Medizinische Ethik SS 2002 DDr. Stephan Leher / DDr. Winfried Löffler Folien zum Vorlesungsteil von DDr. Winfried Löffler I. Grundbegriffe .................................................................................... 2 II. Prinzipien medizinischer Ethik ...................................................... 12 III. Arzt und Patient ............................................................................ 14 IV. Pflichten- und Verantwortungskreis des Arztes ........................... 18 V. Die rechtliche Gestalt der ärztlichen Pflichten ............................. 20 VI. Menschenbild und ethische Urteilsbildung .................................. 21 I. Grundbegriffe 1. Handlungen und Handlungsfähigkeit Moralisch und rechtlich relevant sind nur Handlungen. Handlungen: sind Verhaltensweisen, die der willentlichen Kontrolle unterliegen, „die man auch anders setzen könnte“ Erläuterungen dazu: Keine Handlungen in diesem Sinne sind zB Reflex-„handlungen“. Sie sind rechtlich und moralisch normalerweise nicht relevant. Aber: Moralisch und rechtlich relevant können solche Nicht-Handlungen dann werden, wenn man sich (vorsätzlich oder fahrlässig) in Situationen begibt, wo mit solchen Reflexhandlungen zu rechnen ist. Dauerndes begleitendes „Denken-an-die-eigene-Handlung“ ist nicht nötig, damit man von einer „Handlung“ sprechen kann. „Automatische“ Verrichtungen, Routineverrichtungen sind also durchaus „Handlungen“. Handlungsfähigkeit: Personen / Situationen, wo die Handlungsfähigkeit reduziert sein kann: Kinder, Trunkenheit u.a. Drogeneinfluß, nachnarkotische Zustände, schwere Furcht, etc. Derartige „Handlungen“ (Einwilligungen, Auskünfte, Aggressionen...) sind u.U. von reduzierter moralischer und rechtlicher Relevanz 2 Handeln durch Unterlassen: Auch durch Unterlassen kann gehandelt werden! Auch Unterlassungen haben Folgen! Was ist ein „Unterlassen“? Etwas, was aufgrund der Situation eigentlich gefordert wäre, nicht tun. Wer handelt durch Unterlassen? – Nicht jede(r), sondern nur – wen besondere Handlungspflicht trifft Beispiele für besondere Handlungspflichten: Verwandtschaft; freiwillige Gefahrengemeinschaft; vorhergehende Gefahrenherbeiführung; vertragliche Verpflichtung Ärzte (und Angehörige anderer helfende Berufe) treffen – in ihrem Kompetenzbereich!!! – besondere Handlungspflichten (Fürsorgepflicht) Rechtlich: § 2 des Strafgesetzbuchs 1975: Begehung durch Unterlassung § 2. Bedroht das Gesetz die Herbeiführung eines Erfolges mit Strafe, so ist auch strafbar, wer es unterläßt, ihn abzuwenden, obwohl er zufolge einer ihn im besonderen treffenden Verpflichtung durch die Rechtsordnung dazu verhalten ist und die Unterlassung der Erfolgsabwendung einer Verwirklichung des gesetzlichen Tatbildes durch ein Tun gleichzuhalten ist. Zurechenbarkeit von Handlungen, insbesondere Unterlassungshandlungen: Wer hat eigentlich gehandelt? Wer hat genau was unterlassen? Besonderes Problem im modernen, arbeitsteiligen Medizinbetrieb. Die „Logik des Misslingens“ 3 2. Die Moralische Qualität von Handlungen „Verdienstliche Handlungen“; Verpflichtende Verbotene Handlungen Handlungen Indifferente Handlungen „Werke der Übergebühr“; Supererogatorische Handlungen Handeln Kein Lob Tadel Kein Lob, kein Tadel Lob Nicht- Tadel handeln Kein Lob Kein Lob, kein Tadel Kein Tadel Starke und relative Pflichten: · Starke Pflichten dürfen keinesfalls missachtet werden, · relative Pflichten („prima facie“-Pflichten) können höherrangigen Pflichten weichen, oder in Güterabwägung durchbrochen werden Die Grenze zwischen verpflichtenden Handlungen und „Werken der Übergebühr“ verläuft bei Ärzten und anderen helfenden Berufen anders als bei „Normalbürgern“; Stärkere Fürsorgepflichten! 4 3. Entscheidungen · Entscheidung: Entschluß, eine bestimmte Handlungsmöglichkeit zu verwirklichen (und damit andere nicht) · Reversible und irreversible Entscheidungen · Entscheidungsgrundlagen: - was man erreichen will (meist klar) - wie man die Handlungsumstände einschätzt, vor allem die zukünftige Entwicklung (meist nur teilweise klar...) - wie man die Folgen möglicher Handlungen einschätzt (häufig unklar) · Worst-case-Denken: angebracht u.a. bei möglichen desaströsen Ergebnissen, irreversiblen Entscheidungen (Ansonsten Gefahr der Handlungsunfähigkeit, „worst case fallacy“) · Best-case-Denken: angebracht u.a. bei leicht reversiblen Entscheidungen, Entscheidungen von geringer Tragweite; sonst fahrlässiger Optimismus · Theoretische und faktische Grenzen vernünftigen Entscheidens in komplexen Fällen; Häufig Güterabwägungen ohne die „einzig richtige“ Entscheidung · Jedoch: begründbare Entscheidung! · Begründbare Entscheidung in der Medizinethik: Möglichst vollständige medizinische Beurteilung plus möglichst vollständige ethische Beurteilung ® (gedankliche) Entscheidung ® (versuchsweise) Begründung dieser Entscheidung ® Beurteilung der Begründung; u.U. Abänderung, neue (gedankliche) Entscheidung und Begründung ® (reale) Entscheidung und Durchführung 5 4. Handlungsfolgen Eher formal betrachtet: · Auch Handlungen durch Unterlassen haben Folgen · intendierte und nicht intendierte Folgen (Nebenwirkungen) · absehbare und unabsehbare Folgen (manche nicht intendierte Folgen sind absehbar!) · wahrscheinliche und unwahrscheinliche Folgen · typische und atypische (es kann mehrere typische Folgen geben!) · Völlig atypische Kausalverläufe sind rechtlich und moralisch nicht relevant · Problem der Zurechenbarkeit von Handlung und Folgen – wer hat eigentlich gehandelt, insbesondere beim Dazwischentreten anderer? Eher inhaltlich: · Medizinische Folgen im engeren Sinne · Soziale Folgen · Rechtliche Folgen · Ökonomische Folgen (für die Personen, für das Gesundheitssystem) · Persönliche Folgen (für verschiedenste Beteiligte, auch z.B. den Arzt!) · Moralische Folgen Eine am umfassenden Wohlbefinden der Person ausgerichtete Medizin (und Medizinethik) muß eine möglichst umfassende Folgenabschätzung vornehmen. 6 5. Betroffene · Medizinethik ist nicht nur ärztliche Standesethik, sondern Ethik für alle vom medizinischen Fall irgendwie Betroffenen, bzw. für alle in das Gesundheitssystem irgendwie Involvierten. · Zunächst natürlich: der Patient · Angehörige, sonstwie Nahestehende, Versorgungsbedürftige · Arbeitgeber, Arbeitnehmer etc. des Patienten · ungeborene Kinder · Kollegenschaft · Angehörige sonstiger medizinischer Berufe · Vorgesetzte, medizinische Einrichtungen und ihre Reputation · Das Gesundheitssystem, dessen Finanzierbarkeit und dessen öffentliche Wahrnehmung · Der Arzt selber, seine Karrierechancen, sein wirtschaftliches Fortkommen, sein Charakter und seine Gesundheit, etc. · Angehörige des Arztes · Die übrigen Patienten · ... Spezialproblem: Betroffene, die sich nicht äußern können Größe und Kleinheit des Menschen Krankheit als Grenzerfahrung Hilfsmittel zur Folgenwahrnehmung und Handlungsbegründung: probeweiser Perspektivenwechsel (Rawls: „veil of ignorance“) 7 6. Interessen Interesse: Bevorzugung eines bestimmten Weltzustandes und Wunsch nach seiner Realisierung. Bekundetes Interesse: was der Patient (der Angehörige, der Chef, etc.) sagt; muß nicht unbedingt aufrichtig sein, daher ... „Wahres“ Interesse: was der Patient (o.a.) wirklich will; muß nicht unbedingt vernünftig sein, kann auf mangelnde Information etc. zurückgehen, daher ... „Eigentliches“ Interesse: Was aus der Sicht eines wohlwollenden, kompetenten Beobachters „das Beste für ihn“ wäre. [Gibt es das? ® Spannung Autonomieprinzip – Fürsorgeprinzip (siehe später!)] Interessen mit / ohne bestimmte Adressaten: Interesse, dass jemand Bestimmter etwas tut/unterlässt; allg. Interesse, ggü.jedermann Legitimes Interesse: ein Interesse, das (zumindest in einer prima facieBeurteilung) nicht unvernünftig und auch nicht ethisch verwerflich oder fragwürdig erscheint Illegitimes Interesse: ein Interesse, das bereits in einer prima facieBeurteilung als ethisch verwerflich erscheint Wichtig: Es kann (und wird in der Regel) so sein, dass Interessenten aufgrund einer ethischen Gesamtbeurteilung auch von ihren legitimen Interessen Abstriche machen müssen. Grund: Konfligierende / kollidierende Interessen: (Auch legitime) Interessen können so sein, dass sie nicht zugleich und vollständig verwirklichbar sind. 8 7. Allgemeines über ethische Prinzipien a) Unterscheidung nach fallender Allgemeinheit / Reichweite – Fundamentalprinzipien: Nutzenprinzip, Gesinnungsprinzip, Universalisierbarkeitsprinzip, ... (s. später) – Prinzipien mittlerer Reichweite: Fürsorge, Autonomiewahrung, ... – Kasuistische Regeln: „je unnötiger ein Eingriff, desto genauere ärztliche Aufklärung ist nötig“; „geringfügige Lebensverlängerung um jeden Preis ist nicht gefordert“; ... 9 b) Prominente Vorschläge für Fundamentalprinzipien: „Handlungen sind gut genau dann, wenn . . . ??“ „ ... wenn sie nützliche Konsequenzen haben (anzielen)“ = Nutzenprinzip sog. „Utilitarismus“, „Konsequentialismus“, „Verantwortungsethik“ „ ...wenn sie aus der Gesinnung heraus, ethisch richtig handeln (bestimmte Pflichten erfüllen) zu wollen, vorgenommen werden“ = Gesinnungsprinzip sog. „Deontologismus“, „Gesinnungsethik“, „Pflichtethik“ „ ...wenn man sie zur allgemeinen Richtschnur des Handelns machen könnte“ (kann ich wollen, dass jeder in derselben Situation so handelt?) = Universalisierbarkeitsprinzip, sog. „Eth. Universalismus“ 10 c) Probleme mit Fundamentalprinzipien (u.a.): (1) Begründbarkeit? (2) Inhaltsleere? (3) Gegenbeispiele und fundamentale Einwände gegen alle drei; Beispiele: – gegen Util.: „nützlich“ ¹ „gut“; schlechte Handlung wird durch zufällig nützliches Resultat nicht gut – gegen Pflichtethik: Pflichterfüllung um jeden Preis? Was tun bei Kollision? – gegen Universalismus: es kommt nicht darauf an, ein chancengleiches Leben zu führen, sondern ein gutes (4) Anschein gegenseitiger Verwiesenheit / Abhängigkeit, 2 Beispiele: Beispiel 1: Simpler Utilitarismus scheint inakzeptabel (Bsp. Enteignung). Modifizierter, „ausgefeilter“ Utilitarismus hat etwa folgende Form: „Eine Handlung ist gut, wenn sie den Gesamtnutzen aller Beteiligten erhöht, ohne dabei aber irgendjemandem größere Nutzenverluste zuzumuten. Wieso letztere (Pareto-)Klausel? Eigentlich bereits eine Universalisierbarkeitsüberlegung, oder eine Pflichtüberlegung (Gleichbehandlung, Minimalrechte!) Beispiel 2: Wonach entscheidet sich, ob eine Handlungsweise universalisierbar ist oder nicht? – Wohl danach, ob sie, allgemein durchgeführt, nützlich/ schädlich ist, bzw., ob sie mit bestimmten Rechten und Pflichten vereinbar wäre oder nicht. Vorschlag: – Fundamentalprinzipien sind nicht ausreichend, – aber wichtig als relevante Gesichtspunkte 11 II. Prinzipien medizinischer Ethik Sind „Prinzipien mittlerer Reichweite“: - inhaltlich gehaltvoll, - leichter begründbar - stoßen weithin auf Konsens - sind jedoch nicht so fundamental, dass sie im Konfliktfall nicht evtl. zurücktreten können (d.h. gewisse Güterabwägung möglich) Medizinethische Problemfälle sind häufig vom Spannungsverhältnis mehrerer solcher Prinzipien gekennzeichnet. (etwa „Fürsorge gegen Autonomie“) Eine verantwortbare medizinethische Entscheidung muss dann (u.a.) eine begründete Abwägung zwischen diesen Prinzipien enthalten. „Die einzig richtige“ Entscheidung wird es in vielen Fällen gar nicht geben. Fürsorgeprinzip: Orientierung am – umfassend verstandenen! – Wohlbefinden des Patienten (medizinisch, der Selbstwahrnehmung nach, als Person) typ. Problemkreise: Grenze des eigenen Einsatzes (in den nichtmedizinischen Bereich)? Gefahr der Bevormundung, besonders bei Betroffenen, die sich nicht äußern können Nichtschadensprinzip: Vermeidung von Schaden und Leid typ. Problemkreise: Versuche am Menschen, Placebogruppen, riskante Therapien, Gentechnik, Euthanasie 12 Autonomieprinzip: Respekt vor der freien Entscheidung des Patienten typ. Problemkreise: Wenn keine / keine freie Entscheidung vorliegt; Kinder, psychisch Kranke, uneinsichtige Patienten; unsinnige Therapiewünsche; wann liegt „informed consent“ vor? Prinzipien der Gerechtigkeit / der sozialen Zuträglichkeit: Gleiche Fälle gleich, ungleiche ungleich behandeln; Ausschluß unsachlicher Gesichtspunkte; Vermeidung unverhältnismäßigen Aufwandes; typ. Problemkreise: „schwierige“ Patienten, Geld und Gesundheit, Verteilung knapper Ressourcen (auch Zeit & Aufmerksamkeit!); Sicherung medizinischer Grundversorgung, „Zweiklassenmedizin“ Wahrhaftigkeits-, Vertrauensschutz- und Treueprinzip: Ehrlichkeit zum Patienten, Kontinuierlichkeit, Wahrung der (wichtigen!) persönlichen Vertrauensstellung typ. Problemkreise: Wahrheit am Krankenbett; Vielzahl von Bezugspersonen in arbeitsteiliger Medizin; Placeboversuche Verschwiegenheitsprinzip: Nichtweitergabe von Informationen aus dem Arzt(Hilfspersonal)-Patient-Verhältnis typ. Problemkreise: Krankheitsfälle mit ausgeprägt sozialer Komponente; Gefahren für andere; Melde- und Anzeigepflichten 13 III. Arzt und Patient 1. Modelle des Arzt-Patient-Verhältnisses: Paternalismus – Vertragsdenken – Partnerschaft Dahinter Hauptspannung: Fürsorgeprinzip gegen Autonomieprinzip Paternalismus: - Dominanz des Fürsorgegedankens - Der Arzt (und nur er) weiß, was dem Patienten guttut - Wissensvorsprung begründet Entscheidungsvorrecht und „verdünnte“ Informationspflicht - Gefahr der Tyrannei und Entmündigung; - Gefahr der Passivität des Patienten bis hin zum Blockadeverhalten („unfreiwillige“ Patienten) Vertragsdenken: - Dominanz des Autonomiegedankens - Der Patient „kauft Leistungen des Arztes zu“, muß aber selber wissen, was er will und was ihm guttut - Der Arzt tut (fast) alles, was der Patient will - Tendenz: Beschränkung auf biomedizinische Aspekte und eine „Minimalethik“ (rechtlicher Art) - Problem: Patienten wünschen vielfach die Zuwendung einer Person, die Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit in sich verbindet und die einen als Person wahrnimmt (Krankheit als Grenzerfahrung!) Partnerschaft: - Arzt und Patient nehmen sich gegenseitig als Person ernst - beide haben Rechte und Pflichten - „Selbsterkenntnis“ und Ziele gemeinsam erarbeitet - Anwendungsfall: Die „informierte Einwilligung“ (s. später) - idealisierendes Modell („geht“ nicht mit jedem Patienten) 14 2. Veranschaulichung: Der sog. „Hippokratische Eid“ [® Text] Nachfahre: Genfer Deklaration („Genfer Ärztegelöbnis“) 1948 Erste Beobachtungen zum Text Tauglichkeit als Grundlage medizinischer Ethik? - Völlig geändertes Bild des Medizinbetriebs - Grundtendenz: Paternalismus - Dennoch: Einige bleibend wichtige Prinzipien 15 3. Der „informed consent“ / die informierte Einwilligung Bei Behandlungsmaßnahmen und Experimenten; Erneut das Grundproblem: Fürsorgeprinzip gegen Autonomieprinzip Zusatzprobleme: Beschränkte(s) Wissen und Verständnisfähigkeit des Patienten Der „mündige Patient“ in seiner heutigen Form (Internet etc.), mitunter Kommunikations-/Vertrauensprobleme daraus Komponenten des „informed consent“: 1. Voraussetzungen: (a) Verstehens-/Entscheidungsfähigkeit; (b) Freiheit 2. Aufklärung: (a) Erläuterung (b) Empfehlung (c) Verständnis von (a) und (b) 3. Einverständnis: (a) Entscheidung (b) Behandlungsauftrag Problem bei 2.(a): Wieviel Erläuterung unterstützt / verwirrt / verängstigt den medizinischen Laien? (z.B.: wieviel an möglichen Komplikationen erwähnen?) 16 4. Rechtliche Gestalt des Einwilligungsgebots: Vorbemerkung: Was ist „Strafrecht“, „Zivilrecht“, „Verwaltungsrecht“? Strafrecht: „eigenmächtige Heilbehandlung“ (§ 110 StGB); Privatanklagedelikt Zivilrecht: Schadenersatz für nachteilige Folgen uneingewilligter Behandlung, auch wenn sie lege artis durchgeführt wurde! Beweislast, daß mangelhaft aufgeklärt wurde, liegt beim Patienten Die Beweislast, daß Patient auch eingewilligt hätte, wenn er vollständig aufgeklärt worden wäre, trifft aber den Arzt! Grundsätze nach der ständigen Rechtsprechung des OGH: - Abstellen auf den konkreten Einzelfall - je unnötiger die Behandlung, desto mehr Aufklärung nötig - Aufklärung soll nicht zu Beunruhigung oder Unterlassung dringender Maßnahmen führen - nicht über alle denkbaren Folgen, aber über „typische“ (d.h. spezifisch mit dieser Maßnahme verbunden) - „typisch“ ist nicht gleich „häufig / wahrscheinlich“ - Aufklären nur über Risiken, die Patientenverhalten beeinflussen können 17 IV. Pflichten- und Verantwortungskreis des Arztes Erinnerung: „Medizinische Ethik“ betrifft nicht nur den Arzt. Auch z.B. Patienten können Pflichten haben, bestimmte Aufgaben können nur sie lösen. Nichtsdestotrotz: Existenz von Katalogen von Berufspflichten, z.T. in rechtlicher Form Drei „Schichten“: (a) Kern: stark verrechtlichte „Minimalethik“, ziemlich direkt einklagbar: - Gewissenhafte Behandlung nach dem Stand der ärztlichen Kunst - (Minimale) Fürsorgepflicht - Schädigungsverbot - Minimale Aufklärungspflicht / Verbot (gänzlich) eigenmächtiger Heilbehandlung - Auskunftspflicht (b) Ärztliche Berufspflichten im engeren Sinne: primär moralische Verpflichtungen, z.T. aber auch rechtlich fassbar und einklagbar (mitunter indirekt, wenn über eine andere rechtliche Frage entschieden wird): - (umfassender gedachte) Fürsorgepflicht - Aufklärungspflicht / „informed consent“ - (minimale) Gerechtigkeit - Wahrhaftigkeit - Verschwiegenheit - Unbestechlichkeit, Ausschluß unsachlicher Gesichtspunkte - Wahrung der Ehre des Berufsstandes - Werbeverbot etc. 18 (c) Ärztliche „Berufstugenden“: nicht einklagbar, teilweise supererogatorischer Natur, aber wichtig für Patienten, KollegInnenschaft, sonstiges Personal, ..., und die eigene Persönlichkeit - Einfühlung, (kontrollierbares) Mitleid - umfassende Fürsorge - Freundlichkeit - Erreichbarkeit für den Patienten - Unterlassung von Kopplungsgeschäften, Profitgier etc. - Wahrnehmung und Wertschätzung fremder Leistungen - Solidarität mit KollegInnen in legitimen Anliegen - Vermeidung von Angeberei und Wissensvorenthaltung - Neugier, Weiterbildungsbereitschaft, auch jenseits der Medizin - Ehrlichkeit, Treue gegenüber Versprechungen - Tapferkeit - Bereitschaft zum Fehlereingeständnis - möglichst umfassende Gerechtigkeit - Freigiebigkeit - Abgrenzungsfähigkeit (zeitlich, gedanklich, emotional, ...) - persönliche Stabilität - Beharrlichkeit, Nachhaltigkeit des Engagements - Konsequenz in einmal getroffenen Entscheidungen etc. 19 V. Die rechtliche Gestalt der ärztlichen Pflichten (u.a.) Fürsorge Erste Hilfe-Pflicht (§ 48 ÄrzteG) Gewissenhafte Betreuung nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft (§ 49 ÄrzteG) Dokumentationspflicht („Krankengeschichte“, § 51 ÄrzteG) Nichtschaden Gewissenhafte Betreuung nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft, Dokumentationspflicht Delikte der fahrlässigen Körperverletzung, der fahrlässigen Tötung, des Mordes, der Beihilfe zum Selbstmord (StGB) Autonomie eigenmächtige Heilbehandlung (§ 110 StGB) Aufklärungspflicht, Schadenersatzhaftung für uneingewilligte Behandlung (ABGB) Gerechtigkeit Wahrhaftigkeit / Vertrauensschutz „gewissenhaft ohne Unterschied der Person“ (§ 49 ÄrzteG) Aufklärungspflicht, Schadenersatzhaftung (ABGB) Verschwiegenheitspflicht (§ 54 ÄrzteG) Verschwiegenheit Verschwiegenheitspflicht und Ausnahmen (§ 54 ÄrzteG) Datenschutzvorschriften (DatenschutzG etc.) 20 VI. Menschenbild und ethische Urteilsbildung Ethik („was soll ich tun?“) und Fragen des Menschenbildes („was ist der Mensch?“) sind nicht völlig trennbar. Bestimmte Menschenbilder sind mit bestimmten ethischen Positionen verbunden. (tendenziell, nicht zwangsläufig!) Menschenbilder: „Was ist der Mensch?“ Was kennzeichnet ihn? D.h., welche Zugänge sagen uns am ehesten, was wir „wirklich“ sind? Worauf kommt es im Leben „letztlich“ an? (Was prägt meine Auffassung vom Menschen?) Naturalistischbiologistische Menschenbilder: Der Mensch als Teil der Natur, im Vordergrund sein biologisch-medizinisches Funktionieren. Individualistischpersonalistische Menschenbilder: Der Mensch als „Person“, „Individuum“, „Subjekt“ ® nicht mehr rein biologisch beschreibbar. Im Vordergrund seine Freiheit, sein persönlicher „Lebensplan“, sein individuelles Wohl Medizinethisch: evolutionäre Ethik, Beschränkung auf medizin. Aspekte Medizinethisch: Primat der Autonomie Kollektivistische Menschenbilder: Der Mensch als Teil eines größeren Ganzen (Gesellschaft, Klasse, Menschheit, ...). Im Vordergrund seine Funktion für das Weiterbestehen des Ganzen Medizinethisch: Ökonomismus, NS-Medizin Religiöse“ Menschenbilder (im weiteren Sinne, umfasst „Hochreligionen“ bis hin zu Formen der Esoterik): Der Mensch in seiner Abhängigkeit von „transzendenten“ Personen, Kräften, etc. Im Vordergrund das Leben in Harmonie mit diesen Kräften, die Erfüllung göttlicher Gebote. Medizinethisch: manche Argumente zu Fragen am Anfang und Ende des Lebens; Paramedizin 21 Anhang: Sogenannter „Hippokratischer Eid“ (Übers. Weber 1993) Ich schwöre bei Apollon, dem Arzt, und Asklepios und Hygieia und Panakeia und allen Göttern und Göttinnen und rufe sie zu Zeugen an, daß ich diesen Eid und diese Vereinbarung nach meinem besten Vermögen und Urteil erfüllen werde. Ich werde den, der mich diese Kunst gelehrt hat, gleich meinen eigenen Eltern achten, ihm Anteil geben an meinem Hab und Gut und in der Not ihm geben, was er braucht. Seine Söhne werde ich als meine Brüder betrachten und sie in dieser Kunst unterweisen, wenn sie sie erlernen wollen, ohne Entgelt und ohne vertragliche Verpflichtung. An der Unterweisung, am Vortrag und jeder sonstigen Belehrung werde ich mei-ne Söhne und die Söhne meines Lehrers teilnehmen lassen, auch die Schüler, die den Vertrag und den Eid geleistet haben nach ärztlichem Brauch, sonst aber werde ich das ärztliche Wissen an niemanden weitergeben. Meine Verordnungen werde ich zum Nutzen der Kranken treffen nach meinem besten Vermögen und Urteil, vor Schädigung und Unrecht aber werde ich sie bewahren. Ich werde niemandem ein tödlich wirkendes Gift verabreichen, auch nicht, wenn man mich darum bittet, auch werde ich keinen Rat dazu erteilen. Ebenso werde ich keiner Frau ein abtreibendes Mittel geben. Rein und heilig werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren. Auch werde ich Steinleidende nicht operieren, sondern dies den Männern überlassen, die solches als Gewerbe betreiben. In welche Häuser ich auch immer eintrete, ich werde sie nur zum Nutzen der Kranken betreten und mich dabei jeden vorsätzlichen Unrechts und jeder schädigenden Handlung enthalten, insbesondere jeder geschlechtlichen Handlung an Frauen und Männern, an Freien und Sklaven. Was ich bei der Behandlung oder auch außerhalb der Behandlung vom Leben der Menschen sehe oder höre, worüber draußen niemals gesprochen werden darf, darüber werde ich schweigen, da ich dergleichen als Geheimnis erachte. Wenn ich nun diesen Eid erfülle und nicht breche, dann möge ich von meinem Leben und meiner Kunst Segen haben und bei allen Menschen geachtet sein für alle Zeiten; wenn ich ihn aber übertrete und eidbrüchig werde, dann soll mich das Gegenteil davon treffen. Genfer Deklaration („Genfer Ärztegelöbnis“) 1948 "Ich verpflichte mich feierlich, mein Leben dem Dienste der Menschlichkeit zu weihen. Ich will meinen Lehrern die Achtung und die Dankbarkeit erweisen, auf die sie Anspruch haben. Ich will meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Gesundheit meines Kranken soll meine oberste Erwägung sein. Ich will die mir anvertrauten Geheimnisse respektieren, sogar noch nach seinem Tode. Ich will mit allen in meiner Macht stehenden Mitteln die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes hochhalten. Meine Kollegen sollen meine Brüder sein. Ich will nicht zulassen, daß Erwägungen über Religion, Nationalität, Rasse, Parteipolitik oder sozialen Stand zwischen meine Pflichten und meine Kranken treten. Ich will mit höchster Ehrfurcht das menschliche Leben erhalten von der Zeit der Empfängnis an. Ich will selbst unter Drohung mein medizinisches Können nicht benutzen gegen die Gesetze der Menschlichkeit. Ich gebe diese Versprechungen feierlich, aus freiem Willen und auf meine Ehre." 23