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Städtische Fachoberschule für Sozialwesen
und Gestaltung
Seminararbeit im Fach Deutsch
2005/06
Thema der Arbeit:
Ist Sabeth Hanna?
Psychoanalytische Deutungsmuster am Beispiel von
Max Frischs Roman Homo faber. Ein Bericht
Eingereicht bei
Herrn Wolfgang Hesch
Vorgelegt von
Martin Scheiber
Klasse S 13
München, Januar 2006
-2-
Inhaltsverzeichnis
Seite
1
Einleitung
3
1.1
Leben und Werk des Max Frisch im Zeichen der Psychoanalyse
4
1.2
„Homo faber. Ein Bericht“ – Abriss der Handlung
8
2
Hinführung zur psychoanalytischen Theorie
nach Sigmund Freud
9
2.1
Grundannahmen der Psychoanalyse
9
2.1.1
Das Bewusste – das Vorbewusste – das Unbewusste
9
2.1.2
Der psychische Determinismus
10
2.2
Der psychische Apparat
11
2.2.1
Die Dynamik der Persönlichkeit
13
2.2.2
Angst und ihre Formen
14
2.2.3
Abwehr und Abwehrmechanismen
15
2.3
Das Trauma
17
2.4
Kritische Würdigung der Freud’schen Psychoanalyse
vom Standpunkt der wissenschaftstheoretischen Dimension
3
18
Die Persönlichkeit Walter Fabers als Gegenstand einer
psychoanalytischen Untersuchung
20
3.1
Die Bedeutung von Walters Beziehung zu Hanna
20
3.2
Entwicklung eines Traumas
22
3.3
Strategien zur Kompensation des Traumas
27
3.4
Walters Begegnung mit Sabeth – Suchen und Finden eines Ideals
28
3.4.1
Walters Reise mit Sabeth – die Reise zu seiner Selbsterkenntnis
30
3.4.2
Walter Faber – ein neuer Mensch?
32
3.4.3
Tod – Verantwortung – Schuld
32
4
Ist Sabeth Hanna? – Der Versuch einer sinnigen Antwort
auf eine sinnwidrige Frage
35
Quellenverzeichnis
36
Literaturverzeichnis
37
-3-
1
Einleitung
Die Frage, die der Titel dieser Arbeit enthält, ob Sabeth Hanna sei, birgt bereits
bei oberflächlicher Betrachtung eine gewisse Herausforderung an die Phantasie
des Lesers – ist es doch offensichtlich, dass die beiden Figuren des Frisch’schen
Romans vom formal-sachlichen Standpunkt aus betrachtet zwei verschiedene
Personen sind. Zwangsläufige Gemeinsamkeiten des Äußerlichen und der Wesenszüge ergeben sich augenscheinlich allenfalls aus der Tatsache heraus, dass
Sabeth Hannas Tochter ist.
Das Werk von Max Frisch „Homo faber. Ein Bericht“ gestattet jedoch durch
seine inhaltliche und formal-ästhetische Gestaltung eine tiefenhermeneutische
Annäherung an die latenten Bewusstseinsvorgänge des Romanhelden Walter
Faber, die diese Frage im Resultat nicht länger absurd erscheinen lässt. Die
psychoanalytischen Theorien stellen hierbei ein adäquates und unerlässliches
Instrument für das methodische Vorgehen dar, da erst ihre Einbeziehung in die
Personencharakteristik die Interpretation des Werkes auf dieser Ebene ermöglicht.
Die vorliegende Arbeit konzentriert sich also im Wesentlichen darauf, die Persönlichkeit Walter Fabers zum Gegenstand einer tiefenpsychologischen Analyse
zu machen, um auf diese Weise Aufschluss über die Beschaffenheit seines
Innenlebens zu liefern. Dabei sollen die seelischen Prozesse zur Verarbeitung
emotionaler Eindrücke untersucht werden, was wiederum eine zwingende Voraussetzung dafür ist, die unbewussten Motive und Impulse seines Handels zu
verstehen, und nicht zuletzt um somit eine Antwort auf die Sabeth-Hanna-Frage
zu ermöglichen. Die Grundlage für diese Untersuchung stellen dabei die von
Walter Faber selbst angefertigten progressiv introspektiven Schilderungen dar.
Denn dadurch, dass ebendieser Bericht zum Teil weit in die Vergangenheit
zurückreicht und zeigt, dass vor allem die Erste Station des Protagonisten „von
einer narzißtischen, geschichtslosen und nicht-dialektischen Lebensweise“1
gekennzeichnet ist, lässt sich Faber „mit dem Begriffsinstrumentarium, das die
Psychoanalyse zur Verfügung stellt, analysieren.“2
Hinweis zu den angeführten Textstellen:
Bei allen wörtlichen Zitaten wurde die Orthographie des Quelltextes beibehalten.
Die Auszüge aus dem Roman werden nach folgender Ausgabe zitiert und jeweils mit einer Seitenzahl in Klammern und der Abkürzung Hf (für Homo faber) versehen:
Frisch, Max: Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1999.
1
2
Balle, Martin: Sich selbst schreiben – Literatur als Psychoanalyse. München: Iudicium-Verlag,
1994. S. 22.
Ebd.
-4-
Entgegen des allgemeinen Bestrebens in den Kreisen der Psychoanalytiker –
insbesondere der therapeutisch praktizierenden –, sich von den Gedankenmodellen Sigmund Freuds immer weiter zu distanzieren, sollen in der vorliegenden
Arbeit ebendiese als theoretische Grundlage zur Analyse herangezogen werden.3
Bevor ich die für die Zwecke dieser Abhandlung relevanten Aspekte der
Freud’schen Psychoanalyse im Einzelnen vorstelle und sie an der Figur Walter
Faber anwende, möchte ich mich zunächst der Person und dem Werk von Max
Frisch unter dem Gesichtspunkt der Psychoanalyse widmen, um im Anschluss
daran in die Handlung des Romans „Homo faber. Ein Bericht“ einzuführen.
1.1
Leben und Werk des Max Frisch im Zeichen der Psychoanalyse
Im Vorfeld der eigentlichen Ausführungen dieses Kapitelabschnitts sei zunächst
darauf hingewiesen, dass hier lediglich auf das literarische, nicht aber auf das
architektonische Werk Max Frischs eingegangen werden kann.4
Als der neunzehnjährige Max Frisch im Wintersemester 1930 sein Studium
der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Zürich
antritt, hat er zu diesem Zeitpunkt bereits drei oder vier Bühnenstücke geschrieben.5 Der Einstieg in die Literatur erfolgte also nicht über die Lyrik oder den
Roman, sondern über das Theater.6 Obwohl oder vielleicht gerade weil der junge
Frisch zu diesem Zeitpunkt schon weiß, dass er Schriftsteller werden will, erlebt
er seine Fächerwahl und die gesamte Universität als Enttäuschung. Selbstironisch berichtet er in einem späteren Interview über diese Zeit und lässt dabei
3
4
5
6
Siehe dazu die Ausführungen in Kap. 2.4 Kritische Würdigung der Freud’schen Psychoanalyse
vom Standpunkt der wissenschaftstheoretischen Dimension auf S. 18 dieser Arbeit.
Frisch studiert von 1936–1940 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich
Architektur und erhält im Anschluss daran eine Anstellung in einem Architekturbüro. Dem
Entschluss, einem seriösen, bürgerlichen Leben nachgehen zu wollen und dies durch das bodenständige Studium der Architektur kenntlich zu machen, geht ein Zerwürfnis im Jahr des
Antritts ebendiesem Studiums mit sich selbst voraus, in dem er beschließt, seiner Identität als
Schriftsteller ein Ende zu setzen und alle seine noch vorhandenen Arbeiten zu verbrennen.
1942 gewinnt er einen Architekturwettbewerb der Stadt Zürich für den Bau des Freibades Letzigraben (heute Max-Frisch-Bad) und eröffnet sein eigenes Architekturbüro. 1955 schließt er
das Architekturbüro wieder und arbeitet von nun an als freier Schriftsteller. Zu diesem Zeitpunkt hat er aber bereits mit seinem „Vertrag mit sich selbst“, nicht mehr zu schreiben, längst
gebrochen und zahlreiche Dramen und Prosawerke veröffentlicht (u. a. Graf Öderland und Stiller).
Vgl. Arnold, Heinz L.: Max Frisch. Leben und Werk. Doppel-CD. Heiner Boehncke (Hg.).
Ferdinand Ludwig (Regie). Hessischer Rundfunk (Produktion). München: Der Hörverlag, 2001.
CD 1/Titel 3/Spielzeit 01:13 Min.
Die genaue Anzahl der Bühnenstücke, die Frisch bis zu seiner Maturität verfasste, ist nicht
mehr bekannt – sie war selbst ihm nicht bekannt. Keines dieser Stücke existiert mehr.
Vgl. ebd., CD 1/Titel 3/Spielzeit 01:22 Min.
-5-
auch sein schon damals bestehendes Interesse für die Psyche des Menschen
durchklingen:
„Ja, das war mein Hauptinteresse, das Theater. Also machte ich diesen dummen
Weg […] über die Germanistische Fakultät. Ich hab’ dann bald gesehen, dass ich
dort nichts lerne […] und bin eigentlich ziemlich herumgeirrt in dieser Hochschule, hab’ auch schon Fächer vermieden, die für mich als künftigen Schriftsteller
nicht nützlich sein würden und andere besucht. – Ich hab’ Forensische Psychologie belegt, statt Linguistik […].“7
Jeder Versuch, sich für das Studium zu begeistern, scheitert, und obwohl „ihm
ein Professor ein Stipendium [verschafft] (800 Franken im Jahr), [bricht] er das
Studium“8 1933 kurz nach dem Tod des Vaters „aus Geldmangel und Abenteuerlust (Hervorhebung im zit. Text) vorerst ab.“9 Alles, was er möchte, ist schreiben.
Schon während des Studiums wurden regelmäßig Artikel von ihm in Zeitungen
veröffentlicht, und jetzt, da er demonstrieren möchte, „dass er auf eigenen Füßen
stehen kann“10 und sich als freier Journalist versucht, fällt er besonders dadurch
auf, dass er sein Talent zur kunstvollen „Selbsteinschätzung nicht für sich
[behält], sondern als Feuilleton in die Zeitung [bringt].“11 In diesen journalistischen Frühwerken wird bereits eine Eigenheit von Max Frisch sichtbar, die
kennzeichnend für sein gesamtes späteres Werk sein wird. Er kaschiert nämlich
„die eigenen Befindlichkeiten in seinen Artikeln nicht, sondern stellt darin
Skrupelhaftigkeit und existentielle Unsicherheit mit geradezu psychoanalytischer
Lust aus“12 und nutzt dabei jedes Mal „die Gelegenheit, sich zu offenbaren.“13
Sein Leben, der Stoff, aus dem diese Artikel entstehen, wird später der Stoff
werden, aus dem seine Romane entstehen. Literatur ist also für Frisch eine
Möglichkeit, sich die eigenen psychischen Konflikte von der Seele zu schreiben
und infolgedessen avanciert sie zu einer Form der Lebensbewältigungsarbeit für
ihn.14 Dies geschieht, „indem er […] immer neue Antworten auf die Frage ‚Was
bin ich?‘ “15 zu finden versucht, was aber auch dazu führt, dass seine Leser diese
Bewältigung auf sich selbst beziehen „und seinen Romanen einen gleichsam
therapeutischen Aspekt“16 abgewinnen. Doch noch steht er ganz am Anfang
seiner Schriftstellerkarriere und möchte diese 1936 ohnehin am liebsten beendet
wissen (siehe Anm. 4).
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
Ebd., CD 1/Titel 3/Spielzeit 02:49 Min.
Hage, Volker: Max Frisch. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 19931. S. 20.
Ebd.
Ebd., S. 20 f.
Ebd., S. 21.
Arnold, a.a.O., CD 1/Titel 8/Spielzeit 02:19 Min.
Hage, a.a.O., S. 22.
Vgl. Arnold, a.a.O., CD 2/Titel 4/Spielzeit 00:21 Min.
Ebd. „Was bin ich?“ ist auch der Titel einer der allerersten Artikel von Max Frisch. Für eine
Zeitung sollte er 15 Zeilen über ein Schaufenster am Züricher Bahnhofsplatz schreiben.
Ebd.
-6-
In der Zeit des Architekturstudiums vollzieht sich allerdings eine weitere Hinwendung zur universitären Psychologie. Im Wintersemester 1938/39 nimmt
Frisch an der Vorlesung Carl Gustav Jungs „Einführung in die Psychologie des
Unbewussten“ teil.17 Der Einfluss Jungs auf den Studenten, der mittlerweile
nicht mehr so recht weiß, ob er nun Architekt oder Schriftsteller sein will, muss
recht groß gewesen sein, denn in Frischs Werk „fällt auf, dass der Tiefenpsychologe dort namentlich viermal erwähnt ist […].“18 Auch später noch befasst er sich
mit einem Sammelband des Analytikers „Auswahl aus den Schriften von C. G.
Jung“, der in „Montauk“ Erwähnung findet.19
Die Frage aber, die sein Leben wie keine zweite bestimmt, nämlich die nach
der eigenen Identität, lässt Frisch auch in der Zeit des Architekturstudiums und
in den Jahren seiner Tätigkeit als Architekt keine Ruhe. Die Versuche, sich selbst
zu finden und die Verzweiflung darüber, dass er sich von dieser immer gleichen
Frage, und zwar der ihm wohl vertrauten „Was-bin-ich-Frage“, allezeit eingeholt
sieht, schlagen sich ab dieser Phase seines Lebens noch deutlicher in seiner
Literatur nieder. Und das, obwohl er eigentlich nicht mehr schreiben wollte. Doch
Max Frisch komme, wie er selbst sagt, von der Eigenerfahrung her, und ein
„Notwehrschriftsteller“ sei er obendrein auch noch.20 So finden sich in den
Figuren seiner Romane immer wieder Merkmale seiner eigenen Persönlichkeit,
und es scheint, als verschaffe er sich – ähnlich wie Stiller als Mr. White – mit
Hilfe seiner Romanhelden laufend neue Identitäten, um so sein Gefühl der
Identitätslosigkeit auf künstlerische Weise zu kompensieren. Diese Selbstprojektion in seine Romanhelden wiederholt sich in jedem Werk aufs Neue, wie etwa als
Walter Faber in „Homo faber“,
„der […] sich unkritisch den vorgegebenen Mechanismen eines geregelten Lebens
anvertraut und erfahren muss, dass die Zufälle, die die menschliche Existenz eigentlich ausmachen, diese Lebenspläne immerfort zerstören.“21
Noch deutlicher werden die Parallelen zur eigenen Biographie bei Gantenbein in
„Mein Name sei Gantenbein“, „der bezeichnenderweise mal die Rolle des Schriftstellers […] und mal die Rolle des Architekten […] spielt und die Flucht aus der
Lebenswirklichkeit selbst probiert.“22
17
18
19
20
21
22
Vgl. Chien, Chieh: Das Frauenbild in den Romanen ,Stiller‘ und ,Homo faber‘ von Max Frisch im
Lichte der analytischen Psychologie C. G. Jungs. Frankfurt a. M. u. a.: Europäischer Verlag der
Wissenschaften, 1997. S. 15.
Ebd., S. 20. Erwähnungen C. G. Jungs: in einem Brief vom 06.10.1946; zweimal im Roman
Stiller; in der autobiographischen Erzählung Montauk.
Vgl. Ebd., S. 15.
Arnold, a.a.O., CD 2/Titel 4/Spielzeit 04:20 Min.
Ebd., CD 2/Titel 5/Spielzeit 00:00 Min.
Ebd.
-7-
Literat und Leser identifizieren sich also gleichermaßen mit den Bildern aus
dem Roman, und hieraus erschließt sich auch der Sinn der Frisch’schen Literatur, nämlich „verschiedene menschliche Phänomene zu betrachten und in Worte
zu fassen, um damit eine wichtige tiefenpsychologische Orientierung zu gewinnen
[…]“23. Nicht zufällig gehört Max Frisch zu denjenigen Autoren, „die in ihrem
Schreiben die Verwandtschaft von Psychoanalyse und Literatur selbst thematisieren“24. Zu beachten ist hierbei die Handlung einer jeden Geschichte, und
trotzdem geht es beiden, der Psychoanalyse und der Literatur von Max Frisch,
„[…] nicht zuerst um einen Inhalt, etwa eine Geschichte, die mitgeteilt würde,
vielmehr ist die Art der Mitteilung […] die sinngebende Bedingung des Kommunikationsprozesses, der bei Frisch zwischen Buch und Leser, in der Psychoanalyse
zwischen Analysand und Analytiker abläuft.“25
Dadurch, dass nun Frisch selbst zum Inhalt seiner Romane geworden ist, ist
er sich auch selbst Analytiker geworden. Ob dieser Umstand aber der Beantwortung seiner Uridentitätsfrage, „Was bin ich?“, zuträglich war, ist anzuzweifeln.
Denn „sowohl [seine Romane] als auch die Psychoanalyse gewinnen ihre Relevanz
[…] nicht in der Verfügung vorgefundener Strukturen, sondern im Prozeß der
Strukturierung selbst.“26 Dass aber dieser Prozess für Frisch nie erfolgreich
abgeschlossen war, zeigt sich daran, dass er seine Frage bis zum Schluss gestellt
hat. Wie hätte er diesen Prozess auch abschließen sollen? War doch einerseits
der Abstand zu seinen eigenen Persönlichkeitsanteilen in den Romanfiguren viel zu
gering, gleichzeitig waren aber ebendiese Figuren viel zu weit weg für ihn, weil es
sich ja doch nur um konstruierte Gestalten aus seiner Phantasiewelt handelte.
Max Frisch stirbt am 4. April 1991 in Zürich. Die Frage, wer er wirklich war,
konnte er für sich nie ganz beantworten. Doch wenn Beatrice von Matt in einem
Epitaph auf ihn hervorhebt, er hätte „für uns alle – für uns tagträumende Verdränger – Erkenntnisarbeit, Wahrheitsarbeit geleistet“27, drückt das am treffendsten aus, was er bei seiner großen Leserschaft bewirkt hat und dass das häufige
Stellen der besagten Frage in seinem Werk nicht gänzlich verfehlt war.
23
24
25
26
27
Chien, a.a.O., S. 18.
Balle, a.a.O., S. 9.
Ebd., S. 12.
Ebd., S. 13.
Arnold, CD 2/Titel 15/Spielzeit 02:40 Min. Aus einem Epitaph auf Max Frisch von Beatrice von
Matt.
-8-
1.2
„Homo faber. Ein Bericht“ – Abriss der Handlung
Der Ingenieur Walter Faber arbeitet in den Jahren 1933–1935 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich als Assistent. In dieser Zeit lernt er die
Kunststudentin Hanna Landsberg kennen, die seine Geliebte wird. Als Walter das
Angebot für eine Stelle in Bagdad erhält, eröffnet ihm Hanna, dass sie ein Kind
von ihm erwarte. Die beiden beschließen zu heiraten, doch Hanna zieht ihre
Zusage zurück, obwohl sie als Halbjüdin Verfolgung befürchten muss. In einer
Aussprache vereinbaren beide die Abtreibung, die Joachim Hencke, ein Freud
Walters, vornehmen soll. Walter trennt sich von Hanna im Glauben, sie werde
sich an die Abmachung halten. Doch diese heiratet Joachim und bekommt das
gemeinsame Kind Elisabeth – beides ohne Walters Wissen. Die Ehe scheitert,
ebenso wie eine zweite, und Hanna geht 1953 allein mit Elisabeth nach Athen.
1957 lernt Walter auf einem hindernisreichen Flug nach Caracas Herbert
Hencke, den Bruder Joachims, kennen. Er erfährt von Hannas Ehe mit Joachim
und dass sie eine Tochter hätten. Walter beschließt, Herbert auf der Suche nach
seinem Bruder zu begleiten. Diesen finden sie in Guatemala auf seiner Plantage
erhängt vor. Walter fliegt zu seinem Wohnort New York zurück, wo er auf Ivy,
seine anhängliche Geliebte trifft. Um sich schneller von ihr loszumachen, wählt
er den Schiff- statt den Flugweg, um zu einer Konferenz in Paris zu gelangen. Auf
der Fähre lernt er die 20-jährige Elisabeth kennen. Er entdeckt zwischen dem
jungen Mädchen, das er Sabeth nennt, und Hanna Gemeinsamkeiten, realisiert
jedoch nicht, dass es sich um seine Tochter handelt. Gemeinsam reisen sie von
Frankreich nach Griechenland und es entwickelt sich eine Liebesbeziehung. In
dieser Zeit erfährt Walter, dass Sabeth die Tochter Hannas ist, redet sich aber
ein, er könne nicht der Vater sein. An einem griechischen Strand wird Sabeth von
einer giftigen Schlange gebissen und kommt in ein Athener Krankenhaus, wo
Walter auf Hanna trifft. Jetzt wird ihm klar, dass er eine inzestuöse Beziehung
mit seiner Tochter hatte. Sabeth stirbt nach zwei Tagen.
Walter fliegt zurück nach New York und tritt anschließend eine Reise mit
mehreren Aufenthalten in verschiedenen Ländern an. In Caracas fasst er die
Erste Station seines Berichtes ab und in Cuba nimmt er das Leben das erste Mal
in seiner eigentlichen Form wahr, weil er es im Bewusstsein, nicht mehr lange zu
leben, genießt. Seine Reise endet in Athen, wo er im Krankenhaus wegen Magenkrebs operiert werden muss. Hier schreibt er die Zweite Station nieder, aus der
seine Gewissheit über den bevorstehenden Tod ersichtlich wird und die kurz vor
der Operation mit den Worten „08.05 Uhr Sie kommen“ endet.
-9-
2
Hinführung zur psychoanalytischen Theorie nach Sigmund Freud
2.1
Grundannahmen der Psychoanalyse
2.1.1
Das Bewusste – das Vorbewusste – das Unbewusste
Freud unterscheidet in seiner Psychoanalyse drei Bewusstseinsbegriffe, die die
seelischen Vorgänge im Menschen auf drei Ebenen beschreiben. Er unterstellt
dabei, dass die meisten dieser Vorgänge „an und für sich unbewußt sind und die
bewußten bloß einzelne Akte und Anteile des ganzen Seelenlebens.“28 Diese
„Unterscheidung des Psychischen in Bewußtes (A. d. A.) und Unbewußtes (A. d.
A.) ist die Grundvoraussetzung der Psychoanalyse und gibt ihr allein die Möglichkeit, die […] pathologischen Vorgänge im Seelenleben zu verstehen […].“ 29
Dabei betrachtet Freud das Bewusstsein bzw. das Bewusste als eine Ebene, auf
der ein psychisches Element (z.B. eine Vorstellung) gegenwärtig und damit
wahrnehmbar ist.30 Es handelt sich also bei den bewussten Anteilen der Wahrnehmung allein um diejenigen psychischen Vorgänge, zu denen das Individuum
unmittelbar und umfassend Zugang hat.
Wenn aber diese seelischen Prozesse nur einen – und zwar den kleinsten –
Anteil der Psyche eines Menschen ausmachen, muss die Psychoanalyse die
Auffassung vertreten, „daß es unbewußtes Denken und ungewußtes Wollen
gibt.“31 Mit dieser These distanziert sie sich von der zu dieser Zeit in den Geisteswissenschaften vorherrschenden Doktrin, dass das Seelische das Bewusste sei.32
Es zeigt sich aber, dass sich viele psychische Prozesse bei der Verarbeitung von
Erfahrungen der Bewusstseinsfähigkeit entziehen und trotzdem von dieser Ebene
aus – dem Unbewussten – einen großen Einfluss auf das Erleben und Verhalten
des Individuums ausüben. Hierin sieht Freud auch die Notwendigkeit, von einem
Unbewussten ausgehen zu müssen. Den Beweis für die Präsenz eines solchen
unbewussten Systems hält er durch die Experimente mit der posthypnotischen

28
29
30
31
32
Der Umfang dieser Arbeit gestattet keine erschöpfende Darstellung der psychoanalytischen
Theorie Freuds. Einzelne Aspekte, etwa der Ödipuskonflikt/-komplex können nur genannt
werden, andere, die für diese Analyse des Romanhelden Walter Faber von noch untergeordneter
Bedeutung sind, so z.B. die Entwicklung der Libido in den frühkindlichen Phasen oder die
Traumdeutung, müssen gänzlich ausgespart werden.
Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band I. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.
Und Neue Folge. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 19947. S. 47.
Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band III. Psychologie des Unbewußten. Mitscherlich (Hg.)
u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 19947. S. 283.
Ebd. S. 29.
Freud, Band I, a.a.O., S. 47.
Vgl. ebd.
- 10 -
Suggestion erbracht.33 Der Grund, warum sich bestimmte Vorgänge des Psychischen ausschließlich im Unbewussten abspielen, bzw. durch festgelegte Abläufe
dort „lokalisiert“ werden, ist, dass „eine gewisse Kraft sich dem widersetzt“34 und
sie dadurch nicht bewusst werden können. Diese Kraft – oder Widerstand –
nennt Freud Abwehr bzw. Verdrängung (siehe Kap. 2.2.3 auf S. 15 f. dieser
Arbeit). Die Bewusstseinsvorgänge, die hiervon betroffen sind, spielen sich –
bildhaft gesprochen – an den tiefsten Stellen des Bewusstseinssystems ab.
Spätere Erkenntnisse zeigen, dass es zwei Arten des Unbewussten gibt, „das
latente, doch bewußtseinsfähige, und das Verdrängte, an sich ohne weiteres
nicht bewußtseinsfähige.“35 Freud bezeichnet „das Latente, das nur deskriptiv
unbewußt ist, nicht im dynamischen Sinne, vorbewußt; den Namen unbewußt“36
(Hervorhebungen im zit. Text) beschränkt er „auf das dynamisch unbewußte
Verdrängte.“37 Das Vorbewusste „steht dem Bw viel näher als das Ubw (Hervorhebungen im zit. Text)“38, da seine Inhalte zwar „im aktuellen Bewußtseinsfeld
nicht vorhanden“39 sind, „aber sie unterscheiden sich darin von den Inhalten des
Systems Unbewußt, daß sie in dem Bewußtsein praktisch zugänglich sind (zum
Beispiel nicht aktualisierte Kenntnisse und Erinnerungen).“40
2.1.2
Der psychische Determinismus
Kennzeichnend für die Psychoanalyse ist die Auffassung, dass alle psychischen
Phänomene das Ergebnis vorher gegebener Bedingungen seien. Diese Phänomene
können emotionaler und kognitiver Natur sein oder das Verhalten betreffend. Die
Ursache für diesen Determinismus sieht Freud darin begründet, dass der
Mensch von Trieben gesteuert werde, von denen er zum größten Teil selbst nichts
wisse, die aber sein gesamtes Leben beeinflussen. Jede Verhaltensweise ist
demnach auf das Bedürfnis, einen oder mehrere dieser Triebe zu befriedigen,
33
34
35
36
37

38
39
40
Bei diesem Experiment versetzt der Psychoanalytiker den Patienten in einen hypnotischen
Zustand und erteilt ihm eine Aufgabe, die dieser zu einem später festgelegten Zeitpunkt ausführen soll. Nach dem Erwachen aus der Hypnose erinnert sich der Patient nicht mehr an diesen Zustand und auch nicht an die erteilte Weisung. Trotzdem verhält er sich zum vorgegebenen Zeitpunkt gemäß dem Auftrag und führt diesen, ohne sich einer Intension oder eines Sinnes darüber bewusst zu werden, durch. Vgl. Freud, Band III, a.a.O., S. 30.
Freud, Band III, ebd., S. 384.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Bw = Bewusstes; Ubw = Unbewusstes
Freud, Band III, a.a.O., S. 285.
Laplanche: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuchverlag,
199915. S. 612.
Ebd., S. 613.
- 11 -
zurückzuführen. Jene Triebe „repräsentieren die körperlichen Anforderungen an
das Seelenleben.“41 Freud unterscheidet zwei Grundtriebe, die sich zueinander
antagonistisch und/oder kooperativ verhalten können: den Eros bzw. Libido oder
Liebestrieb, und den Destruktions- bzw. Todestrieb.42
„Das Ziel des ersten ist, immer größere Einheiten herzustellen und so zu erhalten,
also Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen
und so die Dinge zu zerstören.“43
Freud meint, dass dieses Mit- und Gegeneinanderwirken der beiden Grundtriebe
die ganze Buntheit der Lebenserscheinungen ergebe44, jedoch führt es auch zu
der Hypothese, dass es angesichts dieses, in den Trieben begründeten Determinismus, „in den psychischen Äußerungen nichts Kleines, nichts Willkürliches
und Zufälliges“45 gäbe.
2.2
Der psychische Apparat
Aus den Studien der individuellen Entwicklung des menschlichen Wesens ergibt
sich eine weitere topisch-dynamische Differenzierung der Persönlichkeit in drei
Subsysteme oder Instanzen: das Es, das Ich und das Über-Ich. Freud schreibt
jeder dieser Provinzen eine bestimmte Funktion oder Leistung zu, „die eine
determinierte zeitliche Reihenfolge nach sich zieht.“46
Die älteste der psychischen Instanzen, deren Inhalte bereits bei der Geburt
vorhanden sind, ist das Es47. Es verhält sich größtenteils unbewusst und zwar in
jedem menschlichen Entwicklungsstadium, was auch der Grund dafür ist, dass
das Verdrängte mit ihm zusammenfließt. Das Es „ist der dunkle, unzugängliche
Teil unserer Persönlichkeit […] und das meiste davon hat negativen Charakter“48.
Darum nennt Freud es „ein Chaos, einen Kessel voller brodelnder Erregungen.“49
Im Es bestehen und entstehen auch sämtliche Triebwünsche und -bedürfnisse,
und von diesen „Trieben her erfüllt es sich mit Energie, aber es hat keine Organisation, bringt keinen Gesamtwillen auf, nur das Bestreben, den Triebbedürfnis-
41
42
43
44
45
46
47
48
49
Freud, Sigmund: Abriss der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag,
200410. S. 44.
Vgl. ebd., S. 45 f.
Ebd., S. 45.
Vgl. ebd.
Mertens, Wolfgang: Kompendium psychoanalytischer Grundbegriffe. München: Quintessenz
Verlag, 1992. S. 53.
Laplanche, a.a.O., S. 74.
Vgl. Freud, 2004, S. 42.
Freud, Band I, a.a.O., S. 511.
Ebd.
- 12 -
sen unter Einhaltung des Lustprinzips (A. d. A.) Befriedigung zu schaffen.“50 Das
Es kennt „keine Wertungen, kein Gut und Böse, keine Moral.“ 51 Damit die
Wünsche bzw. Triebregungen des Es befriedigt werden können, richten sich diese
immer auf ein bestimmtes Objekt, bei dem es sich – in Abhängigkeit des Typus
des Bedürfnisses – um eine Person oder ein Partialobjekt, ferner um ein reales
oder phantastisches Objekt handeln kann.52
Durch die Auseinandersetzung mit der Außenwelt in der frühkindlichen Entwicklung, erfährt nun das Es, dass es sein Ziel, nämlich die dauernde Befriedigung der aktuellen Bedürfnisse, nicht immer erreichen kann. Es muss mit der
Realität darum in Verbindung treten und die Rolle des Kompromisssuchenden
einnehmen. Auf diese Weise entwickelt sich aus einem Teil des Es das Ich heraus. Diese zweite Instanz ist damit „der durch den direkten Einfluss der Außenwelt unter Vermittlung von W-Bw (Hervorhebung im zit. Text) veränderte Teil des
Es“53, der nach dem Realitätsprinzip arbeitet. Das Ich
„bemüht sich auch, den Einfluß der Außenwelt auf das Es und seine Absichten
zur Geltung zu bringen, ist bestrebt, das Realitätsprinzip an die Stelle des Lustprinzips zu setzen, welches im Es uneingeschränkt regiert. Die Wahrnehmung
spielt für das Ich die Rolle, welche im Es dem Trieb zufällt. Das Ich repräsentiert,
was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaft enthält.“54
Unter dem Einfluss der elterlichen Erziehung und der in einer Gesellschaft
oder Gesellschaftsgruppe vorherrschenden Normen- und Wertevorstellung bildet
sich in einer späteren frühkindlichen Entwicklungsphase aus dem Ich die letzte
der drei Instanzen heraus. Diese Ich-Veränderung „tritt dem anderen Inhalt des
Ichs als Ichideal oder Über-Ich entgegen (Hervorhebung im zit. Text).“55 Es beinhaltet die in der Erziehung vermittelten Gebote und Verbote, die elterlichen
Ansichten, was richtig und was falsch sei – ferner alle sittlichen und moralischen
Vorstellungen des Individuums. Diese „sind im Ideal-Ich mächtig geblieben und
üben jetzt als Gewissen (Hervorhebung im zit. Text) die moralische Zensur aus.“56
Das Über-Ich verfährt somit nach dem Moralprinzip und hat die Aufgabe, die
Triebwünsche des Es zu bewerten. Man kann auch sagen, dass es sich beim
Ichideal, metaphysisch gesprochen, um ein höheres Wesen im Menschen handelt, dass sich um das Moralische, Überpersönliche in ihm kümmert.57
50
51
52

53
54
55
56
57
Ebd.
Ebd., S. 512.
Vgl. Laplanche, a.a.O., S. 335.
W-Bw = Wahrnehmungsbewusstsein
Freud, Band III, a.a.O., S. 293.
Ebd., S. 293 f.
Ebd., S. 301.
Ebd., S. 304.
Vgl. ebd., S. 303.
- 13 -
2.2.1
Die Dynamik der Persönlichkeit
Nach Sigmund Freud ist der Mensch ein dynamisches System, das von verschiedenen Energien gesteuert wird. Die Energien rühren von den Impulsen des
Lustprinzips her, sind also Triebe. Das, worauf sich jedes Verhalten aus psychoanalytischer Sicht reduzieren lässt, ist das Bestreben des seelischen Apparats,
eine Reduktion der Spannung herbeizuführen und diese Energie freizusetzen. Ist
ein Kanal, über den ein Energieimpuls eigentlich verlaufen sollte, blockiert, wird
ein anderer gewählt, und zwar der des geringsten Widerstandes.
Das Dynamische des Seelenlebens kommt, genauer betrachtet, folgendermaßen zustande: Aus den Schilderungen in Kap. 2.2 auf S. 11 f. dieser Arbeit wird
ersichtlich, dass jede der drei Instanzen ihre eigene Funktion hat, aber auch dass
diese aufgrund ihrer gegensätzlichen Ausrichtungen ein erhebliches Konfliktpotential in sich bergen, da sich verschiedene Ansprüche häufig disparat zueinander verhalten. Eine enorm wichtige Aufgabe kommt hierbei dem Ich zu, da es
gleichzeitig den Forderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügen und
somit deren Ansprüche miteinander zu versöhnen wissen muss.58 Es steht nun
in einer permanenten dynamischen Interaktion mit allen Instanzen und der Außenwelt, damit es entscheiden kann, welche Triebimpulse (Energien) auf welchem
Wege freigesetzt werden können und welche nicht.
Die oben erwähnten Konflikte können „manifest sein (zum Beispiel zwischen
einem Wunsch und einer moralischen Forderung, oder zwischen zwei sich
widersprechenden Gefühlen), oder latent und dabei in entstellter Form im manifesten Konflikt zur Darstellung kommen“59. Denkbar sind auch Konflikte „zwischen den verschiedenen Systemen der Instanzen, Konflikte zwischen den
Trieben, endlich der ödipale Konflikt“60. Vermag das Ich, diese Konflikte möglichst
minimal zu halten und zwischen den Forderungen der Instanzen ein Gleichgewicht herzustellen, so spricht man von einer Ich-Stärke. Gelingt dies dem Ich nur
mangelhaft oder gar nicht, so handelt es sich um eine Ich-Schwäche. Diese
kommt immer dann zustande, wenn eine der Instanzen zu stark oder zu schwach
ausgebildet ist. Folglich siegt die stärkere Instanz über das Ich und die IchSchwäche macht sich als Symptombildung, Verhaltens- oder Charakterstörung,
ferner als Neurose oder Psychose bemerkbar.
58
59
60
Freud, 2004, S. 43.
Laplanche, a.a.O., S.256 f.
Ebd., S. 257.
- 14 -
2.2.2
Angst und ihre Formen
Die in 2.2.1 beschriebenen Ich-Schwächen, die auf ein Ungleichgewicht verschiedener Wunschregungen zurückzuführen sind, treten beim Individuum charakteristischerweise in Verbindung mit Angst auf. Denn wenn „das Ich seine Schwäche
einbekennen muß, bricht es in Angst aus […].“61 Diese Angst kann also ein
spezifischer „Ausdruck von Konflikten zwischen Triebansprüchen und ihrer
Zensur“62 sein, oder genauer betrachtet eine „Reaktion des Organismus auf nicht
verkraftbare Erregung, die durch Blockierung der Erreichung von Triebzielen […]
bzw. durch den seelischen Schmerz bei drohendem Verlust eines triebbesetzten
Objekts ausgelöst wird […].“63 Freud unterscheidet drei Grundformen der Angst,
die dabei auftreten können: die „Realangst (A. d. A.) vor der Außenwelt, die
Gewissensangst (A. d. A.) vor dem Über-Ich, neurotische Angst (A. d. A.) vor der
Stärke der Leidenschaften im Es.“64 Bei der Realangst handelt es sich um eine
„Reaktion auf die Wahrnehmung einer äußeren Gefahr […], sie ist mit dem
Fluchtreflex verbunden, und man darf sie als Äußerung des Selbsterhaltungstriebes ansehen.“65 Hingegen kommt bei der Gewissensangst das Schuldbewusstsein des Ichs durch das Über-Ich zum Ausdruck. Das Ich reagiert mit Angstgefühlen auf die Wahrnehmung, dass es hinter den vom Ichideal gestellten Anforderungen zurückgeblieben sei.66 Freud stellte zur Entstehung der Gewissensangst
fest:
„Vom höheren Wesen, welches zum Ideal wurde, drohte einst die Kastration, und
diese Kastrationsangst ist wahrscheinlich der Kern, um den sich die spätere Gewissensangst ablagert, sie ist es, die sich als Gewissensangst fortsetzt.“67
Im Falle der neurotischen Angst erlebt das Ich die Triebwünsche des Es als
bedrohlich und entwickelt Angst, da es befürchtet, von ihm zugrunde gerichtet zu
werden. Bei den neurotischen Ängsten werden drei Formen unterschieden68: zum
einen die frei flottierende Ängstlichkeit als Erwartungsangst, die ohne ersichtlichen Grund auftritt; zweitens die Phobie, bei der ein bestimmter Reiz, in dem der
Patient eine Bedrohung erkennt, eine unverhältnismäßige Angstreaktion auslöst;
und drittens die Hysterie, bei der „verdrängte Triebimpulse unbewußt in Körpersymptome überführt werden […], dort ihren mehr oder minder symbolischen
61
62
63
64
65
66
67
68
Freud, Band I, a.a.O., S. 515.
Fröhlich, Werner: Wörterbuch Psychologie. München: dtv, 200224. S. 63.
Ebd., S. 60.
Freud, Band I, a.a.O., S. 515.
Ebd., S. 381.
Freud, Band III, a.a.O., S. 350.
Ebd., S. 324. Freud deutet hier mit der Erwähnung der Kastrationsangst seine Vermutung,
dass die Entwicklung des Gewissens bzw. des Über-Ichs ein „Erbe“ des Ödipuskomplexes sei,
an. Vgl. ebd., S. 325 u. S. 351 ff.
Vgl. Freud, Band I, a.a.O., S. 518.
- 15 -
Ausdruck finden und/oder auf unbewußten Wegen zu einer Selbstdarstellung
führen, die verbirgt, was oder wie man tatsächlich ist.“69 Die drei Grundformen
der Angst (Real-, Gewissens-, neurotische) können sowohl einzeln, als auch in
Mischformen auftreten.
2.2.3
Abwehr und Abwehrmechanismen
Bei der Abwehr handelt es sich um eine Reaktion des Ichs auf einen bestimmten
Angstreiz. Dieser Reiz, der eine Bedrohung darstellt, scheint für das Ich praktisch
nicht lösbar und es folgt eine Reihe komplexer psychischer Vorgänge in Form von
Ich-Verteidigung, „deren Finalität darin liegt, jede Modifikation einzuschränken
oder zu unterdrücken, die geeignet ist, die Integrität und die Konstanz des
biopsychischen Individuums zu gefährden.“70 Im Ergebnis bedeutet dies, dass die
angstauslösenden Erlebnisinhalte unbewusst gemacht werden, um innere
Spannungen (z.B. eine vom Über-Ich als amoralisch eingestufte Wunschregung
des Es) oder äußere Konflikte (etwa ein traumatisches Erlebnis (siehe auch Kap.
2.3 auf S. 17 dieser Arbeit)) abzuwehren und einen Lebensvollzug möglich zu
machen, der – zumindest auf der bewussten Wahrnehmungsebene – nicht von
der Angst dominiert wird. Die Inhalte werden im Unbewussten aber nicht extingiert, sondern bleiben weiter bestehen und beeinflussen den Organismus durch
ein verändertes Erleben und Verhalten und verleihen sich z.B. in Form von
Fehlleistungen oder Träumen Ausdruck. „Der Abwehrvorgang besteht aus mehr
oder weniger in das Ich integrierte Abwehrmechanismen (A. d. A.)“71, über die es,
je nach Anforderung, also nach Art und Intensität des Abwehrkonflikts, verfügen
kann. Nur einige dieser Mechanismen sollen hier genannt werden72:
Die Verdrängung ist sicherlich der populärste Vertreter der Abwehrmechanismen, aber auch einer der wichtigsten für das Arbeiten mit der Psychoanalyse. Bei
ihr handelt es sich um psychische Operationen, die „übermächtige Triebansprüche und damit verbundene Handlungen, Einstellungen, Erlebnisinhalte und
Vorstellungen ohne Hinterlassen von Erinnerungen“73 aus dem Bereich des
69
70
71
72
73
Fröhlich, a.a.O., S. 230 f.
Laplanche, a.a.O., S. 24.
Ebd.
In der klassischen Psychoanalyse werden zehn verschiedene Abwehrmechanismen unterschieden. Auf S. 16 dieser Arbeit wird auch die Rationalisierung aufgeführt. Sie stammt jedoch nicht
aus Freuds Vokabular, sondern wurde 1908 von E. Jones mit seiner Arbeit „Rationalization in
everyday life“ in den psychoanalytischen Sprachgebrauch eingeführt. Vgl. ebd., S. 418. u. Mertens, a.a.O., S. 186.
Fröhlich, a.a.O., S. 457.
- 16 -
Bewussten in das Unbewusste verlagern, „so daß sie nicht mehr bewußt verfügbar sind.“74
Ein weiterer Abwehrmechanismus ist die Reaktions- bzw. Symptombildung,
„die das Ich zuerst in seinen Verdrängungen, später, bei den Zurückweisungen
unerwünschter Triebregungen, […] erwirbt.“ Bei diesem Prozess werden heftige
oder aggressive Handlungen in das Gegenteil verkehrt und die Triebenergie wird
scheinbar auf andere Handlungen übertragen75, „die dann ebenso heftig und
energisch auftreten, jedoch von außen betrachtet irrational wirken.“76
Im Falle der Verschiebung können Interessen bzw. Triebe, die ein Organismus
verspürt, nicht am eigentlichen Objekt befriedigt werden und müssen ersatzweise
auf andere verlagert werden, die Befriedigung zulassen (Ersatzbildung). Sie kann
sich auch auf die Bedeutung und Intensität einer Vorstellung beziehen, die „sich
von dieser lösen und auf andere, ursprünglich wenig intensive Vorstellungen
übergehen können, die mit dieser ersten durch eine Assoziationskette verbunden
sind.“77
Bei der Rationalisierung versucht das Subjekt, vermeintlich rationale Gründe
gegen gravierende Selbstanklagen oder Selbstzweifel zu finden. Oder es versucht,
„einer Verhaltensweise, einer Handlung, einem Gedanken, einem Gefühl etc.,
deren wirkliche Motive nicht erkannt werden, eine logisch kohärente oder moralisch akzeptable Lösung zu geben.“78
Von Sublimierung spricht man, wenn vor allem sexuelle Triebimpulse unbewusst abgewandelt werden und sich in Handlungen äußern, die scheinbar keinen
Bezug zur Sexualität haben und von der Gesellschaft allgemein akzeptiert sind.
Freud meint, insbesondere in künstlerischer Betätigung und intellektueller Arbeit
Anzeichen von Sublimierung zu erkennen.79
Ein weiterer Abwehrmechanismus, der in Verbindung mit allen bereits
erwähnten zum Ausdruck kommen kann, ist der Widerstand. Er äußert sich
durch „die Weigerung einer Person, unbewußte Inhalte oder Motive offenzulegen
und/oder als eigene verdeckte Motive des Erlebens und Verhaltens anzuerkennen. So können z.B. bereits etablierte Abwehrmechanismen (Hervorhebung im zit.
Text) nur gegen den Widerstand abgebaut werden […].“80
74
75
76
77
78
79
80
Ebd.
Ebd., S. 369.
Ebd.
Laplanche, a.a.O., S. 603.
Ebd., S. 418.
Vgl. ebd., S. 478.
Fröhlich, a.a.O., S. 474.
- 17 -
2.3
Das Trauma
Bezug nehmend auf das Trauma schreibt Freud 1916:
„,Wir nennen so ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normalgewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren.‘“ 81
Es handelt sich hierbei also um einen Schock bzw. Einbruch, dessen Intensität
die gesamte Psyche mit seinen Reizen exzessiv überflutet, dass dies erhebliche
Auswirkungen auf die Organisation der psychischen Systeme hat. Für den
Einbruch kann ein einmaliges Erlebnis oder eine Anhäufung von Reizen ursächlich sein.82 Bei der Aufnahme der Reize erleidet das Konstanzprinzip83 zunächst
eine Niederlage84, „da der psychische Apparat unfähig ist, den Reiz abzuführen.“85
Freud spricht auch von einem lebenden Bläschen, das durch eine Schutzhülle vor
Außenreizen geschützt werde, die „nur erträgliche Energiequantitäten passieren“86 ließe. Wenn aber diese Hülle einen ausgedehnten Einbruch erleidet,
„dann haben wir den Fall des Traumas: Es ist nun die Aufgabe des psychischen
Apparats, alle verfügbaren Kräfte zu mobilisieren, um Gegenbesetzungen 87 aufzurichten, die anflutenden Reizqualitäten an Ort und Stelle zu fixieren und die Wiederherstellung der Bedingungen des Lustprinzips zu ermöglichen.“88
Das Trauma selbst tritt charakteristischerweise in Verbindung mit einer Reihe
anderer psychischer Phänomenen auf, und zwar der Abwehr bzw. den Abwehrmechanismen. Denn nach Freud hindert ein psychischer Konflikt das Subjekt
daran, „die gemachte Erfahrung seiner bewußten Persönlichkeit zu integrieren“89.
81
82
83
84
85
86
87
88
89
Mertens, a.a.O., S. 248.
Vgl. Laplanche, a.a.O., S. 514.
Ein Prinzip, wonach der psychische Apparat die Erregungsqualität bzw. die Energie möglichst
auf einem geringen Niveau oder zumindest konstant halten möchte. Vgl. ebd., S. 260 ff.
Vgl. ebd.
Ebd.
Ebd.
Die Gegenbesetzung ist ein Vorgang, der als Träger zahlreicher Abwehreaktionen des Ichs
fungieren kann. Vgl. ebd., S. 161.
Ebd., S. 514.
Ebd., S. 515.
- 18 -
2.4
Kritische Würdigung der Freud’schen Psychoanalyse
vom Standpunkt der wissenschaftstheoretischen Dimension
Noch zu Lebzeiten Freuds entfachte eine mehr als angeregte Diskussion in der
Wissenschaftswelt darüber, wie die entwickelte, bzw. sich noch in der Entwicklung befindende Theorie Freuds zu bewerten sei. Schnell zeigte sich, dass die
Psychoanalyse polarisiert, und Gegner- wie Befürworterkreise formierten sich.
Neben den subjektiven Argumenten der Widersacher, die z.B. lauteten, dass die
Annahme der sexuellen Triebgesteuertheit des Menschen strikt zu negieren sei,
ohne dass diese Ablehnung einer weiteren Erklärung bedürfe, oder die im Antisemitismus begründete Hetze gegen Freud in den Dreißigerjahren90, erkannten
andere bald eine vermeintliche Schwäche der Psychoanalyse, die Angriffsfläche
für objektiv erscheinende Argumente bot. Eines dieser negativ aufgefassten
Merkmale ist die auffällige Nähe zur Philosophie bzw. zu den Geisteswissenschaften allgemein.91 Da man aber die Meinung vertrat, dass eine Wissenschaft, die die
Befindlichkeiten der menschlichen Psyche erforschen wolle, eine rein empirische
Wissenschaft sein müsse, konfrontierte man die Psychoanalyse mit dem Vorwurf
der Unwissenschaftlichkeit. Tatsächlich lassen sich viele Gedankenmodelle und
Hypothesen Freuds nicht auf empirischem Wege nachvollziehen oder überprüfen,
da es ihnen an den Kriterien der Falsifizierbarkeit fehlt. Die Wissenschaftsposition der Empirie verlangt allerdings – wie in den Naturwissenschaften üblich –
nach allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten (in diesem Fall das Verhaltens des
Menschen), damit sie von wissenschaftlicher Fundiertheit ausgehen kann. Als
problematisch wurde außerdem, neben dem schon Erwähnten, aufgefasst, dass
zahlreiche Begriffe nicht operationalisiert sind und dass die Methoden, deren sich
die Psychoanalyse bedient – z.B. Interpretation und Deutung von Berichten und
Träumen oder Empathie –, jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entehrten.
Diese Kritikpunkte haben bis heute nichts an ihrer Gültigkeit eingebüßt, was
letztlich dazu führte, dass die größten Gegner der Psychoanalyse heute in der
(sog.) wissenschaftlichen Psychologie anzutreffen sind, die sich zu den empirischen Naturwissenschaften zählt92. Es scheint fast, als hätte sich diese Schule
der Psychologie nur deshalb diesen Namen selbst verliehen, um sich von der
90
91
92
Vgl. Köhler, Thomas: Anti-Freud-Literatur von ihren Anfängen bis heute. Stuttgart: Kohlhammer
Verlag, 1996. S. 12 ff.
So geht z.B. der Terminus des „Es“ über den Mediziner G. Groddeck letztlich auf Nietzsche
zurück. Aus seiner Begeisterung über das Werk des Philosophen hat Freud nie einen Hehl gemacht. Vgl. Freud, Band III, a.a.O., S. 278 u. 293.
Die meisten Anwendungs- und Forschungsfelder der Psychologie zählen in Deutschland zu den
Naturwissenschaften. (In den USA z.B. gehören sie aber zu den Sozialwissenschaften.)
- 19 -
Psychoanalyse abzugrenzen, die sie mittlerweile als Pseudowissenschaft abtut93.
In der universitären Psychologie spielt die Psychoanalyse deswegen auch kaum
eine Rolle, manche Fakultäten klammern sie praktisch aus.94
An der Psychoanalyse macht sich aber meiner Meinung nach eine immer
größer werdende und gefährliche Strömung in der bürgerlichen und akademischen Welt am ausdruckstärksten bemerkbar, die schon zu Freuds Zeiten
aufkam: Es scheint sich nämlich eine deutliche Gleichsetzung von Wissenschaft
mit Naturwissenschaft zu vollziehen95, was zur Folge hat, dass allein die Empirie
vorzugeben vermag, was wissenschaftlich sei und was nicht. Die Wissenschaftsmethoden, die dem Regelkatalog der Empirie entsprechen, dürfen fortan als
„wissenschaftlich“ gelten, aber alle anderen Ansätze, die den empirischen Ansprüchen nicht genügen können oder nicht genügen wollen, werden schnell als
unwissenschaftlich in Verruf gebracht. Doch die Empirie, die (lediglich) die
erklärende Position in der Wissenschaft vertritt, repräsentiert nur eine Auffassung von Wissenschaft. Neben ihr steht die Hermeneutik, die die verstehende
Position vertritt, und die ihr eigenes Wissenschaftsverständnis und daran geknüpfte Anforderungen an wissenschaftliche Arbeitsweisen hat. Ihr gehören
solche (Geistes-) Wissenschaften wie Philosophie und Theologie an, und andere,
die die Auslegung und Interpretation zur Auffindung von Wahrheit anwenden.
Die Psychoanalyse weist in ihrer Struktur und Methodik hauptsächlich
hermeneutische Züge auf. Dies bedeutet aber nicht, dass sie nicht wissenschaftlich sei – sie ist eben nur nicht empirisch. Darum ist auch in meinen Augen die
Titulierung Pseudowissenschaft noch weniger gerechtfertigt. Die akademischempirische Psychologie sollte sich in diesem Streit, dem etwas gefährlich Ideologisches anhaftet – und man darf nicht vergessen, dass einst sie die Psychoanalyse mit dem Vorwurf des Ideologieverdachts konfrontierte –, weniger auf die
Merkmale konzentrieren, die die Psychoanalyse für sie unwissenschaftlich
machen, als viel mehr auf die therapeutischen Erfolge, die sie erzielt. Das würde
zum einen die erforderliche Offenheit für gegensätzliche Positionen demonstrieren, aber auch, dass für sie nicht wissenschaftliche Eitelkeiten im Zentrum ihres
Interesses stehen, sondern die Lebenssituation des Patienten, für deren Besserung nicht zwangsläufig auf die eigenen Methoden zurückgegriffen werden muss,
sondern auf die erfolgversprechendsten.
93
94
95
Auch zahlreiche Schulen der Psychoanalyse nehmen Abstand von Freuds Theorien, um aus der
Nähe des Vorwurfs der Unwissenschaftlichkeit zu kommen.
An Universitäten dient die Psychoanalyse häufig nur als Hilfswissenschaft, z.B. in der Pädagogik, pädagogischen Psychologie, Sozialpsychologie.
Vgl. Wingert, Lutz: Was macht die These der Deterministen so attraktiv? In: Ärzte Zeitung.
Nr. 178 / 06.10.2005, S. 12.
- 20 -
3
Die Persönlichkeit Walter Fabers als Gegenstand einer
psychoanalytischen Untersuchung
3.1
Die Bedeutung von Walters Beziehung zu Hanna
Als Walter seine ehemalige Geliebte Hanna 1957 nach über zwanzig Jahren im
Athener Krankenhaus das erste Mal wieder triff, scheint es, als hätte es für ihn
diese lange Trennung nie gegeben:
„Ihre Stimme ist unverändert.
In einem gewissen Sinn ging es weiter, als wären keine zwanzig Jahre vergangen,
genauer: als hätte man diese lange Zeit, trotz Trennung, durchaus gemeinsam
verbracht. Was wir nicht voneinander wußten, waren Äußerlichkeiten, nicht der
Rede wert.“ (Hf S. 145)
Walter war – ohne dass er sich dessen bewusst werden konnte oder wollte – all
die Jahre stark auf Hanna fixiert. Dass sie in der Zwischenzeit sehr wohl in
seinem Unbewussten präsent war, zeigt sich daran, wie sehr sie ab dem Moment,
wo er durch Herbert Hencke an sie erinnert wird, wieder in sein Leben tritt, d.h.
seine Gedanken- und Traumwelt dominiert (vgl. Hf S. 29 u. 36). Nun beginnt er
sich ausführlich an sie zu erinnern, und, während seine Gedanken bis zur
tatsächlichen Begegnung fest auf sie konzentriert sind, gelingt es ihm nicht, sich
seine immer noch vorhandenen Gefühle für sie zuzugestehen oder sich gar der
Bedeutung der Beziehung zu ihr bewusst zu werden. Lediglich durch eine Fehlleistung verrät er unfreiwillig kurz nach der ersten Begegnung im Krankenhaus,
welchen Stellenwert sie bei ihm hat, indem er davon spricht, dass sie seine
Geliebte „ist“ und nicht, dass sie es vor über zwanzig Jahren war:
„[…] so oft ich auch nur eine Sekunde lang […] daran dachte, daß ich Sabeth umarmt habe, beziehungsweise, daß Hanna, die vor mir sitzt, ihre Mutter ist, die
Mutter meiner Geliebten, die selbst meine Geliebte ist (A. d. A.).“ (Hf S. 141)
Kurz später vermag er es dann, einen bewussten Gedanken zu ihrer Stellung in
seinem Leben zu formulieren:
„Hanna ist eine Frau, aber anders als Ivy und die anderen, die ich gekannt habe,
nicht zu vergleichen; auch anders als Sabeth, die ihr in vielem gleicht. Hanna ist
vertrauter […].“ (Hf S. 146)
Um zu verstehen, warum gerade Hanna eine so bedeutende Position in seinem
Leben einnimmt, müssen folgende Aspekte ins Auge gefasst werden:
Schon früh in seinem Leben entdeckt Walter Faber Seiten an seiner Persönlichkeit, die er nicht wahrhaben will und die er unbewusst bekämpft, weil er sich
vor ihnen fürchtet. Es handelt sich dabei um die Angst vor dem Weiblichen in
ihm selbst96, das er schlicht verdrängt. Er schafft sich, um diesen Verdrängungs96
Vgl. Chien, a.a.O., S. 197 u. 233.
- 21 -
vorgang verwirklichen zu können, eine Welt des Dualismus, welcher durch das
kollektive Bewusstsein in der Gesellschaft, in der er lebt, begünstigt wird und
dem er nicht widerstehen kann.97 In dieser Welt gibt es klar definierte Grenzen
zwischen Technik und Natur, Berechenbarkeit und Schicksal bzw. zwischen
Mann und Frau. Denn dadurch, dass er in seiner kategorisierten Weltanschauung keine Nuancierungen zulässt und er eindeutig die Pole Technik, Berechenbarkeit, Männlichkeit usw. vertritt, verhilft ihm das, sich problemloser mit seiner
Rolle als Mann zu identifizieren. Auf diese Weise macht er sich selbst zum Homo
faber:
„Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind.“ (Hf S. 24)
„Technik statt Mystik!“ (Hf S. 77)
„Ich halte es mit der Vernunft. Bin kein Baptist und kein Spiritist.“ (Hf S. 80)
„Was wir ablehnen: Natur als Götze! […] Wir leben technisch, der Mensch als Beherrscher der Natur, der Mensch als Ingenieur […]“
„Ich nannte sie eine Schwärmerin und Kunstfee. Dafür nannte sie mich Homo
Faber.“ (Hf S. 47)
Für ihn bedeutet aber die Konzentration auf diesen einseitig väterlich-männlich
orientierten Wertekanon ein in Mitleidenschaft gezogenes Gefühlsleben:
„Ich lebe, wie jeder wirkliche Mann, in meiner Arbeit. Im Gegenteil, ich will es
nicht anders und schätze mich glücklich, allein zu wohnen, meines Erachtens der
einzigmögliche Zustand für Männer, ich genieße es, allein zu erwachen, kein Wort
sprechen zu müssen. Wo ist die Frau, die das begreift? Schon die Frage, wie ich
geschlafen habe, verdrießt mich […]. […] Zärtlichkeiten am Morgen sind mir unerträglich […].“ (Hf S. 90 f.)
„[…] ich hasse diese Manie, einander am Ärmel zu greifen.“ (Hf S. 17)
Während seiner Dissertationszeit tritt Hanna in sein Leben, mit der er sich
u. a. deswegen identifiziert, weil sie in seinen Augen die weiblichen, mütterlichen
Züge repräsentiert, die er an sich verneint.98 Doch Walter sieht in ihr noch eine
andere Fassette seiner eigenen Persönlichkeit, was sie für ihn als Identifikationsobjekt noch interessanter macht: es handelt sich dabei um die männliche Seite
an Hanna, die durch ihre feministische, manchmal dominierende Art zum
Vorschein kommt. Denn Hanna „strebt nach absoluter Autonomie der subjektiven Individualität und sie ist sich ihrer weiblichen Selbstständigkeit bewusst.“99
Somit verkörpert sie mit ihrem Wesen und den beiden Seiten, zu denen sie
selbstbewusst steht, einen geflissentlich durchbrochenen Mann-Frau-Dualismus,
in dessen Streben danach sich Walter heimlich wiederfindet. Denn letztlich
möchte auch er im Unbewussten nicht mehr, als alle Grundtöne seiner Persönlichkeit ausleben.
97
98
99
Vgl. Ebd., S. 195.
Vgl. Ebd.
Ebd., S. 236.
- 22 -
Hier zunächst die Aspekte, an denen Walter das Weibliche an Hanna entdeckt, da sie z. T. sehr fürsorglich sein kann und Anzeichen einer mütterlichen
Leitfigur aufweist, wobei sie dann die Position der Überlegenen und Walter die
des Schutzbefohlenen einnimmt. Manchmal neigt sie aber auch dazu, ihn wie ein
Kind zu maßregeln bzw. zu bevormunden.
„Walter, du ißt ja gar nichts.“ (Hf S. 140)
„Es war das Institut, wo Hanna arbeitet, und ich mußte im Taxi warten […]; ich
versuchte Anschriften zu lesen und kam mir wie ein Analphabet vor, völlig verloren.“ (Hf S. 132)
„,Walter‘, fragt sie, ,hast du Hunger?‘
Hanna als Mutter –
Ich wußte nicht, was denken.“ (Hf S. 133)
„Das Bad füllte sich nur sehr langsam und dampfte, Hanna ließ kaltes Wasser
hinzu, als könnte ich es nicht selbst tun […].“ (Hf S. 134)
„Es begann mit einer Bemerkung meinerseits. ,Hanna‘, sagte ich, ,du tust wie eine
Henne!‘“ (Hf S. 137)
Nun einige Situationen, in denen Walter männliche Züge an Hanna zu erkennen
meint:
„Ich staunte über Hanna; ein Mann, ein Freund hätte nicht sachlicher fragen
können.“ (Hf S. 127)
„Ihre Wohnung: wie bei einem Gelehrten, ([…] später hat Hanna […] meinen damaligen Ausspruch von der Gelehrten-Wohnung zitiert als Beweis dafür, daß auch
ich die Wissenschaft für ein männliches Monopol halte, überhaupt den Geist), –
alle Wände voller Bücher […].“ (Hf S. 133)
„Dabei kann ich nicht einmal sagen, Hanna sei unfraulich. Es steht ihr, eine Arbeit zu haben.“ (Hf S. 143)
Hanna nimmt im Verlauf der Beziehung mit Walter, aufgrund dieser unbewussten Abläufe in seiner Psyche, eine immer wichtigere Stellung in seinem
Leben ein. Es kommt aber 1936 zur Trennung, die letztlich von ihr ausgesprochen wird. Zu diesem Zeitpunkt hat Hanna aber in Walters Unbewussten bereits
die Entsprechung einer Idealfigur oder Ikone angenommen, die die innere Loslösung von ihr unmöglich machen wird. Sie trennen sich … bis sie ihm eines Tages
als Sabeth wiederbegegnen wird.
3.2
Entwicklung eines Traumas
Was die Beziehung zu Hanna schwierig – ja durchaus kompliziert – macht, sind
zum einen Gründe, die in Walters Inneren zu suchen sind und zum andern
äußere Gegebenheiten, die sich schließlich reziprok bedingen. Im Mittelpunkt
dieses Beziehungsgefüges steht Walter mit seinem Hin- und Hergerissensein, ob
er Hanna heiraten solle oder nicht. Denn einerseits braucht er ihre Nähe, weil sie
– wenn auch für ihn unbewusst – etwas verkörpert, das ihm keine andere Frau
geben kann (vgl. Kap. 3.1), andererseits bedeutet eine eheliche Bindung, egal mit
- 23 -
wem, für ihn eine grobe Zäsur seiner Weltanschauung (vgl. Hf S. 90 f., bzw. als
Zit. auf S. 21 dieser Arbeit), die er eigentlich nicht in Kauf nehmen möchte.
Doch die Tatsache, dass Hanna Halbjüdin ist, bringt in diese ohnehin schon
verstrickte Misere eine neue Dimension. Denn Walter weiß, dass in einer Zeit, in
der gerade die Rassengesetze verkündet werden (vgl. Hf S. 46), die Verbindung
mit einer Halbjüdin eine potentielle Gefahr für sein eigenes Leben bedeuten
kann, oder zumindest hinderlich für seine Lebensplanung sein würde, die mittelund langfristig gesehen auf Karrierismus ausgelegt sein wird. Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine zusätzliche Ambivalenz Hanna gegenüber, die zu einem
ernsten Dilemma anwächst: Obwohl er die Option, die aus München stammende
Halbjüdin zu heiraten, selbst einbringt, um ihr somit die Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz zu sichern, kann er den ehrlichen Willen dazu nicht glaubhaft machen. Er meint es auch nicht ernst; das Stellen dieser Frage tritt lediglich
in Form von Symptombildung in Erscheinung, um seine Gewissensangst zu
lindern. Denn die realen Ängste ums eigene Leben und die Karriere dominieren
sein Inneres. In seinem Bericht wird er trotzdem, oder gerade deshalb, nicht
müde, hervorzuheben, dass ihm viel an der Heirat gelegen hätte, es aber Hanna
selbst gewesen sei, die den Rückzieher gemacht hätte. Damit projiziert er die
Verantwortung für den Verlauf der Ereignisse von sich auf Hanna:
„[…] eine Heirat kam damals nicht in Frage, wirtschaftlich betrachtet, abgesehen
von allem anderen. Hanna hat mir auch nie einen Vorwurf gemacht, daß es damals nicht zur Heirat kam. […] Im Grunde war es Hanna selbst, die damals nicht
heiraten wollte.“ (Hf S. 33)
Mit dem Vorwand der wirtschaftlichen Gründe, die gegen die Ehe gesprochen
hätten, rationalisiert er die wahren Motive, lässt diese aber durchklingen, indem
er von „abgesehen von allem anderen“ spricht, womit die Gefahren der politische
Situation gemeint sind. Und dadurch, dass er sagt, Hanna hätte ihm „keinen
Vorwurf gemacht“, gibt er unbewusst zu, dass die Schuld bei ihm zu suchen ist.
Selbst in seinen Erinnerungen an sie (Hf S. 45–48) taucht die Heiratsfrage
gleich im ersten Satz auf und zieht sich durch die Schilderungen wie ein roter
Faden. Diese Überbetonung hat für ihn die Funktion, sich die Gewissensangst
unbewusst zu machen und (sich) von seiner Schuld abzulenken. Nur eine Auswahl:
„[…] aber sonst verstanden wir uns sofort, ohne an Heirat zu denken. Auch Hanna
dachte nicht an Heiraten.“ (Hf S. 45)
„Ich war bereit, Hanna zu heiraten, ich fühlte mich verpflichtet gerade in Anbetracht der Zeit.“ (Hf S. 45 f.)
„[…] und eigentlich weiß ich wirklich nicht, warum es damals nicht zur Heirat
kam.“ (Hf S. 47)
- 24 -
Die Ehe mit Hanna ist also eine unangenehme Bürde, die er in Wirklichkeit nicht
auf sich nehmen möchte; und das Aussprechen des Heiratsangebotes ist nicht
mehr als eine Pflicht, die er nicht vor hat einzulösen, auch wenn er sich das
Gegenteil klarmachen möchte. Doch er ahnt, dass er sein vermeintliches Entgegenkommen später brauchen wird, um sich einzureden, er hätte alles Menschenmögliche getan, um sie vor dem Schlimmsten zu bewahren und um sich
selbst als mutigen Gutmenschen darstellen zu können.100
Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang auffällt, sind zwei sich
widersprechende Aussagen bezüglich seiner Haltung zur Verfolgung der Juden:
„[…] ganz abgesehen von meinen Eltern, die Hanna sehr sympathisch fanden,
aber um meine Karriere besorgt waren, wenn ich eine Halbjüdin heiraten würde,
eine Sorge, die mich ärgerte und geradezu wütend machte. Ich war bereit, Hanna
zu heiraten, ich fühlte mich verpflichtet gerade (A. d. A.) in Anbetracht der Zeit.“
(Hf S. 45 f.)
Etwas später heißt es:
„Ich war, im Gegensatz zu meinem Vater, kein Antisemit, glaube ich (A. d. A.) […].“
(Hf S. 47)
Hier scheint sich Walter in der Retrospektive rühmlicher darzustellen, als er
tatsächlich ist. Zwar möchte er seine vermeintlich entschiedene Haltung gegen
die Diskriminierung von Juden gerne demonstrieren, gesteht allerdings, dass er
sich nicht einmal sicher war, ob er kein Antisemit war. Außerdem behauptet er,
seine Eltern hätten Hanna sympathisch gefunden, wo er doch selbst zugibt, dass
der Vater Antisemit war. In Wirklichkeit hatte Walter keine eigene Position zu
diesem Thema. Jetzt bildet er sich ein, er hätte eine gehabt – denn immerhin war
er mit einer Halbjüdin liiert, die ein Kind von ihm erwartete und die er zu heiraten beabsichtigte. Doch sein fragwürdiges Verhalten wird verdrängt und für sein
Bewusstsein mithilfe der Symptombildung ins Gegenteil verkehrt.
Mit der Nachricht, dass Hanna ein Kind von Walter erwarte, verstärkt sich
seine Angst, an sie gebunden zu sein und ein Leben in Aussicht gestellt zu
bekommen, das vermutlich voller Einschränkungen und nicht berechenbarer
(vgl. Kap. 3.1) Gefahren ist.
„Ihre Behauptung, ich sei zu Tode erschrocken, bestreite ich noch heute 101 […].“
(Hf S. 47)
„Ich tanzte nicht vor Vaterfreude, das ist wahr, dazu war die politische Situation
zu ernst.“ (Hf S. 48)
Die Lage spitzt sich für Walter zu. Auf der einen Seite bangt er, mit Hanna und
dem Kind eine Familie gründen zu müssen, auf der anderen Seite bietet sich
100
101
Vgl. dazu Hf S. 46: „[…] es war die Zeit der sogenannten Greuelmärchen, und es kam für mich
nicht in Frage, Hanna im Stich zu lassen. Ich war kein Feigling (A. d. A.), ganz abgesehen davon, daß wir uns wirklich liebten.“
Vgl. Kap. 2.2.3 Abwehr und Abwehrmechanismen: Widerstand, auf S. 16 dieser Arbeit.
- 25 -
durch das Angebot der Stelle in Bagdad (vgl. Hf S. 47) eine Gelegenheit, sein
Leben gemäß seiner Vorstellungen zu gestalten. Ab diesem Moment, wo sich ihm
die beiden Optionen auftun (Bagdad: „die beruflichen Möglichkeiten eines Ingenieurs überhaupt“ (Hf S. 48); oder Heirat: Oberhaupt einer teilsjüdischen Familie
im Nationalsozialismus), die den Dualismus seiner Weltanschauung exemplarisch repräsentieren wie kaum etwas anderes, stellt sich die Frage für ihn gar
nicht mehr, wofür er sich entscheidet – die Antwort steht fest: Bagdad102. Alle
Bemerkungen, die doch auf eine gemeinsame Zukunft mit Hanna (und dem Kind)
schließen lassen könnten, sind wieder Symptombildung:
„Wenn du dein Kind haben willst, dann müssen wir natürlich heiraten.“ (Hf S. 48)
„Willst du heiraten, ja oder nein?“ (Hf S. 48)
Doch sie sind mehr als Symptombildung: Walter formuliert seine vermeintlichen
Absichten wie Drohungen, und Hanna versteht sie auch als solche:
„Später ihr Vorwurf, daß ich von Müssen gesprochen habe!“ (Hf S.48)
„Sie schüttelte den Kopf, und ich wußte nicht, woran ich bin.“ (Hf S. 48)
Walter sieht seiner Zukunft bereits entgegen, in der eine halbjüdische „Kunstfee“
(Hf S. 49) und ihr Kind keinen Platz haben. Er will Hanna jetzt regelrecht loswerden und spricht mit ihr in einer nüchtern-sachlich-emotionslosen Weise über das
Kind und die gemeinsame Zukunft, dass Hanna gar nicht bei ihm bleiben wollen
kann. Er glaubt aber, aufgrund der Symptombildung, sich großherzig verhalten
zu haben und Hanna sei diejenige gewesen, die Schluss gemacht hätte. In
Wirklichkeit hat er sie mit genau dieser Art von sich weggescheucht:
„Bist du sicher? Immerhin eine sachliche und vernünftige Frage.“ (Hf S. 47)
„Bist du bei einem Arzt gewesen? Ebenfalls eine sachliche und erlaubte Frage.“
(Hf S. 47)
„[…] im Augenblick fiel mir nicht viel dazu ein, das ist wahr; ich trank Kaffee und
rauchte. Ihre Enttäuschung!“ (Hf S. 48)
Dann Hannas betrübte Reaktionen aus Walters Sicht:
„Im Grunde war es Hanna, die damals nicht heiraten wollte […].“ (Hf S. 46)
„Sie selber war es, die nicht mehr davon sprechen wollte […].“ (Hf S. 48)
„Es war Hanna, die plötzlich Schluß machen wollte […].“ (Hf S. 48)
An zwei entscheidenden Reaktionen Walters erkennt Hanna, dass sie und das
Kind keinen Platz in seinem Leben haben: Dadurch, dass Walter, obwohl er
angeblich nicht an Abtreibung gedacht hat, sich unverzüglich bei Joachim über
die Abtreibung informiert und diese mehr oder weniger verabredet, und weil er
sich falsch bezüglich des gemeinsamen Kindes ausdrückt:
„Ich hatte gesagt: Dein Kind, statt zu sagen: Unser Kind.“ (Hf S. 48)
Später, im Jahr 1957, wenn sich Walter an diese Zeit rückblickend erinnert,
unterläuft ihm eine Fehlleistung, die man als Schuldbekenntnis auslegen könnte.
102
Vgl. Hf S. 47: „[…] meinerseits entschlossen, die Stelle in Bagdad anzutreten sobald als möglich.“
- 26 -
Unbewusst scheint er sehr wohl zu wissen, dass er die Trennung wollte, selbst
wenn Hanna sie ausgesprochen hat:
„[…] unser Kind damals, die ganze Geschichte, bevor ich (A. d. A) Hanna verlassen
habe […].“ (S. 118)
Es kommt zur Trennung, und dieser Schritt, und die gesamte gemeinsame
Zeit davor, haben schwerwiegende Konsequenzen für Walters Psyche. Das
Grundproblem ist das Dilemma, in dem er sich befindet, sobald er sich genötigt
sieht, Hanna heiraten zu müssen. Sie ist die Frau, die er liebt, seine Ikone, mit
der er sich identifiziert, die unersetzbar für ihn ist. Doch sie ist auch die Frau,
die ihm im Weg steht, ihn daran hindert, sich auf seiner Seite des selbst geschaffenen Dualismus zu verwirklichen und uneingeschränkt dem Karrierismus zu
frönen. Sie bedeutet eine unberechenbare Gefahr. – Sie ist Halbjüdin. Ein Kind
passt noch weniger in dieses Bild. Er muss sie und das Kind loswerden. Um dies
zu ermöglichen, lädt er eine enorm große Schuld auf sich, indem er Hanna auf
eine emotional grausame und beispiellose Art von sich wegstößt, dass sie ihn nur
noch „freiwillig“ verlassen kann. Er überlässt sie ihrem Schicksal, aber an so
etwas glaubt er ja nicht. Für Hanna ist es eine Flucht vor Walter, die Flucht vor
den Nazis steht ihr noch bevor. Dessen ist sich Walter vollkommen bewusst –
d.h. er verdrängt, was auf Hanna seinetwegen zukommt. Dass er tatsächlich
nicht weiß, ob sie die Nazi-Zeit überlebt hat, zeigt sich an den aufgeregten
Überlegungen nach der Begegnung mit Herbert Henke:
„Ich wagte nicht einmal zu fragen, ob Hanna noch am Leben sei.“ (Hf S. 29)
„Warum ich nicht fragte, ob Hanna noch lebt, weiß ich nicht – vielleicht aus
Angst, er würde mir sagen, Hanna sei nach Theresienstadt gekommen.“ (Hf S. 29)
„,Lebt sie eigentlich noch?‘“ (Hf S. 31)
„,Hat sie denn noch emigrieren können?‘“ (Hf S. 32)
Walter entwickelt aufgrund der Ereignisse – Hanna, die eine Gefahr darstellt;
seine unkritische Haltung zu den Nazis; sein egoistisches Verhalten Hanna
gegenüber; die Schuld, die auf ihm lastet – ein Trauma. Um die Verantwortung
für all das aus seinem Bewusstsein zu drängen, muss auch Hanna aus seinem
Bewusstsein gedrängt werden, Hanna, die Frau, die er liebt, die Frau, deren Tod
er aus reiner Egomanie in Kauf nimmt.
- 27 -
3.3
Strategien zur Kompensation des Traumas
Für Walter beginnt jetzt, wo Hanna aus seinem Bewusstsein verschwunden ist,
und damit aus seinem Leben gestrichen zu sein scheint, ein neuer Lebensabschnitt. Er verfällt seiner rationalen, berechenbaren, alles Sinnliche und Gefühlvolle verneinenden Technik-Welt, die er sich als Schutz vor sich selbst kreiert
hatte, völlig. Diese Vorstellung seines Lebens wird zur Maxime seines Lebens, der
er sich immer zwanghafter unterwirft. Doch die bedingungslose Flucht in diese
Welt ist eine Flucht vor seinem Vergehen, eine Flucht vor Hanna und allem, was
nach seinem Empfinden mit ihr in Verbindung steht, sodass er nicht mehr daran
erinnert wird. Mit dem Negieren aller Inhalte, die er Hannas Seite seiner dualisierten Welt zuschreibt, nämlich der mütterlich-weiblich-mystischen Seite,
negiert, leugnet und verdrängt er seine Schuld. – Die Welt des Homo faber dient
jetzt also dem Zweck, sein Trauma zu kompensieren. Dabei nehmen seine
Einstellungen, insbesondere die der „übertriebenen Einseitigkeit des männlich
denkenden Logozentrismus“103, immer abstrusere Formen an, und indem „er als
Mann die ganze Menschheit zu vertreten gedenkt, wird er Opfer eines GottKomplexes.“104 In seiner Megalomanie sieht er sich als ebenbürtig mit Gott, und
diesem sogar überlegen:
„Der liebe Gott! Er macht es mit Seuchen; wir haben ihm die Seuchen aus der
Hand genommen. Folge davon: wir müssen ihm auch die Fortpflanzung aus der
Hand nehmen. Kein Anlaß zu Gewissensbissen, im Gegenteil: Würde des Menschen, vernünftig zu handeln und selbst zu entscheiden. Wenn nicht, so ersetzen
wir die Seuchen durch Krieg. Schluss mit Romantik. Wer die Schwangerschaftsunterbrechung grundsätzlich ablehnt, ist romantisch und unverantwortlich.“
(Hf S. 106)
Er dokumentiert mit dieser radikalen Meinung aber auch, dass er Normen und
Werte einer auf Menschlichkeit und sozialer Fürsorge basierenden Gesellschaft
nicht akzeptieren kann; er setzt sie mit Romantik gleich. Die Berührung mit
solcherart Gemütsstimmungen möchte er aber unbedingt vermeiden, weil sie
durch assoziative Verknüpfungen mit den Erinnerungen an Hanna verbunden
sind.
Was die Qualität der Beziehungen mit den Frauen angeht, die nach Hanna in
sein Leben treten, so scheint keine an sie heranzureichen (vgl. Kap 3.1 u. Hf S.
146, bzw. als Zit. auf S. 18 dieser Arbeit). Er praktiziert mit seinen Affären, die
nie über das Körperlich-Geschlechtliche hinausgehen, den gelebten American
103
104
Chien, a.a.O., S. 194.
Ebd., S. 195.
- 28 -
Way of Life105 mit seinen jeder Zeit ersetzbaren Massenprodukten.106 – Die Frau
als notwendiges aber austauschbares Objekt zur Befriedigung der momentanen
geschlechtlichen Lust – und nicht mehr. In diesem Zusammenhang ist die Rolle
der Amerikanerin Ivy, die ein „emotionales Opfer“ von Walter ist, exemplarisch
für sein pathologisches Verhalten Frauen gegenüber. Er liebt Ivy nicht (vgl. Hf S.
30) und sie wird aus seinem männlichen Blickwinkel „so negativ gestaltet, daß
seine männliche Überheblichkeit, Sachlichkeit, Geistigkeit, Rationalität und
Unabhängigkeit durchaus hervorgehoben wird.“107 Und doch entdeckt er an ihr
auch verschiedene verderbliche mütterlich-weibliche Attribute108, vor denen er
sich fürchtet. Walters Beteuerung, dass Ivy eigentlich „ein herzensguter Kerl“ sein
kann, „wenn sie nicht geschlechtlich wurde“ (Hf S. 65), „expliziert zweifelsohne
mehr seine unheimliche Angst vor dem anderen Geschlecht anstatt vor der
Person Ivy.“109
3.4
Walters Begegnung mit Sabeth – Suchen und Finden eines Ideals
Nachdem Hanna infolge der traumatischen Ereignisse von 1936 über zwanzig
Jahre aus Walters Bewusstsein verschwunden war, beschäftigt sie ihn, seit er
durch Herbert Hencke von ihr erfahren hat, wieder sehr – und zwar auf allen
Bewusstseinsebenen.110 Auf der Schifffahrt nach Paris, wo Walter recht bald auf
Sabeth trifft, kreist Hanna pausenlos in seiner Gedankenwelt. Doch die innerliche Verbundenheit mit Hanna lässt den Schluss zu, dass Walter „nicht an Hanna
denkt, weil er Sabeth begegnet ist, sondern umgekehrt, daß er auf Sabeth aufmerksam wird, weil er so intensiv in seinem Innern von Hanna eingenommen
ist.“111 In Sabeth erkennt Walter, ihm völlig unbewusst bleibend, ein Idealbild,
das er sich vor vielen Jahren mit Hanna geschaffen hatte. Er vergleicht die beiden
nach den ersten Begegnungen mit Sabeth sogar schon intensiv miteinander,
kann sich aber nicht bewusst machen, was er in Sabeth sieht, und rationalisiert
sein Verhalten:
105
106
107
108
109
110
111
Symbolisch betrachtet stellen die USA für Walter die Heimat seiner Technikwelt dar, während
aber Griechenland, wo Hanna lebt, die Mystik beheimatet ist.
Vgl. Chien, a.a.O., S. 221.
Ebd., S. 221.
Ebd., S. 222.
Ebd.
Vgl. Hf S. 29: „Ich träumte von Hanna.“ Walter träumt gleich in der ersten Nacht, nachdem er
an sie erinnert wurde, von ihr.
Würker, Achim: Technik als Abwehr. Die unbewußten Lebensentwürfe in Max Frischs Homo
faber. Frankfurt a. M.: Nexus Verlag, 1991. S. 46.
- 29 -
„Ich sage mir, daß mich wahrscheinlich jedes junge Mädchen irgendwie an Hanna
erinnern würde. Ich dachte in diesen Tagen wieder öfter an Hanna. Was heißt
schon Ähnlichkeit? Hanna war schwarz, Sabeth blond beziehungsweise rötlich,
und ich fand es an den Haaren herbeigezogen, die beiden zu vergleichen. Ich tat
es aus lauter Müßiggang. Sabeth ist jung, wie Hanna damals jung gewesen ist,
und zudem redet sie das gleiche Hochdeutsch, aber schließlich (so sagte ich mir)
gibt es ganze Völkerstämme, die Hochdeutsch reden. […] ich rechnete mir aus, wie
alt Hanna jetzt wäre, ob sie schon weiße Haare hätte.“ (Hf S. 78 f.)
Unmittelbar danach offenbart Walter, wie sehr er sich ab dem Moment, wo er
sich mit Hanna in seinen Gedanken beschäftigt und zugleich auf die reale Sabeth
trifft, die Nähe Hannas herbeiwünscht und sich von ihrer Präsenz regelrecht
eingeholt, ja umgeben fühlt. – Die Anwesenheit Sabeths wird für Walter zur
Anwesenheit Hannas:
„Wäre Hanna auf Deck gewesen, kein Zweifel, ich hätte sie sofort erkannt. Ich
dachte: vielleicht ist sie auf Deck! […], ohne im Ernst zu glauben, daß Hanna
wirklich auf Deck ist. Zeitvertreib! Immerhin (ich gebe es zu) hatte ich Angst, es
könnte sein, und ich musterte sämtliche Damen, die keine jungen Mädchen mehr
sind, […] in aller Ruhe, ganz sachlich.“ (Hf S. 79)
Das Gefühl, jemanden zufällig auf dem Schiff zu treffen, den er kennt, hat Walter
sogar unmittelbar in dem Moment der allerersten Begegnung mit Sabeth, die
sogar eine sehr flüchtige Begegnung ist. Ein weiteres Zeichen dafür, wie intensiv
sein latentes Inneres auf Hanna konzentriert und auf der Suche nach ihr ist,
aber auch, dass die Suche bei Sabeth endet, weil Walter – unbewusst – in Sabeth
Hanna gefunden hat:
„Es war kurz nach der Ausfahrt, als ich das Mädchen mit dem blonden Roßschwanz zum ersten Mal erblickte […] vor mir: ein junges Mädchen in schwarzer
Cowboy-Hose, kaum kleiner als ich, […] ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur
ihren blonden oder rötlichen Roßschwanz […]. Natürlich blickte man sich um, ob
man jemand kennt; es hätte ja sein können.“ (Hf S. 69 f.)
Sabeth nimmt für Walter – weiterhin auf einer völlig latenten, seinem Bewussten
verborgenen Weise – ab dem ersten Moment ihrer Begegnung, wo HannaFantasie auf Sabeth-Wirklichkeit trifft, die Funktion eines Ersatzobjektes ein, was
heißt, dass Walters Psyche, um sein Gieren nach Hanna befriedigen zu können,
den Mechanismus der Verschiebung anwendet. Walter weist selbst durch seine
auffallende Wortwahl auf Sabeths Statthalterfunktion hin:
„Ich langweilte mich, daher die Spintisiererei um Hanna; […] und was ich von
Hanna wußte, war gerade genug für einen Steckbrief, der nichts nützt, wenn die
Person nicht hier ist. Ich sah sie nicht, wie gesagt, nicht einmal mit geschlossenen
Augen.
Zwanzig Jahre sind eine Zeit.
Stattdessen (A. d. A.) (ich machte die Augen auf […]) wieder dieses junge Ding, das
Fräulein Elisabeth Piper heißt.“ (Hf S. 79 f.)
Das Verschwimmen von Sabeth und Hanna in einer Person wird auch auf der
gemeinsamen Fahrt durch Frankreich, Italien, Griechenland deutlich. Denn wie
- 30 -
„früher Hanna versucht nun Sabeth Faber Kunstwerke nahezubringen, und
Faber weist dies ab“112. Damals mit Hanna:
„Manchmal hatten wir einen regelrechten Krach, wenn wir beispielsweise aus dem
Schauspielhaus kamen, wohin sie mich immer wieder nötigte […].“ (Hf S. 47)
Und auf der Reise mit Sabeth:
„Was mir Mühe machte, war lediglich ihr Kunstbedürfnis, ihre Manie, alles anzuschauen. […] In Florenz rebellierte ich […].“ (Hf S. 107)
„Ich kann mit Museen nichts anfangen.“ (Hf S. 108)
In einer späteren Szene (auf Cuba) wird deutlich, dass „sich der irritierende
Wechsel von Sabeth auf Hanna gar nicht ohne weiteres mitteilen läßt“113 und im
Gespräch mit Außenstehenden (in diesem Fall die Cubanerin Juana) zu Verwechslungen führt.
„Ich erzählte von meiner Tochter, die gestorben ist, von der Hochzeitsreise mit meiner
Tochter, von Korinth, von der Aspisviper, die über ihrer linken Brust gebissen hat,
und von ihrem Begräbnis, von meiner Zukunft.
,I’m going to marry her.‘
Sie versteht mich falsch:
,I think she’s dead.‘
Ich berichtige.
,Oh‘, lachte sie, ,your’re going to marry the mother of the girl, I see!‘
,As soon as possible.‘
,Fine!‘ sagt sie.
,My wife is living in Athens –‘“ (Hf S. 180)
3.4.1
Walters Reise mit Sabeth – die Reise zu seiner Selbsterkenntnis
Der Hintergrund von Walters Fixiertheit auf Hannas mütterlich-weibliche Wesensmerkmale, die sie für ihn repräsentiert, und die er in Sabeth wiederentdeckt,
ist sein latentes Verlangen, die Seiten seiner eigenen Persönlichkeit, die dem
entsprechen, zuzulassen (vgl. Kap. 3.1). Die Suche nach Hanna ist somit auch
eine Suche nach dem eigenen, wahren Ich, das Walter bisher durch die ausschließliche Hinwendung zum Technischen und die totale Verinnerlichung des
männlich-väterlichen Wertekanons verdrängt hat. Auf der gemeinsamen Reise
mit Sabeth werden ihm durch sie die Augen für ein völlig neues Leben, das er so
nie wahrgenommen hatte, geöffnet. – Er genießt:
„Unsere Reise durch Italien – ich kann nur sagen, daß ich glücklich gewesen bin
[…].“ (Hf S. 107)
Und wörtlich:
„Was ich genoß: Campari!“ (Hf S. 107)
112
113
Würker, a.a.O., S. 60.
Ebd.
- 31 -
Zwar wird deutlich, dass sich das neue Bewusstsein für die eigenen Gefühle, das
Leben und die Natur nicht mit einem Schlag vollzieht, die Wirkung, die die
gemeinsame Zeit mit Sabeth auf sein ganzes Wesen hat, ist trotzdem unverkennbar:
„Was mich am meisten freute, war ihre Freude. Ich staunte manchmal, wie wenig
sie brauchte, um zu singen, eigentlich überhaupt nichts; sie zog die Vorhänge
auseinander und stellte fest, daß es nicht regnete, und sang.“ (Hf S. 109 f.)
„Ein italienisches Paar, das durch den großen Kreuzgang ging, interessierte mich
mehr als alle Statuen, vor allem der Vater, der ihr schlafendes Kind auf den Armen trug […]. Vögel zwitscherten, sonst Grabesstille.“ (Hf S. 110)
„Das Mädchen gefiel mir, wenn wir in einem Ristorante saßen, jedesmal aufs
neue, ihre Freude am Salat, ihre kindliche Art, […] ihre festlich Begeisterung […],
ihr Übermut –“ (Hf S. 112)
„Es genügte mir, im Gras zu liegen, […] Hauptsache: ihr Kopf an meiner Schulter.“
(Hf S. 113)
„Wir hatten unsere Schuhe ausgezogen, unsere bloßen Füße auf der warmen Erde, ich genoß es, barfuß zu sein, und überhaupt.“ (Hf S. 116)
Während der Mondfinsternis (vgl. Hf S. 124 f.) und der gemeinsamen Zeit in
Akrokorinth (vgl. Hf S. 150 ff.) hat Walter die ersten richtigen Landschaftserlebnisse und Sabeth lehrt ihn das Schauen.
Doch durch Walters momentane Gesundheitssituation gewinnt der unbewusste Wunsch nach dem Erkennen des wahren Selbst und nach der HannaMutter-Symbolik, die sich in Sabeth wiederspiegelt, und nicht zuletzt das Verlangen, das pure Leben auszukosten, eine zusätzliche Bedeutung. Innerlich weiß
Walter nämlich, dass seine unerträglichen Magenschmerzen kein gutes Zeichen
sind und dass sein Tod nur noch eine Frage der Zeit ist. Doch Leben und Tod
gehören „zusammen zum Unbewußten, dessen Ganzheit durch die mütterlichweibliche Symbolik charakterisiert ist.“114 Und die Überwindung der Todesangst
kann ausschließlich durch die Zurückgewinnung der an die Mutter verhafteten
Libido erfolgen.115 Dieser Umstand macht Sabeth für Walters Psyche noch
unwiderstehlicher.116
114
115
116
Chien, a.a.O., S. 184. Theorie nach C.G. Jung
Ebd.
Walter verschiebt (vgl. Kap. 2.2.3, S. 16 dieser Arbeit) die Gefühle auf Sabeth, in der er Hanna
erkennt, aber auch Sabeth selbst weist Anzeichen mütterlicher Zuwendung auf: „Leider hatte
ich einmal meine Magenschmerzen erwähnt; nun meinte sie immer, ich hätte Magenbeschwerden, mütterlich besorgt, als wäre ich unmündig.“ (Hf S. 110)
- 32 -
3.4.2
Walter Faber – ein neuer Mensch?
Der Einfluss Sabeths auf Walter überdauert die Zeit ihres Lebens. Auf Cuba
kommt er zum „Entschluß, anders zu leben“ (vgl. Hf S. 175). In Akrokorinth hatte
sie ihn gelehrt zu schauen, und jetzt gibt es für ihn „[vier] Tage nichts als Schauen“ (Hf S. 172). Seine Gemütslage ist mit der des alten Technikers Faber nicht
mehr zu vergleichen:
„Ich hatte keinen besonderen Grund, glücklich zu sein, ich war es aber.“
(Hf S. 180)
Selbst das Singen, das für ihn zuvor noch unvorstellbar gewesen wäre, probiert
er jetzt:
„Ich schaukle und singe. Stundenlang. Ich singe! Ich kann ja nicht singen, aber
niemand hört mich […].“ (Hf S. 181)
Walter identifiziert sich mit Sabeth vollkommen und trägt ihre Einstellung zum
Leben in sich weiter. Er lässt nun seine eigenen weiblichen Seiten zu und verabschiedet sich in den letzten Wochen seines Lebens von Homo faber.
Diesen Wandel dokumentiert er schriftlich in seiner
„Verfügung für den Todesfall:
[…] Auf der Welt sein: im Licht sein. Irgendwo (wie der Alte neulich in Korinth)
Esel treiben, unser Beruf! – aber vor allem: standhalten dem Licht, der Freude
[…], standhalten der Zeit, beziehungsweise Ewigkeit im Augenblick. Ewig sein:
gewesen sein.“ (Hf S. 199)
3.4.3
Tod – Verantwortung – Schuld?
Die Schuldfrage im Bezug auf Sabeths Tod trifft Walter in mehrfachem Sinne:
zum einen ist er es, der den Vorschlag macht, die Nacht in Akrokorinth im Freien
zu verbringen (vgl. Hf S. 150), zum anderen stellt sich heraus, dass Sabeth nicht
durch den Schlangenbiss stirbt, sondern aufgrund einer Schädelfraktur, die sie
sich zuzieht, als sie, erschrocken vom Anblick des entblößten Walters, über die
Böschung stürzt (vgl. Hf S. 157 f. u. 160).
Doch der entscheidende Gesichtspunkt, der eine Erörterung der Schuldfrage
aus psychoanalytischer Sicht relevant macht, ist die Frage, ob Walter, aufgrund
von Verdrängungsvorgängen, nicht wahrhaben kann, dass Sabeth seine Tochter
ist, oder ob er es aus egoistischen Motiven nicht wahrhaben will; und damit
zusammenhängend: warum hat er die Möglichkeit der Vaterschaft nie vor Sabeth
zur Sprache gebracht? Das hätte mit Sicherheit Auswirkungen auf den Verlauf
der Ereignisse gehabt und es hätte nicht zum Unfall kommen müssen.
- 33 -
Zunächst soll die Zeit ins Auge gefasst werden, ab der Walter mit Sicherheit
weiß, dass Sabeth Hannas Tochter ist:
„Was mir dazu einfiel: eine Heirat kam wohl nicht in Frage. Dabei dachte ich nicht
einen Augenblick daran, daß Sabeth sogar mein eigenes Kind sein könnte. Es lag
im Bereich des Möglichen, theoretisch, aber ich dachte nicht daran. Genauer gesagt, ich glaubte es nicht (A. d. A.).“ (Hf S. 118)
Mit dieser widersprüchlichen Äußerung gesteht Walter, dass er die Möglichkeit
sehr wohl in Betracht zieht und sogar die Wahrscheinlichkeiten abwägt – sich
also bewusst damit auseinander setzt. Er lässt die Geschehnisse jener Zeit sogar
kurz Revue passieren:
„Natürlich dachte ich daran: unser Kind damals, die ganze Geschichte, bevor ich
Hanna verlassen habe, unser Beschluß, daß Hanna zu dem Arzt geht, zu Joachim
– Natürlich dachte ich daran, aber ich konnte es einfach nicht glauben, weil zu
unglaublich […].“ (Hf S. 118 f.)
Diese Äußerungen weisen auf eine bewusste, kognitive Beschäftigung mit der
Thematik hin. An Walters weiterem Vorgehen zeigt sich jedoch, dass er dazu
übergeht, Fakten zu seinen Gunsten zu verändern und seine Vaterschaft mit
vertraut rationalen Mitteln schrittweise unbewusst zu machen:
„Ich rechnete im stillen […] pausenlos, bis die Rechnung aufging, wie ich sie wollte: Sie konnte nur das Kind von Joachim sein! Wie ich’s rechnete, weiß ich nicht;
ich legte mir die Daten zurecht, bis die Rechnung wirklich stimmte. […] als Sabeth
eine Weile weggegangen war, genoß ich es, die Rechnung auch noch schriftlich zu
überprüfen. Sie stimmte; ich hatte ja die Daten […] so gewählt, daß die Rechnung
stimmte; fix blieb nur der Geburtstag von Sabeth, der Rest ging nach Adam Riese,
bis mir ein Stein vom Herzen viel.“ (Hf S. 121 f.)
Bemerkenswert ist, wie sich ein Ingenieur, der mit solch simplen Regeln der
Mathematik vertraut sein sollte, eine derartige Fehlleistung erlaubt. Er verdrängt
ab hier einen ganz entscheidenden Faktor, der verhindert, dass die Rechnung
aufgeht: er hat Hanna nicht vor zwanzig, sondern vor einundzwanzig Jahren
verlassen.117
Doch der springende Punkt ist hier allerdings nicht, dass Walter, ab dem
Moment, wo er weiß, wer Sabeths Mutter ist, anfängt zu verdrängen. Viel mehr
ist die Verdrängung, im Wissen über diese Tatsache, eine symptomatische
Fortsetzung einer viel stärkeren Verdrängung, und damit vollkommen unbewusst. Diese stärkere Verdrängung, die weit aus früher einsetzte, ist die Verdrängung der Verantwortung für den Verlauf der Ereignisse vor einundzwanzig
Jahren.
Dass Walter bei seinen Kalkulationen nicht auf die Wahrheit stoßen wird,
lässt sich schon an seinen Überlegungen erkennen, die er anstellt, noch bevor er
definitiv weiß, dass Sabeth Hannas Tochter ist:
117
Vgl. Hf S. 159: „Hanna hatte recht, irgendwas vergaß ich stets.“
- 34 -
„Ihre Ähnlichkeit mit Hanna ist mir immer seltener in den Sinn gekommen, je
vertrauter wir uns geworden sind, das Mädchen und ich. Seit Avignon überhaupt
nicht mehr! Ich wunderte mich höchstens, daß mir eine Ähnlichkeit mit Hanna je
in den Sinn gekommen ist. Ich musterte sie daraufhin. Von Ähnlichkeit keine
Spur!“ (Hf S. 115)
Aufgrund der Komplexität der Gesamtsituation ist meiner Meinung nach eine
eindeutige Antwort auf die Schuldfrage nicht möglich. Denn Verdrängung läuft,
wie jeder Abwehrmechanismus, unbewusst ab und kann der direkten Wahrnehmung nicht ohne weiteres zugänglich gemacht werden. Allerdings ist auch das
bewusste, egoistische Motiv Walters zu erkennen, unter keinen Umständen in
den Verlauf der Ereignisse einzugreifen, damit der die Zeit mit Sabeth möglichst
lange und intensiv auskosten kann.
- 35 -
4
Ist Sabeth Hanna? – Der Versuch einer sinnigen Antwort
auf eine sinnwidrige Frage
Nein. Sabeth ist nicht Hanna, müsste die kategorische Antwort innerhalb einer
nüchtern-objektiven Betrachtung der Sachlage lauten. Bei Sabeth und Hanna
handelt es sich um zwei unterschiedliche Persönlichkeiten mit zwei verschiedenen Biographien. Die Tatsache, dass sie denselben Liebhaber haben, raubt ihnen
nicht ihre Individualität. – Wie gesagt, innerhalb einer nüchtern-objektiven
Betrachtung der Sachlage.
Die Darstellung der psychoanalytischen Theorie hat aber gezeigt, dass das
bewusst Erkennbare, zu dem auch die nüchtern-objektive Betrachtung einer
Sachlage gehört, nur einen winzigen Teil aller Bewusstseinsvorgänge ausmacht,
und somit lediglich ein kleiner Ausschnitt aus der Wirklichkeit ist. In den kaum
bewusstseinsfähigen Regionen unserer Psyche, von denen wir dominiert und
dirigiert werden, herrschen keine Regeln der Nüchternheit und Objektivität. Es
ist die Tiefenwelt der Psyche – und sie ist ein Ort des Emotionalen und Subjektiven. Die nüchterne Betrachtung einer Sachlage, etwa die Feststellung, dass
Sabeth und Hanna zwei verschieden Personen sind, kann in ihr eine völlig neue
Bedeutung erfahren. Denn hier zählen nicht die von außen vorgegebenen,
rationalen Festlegungen einer Gegebenheit, sondern welche Entsprechung sie im
Subjektiven einnehmen. Wenn also die Bedeutung von Sabeth in Walters Unbewussten die Entsprechung Hannas annimmt, muss die Frage, ob Sabeth Hanna
sei, mit ja beantwortet werden. Es ist aber eine emotional-subjektive Antwort aus
der Sichtweise eines einzigen Individuums, die jeglicher nüchtern-objektiver
Betrachtung der Sachlage entbehrt.
- 36 -
Quellenverzeichnis
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Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band III. Psychologie des Unbewußten. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 19947
Freud, Sigmund: Abriss der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 200410
Frisch, Max: Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch
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Fröhlich, Werner: Wörterbuch Psychologie. München: Deutscher Taschenbuch
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Hage, Volker: Max Frisch. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag,
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Köhler, Thomas: Anti-Freud-Literatur von ihren Anfängen bis heute. Stuttgart:
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Laplanche, J. u. a.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuchverlag, 199915
Mertens, Wolfgang: Kompendium psychoanalytischer Grundbegriffe. München:
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Würker, Achim: Technik als Abwehr. Die unbewußten Lebensentwürfe in Max
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Zeitung:
Wingert, Lutz: Was macht die These der Deterministen so attraktiv? In: Ärzte
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Tonträger:
Arnold, Heinz L.: Max Frisch. Leben und Werk. Doppel-CD. Heiner Boehncke
(Hg.). Ferdinand Ludwig (Regie). Hessischer Rundfunk (Produktion). München: Der Hörverlag, 2001
- 37 -
Literaturverzeichnis
Buchtitel:
Balle, Martin: Sich selbst schreiben – Literatur als Psychoanalyse. München:
Iudicium-Verlag, 1994
Chien, Chieh: Das Frauenbild in den Romanen ,Stiller‘ und ,Homo faber‘ von Max
Frisch im Lichte der analytischen Psychologie C. G. Jungs. Frankfurt a. M. u.
a.: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 1997
Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band I. Vorlesungen zur Einführung in die
Psychoanalyse. Und Neue Folge. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 199412
Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band II. Die Traumdeutung. Mitscherlich (Hg.)
u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 199610
Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band III. Psychologie des Unbewußten. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 19947
Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band IV. Psychologische Schriften. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 19897
Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band V. Sexualleben. Mitscherlich (Hg.) u. a.
Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 19947
Freud, Sigmund: Abriss der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 200410
Frisch, Max: Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch
Verlag, 1999
Fröhlich, Werner: Wörterbuch Psychologie. München: Deutscher Taschenbuch
Verlag, 200224
Knapp, M. u. a.: Max Frisch: Homo faber. Grundlagen und Gedanken zu Verständnis erzählender Literatur. Frankfurt a. M.: Verlag Moritz Diesterweg,
19955
Hage, Volker: Max Frisch. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag,
19931
Köhler, Thomas: Anti-Freud-Literatur von ihren Anfängen bis heute. Stuttgart:
Kohlhammer Verlag, 1996
Laplanche, J. u. a.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuchverlag, 199915
Meurer, Reinhard: Max Frisch. Homo faber. München: Oldenburg Verlag, 19973
Mertens, Wolfgang: Kompendium psychoanalytischer Grundbegriffe. München:
Quintessenz Verlag, 1992
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Ramer, Ulrich: Rollen-Spiele. Literaturwissenschaftliches Lesebuch. Frankfurt a.
M.: Fischer Verlag, 1993
Wilpert, Gero v.: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag,
19897
Würker, Achim: Technik als Abwehr. Die unbewußten Lebensentwürfe in Max
Frischs Homo faber. Frankfurt a. M.: Nexus Verlag, 1991
Zeitung:
Wingert, Lutz: Was macht die These der Deterministen so attraktiv? In: Ärzte
Zeitung. Nr. 178 / 06.10.2005
Tonträger:
Arnold, Heinz L.: Max Frisch. Leben und Werk. Doppel-CD. Heiner Boehncke
(Hg.). Ferdinand Ludwig (Regie). Hessischer Rundfunk (Produktion). München: Der Hörverlag, 2001
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Erklärung
Ich erkläre, dass ich die Seminararbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die
im Literaturverzeichnis angeführten Quellen und Hilfsmittel benützt habe.
Mit der Veröffentlichung meiner Seminararbeit im Internet bin ich einverstanden.
München, 09. Januar 2006
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