verhalten der die Normen Widerspruch in sicli selbst. 4. Von dieser Einsicht ausgehend rnuß der Sachverhalt geprüft werden, der vorliegt, wenn man von einem gerechten oder uiigerechten positiven Recht spricht, wenn inan Gei-echtiglceit oder Ungerechtigkeit als Eigenschaft von gültigen Norinen des positiven Rechts behauptet, wenn inan sagt, daß inan Norme11 des positiven Rechts nach einer Gerechtigkeitsnorin beurteilt, mit einer Gerechtigkeitsnorin als Maßstab als gerecht oder uiigerecht bewertet, dabei aber annimmt, daß die Geltung dieser Norii-ieii des positiven Rechts von ihreiu Verhältnis zu der Gerechtigkeitsnorm nicht abhängig ist. In dieser Unabhängigkeit der Geltung des positiven Rechts von seiiieili Verhältnis zu einer Gerechtigkeitsnorm liegt der wesentliche Unterschied zwischen Naturrechtslehre und sitiven Rechts in diesein Naturrecht sieht. Das heißt aber: da13, dieser Theorie nach, iii Wahrheit nur das Naturreclit, niilit das positive Recht als solches als gültig angesehen werden kann. Es liegt soinit hier überliaupt keine Bewertung des positivcn Rechts durch das Naturrecht, das heißt die Beurteilung einer gültigen Noriu durch eine andere Norm vor. Wie ltönnte auch eine Norin, die einen Wert konstituiert - und jede gültige Norin l t o ~ i stituiert ei11ei-i Wert -, wie ltö~inteein Wert bewertet werdcii, wie könnte ein Wert einen Wert oder gar einen ncgativen Wert haben! Ein wertvoller Wert ist ein Pleonasiii~~s, ein wertwidriger Wert ein Das Problem der 149 150 ALBER TEXTE PHILOSOPHIE des positiven Iiechts setzenden Mensclieii, Seins-Fakten also, die den Gegenstand der Beurteilung durch die Gereclitigkeitsnoriii bilden, die, mit dein Maßstab dieser Gerechtiglteitsiiorrn gemessen, als gerecht oder ungerecht bewertet werden, einen positiveii oder negativen Gerechtigkeits-Wert haben. Dieser Gereclitigkeitswert des Norinsetzui-igsaktes ist aber deutlich voii dem Rechtswert zu ~iiitei-sclieideii,deii die Nornieii des positiven Rechts konstituieren. V0111 Standpunkt des Rechtspositivismus aus gesehen, ltonstituiert eiiie solche Noriii einen positiveii Rechtswert nicht darum, weil sie durch eiiieii Altt gesetzt ist, der einen positiven Gerechtigkeitswert hat, und sie konstituiert eineii positiven liechtswert, auch wenn sie durch einen Altt gesetzt ist, der einen negativen Gerechtigkeitswert hat. Entspricht die Setzuiig der Norri-i des positiveii Rechts der Gere~liti~keitsnorm, dann fällt der von jener Itonstituierte Rechtswert iiiit dem von dieser konstituierte11 Gerechtigkeitswert zusammen. Dann sagt inan, daß die Noriii des positiven Rechts gerecht ist. Widerspricht die Setzuiig der Norm des positiven Rechts der Gerechtigkeitsiiorin, fallen Gereclitigkeitswert und Rechtswert auseinander; dann sagt man, daß die Norm des positiven Rechts ungerecht ist. Aber die Gerechtigkeit so wie die Ungerechtigkeit, die als Eigenschaft einer positiven Rechtsnorm ausgesagt wird, deren Geltung von dieser ihrer Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit unabhängig ist, ist nicht - oder doch nicht unmittelbar - die Eigenschaft dieser Noriii, sondern die Eigenschaft des Aktes, mit derii sie gesetzt, dessen Sinn sie ist. Wenn etwa eine als gültig vorausgesetzte Gerechtigkeitsiiorm statuiert, daß alle Menschen gleich behandelt werden sollen, ist ein Gesetzgebungsakt, durch den Norinen gesetzt werden, die eine ungleiche Behandlung der Menschen vorschreiben, indem sie statuiereii, daß die Gerichte nur Menscheii, die ein Delikt begarigen haben, andere aber nicht strafen, und daß sie Diebe mit Entziehung der Freiheit, Mörder mit Entziehung des Lebens strafen solleii, dann sind dieser Gesetzgebungsakt und die Akte der Gerichte, die das Gesetz anwenden, ungerecht. Dann sagt inan, daß die generelle Norin des Gesetzes und die individuellen Normen der das Gesetz anweildenden richterlichen Entscheidungen ungerecht sind. Ihre Ungerechtigkeit besteht darin, daß die sie setzenden Akte einer Gere~hti~ltcitsnorin widersprechen, das heißt: dieser Norm gemäß nicht gesetzt werden sollen. Der positiven Rechtsordnung nach aber sollen sie gesetzt werden. Es ist aber nicht iiiöglich, daß etwas zugleich sein soll und niclit sein soll. Man kann daher vom Hans Kelsen Rechtsphilosophie Standpuiikt einer als gültig aiigeselienen Gerechtiglieitsiiorim cirie ihr widersprechei-ide Norm des positiveii Rechts und voiii Staiidpunkt einer als gültig aiigeselieneii Nori11 des positiveii Rechts eiiie ihr widersprechende Norin der Gcreclitigltcit niclit als gültig arisrhen. Man ii-iuß, wenn die Geltuiig eiiier Norm des positiveii Rechts in Frage steht, von der Geltuiig einer ihr widersprechenden Norni der Gerechtigkeit und, wenn die Geltung eiiier Norni der Gcrechtiglteit in Frage steht, von des Gelt~iiigeines ihr widei-spreclieiideii Norin des positiven Iiechts absehen. Man kann nicht beide zugleich als gültig ansehen. Es kann daher lteine als gültig aiigeseheiie Norin des positiven Rechts geben, die voiii Standpuiiltt eiiier zugleich als gültig angesehenen Norin der Gerechtigkeit als ungcreclit beurteilt werden Itann. Es kann daher weder von dein einen noch voll dem anderen Standpunkt aus eine ungerechte Norin des positiveii Rechts gelten. Eine gültige positive liechtsnorin ltanii daher weder von dein eineii noch von dein anderen Standpunkt aus geseheii ungerecht sein. Es ltaiin zwar eineii Akt geben, dessen subjektiver Sinn ein Sollen ist, und dieser Altt kann vom Standpunkt einer als gültig angesehenen Gerechtiglteitsnorin aus als ungci-eclit beurteilt werden. Aber der subjektive Sinn dieses Aktes kann, wenn die Gerechtigkeitsnorin als gültig angesehen wird, nicht als der objektive Sinn dieses Aktes und daher nicht als objektiv gültige Norin angesehen werden. Vom Standpunkt einer als gültig angesehenen Gerechtigkeits~ioriiiist eine ihr niclit entspreclieiide Norm des positiven Rechts ungültig; und wenn der subjelttive Siiii-i des Aktes, weil dieser Akt der Grundnorm der liechtsordnung gcinäß gesetzt ist, als sein objektiver Sii)n, das heißt als objelttiv gültige Nui-iii aiigesehen wird, kann d i e ~ e r e c h t i ~ k e i t s n o rnicht m als gültig angesehen werden. Wenii voin Standpunkt eiiier als gültig angcseheiieii Ger e ~ h t i ~ k e i t s n o r ikein n ungerechtes positives Recht gelten, weil ein ungerechtes Recht von dieseln Standpunltt kein geltendes Recht scin ltanii, dann kann von diesein Standpunl<taus auch kein gereclites Recht als solches gelten. Und das ist in der Tat der Fall, wenn vom Standpunkt einer als gültig angeseherien Nurin dei- Gerechtigkeit eine positive Rechtsordiiung nur gilt, weil ihre Setzuiig dieser G e r e ~ h t i ~ k e i t s n o rentspricht. in Denn dann ist -wie schon beiiierkt - die Geltung der positiven Rechtsordnung nur die Geltung der Gerechtigkeitsnorm, hat das positive Recht als solches keine eigene Geltung. Und wenn vom Standpuiikt eiiier als giiltig angesehenen positiven Rechtsnorm keine dieser Norm widersprecheiide Gerecli- Das Probieiri d e r Ge r e ch tig ke it 151 152 ALBER TEXTE PHILOSOPHIE tigkcitsnorin als gültig aiigeselien, also aucli von dieseln Standpuiiltt aus ltcine ungerecl-ite Noriii positiven Reclits gelten kann, dann darf von dieseln Standpunkt aus auch lzeii-ie Gerecl-itigkeitsnorin als gültig angesehen werden, der eiiie positive Iiechtsnoriii entspriclit. M u ß man aber von der Geltung eii-ier zu einer Norm des positiven Rechts in Widerspruch stehenden Norm der Gerechtigkeit absehen, wenn die Geltung der Norin des positiven Reclits in Frage steht, muß inan auch vo11 der Geltung einer mit eii-ier Norin des positiven Rechts in Einklang stehenden Norm der Gerechtigkeit abscheii, wenn die Geltung der ersteren in Frage steht. Es wäre sinnlos anzunehmen, daß das positive Recht gerecht, aber nicht ungerecht sein kann. Wenii das positive Recht nicht ungerecht sein kann, kann es auch nicht gerecht sein. Es kann nur entweder gerecht oder ungerecht, oder: weder gerecht noch ungerecht sein. Von der Geltung jeder Gerechtigkeitsnorni, sowohl einer solcheii, die zu einer positiven Rechtsnorm in Widerspruch, als auch von. einer solchen, die iiiit einer positiven Rechtsnorm in Einklang steht, abzusehen, das ist die Annahme, daß die Geltung einer Norin des positiven Rechts von der Geltung einer Gerechtigkeitsnorm unabliängig ist, das heißt aber: daß man beide Normen nicht zugleicli als gültig ansieht, ist ein Prinzip des R e ~ l z t s ~ o s i t i v i s n i u s . Aus dieser Analyse ergibt sich, daß die Aussage: eine Norin des positiven Rechts ist gerecht oder ungerecht, nur bedeuten kann: Wenn inan eine bcstiininte Gerechtiglzeitsnorii-i als gültig voraussetzt, ist der Akt, mit dein die Norm einer bestimmten positiven Recl-itsordiiui-ig gesetzt wurde, das ist der Akt, dessen subjektiver Sinn diese Norni ist, gerecht oder ungerecht, je nach dein, ob der A l ~ tder Gereclitigkeitsiiorm entspricht oder nicht entspricht. Die Existenz des Aktes ist mit der Geltung der Gereclitigkeitsnorin nicht ui-ivereinbar. Auch ein einer Norni iiicl-it entsprecheiider Akt kann existieren. Wenn aber die Geltung der Norin einer positiven Rechtsordnung in Frage steht, das heißt: wenn in Frage steht, ob der subjektive Sinn des Aktes auch als sein objektiver Sinn anzusehen ist, und wenn er als sein objektiver Sinn angesehen wird, nicht weil der Akt der Cereclitigkeitsnorni entspricht, sondern weil er gemäß der Grundnorm der Rechtsordnung gesetzt wurde, also auch wenn sein subjektiver Sinn der Gerechtigkeitsnorm niclit entspricht, dann kann die Gerechtigkeitsnorm nicht zugleicli mit der positiven liechtsnorm als gültig angesehen werden. 5. Die Gerecl-itiglzeitsnorm oder - richtiger formuliert, wie wir Hans Kelsen Rechtsphilosophie selien werden - die Gerechtiglteitsnorinen haben eiiien generellen Charakter. Generell ist eine Noriii, wenn sie nicli: -wie eii-ie ii-idividuelle Noriii - in eiiieii-i einzigen Falle, sondern in eii-ier von vornlierein ui-ibestii-iiiuten Zalil von gleiclicii Fällen gilt, das heii2t: zu befolge11 odei- anzuwenden ist. 111 dieser Beziehung ist sie den1 abstrakten Begriff aiialog. Docli darf die generelle Noriu iiicht mit dein abstraltteii Begriff identifiziert werden, wie dies ii-iitunter aus Gründen, auf die später zurückzultoi-i-iinei-iist - geschieht. Der abstrakte Begriff bestiii-iint die Elei-i-iente oder Qualitäten, die ein konkreter Gegenstand hat, wenn er unter den Begriff fällt. Der Begriff statuiert nicht, daß der Gegenstand diese Eigenschaften haben soll. Der Begriff konstituiert niclit - wie die Norm - einen Wert. Wenn ein Gegenstand die in einen1 Begriff bestiini-i-iten Eigenschaften hat, hat er darum niclit einen positiven, und werin er sie nicht hat, darui-ii nicht einen negativen Wert; so wie das Verhalten eines Individuuins, das einer Norm entspriclit, das so ist, wie es die Norin bestiiiiint, das heißt: wie es nach der Norm sein soll, einen positiven Wert, ein Verhalten, das eii-ier Norm widerspricht, das nicht so ist, wie die Norin bestii-i-imt, das heißt: wie es nach der Norm sein soll, einen negativen Wert, einen Unwert Iiat. Daher kann inan aus einen1 Begriff nicht, wie die sogenannte Begriffsjurisprudenz fehlerhafter Weise versuclit, eine Norin ableiten. Eine Norm kann nur wieder aus einer Norm, ein Sollcn nur aus einein Sollen deduziert werden. 6. Iii der logischeii Operation, die vorgei-ioinilieii wird, wenn die Geltung einer individuellen Nori-i-i aus eii-ier generellen Norm gefolgert wird, tritt auerdiiigs auch ein Seins-Urteil, die Beliauptung einer Tatsache auf. So kann der die Geltung einer individuelleii Norm aussagende Satz: Ich soll die Wahrheit spreclien, aus den-i die Geltung einer generellen Norm aussagende Satz: Alle Menschen sollen die Wahrheit sprechen, ncir durch Vermittlung der ein Sein, eine Tatsache behauptenden Aussage gefolgert werden: Ich bin ein Mensch. DaG der Schlußsatz: Ich soll die Wahrheit sprechen, aus dein Obersatz gefolgert wird: Alle Menschen sollen die Wahrheit sprechen, bedeutet, daß der Schlußsatz schon in-i Obersatz des Syllogisilius mit enthalten ist. Aber der Schlußsatz kann nur in dem Obersatz, nicht in den-i Untersatz: Ich bin ein Mensch, enthalten sein, denn nur der Obersatz ist, so wie der Schlußsatz, ein SollSatz und eine Aussage über Wahrheit-Sprechen, während der Untersatz ein Seins-Satz und eii-ie Aussage über Mensch-Sein ist. Das Problern der Gerechtigkeit 15 m I T 0 5 vi -C 3 m - -, ~ m m F w _.E .T-. :. z 2 e2 3 m %C zN g 9 ' 9 5 a9' W s 0 - =n 3 G, 25 v N , 2 F?. - E.3 W . ; & z 3 & < 0: 0 - eea-2 2 . mo" N Z l + a g 2 ~ 7 59 0 5 5. N N 5 2 . o a 0 2 2- .2.s & ? e N m3 y g. 5.2 gz. v0e.o.z 5. ec.gi Y 3 r o w - <$5'5.< 3 ^ '* 2 + 'F; - " ) e s n n g yc - : K'g% G3 W G G 0 G m W-. < !j W' 2: W . ? o w % Y 3 - 9 7 9 .g S- . % m $3 < m- = =: 0' L I ~ 8 0 0 5 n Es-3z !+ g sg:s 7 T", ., 3 ? . "$, @gG d 3, g 5 , - 3 m z W. 55 5 .5eO m" g. g 3. 2 W5 5 2 2 < m . m 0;7 ffi - 0 3 - Oe.3 n W. g3.=g- W C f :f i" 3 ; - 2 156 ALBER TEXTE PHILOSOPHIE keitsbegriff zu definieren, der das allen »konkreten« Ge~echti~keitsbegriffen gemeinsame Element enthält. Er sagt op. cit. C. 22: »Pour qu'uiie analyse logique de la notion de la justice puisse constituer un progres incontestable dans l'eclaircissement de cette idke confuse, il faut qu'elle parvienne i dkcrire d'une facon yrecise ce qu'il y a de coiiimun dans les differentesformules de la justice et 5 tnoiitrer les points par lesquels elles different«. Zu einer Definition des »formalen« Gerechtigkeitsbegriffes vgl. infra S. 396f. Dieser wird jedoch - wie wir sehen werden - der Begriff eiiier wesentlicli generellen Noi-in sein, die unter bestiininteii Bedinguiigen eiiie bestimmte Behandluiig von Menschen vorschreibt, ohne irgendetwas über die Art und Weise dieser Behandluiig auszusagen, also iii dieser Beziehung völlig leer sein. 9. Zwei Typen von Gerechtigkeitsnormen lassen sich unterr ein rationaler Typus. Die Gescheiden: ein i n e t a ~ h ~ s i s c h eund rechtigkeitsiioriiien des i~ietaph~sisclien Typus sind dadurch gekennzeichnet, daß sie sich ihrein Wesen nach als von einer traiiszendenten, jenseits aller erfahrungsinäßigeii (auf Erfahrung beruhenden) inenschlichen Erkenntnis existenten Instanz ausgehend darstellen, also wesehtlich den Glauben an die Existenz einer solchen traiiszendenten Instanz voraussetzen. Sie sind inetaphysisch nicht nur in bezug auf ihre Provenienz, sondern auch in bezug auf ihren Inhalt, insoferne sie von der inenschlichen Veriiunft nicht verstanden werden können. An die Gerechtigkeit, die sie konstituieren, inuß man - so wie an die Existenz der Instanz, von der sie ausgehen - glauben, aber man kann diese Gerechtigkeit nicht rational begreifen. Das Ideal dieser Gerechtigkeit ist, wie die Instanz, voii der es ausgeht, absolut; es schließt, seinein imnianenten Sinne nach, die Möglichkeit eines anderen Gerechtigkeitsideales grundsätzlich aus. Die Gerechtigkeitsnormen des hier - iin Gegensatz zu »metaphysisch« - als »rational« bezeichneten Typus sind dadurch gekennzeichnet, daß sie keinen Glauben an die Existeiiz einer transzendenten Instanz als wesentlich voraussetzen, daß sie als durch inenschliclie, in der Welt der Erfahrung gesetzte Akte statuiert gedacht und von der inenschlichen Vernunft verstanden, das heißt rational begriffen werden können. Das bedeutet aber nicht, daß diese Normen von der menschlichen Vernunft - als der sogenannten »praktischen« Vernunft - gesetzt oder in dieser Vernunft gefunden werden können. Das ist unmöglich, wenn es auch von deneii behauptet wird, die diese Normen in der Beantwortung Hans Kelsen j Vgl. infra C. 415 ff Rechtsphilosophie dcr Frage, was gerecht ist, als uiii~iittclbareiiileuclitend voraussetzen5. Die Gerechtiglteitsnori~iendes hier als rational bezeichneten Typus können zwar auch als von eiiier transzei~dentenInstanz gesetzt vorgestellt werden; und manche von ihnen, wie insbesondere die Gerechtigkeitsnorin dei Vergeltung, werden als Wille der Gottheit dargestellt. Aber das ist nicht wesentlicli für sie, und ihrem Inhalt nach bleiben sie aucli dann rational, das heißt: sie können durch die meiischliche Vernunft verstanden, rational begriffen werden. Geht inan an das Problem der Gerechtigkeit von einem wissenschaftlich-rationalen, nicht-metaphysischen Standpunkt aus, und erkennt man, daß es sehr viele, verschiedene und einander widersprechende Gerechtigkeitsideale gibt, von denen lteiiies die Möglichkeit des anderen ausschließt, dann kann man die durch dienur als relative gelten se Ideale konstituierten Gere~hti~keitswerte lassen. Unsere Analyse soll 1-nit Gerechtigkeitsnorinen des rationalen Typus beginnen. 10. Die am häufigsten gebrauchte Gerechtigkeitsformel ist das bekannte suuni ctliqtle, die Norm, daß jedem das Seine, das heißt: das ihm Gebührende, das, worauf er einen Anspruch, ein Recht hat, zugeteilt werden soll. Es ist leicht eiiizusehen, daß die für die Anwendung dieser Norm entscheidende Frage: Was das »Seine«, das einem jeden Gebührende, sein Recht ist, durch diese Norm nicht bestiinmt wird. Da das einein jeden Gebührende das ist, was ihm m auf die zugeteilt werden soll,.läuft die Formel des s t ~ t ~ctlique Tautologie hinaus, daß jedem zugeteilt werden soll, was ihm zugeteilt werden soll. Die Anwendung dieser Gerechtigkeitsnorin setzt die Geltung eiiier normativen Ordnung voraus, die bestimmt, was jedem das »Seine«, das heißt: das ist, was ihm gebührt, worauf er ein Recht hat, weil andere, dieser Ordnung gemäß, eine ltorresyondierende Pflicht haben. Das bedeutet aber, daß jede solche Ordnung, was imnier für Pflichten und Rechte sie statuiert, insbesondere jede positive Rechtsordnung, der Gerechtigkeitsnorm des st~i-lllictlique entspricht und sohin als gerecht beurteilt werden kann. In dieser konservativen Funktion liegt ihre historische Bedeutung Der Gerechtigkeitswert, den diese Norm konstituiert, ist identisch mit dem Das Problem der Gerechtigkeit