Michael Klein 5.5 Suchtstörungen 5.5.1 Einführung

Werbung
Klein, M. (2001). Suchtstörungen [Addictive disorders]. In: Brinkmann-Göbel, R. (Hrsg.). Handbuch
für Gesundheitsberater. Bern: Huber, S. 227 - 237.
Michael Klein
5.5 Suchtstörungen
5.5.1 Einführung
Unter dem Begriff der Suchtstörungen werden alle Phänomene zusammengefasst,
die mit der unkontrollierten, selbstschädigenden Einnahme psychotroper
Substanzen und/oder dem ebenso unkontrollierten, selbstschädigenden
Ausführen bestimmter Verhaltensweisen zusammenhängen. Im engeren Sinne,
wie er in der Psychiatrie und Klinischen Psychologie üblich ist, werden darunter die
substanzbezogenen Störungen verstanden. Diese sind der Missbrauch
psychotroper Substanzen, wie z.B. von Alkohol, Opiaten, Kokain usw., oder die
Abhängigkeit von diesen Substanzen. Obwohl die WHO im Jahre 1964 den
Suchtbegriff wegen vielerlei negativer Konnotationen und begrifflicher Unklarheiten
durch den der Abhängigkeit ersetzte, ist der Suchtbegriff nach wie vor weit
verbreitet. Deshalb findet er auch in diesem Beitrag Verwendung. Während viele
Autoren die beiden Begriffe „Sucht“ und „Abhängigkeit“ synonym verwenden,
empfiehlt es sich, Sucht im Unterschied zu Abhängigkeiten, die nicht generell negativ
sein müssen, sondern teilweise sogar lebensnotwendig sind, als einen negativen
Prozess der Selbstzerstörung auf der Basis mangelnder Selbstkontrolle zu begreifen.
5.5.2 Geschichte des Suchtbegriffs
Der Begriff „Sucht“ entstammt dem althochdeutschen "Siech", womit Krankheit bzw.
krank sein bezeichnet wurden. Er findet sich heute noch in Begriffen wie Sehnsucht
(krank vor sehnen), Eifersucht usw. Der Suchtbegriff als Terminus zur
Charakterisierung übermäßigen Gebrauchs psychotroper Substanzen ist eine
Entwicklung der Moderne. Als solcher hat er erst im Verlaufe des 18. Jahrhunderts
einen festen Platz im Alltagswortschatz erhalten. Unsere Vorstellungen und Ansichten
über Alkoholmissbrauch, Trinker und Trunkenheit sind demnach starken epochalen
Schwankungen unterworfen und vom jeweiligen historischen Zeitgeist abhängig. Auch
wenn vor der Neuzeit der Suchtbegriff nicht die Unmäßigkeit im Trinken bezeichnete,
sondern "Sucht" nur Kranksein bezeichnete, gibt es vielerlei frühe historische
Zeugnisse, die die Sorge um Trinker, Betrunkene und Trunkenbolde dokumentieren. So
glaubte der Römer Plinius im Assyrerkönig Orus den Erfinder einer radikalen
Heilmethode für Alkoholismus ausfindig gemacht zu haben: "Trunkenbolde bekommen
eine Abscheu [vor dem Alkohol], wenn man ihnen drei Tage lang die Eier des
Steinkauzes in Wein gibt. Rausch verhütet eine vorher gegessene gebratene
Schafslunge. Die Asche vom Schnabel einer Schwalbe, mit Myrrhe zerrieben und in
den Wein gestreut, der getrunken werden soll, wird vor der Trunkenheit bewahren. Dies
hat Orus, ein König der Assyrer, herausgefunden" (Tallqvist, 1895)1.
1
zit. nach Daxelmüller (1996, 48).
Unsere heutigen Vorstellungen von Sucht, im speziellen von Alkoholismus und
Drogenabhängigkeit, können - wie jedes menschliche Wissen - keinen Anspruch auf
Dauerhaftigkeit oder gar bleibende Gültigkeit erheben. "Wer mit diesen Begriffen
arbeitet, tut daher gut daran, sich ihrer Relativität, ihrer Eingeschlossenheit in eine
spezifische historische Konstellation" (Spode, 1986, 179) bewusst zu sein.
Andere Völker können die in unserem Sprachbereich oft zu Unrecht benutzte
Gleichsetzung zwischen Sucht als siechen und suchen nicht nachvollziehen. Für sie
steht allein die Abhängigkeit von einer Substanz und das Nicht-Mehr-AufhörenKönnen, diese zu konsumieren im Vordergrund.
Als kulturhistorische Besonderheit der Moderne kann der Widerspruch zwischen der
Anforderung nach Selbstkontrolle an das Individuum, dessen Freiheitsraum erheblich
erweitert wurde, auf der einen und der massenhaften Produktion und Verfügbarkeit
psychotroper Substanzen (= "Drogen" im Sinne der WHO) auf der anderen Seite
gelten. Dadurch ist ein wenig schädlicher, weil kulturintegrierter und hoch
ritualisierter, Gebrauch kaum mehr möglich. In der Welt der Neuzeit mit ihren
zunehmend partialisierenden und individualisierten Arbeitsprozessen ist es erst
denkbar geworden, dass die Tatsache, dass Menschen ständig oder fast ständig
Alkohol (insbesondere Bier und Branntwein) zu sich nahmen, als störend und in der
Folge auch irgendwann als krankhaft erlebt wurde.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts mehrten sich die Quellen, die Alkoholismus als
Krankheit ansehen. Bereits vor dem 1. Weltkrieg wurden in Deutschland die ersten
Trinkerheilanstalten gegründet. Diese hatten unter der zunehmend stärkeren
Verantwortung der damals noch jungen Rentenversicherung die Aufgabe, die schweren
Trinker durch dauerhafte Entwöhnung wieder zur Erwerbsfähigkeit zurückzuführen.
5.5.3 Suchtstörungen als Resultat des modernen Lebens
Ein entscheidender Schritt zur Verbreitung von Suchterkrankungen war neben der
industriellen Fertigung alkoholhaltiger Getränke die Fähigkeit zur Distribution dieser
Produkte an nahezu jeden beliebigen Ort der Erde in jeder beliebigen Menge. Die zwei
hauptsächlichen stoffbezogenen Faktoren für heutige Suchtkrisen, die ständige
Verfügbarkeit und die kontinuierliche Wirkstoffpotenzierung, waren nunmehr gegeben.
Die Globalisierung der Märkte hat im Bereich des (legalen wie illegalen) Handels mit
Drogen schon eine mehr als hundertjährige Tradition.
Es ist nach soziologischer Ansicht nur einer von vielen Widersprüchen der Moderne,
dass auf der einen Seite neue Möglichkeiten (z.B. zur Herstellung wirkstoffpotenterer
Drogen) scheinbar ohne Sinn und Planung - außer dem des monetären Profits geschaffen wurden, die auf der anderen Seite wiederum vehement bekämpft werden.
Hierin liegen wichtige Wurzeln der oft sehr widersprüchlichen und rigiden Drogenpolitik
unserer Tage. Früher - konkret im frühen 18. Jahrhundert - war es z.B. der Kaffee der
die Geister spaltete. Einerseits wurde er als großer Ernüchterer und Förderer des
klaren Denkens bejubelt und andererseits als Zerstörer jahrhundertealter Volkskultur
bitterlich bekämpft2.
2
vgl. z.B. das Hessische Kaffee-Edikt vom 13. März 1775 (Nimsch, 1994).
Jede Ära hat ihre spezifischen Drogen, psychotrope Substanzen, die speziell zu den
Erfordernissen der jeweiligen Gesellschaft an ihre Mitglieder passen. War es im
Mittelalter das Bier, das auf einfache Weise als Grundnahrungsmittel das Überleben
vieler sicherte (ausreichende Kalorienzufuhr und Genuß weitgehend desinfizierten
Wassers) und nebenbei durch seine leichte Betäubungswirkung je nach Situation
Soziabilität oder Mut und Tapferkeit förderte, so lösten Branntweine und Kaffee ab dem
18. Jahrhundert die alten Drogen ab. Sie passen zu der allgemeinen Beschleunigung
der Lebens- und Produktionsabläufe der letzten 250 Jahre, ermöglichen sie doch
schnellere Räusche und schnellere Ernüchterung. Je nach Sozialschicht förderte der
Kaffee die Geselligkeit und die Geistesfrische des Bürgertums und der Branntwein ließ
die armen Schichten ihr Elend scheinbar leichter ertragen.
5.5.4 Suchtsyndrome
Der Suchtkranke in der modernen Gesellschaft weist eine Reihe von
persönlichkeitspsychologischen Merkmalen auf, die oft spiegelbildlich zu den
makrosoziologischen Anforderungen der heutigen Gesellschaft an ihre Mitglieder
passen. Folgende charakteristische Eigenschaften machen Menschen oft besonders
anfällig für Suchtstörungen (Beck et al., 1997, 42):
(1) allgemein hohe Sensibilität für unangenehme Gefühle
(2) geringe Motivation, Kontrolle über sich auszuüben
(3) starke Impulsivität
(4) Suche nach Erregung und geringe Toleranz gegenüber Reizmangel (z.B.
Langeweile)
(5) geringe Frustrationstoleranz
(6) Unzureichende soziale Strategien zum Lustgewinn und ein Gefühl der
Hoffnungslosigkeit, persönlich wichtige Ziele zu erreichen.
Um eine geeignete Behandlung von Suchterkrankungen vornehmen zu können, ist
eine klare und eindeutige Definition des Störungsbildes unerlässlich. Eine solche
wird in den modernen Diagnosesystemen ICD-10 und DSM-IV auf symptomatischer
Ebene gegeben. Das Auftreten mehrerer Symptome wird als Syndrom bezeichnet. Als
Hauptmerkmale einer Abhängigkeit wurden dabei traditionell die Einschränkung der
Kontrollfähigkeit bezüglich der Einnahme einer Substanz („Kontrollverlust“) und das
Verlangen nach größeren Mengen im Laufe der Zeit („Toleranzentwicklung“)
angesehen. Heute wird auf der Basis weiterer Symptome eine differenziertere
Diagnostik verwendet.
Zu den wichtigsten Störungen, die durch Substanzkonsum ausgelöst werden
können, zählen nach ICD-103:
F10.0 Intoxikation
F10.1 Schädlicher Gebrauch (früher als Missbrauch bezeichnet)
F10.2 Abhängigkeitssysndrom (Alkohol)
F10.3 Entzugssyndrom
F10.4 Entzugssyndrom mit Delir
F10.5 Psychotische Störung (z.B. Alkoholhalluzinose)
F10.6 Alkoholbedingtes amnestisches Syndrom (z.B. Korsakow-Syndrom)
3
Die mit Buchstaben versehene Nummerierung bezieht sich auf das ICD-10, in dem F für psychische Störungen
und die Zehnerstelle für Störungen durch psychotrope Substanzen benutzt wird.
F10.7 Alkoholbedingter Restzustand (z.B. flashbacks, Demenz)
F10.8 Andere alkoholbedingte psychische Verhaltensstörungen
F10.9 Nicht näher bezeichnete alkoholbedingte psychische Verhaltensstörungen
Im einzelnen sind folgende körperliche und psychische Störungen als Konsequenzen
einer missbräuchlichen Substanzeinnahme bekannt (vgl. Bühringer, Küfner, 1997):
a. Körperliche Störungen:
Körperliche Abhängigkeit, zusätzlicher Missbrauch anderer psychoaktiver
Substanzen (bei Drogenabhängigen Punktprävalenz: 25%, Monatsprävalenz:
75% nach Platt, 1995), Magen- und Darmerkrankungen, Lebererkrankungen,
Nervenerkrankungen (z.B. Polyneuropathie), Hauterkrankungen,
Sexualstörungen, Zahnerkrankungen, allgemeine Abwehrschwäche und
gesteigertes Infektionsrisiko. Insgesamt gesteigertes Morbiditäts- und
Mortalitätsrisiko.
b. Psychische Störungen:
Psychische Abhängigkeit (unbeherrschbarer Zwang nach ständiger Einnahme
einer Substanz), Ausführung verbotener, riskanter oder krimineller
Verhaltensweisen zur Sicherstellung der Substanzeinnahme (insbesondere
bei Abhängigkeit von illegalen Drogen), häufige Rezidive, schnelle
Entwicklung des Abhängigkeitssyndroms nach Rückfall trotz vorhergehender
längerer Abstinzenzphase.
Psychische Funktionsstörungen in den Bereichen: Wahrnehmung,
Gedächtnis, Denken, Sprache, Emotionen, Motivation, Psychomotorik,
Psychopathologie (im Sinne von Comorbidität; bis zu 65% bis 75% nach Platt,
1995).
In den psychiatrischen Diagnosesystemen bisher nicht erfasst sind Störungen, die
durch den Konsum biogener Drogen (z.B. psilocybe Pilze, Stechapfel uvm.) erzeugt
werden. Dass hier ein dringender Handlungsbedarf besteht, machen neuere
Untersuchungen an illegal Drogenabhängigen (Löhrer, Kaiser, 1999). Von 76
konsekutiv aufgenommenen Patienten unter 30 Jahren einer Drogenklinik hatten 49
Psilocybe benutzt, 26 gelegentlich und 23 regelmäßig.
Hinzu kommen für alle Formen der substanzinduzierten Störungen Risiken im
sozialen und psychischen Bereich, von denen hier als Beispiele häusliche Gewalt,
Arbeitsplatzverlust, Persönlichkeitsveränderungen, Suizidalität erwähnt seien.
Da die Substanzabhängigkeit die in der Praxis wichtigste aller substanzinduzierten
Störungen ist, seien an dieser Stelle die diesbezüglichen Diagnosekriterien (nach
DSM-IV) vollständig erwähnt:
(1) Toleranzentwicklung: Ein Verlangen nach einer ausgeprägten Dosissteigerung, um einen
Intoxikationszustand oder erwünschten Effekt herbeizuführen und/oder eine deutlich verminderte
Wirkung bei fortgesetzter Einnahme derselben Dosis.
(2) Entzugssymptome: Charakteristisches Entzugssyndrom der jeweiligen Substanz und/oder
dieselbe (oder eine sehr ähnliche) Substanz wird eingenommen, um Entzugssymptome zu lindern
oder zu vermeiden.
(3) Die Substanz wird häufig in größeren Mengen oder länger als beabsichtigt eingenommen.
(4) Es gibt einen anhaltenden Wunsch oder einen oder mehrere erfolglose Versuche, den
Substanzgebrauch zu verringern oder zu kontrollieren.
(5) Es wird viel Zeit für Aktivitäten benutzt, um die gewünschte Substanz zu beschaffen, sie zu sich
zu nehmen oder sich von ihren Wirkungen zu erholen.
(6) Intoxikations- oder Entzugserscheinungen treten häufig auf, wenn eigentlich die Erfüllung
wichtiger Verpflichtungen (z.B. in den Bereichen Arbeit, Schule, zu Hause) erwartet wird.
(7) Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten werden aufgrund des Substanzmißbrauchs
vernachlässigt, eingeschränkt oder ganz aufgegeben.
(8) Der Substanzmissbrauch wird fortgesetzt trotz der Kenntnis eines anhaltenden oder
wiederkehrenden sozialen, psychischen oder körperlichen Problems, das durch den
Substanzmissbrauch verursacht oder verstärkt wurde.
Nach dem DSM-IV müssen mindestens drei der aufgelisteten acht Kriterien zu
irgendeiner Zeit in demselben 12-Monats-Zeitraum bei einer Person aufgetreten sein,
um eine entsprechende Diagnose zu rechtfertigen.
Kurz gefasst lässt sich sagen, dass substanzabhängig ist, wer den Konsum einer
Substanz nicht beenden kann, ohne dass unangemessene Zustände körperlicher
oder psychischer Art eintreten und/oder, wer nicht aufhören kann zu trinken, obwohl
er sich oder anderen wiederholt schweren Schaden zufügt (Lindenmeyer, 1999).
Unter Substanzmissbrauch wird ein unangepasstes Muster von Substanzkonsum
verstanden, das in klinisch bedeutsamer Weise zu Beeinträchtigungen oder Leiden
führt. Es dürfen im Unterschied zum Abhängigkeitssysndrom aber weder
Entzugserscheinungen noch Toleranzerhöhung vorliegen. Im ICD-10 ist statt von
Substanzmissbrauch die Rede von schädlichem Substanzgebrauch. Letzteres ist
zu bevorzugen, da der Terminus Substanzmissbrauch oft auch als Sammelbegriff für
alle Formen des kritischen Gebrauchs von Substanzen verwendet wird.
Ähnlich wie bei der Entstehung von Suchtstörungen die drei Bereiche
biologisch/körperlicher, sozialer und psychologischer Faktoren eine Rolle spielen,
können die Suchtkrankheiten sich wiederum negativ auf diese drei Bereiche
auswirken. Die am häufigsten benutzte Unterscheidung bezüglich der Auswirkungen
ist die zwischen physischer (körperlicher) und psychischer (seelischer)
Abhängigkeit. Physische Abhängigkeit ist klar definiert durch eine
Toleranzentwicklung (für die gleiche Substanzwirkung wird eine höhere Dosis
benötigt) oder durch das Auftreten von Entzugserscheinungen. Sie stellen eine
Anpassung des Organismus an eine länger anhaltende Substanzzufuhr dar.
Psychische Abhängigkeit ist weniger klar definierbar. In der Regel wird damit ein
unwiderstehliches oder als zwanghaft erlebtes Verlangen nach der Einnahme einer
bestimmten Substanz gemeint.
5.5.5 Klassifikation von Suchtstörungen
Da Substanzabhängigkeiten ein höchst heterogenes Störungsbild darstellen, wurden
immer wieder Suchttypologien entwickelt. Diese können sich z.B. auf die
missbrauchten Substanzen, die Ätiologie der Störung, ihre Ursachen, ihren Verlauf
und die Behandlungsprognosen beziehen.
Seit 1964 ist nach einem Vorschlag durch die WHO die folgende Klassifikation
psychotroper störungserzeugender Substanzen, die auch den heutigen
Diagnosesystemen ICD-10 und DSM-IV zugrunde liegt. Es werden dabei im einzelnen
psychische und verhaltensbezogene Störungen durch die folgenden Substanzen
unterschieden4:
F10
F11
F12
F13
F14
F15
F16
F17
F18
F19
Störungen durch Alkohol
Störungen durch Opioide
Störungen durch Cannabinoide
Störungen durch Sedative oder Hypnotika
Störungen durch Kokain
Störungen durch andere Stimulanzien, einschl. Koffein
Störungen durch Halluzinogene
Störungen durch Tabak
Störungen durch flüchtige Lösungsmittel/Inhalanzien
Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer
psychotroper Substanzen
Das DSM-IV berücksichtigt zusätzlich noch Phencyclidin, das als starkes
Halluzinogen („angel dust“) insbesondere im Zusammenhang mit Gewaltdelikten
bekannt geworden ist.
Historisch bedeutsam wurde die Typologie des Alkoholismus nach Jellinek, der fünf
Formen unterscheidet. Diese mit griechischen Buchstaben bezeichneten Formen
lauten:
(1) Konflikttrinker (Alpha-Trinker)
(2) Gelegenheitstrinker (Beta-Trinker)
(3) Rauschtrinker (Gamma-Trinker)
(4) Spiegeltrinker (Delta-Trinker)
(5) Quartalstrinker (Epsilon-Trinker).
Die Jellineksche Typologie, die am Trinkverhalten und Trinkstil orientiert ist, wurde
wegen ihrer schlechten empirischen Basis wiederholt kritisiert (siehe
zusammenfassend Klein, 1992). Dennoch erfreut die dargestellte Typologie in der
Praxis nach wie vor einer großen Beliebtheit. Außerdem kann ihr eine praktische
Validität nicht abgesprochen werden.
In jüngster Zeit wird die von Cloninger (1981) entwickelte, ätiologisch und
prognostisch orientierte Typologie häufiger verwendet.
Diese zweistufige Typologie unterscheidet zwischen dem Typ A und dem Typ B, die
wie folgt beschrieben werden:
Typ A - Alkoholismus: Neurotischer, geschlechtsunspezifischer Subtyp mit wenigen
Risikofaktoren in Kindheit und Jugend, späterem Trinkbeginn, weniger schweren
Abhängigkeitssymptomen, starken Schuldgefühlen und einer geringeren Zahl Zahl
psychopathologischer oder trinkbezogener Probleme. Die primäre Funktionalität des
Trinkens ist die Angstreduktion. Persönlichkeitspsychologisch durch die Tendenz
nach Schadensvermeidung und starke Abhängigkeit von Belohnungen beschreibbar.
Prognostisch positiv.
Typ B - Alkoholismus: Psychopathischer Subtyp (meistens Männer) mit zahlreichen
Risikofaktoren in der Kindheit (z.B. Aggressivität, Hyperaktivität), familiär gehäuftem
Alkoholismus, frühem Beginn alkoholbezogener Probleme, schwerem
4
Die mit Buchstaben versehene Nummerierung bezieht sich auf das ICD-10, in dem F für psychische Störungen
und die Zehnerstelle für Störungen durch psychotrope Substanzen benutzt wird.
Abhängigkeitssymptomen und einer Vielzahl psychopathologischer und
trinkbezogener Probleme bei erhöhtem Risiko einer Polytoxikomanie
(Mehrfachabhängigkeit). Die primäre Funktionalität des Trinkens ist die Steigerung
des unrealistischen und übersteigerten Selbstwertgefühls und Abwehr negativer
Affekte. Persönlichkeitspsychologisch durch die Tendenz nach Reizhunger („novelty
seeking“) bei geringer Belohnungsabhängigkeit und geringer Schadensvermeidung
beschreibbar. Daher wenig umweltabhängig. Prognostisch negativ.
5.5.6 Nicht stoffgebundene Süchte
Die unter dem Begriff Sucht in der populärwissenschaftlichen Diskussion häufig
mitbezeichneten, sogenannten nichtstoffgebundenen Süchte (z.B. „Arbeitssucht“,
„Sexsucht“, „Spielsucht“ usw.) weisen auf phänomenologischer Ebene viele ähnliche
Symptome wie die oben für Substanzabhängigkeiten erwähnten auf. In den
psychiatrischen Diagnosesystemen werden sie jedoch entweder gar nicht erwähnt
(„Arbeitssucht“) unter den Impulskontrollstörungen („Spielsucht“) erwähnt.
Da ohne jeden Zweifel jedoch eine erhebliche Ähnlichkeit zwischen den
stoffgebundenen und den stoffungebundenen Suchtformen festzustellen ist, besteht
hier noch ein deutlicher Forschungsbedarf, was Diagnose und Klassifikation betrifft.
5.5.7 Gesundheitsökonomische Aspekte
Nach amerikanischen Untersuchungen verbrauchen Alkoholiker 15% des gesamten
nationalen Gesundheitsbudgets (McCrady, Langenbucher, 1996). Bei der
Entstehung vieler weiterer Krankheiten übt Alkoholmissbrauch einen kausalen
Einfluß aus: So werden 13% aller Fälle von Brustkrebs durch Alkoholmißbrauch
erzeugt, 40% aller traumatischen Verletzungen, 41% aller Anfallserkrankungen und
72% aller Fälle von Pankreatitis (McCrady, Langenbucher, 1996). Die meisten
Kosten im Zusammenhang mit Alkoholismus sind für die Gesellschaft nicht direkte
Kosten (wie z.B. für Behandlungen und Therapien), sondern indirekte Kosten. So
entfallen nach McCrady & Langenbucher (1996) 35% von den Gesamtkosten für
Alkoholabhängigkeit auf Mortalitätskosten und 39% auf Morbiditätskosten
(Krankheitsfolgekosten). "Overall, the impairment in health, the reduction in functional
capacity, and the fruitless treatment of "surrogate diagnoses" account for almost 75%
of the total costs of alcohol abuse..." (McCrady, Langenbucher, 1996, 737). Die
volkswirtschaftlichen Gesamtkosten des Alkohols für die USA wurden im Jahre 1990
auf über 100 Mrd. $ geschätzt, von denen mehr als 80% auf Krankheitskosten sowie
Todesfälle und nur ein geringer Teil auf Behandlungskosten entfallen (Edwards,
1997).
Die deutschen Verhältnisse dürften sich insgesamt, die Kostenseite betreffend, nicht
wesentlich von den amerikanischen unterscheiden. Glaeske (1992) geht von
jährlichen Behandlungskosten für Alkoholkranke zu Lasten der Kranken- und
Rentenversicherungen in Höhe von 1.5 bis 1.7 Mrd. DM aus. Dies sei weniger als
jährlich von den pharmazeutischen Herstellern allein für Arzneimittelwerbung
ausgegeben werde. Gleichzeitig liegt dieser Betrag deutlich geringer als die Summe
der Steuereinkünfte auf alkoholische Getränke, die sich im Jahre 1996 auf 7,868
Mrd. DM bezifferte (Breitenacher, 1997). Damit liegen die Positivkosten der
Produktion und des Verkaufs alkoholischer Getränke um etwa das Fünffache über
den direkten Negativkosten. Diese Rechnung gilt aber nur, wenn nicht unter einer
gesamtgesellschaftlichen Perspektive die immensen Morbiditäts- und
Mortalitätskosten berücksichtigt werden. Zur Reduktion der sozialen Belastungen
durch Suchtmittelmissbrauch ist daher insgesamt die Konsequenz abzuleiten, nicht
weniger Mittel in Hilfen bei Suchtstörungen zu investieren, sondern kurzfristig mehr,
und nicht so spät und nicht erst in bezug auf Folgekrankheiten zu intervenieren wie
es heute meist geschieht, sondern viel früher und insgesamt gezielter. Eine Politik
der Frühintervention und Prävention dürfte langfristig die beste
Kostenreduktionspolitik darstellen.
5.5.8 Epidemiologie
Alkohol und Nikotin sind in unserer Gesellschaft weit verbreitete, legale Drogen.
Darüber hinaus sind durch die breite Verfügbarkeit und den im internationalen
Vergleich geringen Preis auch die Konsumraten für diese Substanzen sehr hoch. Der
durchschnittliche Pro-Kopf-Konsum für Alkohol lag in der Bundesrepublik
Deutschland im Jahre 1997 bei 10,9 Litern (Breitenacher, 1998). Dies bedeutet eine
Spitzenposition im internationalen Vergleich. Der Tabakwarenverbrauch lag für
Zigaretten im Jahre 1997 bei 137.676 Mio. Stück (Junge, 1998). Die hohen
Konsumraten für diese Substanzen bedingen nach übereinstimmender Meinung der
meisten Suchtexperten auch hohe bis sehr hohe Abhängigkeitsquoten.
Die psychologische, medizinische und sozialwissenschaftliche Fachöffentlichkeit hat
immer noch zu wenig Bewusstsein dafür entwickelt, wie weitverbreitet Suchtstörungen
sind. Die Gesamtzahl der behandlungsbedürftigen Alkoholiker wird für Deutschland auf
2.5 Millionen Personen geschätzt (Feuerlein et al., 1998). Eine repräsentative Studie
zum Alkoholproblem in deutschen Familien ergab, dass 15.1% der erwachsenen
Bevölkerung Alkoholmissbrauch betreiben oder alkoholabhängig sind (Lachner,
Wittchen, 1997). Nach den DSM-IV-Kriterien betrieben 1997 8.1% der Männer und
1.9% der Frauen Alkoholmissbrauch (Kraus, Bauernfeind, 1998). Hinzu kommen noch
einmal 4.9% alkoholabhängige Männer und 1.1% alkoholabhängige Frauen. Die
Prävalenzzahlen für Alkoholmissbrauch und –abhängigkeit sind in der Altersgruppe der
18- bis 20-Jährigen mit 8.3% bzw. 4.0% und 21- bis 24-Jährigen mit 7.1% bzw. 5.3%
am höchsten. In der gleichen bevölkerungsrepräsentativen Untersuchung ergaben sich
für illegale Drogen entsprechende Quoten für Missbrauch bei Männern von 1.0% und
bei Frauen von 0.4%, während sich die entsprechenden Quoten für Abhängigkeit 1.1%
bei Männern und 0.2% bei Frauen belaufen.
Dies bedeutet auch eine Beeinträchtigung und Gefährdung des familiären Umfelds.
Viele Kinder und Jugendliche im Kontext einer suchtbelasteten wachsen mit der Gefahr
auf, selbst suchtkrank zu werden oder anderweitig psychisch zu erkranken. Für
Männer sind Suchtstörungen die häufigste Diagnose von allen psychischen
Störungen. Während die Lebenszeitprävalenz für Alkoholabhängigkeit und -mißbrauch
bei Männern in den USA 23.8% (Jahresprävalenz: 11.7%) beträgt, beläuft sich die
Lebenszeitprävalenz für jegliche psychische Störung bei Männern auf 36% (Zucker et
al., 1995). Diese Zahlen zeigen auch, dass Suchtstörungen häufig in Kombination mit
anderen psychischen Erkrankungen (Comorbide Störungen) auftreten. Im einzelnen ist
es vor allem die Alkohol- und Opiatabhängigkeit, bei der Männer 2 bis 3mal häufiger
als Frauen betroffen sind. Bei der Alkoholabhängigkeit
zeigen sich höhere
Prävalenzraten für Männer, obwohl diese eine höhere Schwellendosis für ein
Abhängigkeitsrisiko aufweisen als Frauen. Üblicherweise wird für Frauen eine Dosis
von 20g reinen Alkohols täglich, für Männer von 40g als riskanter Konsum gewertet.
Von allen Personen, die in ambulanten Einrichtungen für Suchtkranke behandelt
wurden, geschieht dies bei 61.6% wegen Alkoholproblemen. (Simon et al., 1993).
Klienten mit Problemen mit illegalen Drogen tauchen in der ambulanten Suchthilfe
häufiger auf, als es ihrem Anteil an allen Suchtmittelmissbrauchern entspricht. 12.9%
der Klienten der ambulanten Suchthilfe wiesen Störungen aufgrund von
Heroinkonsum auf. Dieser proportional höhere Anteil Drogenabhängiger resultiert
vemutlich aus den qualitativ schwerwiegenderen Konsequenzen - auch im sozialen
und strafrechtlichen Bereich - des Konsums dieser Substanzen.
5.5.9 Weiterentwicklung des Hilfesystems
Die Bundesrepublik Deutschland verfügt im internationalen Vergleich über ein sehr
gut ausgebautes Suchthilfesystem mit anerkannt guten Effizienzquoten. Allerdings
wurde wiederholt kritisiert, dass zu wenige betroffene Personen vom Hilfesystem
erreicht werden (Wienberg, 1992). Jährlich haben nicht mehr als 8% aller betroffenen
Alkoholabhängigen Kontakt zum Suchthilfesystem, während etwa drei Viertel von
allen wenigstens einmal jährlich bei ihrem Hausarzt vorstellig werden. Diese Fakten
führten zu Forderungen hinsichtlich der Weiterentwicklung des Suchthilfesystems.
Die wichtigsten notwendigen Innovationen sind in einer Verbesserung der
Vernetzung zwischen verschiedenen Hilfesektoren (z.B. medizinische
Primärversorgung, Vorsorgesystem, Jugendhilfe, Straffälligenhilfe usw.) und in
verstärkten Bemühungen zur Frühintervention und Schadensbegrenzung zu sehen.
Aus diesen Gründen ist inzwischen auch von einem Versorgungsnetzwerk statt von
der traditionellen therapeutischen Kette als Idealmodell der gesundheitlichen
Versorgung für Suchtkranke auszugehen. Zum Versorgungsnetzwerk gehören vor
allem:
(1) Hausärzte und niedergelassene Psychiater
(2) Suchtberatungsstellen
(3) Entgiftungskliniken
(4) Suchtfachkliniken
(5) Nachsorgeeinrichtungen
(6) Selbsthilfegruppen
5.5.10 Diagnostik
Zur Diagnostik der Suchtstörungen werden in der Regel zunächst ScreeningInstrumente benutzt. Diese sollen mit möglichst wenig Fragen eine möglichst valide
Zuordnung zu den verschiedenen vorgesehen Kategorien ermöglichen. Im Bereich
der Alkoholabhängigkeit hat der CAGE (zu deutsch: VÄSE; siehe John et al., 1996)
weite Verbreitung erfahren. Auf der Basis von vier Grundmerkmalen des
Alkoholabhängigkeitssyndroms geschieht eine Zuordnung zu der Gruppe der
vermutlich Abhängigen und der vermutlich Nicht-Abhängigen. Die vier Items lauten:
1. Haben Sie einmal das Gefühl gehabt, dass sie Ihren Alkoholkonsum verringern
sollten?
2. Hat jemand Sie einmal durch Kritisieren Ihres Alkoholkonsums ärgerlich
gemacht?
3. Haben Sie sich einmal schlecht oder schuldig gefühlt wegen Ihres
Alkoholtrinkens?
4. Haben Sie einmal morgens als erstes Alkohol getrunken, um sich nervlich wieder
ins Gleichgewicht zu bringen oder einen Kater loszuwerden?
Zur Differentialdiagnostik von Suchtstörungen liegt der „European Addiction Severity
Index“ EuropASI (Gsellhofer et al., 1999) vor, der für die Bereiche Alkohol, Drogen,
körperliche Symptome, Arbeit/Unterhalt sowie rechtliche, familiäre/soziale und
psychische Probleme eine Einschätzung liefert. Darüber hinaus existieren
differentielle Diagnosonstrumente für einzelne Abhängigkeitsformen, so z.B. das
Trierer Alkoholismusinventar TAI (Funke et al., 1987). Dieses misst
Alkoholabhängigkeit als differentielles Konstrukt anhand der Dimensionen:
Schweregrad, Soziales Trinken, Süchtiges Trinken, Trinkmotive und Schädigung. Für
Personen, die in einer Partnerbeziehung leben, kommen die Skalen Partnerprobleme
wegen Trinkens und Trinken wegen Partnerproblemen hinzu.
5.5.11 Beratung und Therapie
Suchtkranke erweisen sich - zumeist für das Hilfesystem - als in hohem Maße
arbeitsintensiv. Auf dem Weg zum dauerhaften Ausstieg aus der Sucht bzw. der
körperlichen und psychischen Genesung fragen sie immer wieder nach konkreten
Hilfeleistungen nach, oft auf Druck anderer hin. Häufig werden auch durch
Angehörige Hilfeleistungen nachgefragt. Dennoch zeigt eine Vielzahl von Studien
(zusammenfassend Edwards et al., 1997), dass Behandlungen unter
Berücksichtigung aller Kosten ökonomisch effektiver sind als Nicht-Behandlungen.
Dies ist insbesondere richtig, wenn es gelingt, möglichst frühzeitig Betroffene zu
erreichen. Daher gelten Frühintervention und Schadensminimierung als wichtige
Behandlungsprinzipien.
Im einzelnen finden in Beratungen verschiedene psychologische Methoden
erfolgreich Verwendung. Am ehesten zu nennen sind Prinzipien der
personenzentrierten und systemischen Beratung. Im Bereich der Therapien spielen
darüber hinaus verhaltenstherapeutische und tiefenpsychologische Methoden eine
große Rolle. Auch psychodramatische und gestalttherapeutische Ansätze sind
vielfältig vertreten. Bislang konnte für keine Beratungs- oder Therapiemethode eine
eindeutige Überlegenheit gegenüber anderen nachgewiesen werden. Dies könnte
u.a. daran liegen, dass Beziehungsvariablen der Interaktion zwischen
Professionellen und Suchtkranken von größter Bedeutung sind.
Als Mindestanforderungen an eine moderne professionelle Suchtbehandlung
formulieren Bühringer & Küfner (1997):
(1) Individuelle Diagnostik und Therapieplanung
(2) Analyse der Lebensgeschichte vor Missbrauchsbeginn
(3) Erfassung der Psychopathologie
(4) Analyse der früheren Rückfälle
(5) Erfassung der Veränderungsbereitschaft
(6) Umfassendes Therapieprogramm
(7) Aufbau eines Arbeitsbündnisses mit dem Patienten
(8) Motivierung als integrierter Bestandteil der Behandlung
(9) Rationale Entscheidung über das Behandlungssetting
(10)Vorbereitung des Patienten auf kritische Situationen im Verlauf der Therapie.
Für den Bereich Alkoholmissbrauch bzw. schädlicher Gebrauch von Alkohol liegt
inzwischen ein erstes Behandlungsmanual vor (Schuhler, Baumeister, 1999), das
auf der Basis der kongnitiven Verhaltenstherapie differenzierte Hilfeansätze
präsentiert. Diese arbeiten mit Informationen, Rollenspielen, Selbstbeobachtung,
Selbstreflexion und Hausaufgaben und haben einen unproblematischen Umgang mit
Alkohol zum Ziel. Um diesen zu erreichen, müssen meist auch die
alkoholassoziierten Verhaltensmuster (z.B. mangelnder Selbstwert, Ängste,
Stressbewältigung) modifiziert werden.
Für die kognitive Therapie der Sucht konzentrieren Beck et al. (1997) auf typische
Suchtgedanken. Dies sind solche, die mit der Einnahme eines Suchtmittels und
dessen (angestrebten) Konsequenzen zu tun haben und dabei meist gleichzeitig die
eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten abwerten. Die Suchtgedanken werden als
dysfunktionale Gedanken bezeichnet, weil sie dem Individuum eine Leben ohne
Drogen als unvorstellbar erscheinen lassen. Typische dysfunktionale Gedanken sind:
(1) Der Glaube, die Substanz zu brauchen, um nicht sein psychologisches und
emotionales Gleichgewicht zu verlieren
(2) Die Erwartung, dass die Substanz die sozialen und intellektuellen Fähigkeiten
verbessert
(3) Die Erwartung, dass man Lust und Aufregung durch die Einnahme einer
Substanz verspüren wird
(4) Der Glaube, die Substanz spende Energie, so dass man sich leistungsfähiger
fühlt
(5) Die Erwartung, die Droge habe einen beruhigenden Effekt
(6) Die Erwartung, dass mit der Einnahme Langeweile, Angst, Anspannung und
Depressionen vertrieben werden können
(7) Die Überzeugung, dass das Verlangen, wenn man es nicht befriedigt, ins
Unermessliche steigen und immer schlimmer werden wird.
Diese Suchtgedanken entstehen erst, wenn die Betreffenden schon süchtig sind. Sie
stellen also keine prädisponierende, sondern aufrechterhaltende Faktoren dar. In
vielen Fällen hängen sie eng mit dem späteren Auftreten von Rückfällen zusammen.
In der Therapie geht es nicht so sehr darum zu erkennen, dass diese Gedanken falsch
sind, sondern dass sie für den Suchtkranken nicht nützlich und sogar gefährlich sind.
Sie sind in dem Sinne dysfunktional, dass sie nicht zu einem zufriedenstellenden
selbstbestimmten Leben verhelfen, sondern die Abhängigkeit von Drogen
aufrechterhalten und verstäken. Als therapeutische Methoden kommen kognitive
Dekonstruktionen und das Einüben alternativer Gedanken und Fähigkeiten in Frage.
Um jedoch Behandlungen überhaupt in Gang setzen und dann aufrecht erhalten zu
können, bedarf es einer kontinuierlichen und prozessorientierten Motivierung. Diese
ist in neueren Behandlungsverfahren, wie insbesondere dem „Motivational
Interviewing“ (Miller, Rollnick, 1999), entsprechend gewürdigt worden. Gerade für
Gesundheitsberater erscheint dieses Verfahren - im übrigen nicht nur für
Suchtkrankheiten – gut geeignet, um kurzfristig Erfolge zu erzielen.
5.5.12 Schluss
Suchtkranke galten traditionell als die „vergessenen Kinder der Psychiatrie“. Dies trifft
im wesentlichen jedoch auf das gesamte Gesundheitssystem zu. Oft ist gar nicht
klar, ob die Hilfen für Suchtkranke dem Sozial- oder Gesundheitssystem
zuzurechnen sind. Dies trifft in dieser Stärke auf keine andere psychische Krankheit
zu. Drogenabhängige laufen sogar Gefahr, wenn sie aufgrund ihrer Suchterkrankung
Substanzen erwerben und konsumieren, strafrechtlich verfolgt werden. Im Dunstkreis
der Illegalität von Drogen hat sich eine komplexe Subkultur mit eigenen
Interaktionsregeln, Ritualen und Wortschöpfungen entwickelt. Um Suchtstörungen
stärker zu einer Aufgabe der Gesundheitsversorgung werden zu lassen, sind
frühzeitige, fachkompetente Beratungen und Hilfen unerlässlich. Angesichts der
weiten Verbreitung von Suchtstörungen in der Bevölkerung und der hohen Zahl der
mitbetroffenen Partner und Kinder sind entsprechende Frühinterventionen als ein
Gemeinschaftsaufgabe aller Experten im Gesundheitswesen anzusehen.
Literatur:
Beck, A.T., Wright, F.D., Newman, C.F., Liese, B.S. (1997). Kognitive Therapie der
Sucht. Weinheim: Psychologie Verlags Union. [Deutsche Übersetzung der
amerikanischen Originalausgabe von 1993, herausgegeben von Johannes
Lindenmeyer].
Breitenacher, M. (1998). Alkohol - Zahlen und Fakten zum Konsum. In: Deutsche
Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Jahrbuch Sucht ´99. Geesthacht:
Neuland, S. 7 - 19.
Bühringer, G., Küfner, H. (1997). Drogen- und Medikamentenabhängigkeit.
Missbrauch und Abhängigkeit von illegalen Drogen und Medikamenten. In: Hahlweg,
K., Ehlers, A. (Hrsg.). Psychische Störungen und ihre Behandlungen. (S. 513 – 588).
Göttingen: Hogrefe. (= Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich D,
Serie II, Band 2).
Edwards, G. (Hrsg.), (1997). Alkoholkonsum und Gemeinwohl. Strategien zur
Reduzierung des schädlichen Gebrauchs in der Bevölkerung. Stuttgart: Enke.
Feuerlein, W., Küfner, H., Soyka, M. (1998). Alkoholismus – Missbrauch und
Abhängigkeit. Entstehung – Folgen – Therapie. Stuttgart: Thieme (= 5., überarbeite
und erweiterte Auflage).
Funke, W., Funke, J., Klein, M., Scheller, R. (1987). Trierer Alkoholismusinventar (TAI).
Handanweisung. Göttingen: Hogrefe.
Gsellhofer, B., Küfner, H., Vogt, M., Weiler, D. (1999). European Addiction Severity
Index EuropASI . Manual für Training und Durchführung. Hohengehren: Schneider.
(nach der 5. Auflage der amerikanischen Version von McLellan und der
Europäischen Version des ASI).
John, U., Hapke, U., Rumpf, H.J., Hill, A., Dilling, H. (1996). Prävalenz und
Sekundärprävention von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit in der medizinischen
Versorgung. Baden-Baden: Nomos. (= Schriftenreihe des Bundesministeriums für
Gesundheit; Band 71).
Junge, B. (1998). Tabak – Zahlen und Fakten zum Konsum. In: Deutsche Hauptstelle
gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Jahrbuch Sucht ´99. (S. 20 – 44). Geesthacht:
Neuland.
Klein, M. (1992). Klassifikation von Alkoholikern durch Persönlichkeits- und
Suchtmerkmale. Bonn: Nagel (= Schriftenreihe des Fachverbandes Sucht e.V.; 9).
Kraus, L., Bauernfeind, R.
(1998). Repräsentativerhebung zum Gebrauch
psychoaktiver Substanzen bei Erwachsenen in Deutschland 1997. Sucht 44,
Sonderheft 1.
Lachner, G., Wittchen, H.U. (1997). Familiär übertragene Vulnerabilitätsmerkmale für
Alkoholmißbrauch und -abhängigkeit. In: Watzl, H., Rockstroh, B. (Hrsg.). Abhängigkeit
und Missbrauch von Alkohol und Drogen. (S. 43 - 89). Göttingen: Hogrefe.
Lindenmeyer, J. (1999). Alkoholabhängigkeit. Göttingen: Hogrefe (= Fortschritte der
Psychotherapie; Bd. 6).
Löhrer, F., Kaiser, R. (1999). Biogene Suchtmittel. Neue Konsumgewohnheiten bei
jungen Abhängigen. Der Nervenarzt 70, 1029 - 1033.
McCrady, B., Langenbucher, J.W., 1996: Alcohol treatment and health care system
reform. Archives of General Psychiatry 53, 737 - 746.
Miller, W.R., Rollnick, S. (1999). Motivierende Gesprächsführung. Ein Konzept zur
Beratung von Menschen mit Suchtproblemen. Freiburg: Lambertus [Deutsche Ausgabe
der amerikanischen Originalausgabe „Motivational Interviewing“ von 1991,
herausgegeben von Kremer, G., Schroer, B.].
Platt, J.J. (1995). Heroin addiction. Theory, research, and treatment. Vol. 3. Treatment
advances and aids. Malabar: Krieger.
Scheerer, S. (1995). Sucht. Reinbek: Rowohlt special.
Schuhler, P., Baumeister, H. (1999). Kognitive Verhaltenstherapie bei Alkohol- und
Medikamentenmissbrauch. Diagnostik, Behandlung, Frühintervention. Weinheim:
Psychologie Verlags Union.
Wienberg, G. (1992). Struktur und Dynamik der Suchtkrankenversorgung in der
Bundesrepublik - ein Versuch, die Realität vollständig wahrzunehmen. In: WIENBERG,
G. (Hrsg.). Die vergessene Mehrheit. Zur Realität der Versorgung alkohol- und
medikamentenabhängiger Menschen. (S. 12 - 60). Bonn: Psychiatrie-Verlag.
Zucker, R.A., Fitzgerald, H.E., Moses, H.D. (1995). Emergence of Alcohol Problems
and the Several Alcoholisms: A Developmental Perspective on Etiologic Theory and
Life Course Trajectory. In: Cicchetti, D., Cohen, D.J. (Eds.). Developmental
Psychopathology. Volume 2: Risk, Disorder, and Adaptation. (p. 677 - 711). New York:
Wiley.
Stichwortregister:
Suchtstörungen
Suchtsyndrome
Nicht stoffgebundene Süchte
Alkoholabhängigkeit
Alkoholmissbrauch
Schädlicher Gebrauch
Drogenabhängigkeit
Epidemiologie
Hilfesystem
Diagnostik
Therapie
Herunterladen