Städtische Fachoberschule für Sozialwesen und Gestaltung Seminararbeit im Fach Deutsch 2005/06 Thema der Arbeit: Ist Sabeth Hanna? Psychoanalytische Deutungsmuster am Beispiel von Max Frischs Roman Homo faber. Ein Bericht Eingereicht bei Herrn Wolfgang Hesch Vorgelegt von Martin Scheiber Klasse S 13 München, Januar 2006 -2- Inhaltsverzeichnis Seite 1 Einleitung 3 1.1 Leben und Werk des Max Frisch im Zeichen der Psychoanalyse 4 1.2 „Homo faber. Ein Bericht“ – Abriss der Handlung 8 2 Hinführung zur psychoanalytischen Theorie nach Sigmund Freud 9 2.1 Grundannahmen der Psychoanalyse 9 2.1.1 Das Bewusste – das Vorbewusste – das Unbewusste 9 2.1.2 Der psychische Determinismus 10 2.2 Der psychische Apparat 11 2.2.1 Die Dynamik der Persönlichkeit 13 2.2.2 Angst und ihre Formen 14 2.2.3 Abwehr und Abwehrmechanismen 15 2.3 Das Trauma 17 2.4 Kritische Würdigung der Freud’schen Psychoanalyse vom Standpunkt der wissenschaftstheoretischen Dimension 3 18 Die Persönlichkeit Walter Fabers als Gegenstand einer psychoanalytischen Untersuchung 20 3.1 Die Bedeutung von Walters Beziehung zu Hanna 20 3.2 Entwicklung eines Traumas 22 3.3 Strategien zur Kompensation des Traumas 27 3.4 Walters Begegnung mit Sabeth – Suchen und Finden eines Ideals 28 3.4.1 Walters Reise mit Sabeth – die Reise zu seiner Selbsterkenntnis 30 3.4.2 Walter Faber – ein neuer Mensch? 32 3.4.3 Tod – Verantwortung – Schuld 32 4 Ist Sabeth Hanna? – Der Versuch einer sinnigen Antwort auf eine sinnwidrige Frage 35 Quellenverzeichnis 36 Literaturverzeichnis 37 -3- 1 Einleitung Die Frage, die der Titel dieser Arbeit enthält, ob Sabeth Hanna sei, birgt bereits bei oberflächlicher Betrachtung eine gewisse Herausforderung an die Phantasie des Lesers – ist es doch offensichtlich, dass die beiden Figuren des Frisch’schen Romans vom formal-sachlichen Standpunkt aus betrachtet zwei verschiedene Personen sind. Zwangsläufige Gemeinsamkeiten des Äußerlichen und der Wesenszüge ergeben sich augenscheinlich allenfalls aus der Tatsache heraus, dass Sabeth Hannas Tochter ist. Das Werk von Max Frisch „Homo faber. Ein Bericht“ gestattet jedoch durch seine inhaltliche und formal-ästhetische Gestaltung eine tiefenhermeneutische Annäherung an die latenten Bewusstseinsvorgänge des Romanhelden Walter Faber, die diese Frage im Resultat nicht länger absurd erscheinen lässt. Die psychoanalytischen Theorien stellen hierbei ein adäquates und unerlässliches Instrument für das methodische Vorgehen dar, da erst ihre Einbeziehung in die Personencharakteristik die Interpretation des Werkes auf dieser Ebene ermöglicht. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich also im Wesentlichen darauf, die Persönlichkeit Walter Fabers zum Gegenstand einer tiefenpsychologischen Analyse zu machen, um auf diese Weise Aufschluss über die Beschaffenheit seines Innenlebens zu liefern. Dabei sollen die seelischen Prozesse zur Verarbeitung emotionaler Eindrücke untersucht werden, was wiederum eine zwingende Voraussetzung dafür ist, die unbewussten Motive und Impulse seines Handels zu verstehen, und nicht zuletzt um somit eine Antwort auf die Sabeth-Hanna-Frage zu ermöglichen. Die Grundlage für diese Untersuchung stellen dabei die von Walter Faber selbst angefertigten progressiv introspektiven Schilderungen dar. Denn dadurch, dass ebendieser Bericht zum Teil weit in die Vergangenheit zurückreicht und zeigt, dass vor allem die Erste Station des Protagonisten „von einer narzißtischen, geschichtslosen und nicht-dialektischen Lebensweise“1 gekennzeichnet ist, lässt sich Faber „mit dem Begriffsinstrumentarium, das die Psychoanalyse zur Verfügung stellt, analysieren.“2 Hinweis zu den angeführten Textstellen: Bei allen wörtlichen Zitaten wurde die Orthographie des Quelltextes beibehalten. Die Auszüge aus dem Roman werden nach folgender Ausgabe zitiert und jeweils mit einer Seitenzahl in Klammern und der Abkürzung Hf (für Homo faber) versehen: Frisch, Max: Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1999. 1 2 Balle, Martin: Sich selbst schreiben – Literatur als Psychoanalyse. München: Iudicium-Verlag, 1994. S. 22. Ebd. -4- Entgegen des allgemeinen Bestrebens in den Kreisen der Psychoanalytiker – insbesondere der therapeutisch praktizierenden –, sich von den Gedankenmodellen Sigmund Freuds immer weiter zu distanzieren, sollen in der vorliegenden Arbeit ebendiese als theoretische Grundlage zur Analyse herangezogen werden.3 Bevor ich die für die Zwecke dieser Abhandlung relevanten Aspekte der Freud’schen Psychoanalyse im Einzelnen vorstelle und sie an der Figur Walter Faber anwende, möchte ich mich zunächst der Person und dem Werk von Max Frisch unter dem Gesichtspunkt der Psychoanalyse widmen, um im Anschluss daran in die Handlung des Romans „Homo faber. Ein Bericht“ einzuführen. 1.1 Leben und Werk des Max Frisch im Zeichen der Psychoanalyse Im Vorfeld der eigentlichen Ausführungen dieses Kapitelabschnitts sei zunächst darauf hingewiesen, dass hier lediglich auf das literarische, nicht aber auf das architektonische Werk Max Frischs eingegangen werden kann.4 Als der neunzehnjährige Max Frisch im Wintersemester 1930 sein Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Zürich antritt, hat er zu diesem Zeitpunkt bereits drei oder vier Bühnenstücke geschrieben.5 Der Einstieg in die Literatur erfolgte also nicht über die Lyrik oder den Roman, sondern über das Theater.6 Obwohl oder vielleicht gerade weil der junge Frisch zu diesem Zeitpunkt schon weiß, dass er Schriftsteller werden will, erlebt er seine Fächerwahl und die gesamte Universität als Enttäuschung. Selbstironisch berichtet er in einem späteren Interview über diese Zeit und lässt dabei 3 4 5 6 Siehe dazu die Ausführungen in Kap. 2.4 Kritische Würdigung der Freud’schen Psychoanalyse vom Standpunkt der wissenschaftstheoretischen Dimension auf S. 18 dieser Arbeit. Frisch studiert von 1936–1940 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich Architektur und erhält im Anschluss daran eine Anstellung in einem Architekturbüro. Dem Entschluss, einem seriösen, bürgerlichen Leben nachgehen zu wollen und dies durch das bodenständige Studium der Architektur kenntlich zu machen, geht ein Zerwürfnis im Jahr des Antritts ebendiesem Studiums mit sich selbst voraus, in dem er beschließt, seiner Identität als Schriftsteller ein Ende zu setzen und alle seine noch vorhandenen Arbeiten zu verbrennen. 1942 gewinnt er einen Architekturwettbewerb der Stadt Zürich für den Bau des Freibades Letzigraben (heute Max-Frisch-Bad) und eröffnet sein eigenes Architekturbüro. 1955 schließt er das Architekturbüro wieder und arbeitet von nun an als freier Schriftsteller. Zu diesem Zeitpunkt hat er aber bereits mit seinem „Vertrag mit sich selbst“, nicht mehr zu schreiben, längst gebrochen und zahlreiche Dramen und Prosawerke veröffentlicht (u. a. Graf Öderland und Stiller). Vgl. Arnold, Heinz L.: Max Frisch. Leben und Werk. Doppel-CD. Heiner Boehncke (Hg.). Ferdinand Ludwig (Regie). Hessischer Rundfunk (Produktion). München: Der Hörverlag, 2001. CD 1/Titel 3/Spielzeit 01:13 Min. Die genaue Anzahl der Bühnenstücke, die Frisch bis zu seiner Maturität verfasste, ist nicht mehr bekannt – sie war selbst ihm nicht bekannt. Keines dieser Stücke existiert mehr. Vgl. ebd., CD 1/Titel 3/Spielzeit 01:22 Min. -5- auch sein schon damals bestehendes Interesse für die Psyche des Menschen durchklingen: „Ja, das war mein Hauptinteresse, das Theater. Also machte ich diesen dummen Weg […] über die Germanistische Fakultät. Ich hab’ dann bald gesehen, dass ich dort nichts lerne […] und bin eigentlich ziemlich herumgeirrt in dieser Hochschule, hab’ auch schon Fächer vermieden, die für mich als künftigen Schriftsteller nicht nützlich sein würden und andere besucht. – Ich hab’ Forensische Psychologie belegt, statt Linguistik […].“7 Jeder Versuch, sich für das Studium zu begeistern, scheitert, und obwohl „ihm ein Professor ein Stipendium [verschafft] (800 Franken im Jahr), [bricht] er das Studium“8 1933 kurz nach dem Tod des Vaters „aus Geldmangel und Abenteuerlust (Hervorhebung im zit. Text) vorerst ab.“9 Alles, was er möchte, ist schreiben. Schon während des Studiums wurden regelmäßig Artikel von ihm in Zeitungen veröffentlicht, und jetzt, da er demonstrieren möchte, „dass er auf eigenen Füßen stehen kann“10 und sich als freier Journalist versucht, fällt er besonders dadurch auf, dass er sein Talent zur kunstvollen „Selbsteinschätzung nicht für sich [behält], sondern als Feuilleton in die Zeitung [bringt].“11 In diesen journalistischen Frühwerken wird bereits eine Eigenheit von Max Frisch sichtbar, die kennzeichnend für sein gesamtes späteres Werk sein wird. Er kaschiert nämlich „die eigenen Befindlichkeiten in seinen Artikeln nicht, sondern stellt darin Skrupelhaftigkeit und existentielle Unsicherheit mit geradezu psychoanalytischer Lust aus“12 und nutzt dabei jedes Mal „die Gelegenheit, sich zu offenbaren.“13 Sein Leben, der Stoff, aus dem diese Artikel entstehen, wird später der Stoff werden, aus dem seine Romane entstehen. Literatur ist also für Frisch eine Möglichkeit, sich die eigenen psychischen Konflikte von der Seele zu schreiben und infolgedessen avanciert sie zu einer Form der Lebensbewältigungsarbeit für ihn.14 Dies geschieht, „indem er […] immer neue Antworten auf die Frage ‚Was bin ich?‘ “15 zu finden versucht, was aber auch dazu führt, dass seine Leser diese Bewältigung auf sich selbst beziehen „und seinen Romanen einen gleichsam therapeutischen Aspekt“16 abgewinnen. Doch noch steht er ganz am Anfang seiner Schriftstellerkarriere und möchte diese 1936 ohnehin am liebsten beendet wissen (siehe Anm. 4). 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 Ebd., CD 1/Titel 3/Spielzeit 02:49 Min. Hage, Volker: Max Frisch. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 19931. S. 20. Ebd. Ebd., S. 20 f. Ebd., S. 21. Arnold, a.a.O., CD 1/Titel 8/Spielzeit 02:19 Min. Hage, a.a.O., S. 22. Vgl. Arnold, a.a.O., CD 2/Titel 4/Spielzeit 00:21 Min. Ebd. „Was bin ich?“ ist auch der Titel einer der allerersten Artikel von Max Frisch. Für eine Zeitung sollte er 15 Zeilen über ein Schaufenster am Züricher Bahnhofsplatz schreiben. Ebd. -6- In der Zeit des Architekturstudiums vollzieht sich allerdings eine weitere Hinwendung zur universitären Psychologie. Im Wintersemester 1938/39 nimmt Frisch an der Vorlesung Carl Gustav Jungs „Einführung in die Psychologie des Unbewussten“ teil.17 Der Einfluss Jungs auf den Studenten, der mittlerweile nicht mehr so recht weiß, ob er nun Architekt oder Schriftsteller sein will, muss recht groß gewesen sein, denn in Frischs Werk „fällt auf, dass der Tiefenpsychologe dort namentlich viermal erwähnt ist […].“18 Auch später noch befasst er sich mit einem Sammelband des Analytikers „Auswahl aus den Schriften von C. G. Jung“, der in „Montauk“ Erwähnung findet.19 Die Frage aber, die sein Leben wie keine zweite bestimmt, nämlich die nach der eigenen Identität, lässt Frisch auch in der Zeit des Architekturstudiums und in den Jahren seiner Tätigkeit als Architekt keine Ruhe. Die Versuche, sich selbst zu finden und die Verzweiflung darüber, dass er sich von dieser immer gleichen Frage, und zwar der ihm wohl vertrauten „Was-bin-ich-Frage“, allezeit eingeholt sieht, schlagen sich ab dieser Phase seines Lebens noch deutlicher in seiner Literatur nieder. Und das, obwohl er eigentlich nicht mehr schreiben wollte. Doch Max Frisch komme, wie er selbst sagt, von der Eigenerfahrung her, und ein „Notwehrschriftsteller“ sei er obendrein auch noch.20 So finden sich in den Figuren seiner Romane immer wieder Merkmale seiner eigenen Persönlichkeit, und es scheint, als verschaffe er sich – ähnlich wie Stiller als Mr. White – mit Hilfe seiner Romanhelden laufend neue Identitäten, um so sein Gefühl der Identitätslosigkeit auf künstlerische Weise zu kompensieren. Diese Selbstprojektion in seine Romanhelden wiederholt sich in jedem Werk aufs Neue, wie etwa als Walter Faber in „Homo faber“, „der […] sich unkritisch den vorgegebenen Mechanismen eines geregelten Lebens anvertraut und erfahren muss, dass die Zufälle, die die menschliche Existenz eigentlich ausmachen, diese Lebenspläne immerfort zerstören.“21 Noch deutlicher werden die Parallelen zur eigenen Biographie bei Gantenbein in „Mein Name sei Gantenbein“, „der bezeichnenderweise mal die Rolle des Schriftstellers […] und mal die Rolle des Architekten […] spielt und die Flucht aus der Lebenswirklichkeit selbst probiert.“22 17 18 19 20 21 22 Vgl. Chien, Chieh: Das Frauenbild in den Romanen ,Stiller‘ und ,Homo faber‘ von Max Frisch im Lichte der analytischen Psychologie C. G. Jungs. Frankfurt a. M. u. a.: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 1997. S. 15. Ebd., S. 20. Erwähnungen C. G. Jungs: in einem Brief vom 06.10.1946; zweimal im Roman Stiller; in der autobiographischen Erzählung Montauk. Vgl. Ebd., S. 15. Arnold, a.a.O., CD 2/Titel 4/Spielzeit 04:20 Min. Ebd., CD 2/Titel 5/Spielzeit 00:00 Min. Ebd. -7- Literat und Leser identifizieren sich also gleichermaßen mit den Bildern aus dem Roman, und hieraus erschließt sich auch der Sinn der Frisch’schen Literatur, nämlich „verschiedene menschliche Phänomene zu betrachten und in Worte zu fassen, um damit eine wichtige tiefenpsychologische Orientierung zu gewinnen […]“23. Nicht zufällig gehört Max Frisch zu denjenigen Autoren, „die in ihrem Schreiben die Verwandtschaft von Psychoanalyse und Literatur selbst thematisieren“24. Zu beachten ist hierbei die Handlung einer jeden Geschichte, und trotzdem geht es beiden, der Psychoanalyse und der Literatur von Max Frisch, „[…] nicht zuerst um einen Inhalt, etwa eine Geschichte, die mitgeteilt würde, vielmehr ist die Art der Mitteilung […] die sinngebende Bedingung des Kommunikationsprozesses, der bei Frisch zwischen Buch und Leser, in der Psychoanalyse zwischen Analysand und Analytiker abläuft.“25 Dadurch, dass nun Frisch selbst zum Inhalt seiner Romane geworden ist, ist er sich auch selbst Analytiker geworden. Ob dieser Umstand aber der Beantwortung seiner Uridentitätsfrage, „Was bin ich?“, zuträglich war, ist anzuzweifeln. Denn „sowohl [seine Romane] als auch die Psychoanalyse gewinnen ihre Relevanz […] nicht in der Verfügung vorgefundener Strukturen, sondern im Prozeß der Strukturierung selbst.“26 Dass aber dieser Prozess für Frisch nie erfolgreich abgeschlossen war, zeigt sich daran, dass er seine Frage bis zum Schluss gestellt hat. Wie hätte er diesen Prozess auch abschließen sollen? War doch einerseits der Abstand zu seinen eigenen Persönlichkeitsanteilen in den Romanfiguren viel zu gering, gleichzeitig waren aber ebendiese Figuren viel zu weit weg für ihn, weil es sich ja doch nur um konstruierte Gestalten aus seiner Phantasiewelt handelte. Max Frisch stirbt am 4. April 1991 in Zürich. Die Frage, wer er wirklich war, konnte er für sich nie ganz beantworten. Doch wenn Beatrice von Matt in einem Epitaph auf ihn hervorhebt, er hätte „für uns alle – für uns tagträumende Verdränger – Erkenntnisarbeit, Wahrheitsarbeit geleistet“27, drückt das am treffendsten aus, was er bei seiner großen Leserschaft bewirkt hat und dass das häufige Stellen der besagten Frage in seinem Werk nicht gänzlich verfehlt war. 23 24 25 26 27 Chien, a.a.O., S. 18. Balle, a.a.O., S. 9. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Arnold, CD 2/Titel 15/Spielzeit 02:40 Min. Aus einem Epitaph auf Max Frisch von Beatrice von Matt. -8- 1.2 „Homo faber. Ein Bericht“ – Abriss der Handlung Der Ingenieur Walter Faber arbeitet in den Jahren 1933–1935 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich als Assistent. In dieser Zeit lernt er die Kunststudentin Hanna Landsberg kennen, die seine Geliebte wird. Als Walter das Angebot für eine Stelle in Bagdad erhält, eröffnet ihm Hanna, dass sie ein Kind von ihm erwarte. Die beiden beschließen zu heiraten, doch Hanna zieht ihre Zusage zurück, obwohl sie als Halbjüdin Verfolgung befürchten muss. In einer Aussprache vereinbaren beide die Abtreibung, die Joachim Hencke, ein Freud Walters, vornehmen soll. Walter trennt sich von Hanna im Glauben, sie werde sich an die Abmachung halten. Doch diese heiratet Joachim und bekommt das gemeinsame Kind Elisabeth – beides ohne Walters Wissen. Die Ehe scheitert, ebenso wie eine zweite, und Hanna geht 1953 allein mit Elisabeth nach Athen. 1957 lernt Walter auf einem hindernisreichen Flug nach Caracas Herbert Hencke, den Bruder Joachims, kennen. Er erfährt von Hannas Ehe mit Joachim und dass sie eine Tochter hätten. Walter beschließt, Herbert auf der Suche nach seinem Bruder zu begleiten. Diesen finden sie in Guatemala auf seiner Plantage erhängt vor. Walter fliegt zu seinem Wohnort New York zurück, wo er auf Ivy, seine anhängliche Geliebte trifft. Um sich schneller von ihr loszumachen, wählt er den Schiff- statt den Flugweg, um zu einer Konferenz in Paris zu gelangen. Auf der Fähre lernt er die 20-jährige Elisabeth kennen. Er entdeckt zwischen dem jungen Mädchen, das er Sabeth nennt, und Hanna Gemeinsamkeiten, realisiert jedoch nicht, dass es sich um seine Tochter handelt. Gemeinsam reisen sie von Frankreich nach Griechenland und es entwickelt sich eine Liebesbeziehung. In dieser Zeit erfährt Walter, dass Sabeth die Tochter Hannas ist, redet sich aber ein, er könne nicht der Vater sein. An einem griechischen Strand wird Sabeth von einer giftigen Schlange gebissen und kommt in ein Athener Krankenhaus, wo Walter auf Hanna trifft. Jetzt wird ihm klar, dass er eine inzestuöse Beziehung mit seiner Tochter hatte. Sabeth stirbt nach zwei Tagen. Walter fliegt zurück nach New York und tritt anschließend eine Reise mit mehreren Aufenthalten in verschiedenen Ländern an. In Caracas fasst er die Erste Station seines Berichtes ab und in Cuba nimmt er das Leben das erste Mal in seiner eigentlichen Form wahr, weil er es im Bewusstsein, nicht mehr lange zu leben, genießt. Seine Reise endet in Athen, wo er im Krankenhaus wegen Magenkrebs operiert werden muss. Hier schreibt er die Zweite Station nieder, aus der seine Gewissheit über den bevorstehenden Tod ersichtlich wird und die kurz vor der Operation mit den Worten „08.05 Uhr Sie kommen“ endet. -9- 2 Hinführung zur psychoanalytischen Theorie nach Sigmund Freud 2.1 Grundannahmen der Psychoanalyse 2.1.1 Das Bewusste – das Vorbewusste – das Unbewusste Freud unterscheidet in seiner Psychoanalyse drei Bewusstseinsbegriffe, die die seelischen Vorgänge im Menschen auf drei Ebenen beschreiben. Er unterstellt dabei, dass die meisten dieser Vorgänge „an und für sich unbewußt sind und die bewußten bloß einzelne Akte und Anteile des ganzen Seelenlebens.“28 Diese „Unterscheidung des Psychischen in Bewußtes (A. d. A.) und Unbewußtes (A. d. A.) ist die Grundvoraussetzung der Psychoanalyse und gibt ihr allein die Möglichkeit, die […] pathologischen Vorgänge im Seelenleben zu verstehen […].“ 29 Dabei betrachtet Freud das Bewusstsein bzw. das Bewusste als eine Ebene, auf der ein psychisches Element (z.B. eine Vorstellung) gegenwärtig und damit wahrnehmbar ist.30 Es handelt sich also bei den bewussten Anteilen der Wahrnehmung allein um diejenigen psychischen Vorgänge, zu denen das Individuum unmittelbar und umfassend Zugang hat. Wenn aber diese seelischen Prozesse nur einen – und zwar den kleinsten – Anteil der Psyche eines Menschen ausmachen, muss die Psychoanalyse die Auffassung vertreten, „daß es unbewußtes Denken und ungewußtes Wollen gibt.“31 Mit dieser These distanziert sie sich von der zu dieser Zeit in den Geisteswissenschaften vorherrschenden Doktrin, dass das Seelische das Bewusste sei.32 Es zeigt sich aber, dass sich viele psychische Prozesse bei der Verarbeitung von Erfahrungen der Bewusstseinsfähigkeit entziehen und trotzdem von dieser Ebene aus – dem Unbewussten – einen großen Einfluss auf das Erleben und Verhalten des Individuums ausüben. Hierin sieht Freud auch die Notwendigkeit, von einem Unbewussten ausgehen zu müssen. Den Beweis für die Präsenz eines solchen unbewussten Systems hält er durch die Experimente mit der posthypnotischen 28 29 30 31 32 Der Umfang dieser Arbeit gestattet keine erschöpfende Darstellung der psychoanalytischen Theorie Freuds. Einzelne Aspekte, etwa der Ödipuskonflikt/-komplex können nur genannt werden, andere, die für diese Analyse des Romanhelden Walter Faber von noch untergeordneter Bedeutung sind, so z.B. die Entwicklung der Libido in den frühkindlichen Phasen oder die Traumdeutung, müssen gänzlich ausgespart werden. Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band I. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Und Neue Folge. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 19947. S. 47. Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band III. Psychologie des Unbewußten. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 19947. S. 283. Ebd. S. 29. Freud, Band I, a.a.O., S. 47. Vgl. ebd. - 10 - Suggestion erbracht.33 Der Grund, warum sich bestimmte Vorgänge des Psychischen ausschließlich im Unbewussten abspielen, bzw. durch festgelegte Abläufe dort „lokalisiert“ werden, ist, dass „eine gewisse Kraft sich dem widersetzt“34 und sie dadurch nicht bewusst werden können. Diese Kraft – oder Widerstand – nennt Freud Abwehr bzw. Verdrängung (siehe Kap. 2.2.3 auf S. 15 f. dieser Arbeit). Die Bewusstseinsvorgänge, die hiervon betroffen sind, spielen sich – bildhaft gesprochen – an den tiefsten Stellen des Bewusstseinssystems ab. Spätere Erkenntnisse zeigen, dass es zwei Arten des Unbewussten gibt, „das latente, doch bewußtseinsfähige, und das Verdrängte, an sich ohne weiteres nicht bewußtseinsfähige.“35 Freud bezeichnet „das Latente, das nur deskriptiv unbewußt ist, nicht im dynamischen Sinne, vorbewußt; den Namen unbewußt“36 (Hervorhebungen im zit. Text) beschränkt er „auf das dynamisch unbewußte Verdrängte.“37 Das Vorbewusste „steht dem Bw viel näher als das Ubw (Hervorhebungen im zit. Text)“38, da seine Inhalte zwar „im aktuellen Bewußtseinsfeld nicht vorhanden“39 sind, „aber sie unterscheiden sich darin von den Inhalten des Systems Unbewußt, daß sie in dem Bewußtsein praktisch zugänglich sind (zum Beispiel nicht aktualisierte Kenntnisse und Erinnerungen).“40 2.1.2 Der psychische Determinismus Kennzeichnend für die Psychoanalyse ist die Auffassung, dass alle psychischen Phänomene das Ergebnis vorher gegebener Bedingungen seien. Diese Phänomene können emotionaler und kognitiver Natur sein oder das Verhalten betreffend. Die Ursache für diesen Determinismus sieht Freud darin begründet, dass der Mensch von Trieben gesteuert werde, von denen er zum größten Teil selbst nichts wisse, die aber sein gesamtes Leben beeinflussen. Jede Verhaltensweise ist demnach auf das Bedürfnis, einen oder mehrere dieser Triebe zu befriedigen, 33 34 35 36 37 38 39 40 Bei diesem Experiment versetzt der Psychoanalytiker den Patienten in einen hypnotischen Zustand und erteilt ihm eine Aufgabe, die dieser zu einem später festgelegten Zeitpunkt ausführen soll. Nach dem Erwachen aus der Hypnose erinnert sich der Patient nicht mehr an diesen Zustand und auch nicht an die erteilte Weisung. Trotzdem verhält er sich zum vorgegebenen Zeitpunkt gemäß dem Auftrag und führt diesen, ohne sich einer Intension oder eines Sinnes darüber bewusst zu werden, durch. Vgl. Freud, Band III, a.a.O., S. 30. Freud, Band III, ebd., S. 384. Ebd. Ebd. Ebd. Bw = Bewusstes; Ubw = Unbewusstes Freud, Band III, a.a.O., S. 285. Laplanche: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuchverlag, 199915. S. 612. Ebd., S. 613. - 11 - zurückzuführen. Jene Triebe „repräsentieren die körperlichen Anforderungen an das Seelenleben.“41 Freud unterscheidet zwei Grundtriebe, die sich zueinander antagonistisch und/oder kooperativ verhalten können: den Eros bzw. Libido oder Liebestrieb, und den Destruktions- bzw. Todestrieb.42 „Das Ziel des ersten ist, immer größere Einheiten herzustellen und so zu erhalten, also Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören.“43 Freud meint, dass dieses Mit- und Gegeneinanderwirken der beiden Grundtriebe die ganze Buntheit der Lebenserscheinungen ergebe44, jedoch führt es auch zu der Hypothese, dass es angesichts dieses, in den Trieben begründeten Determinismus, „in den psychischen Äußerungen nichts Kleines, nichts Willkürliches und Zufälliges“45 gäbe. 2.2 Der psychische Apparat Aus den Studien der individuellen Entwicklung des menschlichen Wesens ergibt sich eine weitere topisch-dynamische Differenzierung der Persönlichkeit in drei Subsysteme oder Instanzen: das Es, das Ich und das Über-Ich. Freud schreibt jeder dieser Provinzen eine bestimmte Funktion oder Leistung zu, „die eine determinierte zeitliche Reihenfolge nach sich zieht.“46 Die älteste der psychischen Instanzen, deren Inhalte bereits bei der Geburt vorhanden sind, ist das Es47. Es verhält sich größtenteils unbewusst und zwar in jedem menschlichen Entwicklungsstadium, was auch der Grund dafür ist, dass das Verdrängte mit ihm zusammenfließt. Das Es „ist der dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit […] und das meiste davon hat negativen Charakter“48. Darum nennt Freud es „ein Chaos, einen Kessel voller brodelnder Erregungen.“49 Im Es bestehen und entstehen auch sämtliche Triebwünsche und -bedürfnisse, und von diesen „Trieben her erfüllt es sich mit Energie, aber es hat keine Organisation, bringt keinen Gesamtwillen auf, nur das Bestreben, den Triebbedürfnis- 41 42 43 44 45 46 47 48 49 Freud, Sigmund: Abriss der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 200410. S. 44. Vgl. ebd., S. 45 f. Ebd., S. 45. Vgl. ebd. Mertens, Wolfgang: Kompendium psychoanalytischer Grundbegriffe. München: Quintessenz Verlag, 1992. S. 53. Laplanche, a.a.O., S. 74. Vgl. Freud, 2004, S. 42. Freud, Band I, a.a.O., S. 511. Ebd. - 12 - sen unter Einhaltung des Lustprinzips (A. d. A.) Befriedigung zu schaffen.“50 Das Es kennt „keine Wertungen, kein Gut und Böse, keine Moral.“ 51 Damit die Wünsche bzw. Triebregungen des Es befriedigt werden können, richten sich diese immer auf ein bestimmtes Objekt, bei dem es sich – in Abhängigkeit des Typus des Bedürfnisses – um eine Person oder ein Partialobjekt, ferner um ein reales oder phantastisches Objekt handeln kann.52 Durch die Auseinandersetzung mit der Außenwelt in der frühkindlichen Entwicklung, erfährt nun das Es, dass es sein Ziel, nämlich die dauernde Befriedigung der aktuellen Bedürfnisse, nicht immer erreichen kann. Es muss mit der Realität darum in Verbindung treten und die Rolle des Kompromisssuchenden einnehmen. Auf diese Weise entwickelt sich aus einem Teil des Es das Ich heraus. Diese zweite Instanz ist damit „der durch den direkten Einfluss der Außenwelt unter Vermittlung von W-Bw (Hervorhebung im zit. Text) veränderte Teil des Es“53, der nach dem Realitätsprinzip arbeitet. Das Ich „bemüht sich auch, den Einfluß der Außenwelt auf das Es und seine Absichten zur Geltung zu bringen, ist bestrebt, das Realitätsprinzip an die Stelle des Lustprinzips zu setzen, welches im Es uneingeschränkt regiert. Die Wahrnehmung spielt für das Ich die Rolle, welche im Es dem Trieb zufällt. Das Ich repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaft enthält.“54 Unter dem Einfluss der elterlichen Erziehung und der in einer Gesellschaft oder Gesellschaftsgruppe vorherrschenden Normen- und Wertevorstellung bildet sich in einer späteren frühkindlichen Entwicklungsphase aus dem Ich die letzte der drei Instanzen heraus. Diese Ich-Veränderung „tritt dem anderen Inhalt des Ichs als Ichideal oder Über-Ich entgegen (Hervorhebung im zit. Text).“55 Es beinhaltet die in der Erziehung vermittelten Gebote und Verbote, die elterlichen Ansichten, was richtig und was falsch sei – ferner alle sittlichen und moralischen Vorstellungen des Individuums. Diese „sind im Ideal-Ich mächtig geblieben und üben jetzt als Gewissen (Hervorhebung im zit. Text) die moralische Zensur aus.“56 Das Über-Ich verfährt somit nach dem Moralprinzip und hat die Aufgabe, die Triebwünsche des Es zu bewerten. Man kann auch sagen, dass es sich beim Ichideal, metaphysisch gesprochen, um ein höheres Wesen im Menschen handelt, dass sich um das Moralische, Überpersönliche in ihm kümmert.57 50 51 52 53 54 55 56 57 Ebd. Ebd., S. 512. Vgl. Laplanche, a.a.O., S. 335. W-Bw = Wahrnehmungsbewusstsein Freud, Band III, a.a.O., S. 293. Ebd., S. 293 f. Ebd., S. 301. Ebd., S. 304. Vgl. ebd., S. 303. - 13 - 2.2.1 Die Dynamik der Persönlichkeit Nach Sigmund Freud ist der Mensch ein dynamisches System, das von verschiedenen Energien gesteuert wird. Die Energien rühren von den Impulsen des Lustprinzips her, sind also Triebe. Das, worauf sich jedes Verhalten aus psychoanalytischer Sicht reduzieren lässt, ist das Bestreben des seelischen Apparats, eine Reduktion der Spannung herbeizuführen und diese Energie freizusetzen. Ist ein Kanal, über den ein Energieimpuls eigentlich verlaufen sollte, blockiert, wird ein anderer gewählt, und zwar der des geringsten Widerstandes. Das Dynamische des Seelenlebens kommt, genauer betrachtet, folgendermaßen zustande: Aus den Schilderungen in Kap. 2.2 auf S. 11 f. dieser Arbeit wird ersichtlich, dass jede der drei Instanzen ihre eigene Funktion hat, aber auch dass diese aufgrund ihrer gegensätzlichen Ausrichtungen ein erhebliches Konfliktpotential in sich bergen, da sich verschiedene Ansprüche häufig disparat zueinander verhalten. Eine enorm wichtige Aufgabe kommt hierbei dem Ich zu, da es gleichzeitig den Forderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügen und somit deren Ansprüche miteinander zu versöhnen wissen muss.58 Es steht nun in einer permanenten dynamischen Interaktion mit allen Instanzen und der Außenwelt, damit es entscheiden kann, welche Triebimpulse (Energien) auf welchem Wege freigesetzt werden können und welche nicht. Die oben erwähnten Konflikte können „manifest sein (zum Beispiel zwischen einem Wunsch und einer moralischen Forderung, oder zwischen zwei sich widersprechenden Gefühlen), oder latent und dabei in entstellter Form im manifesten Konflikt zur Darstellung kommen“59. Denkbar sind auch Konflikte „zwischen den verschiedenen Systemen der Instanzen, Konflikte zwischen den Trieben, endlich der ödipale Konflikt“60. Vermag das Ich, diese Konflikte möglichst minimal zu halten und zwischen den Forderungen der Instanzen ein Gleichgewicht herzustellen, so spricht man von einer Ich-Stärke. Gelingt dies dem Ich nur mangelhaft oder gar nicht, so handelt es sich um eine Ich-Schwäche. Diese kommt immer dann zustande, wenn eine der Instanzen zu stark oder zu schwach ausgebildet ist. Folglich siegt die stärkere Instanz über das Ich und die IchSchwäche macht sich als Symptombildung, Verhaltens- oder Charakterstörung, ferner als Neurose oder Psychose bemerkbar. 58 59 60 Freud, 2004, S. 43. Laplanche, a.a.O., S.256 f. Ebd., S. 257. - 14 - 2.2.2 Angst und ihre Formen Die in 2.2.1 beschriebenen Ich-Schwächen, die auf ein Ungleichgewicht verschiedener Wunschregungen zurückzuführen sind, treten beim Individuum charakteristischerweise in Verbindung mit Angst auf. Denn wenn „das Ich seine Schwäche einbekennen muß, bricht es in Angst aus […].“61 Diese Angst kann also ein spezifischer „Ausdruck von Konflikten zwischen Triebansprüchen und ihrer Zensur“62 sein, oder genauer betrachtet eine „Reaktion des Organismus auf nicht verkraftbare Erregung, die durch Blockierung der Erreichung von Triebzielen […] bzw. durch den seelischen Schmerz bei drohendem Verlust eines triebbesetzten Objekts ausgelöst wird […].“63 Freud unterscheidet drei Grundformen der Angst, die dabei auftreten können: die „Realangst (A. d. A.) vor der Außenwelt, die Gewissensangst (A. d. A.) vor dem Über-Ich, neurotische Angst (A. d. A.) vor der Stärke der Leidenschaften im Es.“64 Bei der Realangst handelt es sich um eine „Reaktion auf die Wahrnehmung einer äußeren Gefahr […], sie ist mit dem Fluchtreflex verbunden, und man darf sie als Äußerung des Selbsterhaltungstriebes ansehen.“65 Hingegen kommt bei der Gewissensangst das Schuldbewusstsein des Ichs durch das Über-Ich zum Ausdruck. Das Ich reagiert mit Angstgefühlen auf die Wahrnehmung, dass es hinter den vom Ichideal gestellten Anforderungen zurückgeblieben sei.66 Freud stellte zur Entstehung der Gewissensangst fest: „Vom höheren Wesen, welches zum Ideal wurde, drohte einst die Kastration, und diese Kastrationsangst ist wahrscheinlich der Kern, um den sich die spätere Gewissensangst ablagert, sie ist es, die sich als Gewissensangst fortsetzt.“67 Im Falle der neurotischen Angst erlebt das Ich die Triebwünsche des Es als bedrohlich und entwickelt Angst, da es befürchtet, von ihm zugrunde gerichtet zu werden. Bei den neurotischen Ängsten werden drei Formen unterschieden68: zum einen die frei flottierende Ängstlichkeit als Erwartungsangst, die ohne ersichtlichen Grund auftritt; zweitens die Phobie, bei der ein bestimmter Reiz, in dem der Patient eine Bedrohung erkennt, eine unverhältnismäßige Angstreaktion auslöst; und drittens die Hysterie, bei der „verdrängte Triebimpulse unbewußt in Körpersymptome überführt werden […], dort ihren mehr oder minder symbolischen 61 62 63 64 65 66 67 68 Freud, Band I, a.a.O., S. 515. Fröhlich, Werner: Wörterbuch Psychologie. München: dtv, 200224. S. 63. Ebd., S. 60. Freud, Band I, a.a.O., S. 515. Ebd., S. 381. Freud, Band III, a.a.O., S. 350. Ebd., S. 324. Freud deutet hier mit der Erwähnung der Kastrationsangst seine Vermutung, dass die Entwicklung des Gewissens bzw. des Über-Ichs ein „Erbe“ des Ödipuskomplexes sei, an. Vgl. ebd., S. 325 u. S. 351 ff. Vgl. Freud, Band I, a.a.O., S. 518. - 15 - Ausdruck finden und/oder auf unbewußten Wegen zu einer Selbstdarstellung führen, die verbirgt, was oder wie man tatsächlich ist.“69 Die drei Grundformen der Angst (Real-, Gewissens-, neurotische) können sowohl einzeln, als auch in Mischformen auftreten. 2.2.3 Abwehr und Abwehrmechanismen Bei der Abwehr handelt es sich um eine Reaktion des Ichs auf einen bestimmten Angstreiz. Dieser Reiz, der eine Bedrohung darstellt, scheint für das Ich praktisch nicht lösbar und es folgt eine Reihe komplexer psychischer Vorgänge in Form von Ich-Verteidigung, „deren Finalität darin liegt, jede Modifikation einzuschränken oder zu unterdrücken, die geeignet ist, die Integrität und die Konstanz des biopsychischen Individuums zu gefährden.“70 Im Ergebnis bedeutet dies, dass die angstauslösenden Erlebnisinhalte unbewusst gemacht werden, um innere Spannungen (z.B. eine vom Über-Ich als amoralisch eingestufte Wunschregung des Es) oder äußere Konflikte (etwa ein traumatisches Erlebnis (siehe auch Kap. 2.3 auf S. 17 dieser Arbeit)) abzuwehren und einen Lebensvollzug möglich zu machen, der – zumindest auf der bewussten Wahrnehmungsebene – nicht von der Angst dominiert wird. Die Inhalte werden im Unbewussten aber nicht extingiert, sondern bleiben weiter bestehen und beeinflussen den Organismus durch ein verändertes Erleben und Verhalten und verleihen sich z.B. in Form von Fehlleistungen oder Träumen Ausdruck. „Der Abwehrvorgang besteht aus mehr oder weniger in das Ich integrierte Abwehrmechanismen (A. d. A.)“71, über die es, je nach Anforderung, also nach Art und Intensität des Abwehrkonflikts, verfügen kann. Nur einige dieser Mechanismen sollen hier genannt werden72: Die Verdrängung ist sicherlich der populärste Vertreter der Abwehrmechanismen, aber auch einer der wichtigsten für das Arbeiten mit der Psychoanalyse. Bei ihr handelt es sich um psychische Operationen, die „übermächtige Triebansprüche und damit verbundene Handlungen, Einstellungen, Erlebnisinhalte und Vorstellungen ohne Hinterlassen von Erinnerungen“73 aus dem Bereich des 69 70 71 72 73 Fröhlich, a.a.O., S. 230 f. Laplanche, a.a.O., S. 24. Ebd. In der klassischen Psychoanalyse werden zehn verschiedene Abwehrmechanismen unterschieden. Auf S. 16 dieser Arbeit wird auch die Rationalisierung aufgeführt. Sie stammt jedoch nicht aus Freuds Vokabular, sondern wurde 1908 von E. Jones mit seiner Arbeit „Rationalization in everyday life“ in den psychoanalytischen Sprachgebrauch eingeführt. Vgl. ebd., S. 418. u. Mertens, a.a.O., S. 186. Fröhlich, a.a.O., S. 457. - 16 - Bewussten in das Unbewusste verlagern, „so daß sie nicht mehr bewußt verfügbar sind.“74 Ein weiterer Abwehrmechanismus ist die Reaktions- bzw. Symptombildung, „die das Ich zuerst in seinen Verdrängungen, später, bei den Zurückweisungen unerwünschter Triebregungen, […] erwirbt.“ Bei diesem Prozess werden heftige oder aggressive Handlungen in das Gegenteil verkehrt und die Triebenergie wird scheinbar auf andere Handlungen übertragen75, „die dann ebenso heftig und energisch auftreten, jedoch von außen betrachtet irrational wirken.“76 Im Falle der Verschiebung können Interessen bzw. Triebe, die ein Organismus verspürt, nicht am eigentlichen Objekt befriedigt werden und müssen ersatzweise auf andere verlagert werden, die Befriedigung zulassen (Ersatzbildung). Sie kann sich auch auf die Bedeutung und Intensität einer Vorstellung beziehen, die „sich von dieser lösen und auf andere, ursprünglich wenig intensive Vorstellungen übergehen können, die mit dieser ersten durch eine Assoziationskette verbunden sind.“77 Bei der Rationalisierung versucht das Subjekt, vermeintlich rationale Gründe gegen gravierende Selbstanklagen oder Selbstzweifel zu finden. Oder es versucht, „einer Verhaltensweise, einer Handlung, einem Gedanken, einem Gefühl etc., deren wirkliche Motive nicht erkannt werden, eine logisch kohärente oder moralisch akzeptable Lösung zu geben.“78 Von Sublimierung spricht man, wenn vor allem sexuelle Triebimpulse unbewusst abgewandelt werden und sich in Handlungen äußern, die scheinbar keinen Bezug zur Sexualität haben und von der Gesellschaft allgemein akzeptiert sind. Freud meint, insbesondere in künstlerischer Betätigung und intellektueller Arbeit Anzeichen von Sublimierung zu erkennen.79 Ein weiterer Abwehrmechanismus, der in Verbindung mit allen bereits erwähnten zum Ausdruck kommen kann, ist der Widerstand. Er äußert sich durch „die Weigerung einer Person, unbewußte Inhalte oder Motive offenzulegen und/oder als eigene verdeckte Motive des Erlebens und Verhaltens anzuerkennen. So können z.B. bereits etablierte Abwehrmechanismen (Hervorhebung im zit. Text) nur gegen den Widerstand abgebaut werden […].“80 74 75 76 77 78 79 80 Ebd. Ebd., S. 369. Ebd. Laplanche, a.a.O., S. 603. Ebd., S. 418. Vgl. ebd., S. 478. Fröhlich, a.a.O., S. 474. - 17 - 2.3 Das Trauma Bezug nehmend auf das Trauma schreibt Freud 1916: „,Wir nennen so ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normalgewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren.‘“ 81 Es handelt sich hierbei also um einen Schock bzw. Einbruch, dessen Intensität die gesamte Psyche mit seinen Reizen exzessiv überflutet, dass dies erhebliche Auswirkungen auf die Organisation der psychischen Systeme hat. Für den Einbruch kann ein einmaliges Erlebnis oder eine Anhäufung von Reizen ursächlich sein.82 Bei der Aufnahme der Reize erleidet das Konstanzprinzip83 zunächst eine Niederlage84, „da der psychische Apparat unfähig ist, den Reiz abzuführen.“85 Freud spricht auch von einem lebenden Bläschen, das durch eine Schutzhülle vor Außenreizen geschützt werde, die „nur erträgliche Energiequantitäten passieren“86 ließe. Wenn aber diese Hülle einen ausgedehnten Einbruch erleidet, „dann haben wir den Fall des Traumas: Es ist nun die Aufgabe des psychischen Apparats, alle verfügbaren Kräfte zu mobilisieren, um Gegenbesetzungen 87 aufzurichten, die anflutenden Reizqualitäten an Ort und Stelle zu fixieren und die Wiederherstellung der Bedingungen des Lustprinzips zu ermöglichen.“88 Das Trauma selbst tritt charakteristischerweise in Verbindung mit einer Reihe anderer psychischer Phänomenen auf, und zwar der Abwehr bzw. den Abwehrmechanismen. Denn nach Freud hindert ein psychischer Konflikt das Subjekt daran, „die gemachte Erfahrung seiner bewußten Persönlichkeit zu integrieren“89. 81 82 83 84 85 86 87 88 89 Mertens, a.a.O., S. 248. Vgl. Laplanche, a.a.O., S. 514. Ein Prinzip, wonach der psychische Apparat die Erregungsqualität bzw. die Energie möglichst auf einem geringen Niveau oder zumindest konstant halten möchte. Vgl. ebd., S. 260 ff. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Die Gegenbesetzung ist ein Vorgang, der als Träger zahlreicher Abwehreaktionen des Ichs fungieren kann. Vgl. ebd., S. 161. Ebd., S. 514. Ebd., S. 515. - 18 - 2.4 Kritische Würdigung der Freud’schen Psychoanalyse vom Standpunkt der wissenschaftstheoretischen Dimension Noch zu Lebzeiten Freuds entfachte eine mehr als angeregte Diskussion in der Wissenschaftswelt darüber, wie die entwickelte, bzw. sich noch in der Entwicklung befindende Theorie Freuds zu bewerten sei. Schnell zeigte sich, dass die Psychoanalyse polarisiert, und Gegner- wie Befürworterkreise formierten sich. Neben den subjektiven Argumenten der Widersacher, die z.B. lauteten, dass die Annahme der sexuellen Triebgesteuertheit des Menschen strikt zu negieren sei, ohne dass diese Ablehnung einer weiteren Erklärung bedürfe, oder die im Antisemitismus begründete Hetze gegen Freud in den Dreißigerjahren90, erkannten andere bald eine vermeintliche Schwäche der Psychoanalyse, die Angriffsfläche für objektiv erscheinende Argumente bot. Eines dieser negativ aufgefassten Merkmale ist die auffällige Nähe zur Philosophie bzw. zu den Geisteswissenschaften allgemein.91 Da man aber die Meinung vertrat, dass eine Wissenschaft, die die Befindlichkeiten der menschlichen Psyche erforschen wolle, eine rein empirische Wissenschaft sein müsse, konfrontierte man die Psychoanalyse mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit. Tatsächlich lassen sich viele Gedankenmodelle und Hypothesen Freuds nicht auf empirischem Wege nachvollziehen oder überprüfen, da es ihnen an den Kriterien der Falsifizierbarkeit fehlt. Die Wissenschaftsposition der Empirie verlangt allerdings – wie in den Naturwissenschaften üblich – nach allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten (in diesem Fall das Verhaltens des Menschen), damit sie von wissenschaftlicher Fundiertheit ausgehen kann. Als problematisch wurde außerdem, neben dem schon Erwähnten, aufgefasst, dass zahlreiche Begriffe nicht operationalisiert sind und dass die Methoden, deren sich die Psychoanalyse bedient – z.B. Interpretation und Deutung von Berichten und Träumen oder Empathie –, jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entehrten. Diese Kritikpunkte haben bis heute nichts an ihrer Gültigkeit eingebüßt, was letztlich dazu führte, dass die größten Gegner der Psychoanalyse heute in der (sog.) wissenschaftlichen Psychologie anzutreffen sind, die sich zu den empirischen Naturwissenschaften zählt92. Es scheint fast, als hätte sich diese Schule der Psychologie nur deshalb diesen Namen selbst verliehen, um sich von der 90 91 92 Vgl. Köhler, Thomas: Anti-Freud-Literatur von ihren Anfängen bis heute. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 1996. S. 12 ff. So geht z.B. der Terminus des „Es“ über den Mediziner G. Groddeck letztlich auf Nietzsche zurück. Aus seiner Begeisterung über das Werk des Philosophen hat Freud nie einen Hehl gemacht. Vgl. Freud, Band III, a.a.O., S. 278 u. 293. Die meisten Anwendungs- und Forschungsfelder der Psychologie zählen in Deutschland zu den Naturwissenschaften. (In den USA z.B. gehören sie aber zu den Sozialwissenschaften.) - 19 - Psychoanalyse abzugrenzen, die sie mittlerweile als Pseudowissenschaft abtut93. In der universitären Psychologie spielt die Psychoanalyse deswegen auch kaum eine Rolle, manche Fakultäten klammern sie praktisch aus.94 An der Psychoanalyse macht sich aber meiner Meinung nach eine immer größer werdende und gefährliche Strömung in der bürgerlichen und akademischen Welt am ausdruckstärksten bemerkbar, die schon zu Freuds Zeiten aufkam: Es scheint sich nämlich eine deutliche Gleichsetzung von Wissenschaft mit Naturwissenschaft zu vollziehen95, was zur Folge hat, dass allein die Empirie vorzugeben vermag, was wissenschaftlich sei und was nicht. Die Wissenschaftsmethoden, die dem Regelkatalog der Empirie entsprechen, dürfen fortan als „wissenschaftlich“ gelten, aber alle anderen Ansätze, die den empirischen Ansprüchen nicht genügen können oder nicht genügen wollen, werden schnell als unwissenschaftlich in Verruf gebracht. Doch die Empirie, die (lediglich) die erklärende Position in der Wissenschaft vertritt, repräsentiert nur eine Auffassung von Wissenschaft. Neben ihr steht die Hermeneutik, die die verstehende Position vertritt, und die ihr eigenes Wissenschaftsverständnis und daran geknüpfte Anforderungen an wissenschaftliche Arbeitsweisen hat. Ihr gehören solche (Geistes-) Wissenschaften wie Philosophie und Theologie an, und andere, die die Auslegung und Interpretation zur Auffindung von Wahrheit anwenden. Die Psychoanalyse weist in ihrer Struktur und Methodik hauptsächlich hermeneutische Züge auf. Dies bedeutet aber nicht, dass sie nicht wissenschaftlich sei – sie ist eben nur nicht empirisch. Darum ist auch in meinen Augen die Titulierung Pseudowissenschaft noch weniger gerechtfertigt. Die akademischempirische Psychologie sollte sich in diesem Streit, dem etwas gefährlich Ideologisches anhaftet – und man darf nicht vergessen, dass einst sie die Psychoanalyse mit dem Vorwurf des Ideologieverdachts konfrontierte –, weniger auf die Merkmale konzentrieren, die die Psychoanalyse für sie unwissenschaftlich machen, als viel mehr auf die therapeutischen Erfolge, die sie erzielt. Das würde zum einen die erforderliche Offenheit für gegensätzliche Positionen demonstrieren, aber auch, dass für sie nicht wissenschaftliche Eitelkeiten im Zentrum ihres Interesses stehen, sondern die Lebenssituation des Patienten, für deren Besserung nicht zwangsläufig auf die eigenen Methoden zurückgegriffen werden muss, sondern auf die erfolgversprechendsten. 93 94 95 Auch zahlreiche Schulen der Psychoanalyse nehmen Abstand von Freuds Theorien, um aus der Nähe des Vorwurfs der Unwissenschaftlichkeit zu kommen. An Universitäten dient die Psychoanalyse häufig nur als Hilfswissenschaft, z.B. in der Pädagogik, pädagogischen Psychologie, Sozialpsychologie. Vgl. Wingert, Lutz: Was macht die These der Deterministen so attraktiv? In: Ärzte Zeitung. Nr. 178 / 06.10.2005, S. 12. - 20 - 3 Die Persönlichkeit Walter Fabers als Gegenstand einer psychoanalytischen Untersuchung 3.1 Die Bedeutung von Walters Beziehung zu Hanna Als Walter seine ehemalige Geliebte Hanna 1957 nach über zwanzig Jahren im Athener Krankenhaus das erste Mal wieder triff, scheint es, als hätte es für ihn diese lange Trennung nie gegeben: „Ihre Stimme ist unverändert. In einem gewissen Sinn ging es weiter, als wären keine zwanzig Jahre vergangen, genauer: als hätte man diese lange Zeit, trotz Trennung, durchaus gemeinsam verbracht. Was wir nicht voneinander wußten, waren Äußerlichkeiten, nicht der Rede wert.“ (Hf S. 145) Walter war – ohne dass er sich dessen bewusst werden konnte oder wollte – all die Jahre stark auf Hanna fixiert. Dass sie in der Zwischenzeit sehr wohl in seinem Unbewussten präsent war, zeigt sich daran, wie sehr sie ab dem Moment, wo er durch Herbert Hencke an sie erinnert wird, wieder in sein Leben tritt, d.h. seine Gedanken- und Traumwelt dominiert (vgl. Hf S. 29 u. 36). Nun beginnt er sich ausführlich an sie zu erinnern, und, während seine Gedanken bis zur tatsächlichen Begegnung fest auf sie konzentriert sind, gelingt es ihm nicht, sich seine immer noch vorhandenen Gefühle für sie zuzugestehen oder sich gar der Bedeutung der Beziehung zu ihr bewusst zu werden. Lediglich durch eine Fehlleistung verrät er unfreiwillig kurz nach der ersten Begegnung im Krankenhaus, welchen Stellenwert sie bei ihm hat, indem er davon spricht, dass sie seine Geliebte „ist“ und nicht, dass sie es vor über zwanzig Jahren war: „[…] so oft ich auch nur eine Sekunde lang […] daran dachte, daß ich Sabeth umarmt habe, beziehungsweise, daß Hanna, die vor mir sitzt, ihre Mutter ist, die Mutter meiner Geliebten, die selbst meine Geliebte ist (A. d. A.).“ (Hf S. 141) Kurz später vermag er es dann, einen bewussten Gedanken zu ihrer Stellung in seinem Leben zu formulieren: „Hanna ist eine Frau, aber anders als Ivy und die anderen, die ich gekannt habe, nicht zu vergleichen; auch anders als Sabeth, die ihr in vielem gleicht. Hanna ist vertrauter […].“ (Hf S. 146) Um zu verstehen, warum gerade Hanna eine so bedeutende Position in seinem Leben einnimmt, müssen folgende Aspekte ins Auge gefasst werden: Schon früh in seinem Leben entdeckt Walter Faber Seiten an seiner Persönlichkeit, die er nicht wahrhaben will und die er unbewusst bekämpft, weil er sich vor ihnen fürchtet. Es handelt sich dabei um die Angst vor dem Weiblichen in ihm selbst96, das er schlicht verdrängt. Er schafft sich, um diesen Verdrängungs96 Vgl. Chien, a.a.O., S. 197 u. 233. - 21 - vorgang verwirklichen zu können, eine Welt des Dualismus, welcher durch das kollektive Bewusstsein in der Gesellschaft, in der er lebt, begünstigt wird und dem er nicht widerstehen kann.97 In dieser Welt gibt es klar definierte Grenzen zwischen Technik und Natur, Berechenbarkeit und Schicksal bzw. zwischen Mann und Frau. Denn dadurch, dass er in seiner kategorisierten Weltanschauung keine Nuancierungen zulässt und er eindeutig die Pole Technik, Berechenbarkeit, Männlichkeit usw. vertritt, verhilft ihm das, sich problemloser mit seiner Rolle als Mann zu identifizieren. Auf diese Weise macht er sich selbst zum Homo faber: „Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind.“ (Hf S. 24) „Technik statt Mystik!“ (Hf S. 77) „Ich halte es mit der Vernunft. Bin kein Baptist und kein Spiritist.“ (Hf S. 80) „Was wir ablehnen: Natur als Götze! […] Wir leben technisch, der Mensch als Beherrscher der Natur, der Mensch als Ingenieur […]“ „Ich nannte sie eine Schwärmerin und Kunstfee. Dafür nannte sie mich Homo Faber.“ (Hf S. 47) Für ihn bedeutet aber die Konzentration auf diesen einseitig väterlich-männlich orientierten Wertekanon ein in Mitleidenschaft gezogenes Gefühlsleben: „Ich lebe, wie jeder wirkliche Mann, in meiner Arbeit. Im Gegenteil, ich will es nicht anders und schätze mich glücklich, allein zu wohnen, meines Erachtens der einzigmögliche Zustand für Männer, ich genieße es, allein zu erwachen, kein Wort sprechen zu müssen. Wo ist die Frau, die das begreift? Schon die Frage, wie ich geschlafen habe, verdrießt mich […]. […] Zärtlichkeiten am Morgen sind mir unerträglich […].“ (Hf S. 90 f.) „[…] ich hasse diese Manie, einander am Ärmel zu greifen.“ (Hf S. 17) Während seiner Dissertationszeit tritt Hanna in sein Leben, mit der er sich u. a. deswegen identifiziert, weil sie in seinen Augen die weiblichen, mütterlichen Züge repräsentiert, die er an sich verneint.98 Doch Walter sieht in ihr noch eine andere Fassette seiner eigenen Persönlichkeit, was sie für ihn als Identifikationsobjekt noch interessanter macht: es handelt sich dabei um die männliche Seite an Hanna, die durch ihre feministische, manchmal dominierende Art zum Vorschein kommt. Denn Hanna „strebt nach absoluter Autonomie der subjektiven Individualität und sie ist sich ihrer weiblichen Selbstständigkeit bewusst.“99 Somit verkörpert sie mit ihrem Wesen und den beiden Seiten, zu denen sie selbstbewusst steht, einen geflissentlich durchbrochenen Mann-Frau-Dualismus, in dessen Streben danach sich Walter heimlich wiederfindet. Denn letztlich möchte auch er im Unbewussten nicht mehr, als alle Grundtöne seiner Persönlichkeit ausleben. 97 98 99 Vgl. Ebd., S. 195. Vgl. Ebd. Ebd., S. 236. - 22 - Hier zunächst die Aspekte, an denen Walter das Weibliche an Hanna entdeckt, da sie z. T. sehr fürsorglich sein kann und Anzeichen einer mütterlichen Leitfigur aufweist, wobei sie dann die Position der Überlegenen und Walter die des Schutzbefohlenen einnimmt. Manchmal neigt sie aber auch dazu, ihn wie ein Kind zu maßregeln bzw. zu bevormunden. „Walter, du ißt ja gar nichts.“ (Hf S. 140) „Es war das Institut, wo Hanna arbeitet, und ich mußte im Taxi warten […]; ich versuchte Anschriften zu lesen und kam mir wie ein Analphabet vor, völlig verloren.“ (Hf S. 132) „,Walter‘, fragt sie, ,hast du Hunger?‘ Hanna als Mutter – Ich wußte nicht, was denken.“ (Hf S. 133) „Das Bad füllte sich nur sehr langsam und dampfte, Hanna ließ kaltes Wasser hinzu, als könnte ich es nicht selbst tun […].“ (Hf S. 134) „Es begann mit einer Bemerkung meinerseits. ,Hanna‘, sagte ich, ,du tust wie eine Henne!‘“ (Hf S. 137) Nun einige Situationen, in denen Walter männliche Züge an Hanna zu erkennen meint: „Ich staunte über Hanna; ein Mann, ein Freund hätte nicht sachlicher fragen können.“ (Hf S. 127) „Ihre Wohnung: wie bei einem Gelehrten, ([…] später hat Hanna […] meinen damaligen Ausspruch von der Gelehrten-Wohnung zitiert als Beweis dafür, daß auch ich die Wissenschaft für ein männliches Monopol halte, überhaupt den Geist), – alle Wände voller Bücher […].“ (Hf S. 133) „Dabei kann ich nicht einmal sagen, Hanna sei unfraulich. Es steht ihr, eine Arbeit zu haben.“ (Hf S. 143) Hanna nimmt im Verlauf der Beziehung mit Walter, aufgrund dieser unbewussten Abläufe in seiner Psyche, eine immer wichtigere Stellung in seinem Leben ein. Es kommt aber 1936 zur Trennung, die letztlich von ihr ausgesprochen wird. Zu diesem Zeitpunkt hat Hanna aber in Walters Unbewussten bereits die Entsprechung einer Idealfigur oder Ikone angenommen, die die innere Loslösung von ihr unmöglich machen wird. Sie trennen sich … bis sie ihm eines Tages als Sabeth wiederbegegnen wird. 3.2 Entwicklung eines Traumas Was die Beziehung zu Hanna schwierig – ja durchaus kompliziert – macht, sind zum einen Gründe, die in Walters Inneren zu suchen sind und zum andern äußere Gegebenheiten, die sich schließlich reziprok bedingen. Im Mittelpunkt dieses Beziehungsgefüges steht Walter mit seinem Hin- und Hergerissensein, ob er Hanna heiraten solle oder nicht. Denn einerseits braucht er ihre Nähe, weil sie – wenn auch für ihn unbewusst – etwas verkörpert, das ihm keine andere Frau geben kann (vgl. Kap. 3.1), andererseits bedeutet eine eheliche Bindung, egal mit - 23 - wem, für ihn eine grobe Zäsur seiner Weltanschauung (vgl. Hf S. 90 f., bzw. als Zit. auf S. 21 dieser Arbeit), die er eigentlich nicht in Kauf nehmen möchte. Doch die Tatsache, dass Hanna Halbjüdin ist, bringt in diese ohnehin schon verstrickte Misere eine neue Dimension. Denn Walter weiß, dass in einer Zeit, in der gerade die Rassengesetze verkündet werden (vgl. Hf S. 46), die Verbindung mit einer Halbjüdin eine potentielle Gefahr für sein eigenes Leben bedeuten kann, oder zumindest hinderlich für seine Lebensplanung sein würde, die mittelund langfristig gesehen auf Karrierismus ausgelegt sein wird. Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine zusätzliche Ambivalenz Hanna gegenüber, die zu einem ernsten Dilemma anwächst: Obwohl er die Option, die aus München stammende Halbjüdin zu heiraten, selbst einbringt, um ihr somit die Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz zu sichern, kann er den ehrlichen Willen dazu nicht glaubhaft machen. Er meint es auch nicht ernst; das Stellen dieser Frage tritt lediglich in Form von Symptombildung in Erscheinung, um seine Gewissensangst zu lindern. Denn die realen Ängste ums eigene Leben und die Karriere dominieren sein Inneres. In seinem Bericht wird er trotzdem, oder gerade deshalb, nicht müde, hervorzuheben, dass ihm viel an der Heirat gelegen hätte, es aber Hanna selbst gewesen sei, die den Rückzieher gemacht hätte. Damit projiziert er die Verantwortung für den Verlauf der Ereignisse von sich auf Hanna: „[…] eine Heirat kam damals nicht in Frage, wirtschaftlich betrachtet, abgesehen von allem anderen. Hanna hat mir auch nie einen Vorwurf gemacht, daß es damals nicht zur Heirat kam. […] Im Grunde war es Hanna selbst, die damals nicht heiraten wollte.“ (Hf S. 33) Mit dem Vorwand der wirtschaftlichen Gründe, die gegen die Ehe gesprochen hätten, rationalisiert er die wahren Motive, lässt diese aber durchklingen, indem er von „abgesehen von allem anderen“ spricht, womit die Gefahren der politische Situation gemeint sind. Und dadurch, dass er sagt, Hanna hätte ihm „keinen Vorwurf gemacht“, gibt er unbewusst zu, dass die Schuld bei ihm zu suchen ist. Selbst in seinen Erinnerungen an sie (Hf S. 45–48) taucht die Heiratsfrage gleich im ersten Satz auf und zieht sich durch die Schilderungen wie ein roter Faden. Diese Überbetonung hat für ihn die Funktion, sich die Gewissensangst unbewusst zu machen und (sich) von seiner Schuld abzulenken. Nur eine Auswahl: „[…] aber sonst verstanden wir uns sofort, ohne an Heirat zu denken. Auch Hanna dachte nicht an Heiraten.“ (Hf S. 45) „Ich war bereit, Hanna zu heiraten, ich fühlte mich verpflichtet gerade in Anbetracht der Zeit.“ (Hf S. 45 f.) „[…] und eigentlich weiß ich wirklich nicht, warum es damals nicht zur Heirat kam.“ (Hf S. 47) - 24 - Die Ehe mit Hanna ist also eine unangenehme Bürde, die er in Wirklichkeit nicht auf sich nehmen möchte; und das Aussprechen des Heiratsangebotes ist nicht mehr als eine Pflicht, die er nicht vor hat einzulösen, auch wenn er sich das Gegenteil klarmachen möchte. Doch er ahnt, dass er sein vermeintliches Entgegenkommen später brauchen wird, um sich einzureden, er hätte alles Menschenmögliche getan, um sie vor dem Schlimmsten zu bewahren und um sich selbst als mutigen Gutmenschen darstellen zu können.100 Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang auffällt, sind zwei sich widersprechende Aussagen bezüglich seiner Haltung zur Verfolgung der Juden: „[…] ganz abgesehen von meinen Eltern, die Hanna sehr sympathisch fanden, aber um meine Karriere besorgt waren, wenn ich eine Halbjüdin heiraten würde, eine Sorge, die mich ärgerte und geradezu wütend machte. Ich war bereit, Hanna zu heiraten, ich fühlte mich verpflichtet gerade (A. d. A.) in Anbetracht der Zeit.“ (Hf S. 45 f.) Etwas später heißt es: „Ich war, im Gegensatz zu meinem Vater, kein Antisemit, glaube ich (A. d. A.) […].“ (Hf S. 47) Hier scheint sich Walter in der Retrospektive rühmlicher darzustellen, als er tatsächlich ist. Zwar möchte er seine vermeintlich entschiedene Haltung gegen die Diskriminierung von Juden gerne demonstrieren, gesteht allerdings, dass er sich nicht einmal sicher war, ob er kein Antisemit war. Außerdem behauptet er, seine Eltern hätten Hanna sympathisch gefunden, wo er doch selbst zugibt, dass der Vater Antisemit war. In Wirklichkeit hatte Walter keine eigene Position zu diesem Thema. Jetzt bildet er sich ein, er hätte eine gehabt – denn immerhin war er mit einer Halbjüdin liiert, die ein Kind von ihm erwartete und die er zu heiraten beabsichtigte. Doch sein fragwürdiges Verhalten wird verdrängt und für sein Bewusstsein mithilfe der Symptombildung ins Gegenteil verkehrt. Mit der Nachricht, dass Hanna ein Kind von Walter erwarte, verstärkt sich seine Angst, an sie gebunden zu sein und ein Leben in Aussicht gestellt zu bekommen, das vermutlich voller Einschränkungen und nicht berechenbarer (vgl. Kap. 3.1) Gefahren ist. „Ihre Behauptung, ich sei zu Tode erschrocken, bestreite ich noch heute 101 […].“ (Hf S. 47) „Ich tanzte nicht vor Vaterfreude, das ist wahr, dazu war die politische Situation zu ernst.“ (Hf S. 48) Die Lage spitzt sich für Walter zu. Auf der einen Seite bangt er, mit Hanna und dem Kind eine Familie gründen zu müssen, auf der anderen Seite bietet sich 100 101 Vgl. dazu Hf S. 46: „[…] es war die Zeit der sogenannten Greuelmärchen, und es kam für mich nicht in Frage, Hanna im Stich zu lassen. Ich war kein Feigling (A. d. A.), ganz abgesehen davon, daß wir uns wirklich liebten.“ Vgl. Kap. 2.2.3 Abwehr und Abwehrmechanismen: Widerstand, auf S. 16 dieser Arbeit. - 25 - durch das Angebot der Stelle in Bagdad (vgl. Hf S. 47) eine Gelegenheit, sein Leben gemäß seiner Vorstellungen zu gestalten. Ab diesem Moment, wo sich ihm die beiden Optionen auftun (Bagdad: „die beruflichen Möglichkeiten eines Ingenieurs überhaupt“ (Hf S. 48); oder Heirat: Oberhaupt einer teilsjüdischen Familie im Nationalsozialismus), die den Dualismus seiner Weltanschauung exemplarisch repräsentieren wie kaum etwas anderes, stellt sich die Frage für ihn gar nicht mehr, wofür er sich entscheidet – die Antwort steht fest: Bagdad102. Alle Bemerkungen, die doch auf eine gemeinsame Zukunft mit Hanna (und dem Kind) schließen lassen könnten, sind wieder Symptombildung: „Wenn du dein Kind haben willst, dann müssen wir natürlich heiraten.“ (Hf S. 48) „Willst du heiraten, ja oder nein?“ (Hf S. 48) Doch sie sind mehr als Symptombildung: Walter formuliert seine vermeintlichen Absichten wie Drohungen, und Hanna versteht sie auch als solche: „Später ihr Vorwurf, daß ich von Müssen gesprochen habe!“ (Hf S.48) „Sie schüttelte den Kopf, und ich wußte nicht, woran ich bin.“ (Hf S. 48) Walter sieht seiner Zukunft bereits entgegen, in der eine halbjüdische „Kunstfee“ (Hf S. 49) und ihr Kind keinen Platz haben. Er will Hanna jetzt regelrecht loswerden und spricht mit ihr in einer nüchtern-sachlich-emotionslosen Weise über das Kind und die gemeinsame Zukunft, dass Hanna gar nicht bei ihm bleiben wollen kann. Er glaubt aber, aufgrund der Symptombildung, sich großherzig verhalten zu haben und Hanna sei diejenige gewesen, die Schluss gemacht hätte. In Wirklichkeit hat er sie mit genau dieser Art von sich weggescheucht: „Bist du sicher? Immerhin eine sachliche und vernünftige Frage.“ (Hf S. 47) „Bist du bei einem Arzt gewesen? Ebenfalls eine sachliche und erlaubte Frage.“ (Hf S. 47) „[…] im Augenblick fiel mir nicht viel dazu ein, das ist wahr; ich trank Kaffee und rauchte. Ihre Enttäuschung!“ (Hf S. 48) Dann Hannas betrübte Reaktionen aus Walters Sicht: „Im Grunde war es Hanna, die damals nicht heiraten wollte […].“ (Hf S. 46) „Sie selber war es, die nicht mehr davon sprechen wollte […].“ (Hf S. 48) „Es war Hanna, die plötzlich Schluß machen wollte […].“ (Hf S. 48) An zwei entscheidenden Reaktionen Walters erkennt Hanna, dass sie und das Kind keinen Platz in seinem Leben haben: Dadurch, dass Walter, obwohl er angeblich nicht an Abtreibung gedacht hat, sich unverzüglich bei Joachim über die Abtreibung informiert und diese mehr oder weniger verabredet, und weil er sich falsch bezüglich des gemeinsamen Kindes ausdrückt: „Ich hatte gesagt: Dein Kind, statt zu sagen: Unser Kind.“ (Hf S. 48) Später, im Jahr 1957, wenn sich Walter an diese Zeit rückblickend erinnert, unterläuft ihm eine Fehlleistung, die man als Schuldbekenntnis auslegen könnte. 102 Vgl. Hf S. 47: „[…] meinerseits entschlossen, die Stelle in Bagdad anzutreten sobald als möglich.“ - 26 - Unbewusst scheint er sehr wohl zu wissen, dass er die Trennung wollte, selbst wenn Hanna sie ausgesprochen hat: „[…] unser Kind damals, die ganze Geschichte, bevor ich (A. d. A) Hanna verlassen habe […].“ (S. 118) Es kommt zur Trennung, und dieser Schritt, und die gesamte gemeinsame Zeit davor, haben schwerwiegende Konsequenzen für Walters Psyche. Das Grundproblem ist das Dilemma, in dem er sich befindet, sobald er sich genötigt sieht, Hanna heiraten zu müssen. Sie ist die Frau, die er liebt, seine Ikone, mit der er sich identifiziert, die unersetzbar für ihn ist. Doch sie ist auch die Frau, die ihm im Weg steht, ihn daran hindert, sich auf seiner Seite des selbst geschaffenen Dualismus zu verwirklichen und uneingeschränkt dem Karrierismus zu frönen. Sie bedeutet eine unberechenbare Gefahr. – Sie ist Halbjüdin. Ein Kind passt noch weniger in dieses Bild. Er muss sie und das Kind loswerden. Um dies zu ermöglichen, lädt er eine enorm große Schuld auf sich, indem er Hanna auf eine emotional grausame und beispiellose Art von sich wegstößt, dass sie ihn nur noch „freiwillig“ verlassen kann. Er überlässt sie ihrem Schicksal, aber an so etwas glaubt er ja nicht. Für Hanna ist es eine Flucht vor Walter, die Flucht vor den Nazis steht ihr noch bevor. Dessen ist sich Walter vollkommen bewusst – d.h. er verdrängt, was auf Hanna seinetwegen zukommt. Dass er tatsächlich nicht weiß, ob sie die Nazi-Zeit überlebt hat, zeigt sich an den aufgeregten Überlegungen nach der Begegnung mit Herbert Henke: „Ich wagte nicht einmal zu fragen, ob Hanna noch am Leben sei.“ (Hf S. 29) „Warum ich nicht fragte, ob Hanna noch lebt, weiß ich nicht – vielleicht aus Angst, er würde mir sagen, Hanna sei nach Theresienstadt gekommen.“ (Hf S. 29) „,Lebt sie eigentlich noch?‘“ (Hf S. 31) „,Hat sie denn noch emigrieren können?‘“ (Hf S. 32) Walter entwickelt aufgrund der Ereignisse – Hanna, die eine Gefahr darstellt; seine unkritische Haltung zu den Nazis; sein egoistisches Verhalten Hanna gegenüber; die Schuld, die auf ihm lastet – ein Trauma. Um die Verantwortung für all das aus seinem Bewusstsein zu drängen, muss auch Hanna aus seinem Bewusstsein gedrängt werden, Hanna, die Frau, die er liebt, die Frau, deren Tod er aus reiner Egomanie in Kauf nimmt. - 27 - 3.3 Strategien zur Kompensation des Traumas Für Walter beginnt jetzt, wo Hanna aus seinem Bewusstsein verschwunden ist, und damit aus seinem Leben gestrichen zu sein scheint, ein neuer Lebensabschnitt. Er verfällt seiner rationalen, berechenbaren, alles Sinnliche und Gefühlvolle verneinenden Technik-Welt, die er sich als Schutz vor sich selbst kreiert hatte, völlig. Diese Vorstellung seines Lebens wird zur Maxime seines Lebens, der er sich immer zwanghafter unterwirft. Doch die bedingungslose Flucht in diese Welt ist eine Flucht vor seinem Vergehen, eine Flucht vor Hanna und allem, was nach seinem Empfinden mit ihr in Verbindung steht, sodass er nicht mehr daran erinnert wird. Mit dem Negieren aller Inhalte, die er Hannas Seite seiner dualisierten Welt zuschreibt, nämlich der mütterlich-weiblich-mystischen Seite, negiert, leugnet und verdrängt er seine Schuld. – Die Welt des Homo faber dient jetzt also dem Zweck, sein Trauma zu kompensieren. Dabei nehmen seine Einstellungen, insbesondere die der „übertriebenen Einseitigkeit des männlich denkenden Logozentrismus“103, immer abstrusere Formen an, und indem „er als Mann die ganze Menschheit zu vertreten gedenkt, wird er Opfer eines GottKomplexes.“104 In seiner Megalomanie sieht er sich als ebenbürtig mit Gott, und diesem sogar überlegen: „Der liebe Gott! Er macht es mit Seuchen; wir haben ihm die Seuchen aus der Hand genommen. Folge davon: wir müssen ihm auch die Fortpflanzung aus der Hand nehmen. Kein Anlaß zu Gewissensbissen, im Gegenteil: Würde des Menschen, vernünftig zu handeln und selbst zu entscheiden. Wenn nicht, so ersetzen wir die Seuchen durch Krieg. Schluss mit Romantik. Wer die Schwangerschaftsunterbrechung grundsätzlich ablehnt, ist romantisch und unverantwortlich.“ (Hf S. 106) Er dokumentiert mit dieser radikalen Meinung aber auch, dass er Normen und Werte einer auf Menschlichkeit und sozialer Fürsorge basierenden Gesellschaft nicht akzeptieren kann; er setzt sie mit Romantik gleich. Die Berührung mit solcherart Gemütsstimmungen möchte er aber unbedingt vermeiden, weil sie durch assoziative Verknüpfungen mit den Erinnerungen an Hanna verbunden sind. Was die Qualität der Beziehungen mit den Frauen angeht, die nach Hanna in sein Leben treten, so scheint keine an sie heranzureichen (vgl. Kap 3.1 u. Hf S. 146, bzw. als Zit. auf S. 18 dieser Arbeit). Er praktiziert mit seinen Affären, die nie über das Körperlich-Geschlechtliche hinausgehen, den gelebten American 103 104 Chien, a.a.O., S. 194. Ebd., S. 195. - 28 - Way of Life105 mit seinen jeder Zeit ersetzbaren Massenprodukten.106 – Die Frau als notwendiges aber austauschbares Objekt zur Befriedigung der momentanen geschlechtlichen Lust – und nicht mehr. In diesem Zusammenhang ist die Rolle der Amerikanerin Ivy, die ein „emotionales Opfer“ von Walter ist, exemplarisch für sein pathologisches Verhalten Frauen gegenüber. Er liebt Ivy nicht (vgl. Hf S. 30) und sie wird aus seinem männlichen Blickwinkel „so negativ gestaltet, daß seine männliche Überheblichkeit, Sachlichkeit, Geistigkeit, Rationalität und Unabhängigkeit durchaus hervorgehoben wird.“107 Und doch entdeckt er an ihr auch verschiedene verderbliche mütterlich-weibliche Attribute108, vor denen er sich fürchtet. Walters Beteuerung, dass Ivy eigentlich „ein herzensguter Kerl“ sein kann, „wenn sie nicht geschlechtlich wurde“ (Hf S. 65), „expliziert zweifelsohne mehr seine unheimliche Angst vor dem anderen Geschlecht anstatt vor der Person Ivy.“109 3.4 Walters Begegnung mit Sabeth – Suchen und Finden eines Ideals Nachdem Hanna infolge der traumatischen Ereignisse von 1936 über zwanzig Jahre aus Walters Bewusstsein verschwunden war, beschäftigt sie ihn, seit er durch Herbert Hencke von ihr erfahren hat, wieder sehr – und zwar auf allen Bewusstseinsebenen.110 Auf der Schifffahrt nach Paris, wo Walter recht bald auf Sabeth trifft, kreist Hanna pausenlos in seiner Gedankenwelt. Doch die innerliche Verbundenheit mit Hanna lässt den Schluss zu, dass Walter „nicht an Hanna denkt, weil er Sabeth begegnet ist, sondern umgekehrt, daß er auf Sabeth aufmerksam wird, weil er so intensiv in seinem Innern von Hanna eingenommen ist.“111 In Sabeth erkennt Walter, ihm völlig unbewusst bleibend, ein Idealbild, das er sich vor vielen Jahren mit Hanna geschaffen hatte. Er vergleicht die beiden nach den ersten Begegnungen mit Sabeth sogar schon intensiv miteinander, kann sich aber nicht bewusst machen, was er in Sabeth sieht, und rationalisiert sein Verhalten: 105 106 107 108 109 110 111 Symbolisch betrachtet stellen die USA für Walter die Heimat seiner Technikwelt dar, während aber Griechenland, wo Hanna lebt, die Mystik beheimatet ist. Vgl. Chien, a.a.O., S. 221. Ebd., S. 221. Ebd., S. 222. Ebd. Vgl. Hf S. 29: „Ich träumte von Hanna.“ Walter träumt gleich in der ersten Nacht, nachdem er an sie erinnert wurde, von ihr. Würker, Achim: Technik als Abwehr. Die unbewußten Lebensentwürfe in Max Frischs Homo faber. Frankfurt a. M.: Nexus Verlag, 1991. S. 46. - 29 - „Ich sage mir, daß mich wahrscheinlich jedes junge Mädchen irgendwie an Hanna erinnern würde. Ich dachte in diesen Tagen wieder öfter an Hanna. Was heißt schon Ähnlichkeit? Hanna war schwarz, Sabeth blond beziehungsweise rötlich, und ich fand es an den Haaren herbeigezogen, die beiden zu vergleichen. Ich tat es aus lauter Müßiggang. Sabeth ist jung, wie Hanna damals jung gewesen ist, und zudem redet sie das gleiche Hochdeutsch, aber schließlich (so sagte ich mir) gibt es ganze Völkerstämme, die Hochdeutsch reden. […] ich rechnete mir aus, wie alt Hanna jetzt wäre, ob sie schon weiße Haare hätte.“ (Hf S. 78 f.) Unmittelbar danach offenbart Walter, wie sehr er sich ab dem Moment, wo er sich mit Hanna in seinen Gedanken beschäftigt und zugleich auf die reale Sabeth trifft, die Nähe Hannas herbeiwünscht und sich von ihrer Präsenz regelrecht eingeholt, ja umgeben fühlt. – Die Anwesenheit Sabeths wird für Walter zur Anwesenheit Hannas: „Wäre Hanna auf Deck gewesen, kein Zweifel, ich hätte sie sofort erkannt. Ich dachte: vielleicht ist sie auf Deck! […], ohne im Ernst zu glauben, daß Hanna wirklich auf Deck ist. Zeitvertreib! Immerhin (ich gebe es zu) hatte ich Angst, es könnte sein, und ich musterte sämtliche Damen, die keine jungen Mädchen mehr sind, […] in aller Ruhe, ganz sachlich.“ (Hf S. 79) Das Gefühl, jemanden zufällig auf dem Schiff zu treffen, den er kennt, hat Walter sogar unmittelbar in dem Moment der allerersten Begegnung mit Sabeth, die sogar eine sehr flüchtige Begegnung ist. Ein weiteres Zeichen dafür, wie intensiv sein latentes Inneres auf Hanna konzentriert und auf der Suche nach ihr ist, aber auch, dass die Suche bei Sabeth endet, weil Walter – unbewusst – in Sabeth Hanna gefunden hat: „Es war kurz nach der Ausfahrt, als ich das Mädchen mit dem blonden Roßschwanz zum ersten Mal erblickte […] vor mir: ein junges Mädchen in schwarzer Cowboy-Hose, kaum kleiner als ich, […] ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur ihren blonden oder rötlichen Roßschwanz […]. Natürlich blickte man sich um, ob man jemand kennt; es hätte ja sein können.“ (Hf S. 69 f.) Sabeth nimmt für Walter – weiterhin auf einer völlig latenten, seinem Bewussten verborgenen Weise – ab dem ersten Moment ihrer Begegnung, wo HannaFantasie auf Sabeth-Wirklichkeit trifft, die Funktion eines Ersatzobjektes ein, was heißt, dass Walters Psyche, um sein Gieren nach Hanna befriedigen zu können, den Mechanismus der Verschiebung anwendet. Walter weist selbst durch seine auffallende Wortwahl auf Sabeths Statthalterfunktion hin: „Ich langweilte mich, daher die Spintisiererei um Hanna; […] und was ich von Hanna wußte, war gerade genug für einen Steckbrief, der nichts nützt, wenn die Person nicht hier ist. Ich sah sie nicht, wie gesagt, nicht einmal mit geschlossenen Augen. Zwanzig Jahre sind eine Zeit. Stattdessen (A. d. A.) (ich machte die Augen auf […]) wieder dieses junge Ding, das Fräulein Elisabeth Piper heißt.“ (Hf S. 79 f.) Das Verschwimmen von Sabeth und Hanna in einer Person wird auch auf der gemeinsamen Fahrt durch Frankreich, Italien, Griechenland deutlich. Denn wie - 30 - „früher Hanna versucht nun Sabeth Faber Kunstwerke nahezubringen, und Faber weist dies ab“112. Damals mit Hanna: „Manchmal hatten wir einen regelrechten Krach, wenn wir beispielsweise aus dem Schauspielhaus kamen, wohin sie mich immer wieder nötigte […].“ (Hf S. 47) Und auf der Reise mit Sabeth: „Was mir Mühe machte, war lediglich ihr Kunstbedürfnis, ihre Manie, alles anzuschauen. […] In Florenz rebellierte ich […].“ (Hf S. 107) „Ich kann mit Museen nichts anfangen.“ (Hf S. 108) In einer späteren Szene (auf Cuba) wird deutlich, dass „sich der irritierende Wechsel von Sabeth auf Hanna gar nicht ohne weiteres mitteilen läßt“113 und im Gespräch mit Außenstehenden (in diesem Fall die Cubanerin Juana) zu Verwechslungen führt. „Ich erzählte von meiner Tochter, die gestorben ist, von der Hochzeitsreise mit meiner Tochter, von Korinth, von der Aspisviper, die über ihrer linken Brust gebissen hat, und von ihrem Begräbnis, von meiner Zukunft. ,I’m going to marry her.‘ Sie versteht mich falsch: ,I think she’s dead.‘ Ich berichtige. ,Oh‘, lachte sie, ,your’re going to marry the mother of the girl, I see!‘ ,As soon as possible.‘ ,Fine!‘ sagt sie. ,My wife is living in Athens –‘“ (Hf S. 180) 3.4.1 Walters Reise mit Sabeth – die Reise zu seiner Selbsterkenntnis Der Hintergrund von Walters Fixiertheit auf Hannas mütterlich-weibliche Wesensmerkmale, die sie für ihn repräsentiert, und die er in Sabeth wiederentdeckt, ist sein latentes Verlangen, die Seiten seiner eigenen Persönlichkeit, die dem entsprechen, zuzulassen (vgl. Kap. 3.1). Die Suche nach Hanna ist somit auch eine Suche nach dem eigenen, wahren Ich, das Walter bisher durch die ausschließliche Hinwendung zum Technischen und die totale Verinnerlichung des männlich-väterlichen Wertekanons verdrängt hat. Auf der gemeinsamen Reise mit Sabeth werden ihm durch sie die Augen für ein völlig neues Leben, das er so nie wahrgenommen hatte, geöffnet. – Er genießt: „Unsere Reise durch Italien – ich kann nur sagen, daß ich glücklich gewesen bin […].“ (Hf S. 107) Und wörtlich: „Was ich genoß: Campari!“ (Hf S. 107) 112 113 Würker, a.a.O., S. 60. Ebd. - 31 - Zwar wird deutlich, dass sich das neue Bewusstsein für die eigenen Gefühle, das Leben und die Natur nicht mit einem Schlag vollzieht, die Wirkung, die die gemeinsame Zeit mit Sabeth auf sein ganzes Wesen hat, ist trotzdem unverkennbar: „Was mich am meisten freute, war ihre Freude. Ich staunte manchmal, wie wenig sie brauchte, um zu singen, eigentlich überhaupt nichts; sie zog die Vorhänge auseinander und stellte fest, daß es nicht regnete, und sang.“ (Hf S. 109 f.) „Ein italienisches Paar, das durch den großen Kreuzgang ging, interessierte mich mehr als alle Statuen, vor allem der Vater, der ihr schlafendes Kind auf den Armen trug […]. Vögel zwitscherten, sonst Grabesstille.“ (Hf S. 110) „Das Mädchen gefiel mir, wenn wir in einem Ristorante saßen, jedesmal aufs neue, ihre Freude am Salat, ihre kindliche Art, […] ihre festlich Begeisterung […], ihr Übermut –“ (Hf S. 112) „Es genügte mir, im Gras zu liegen, […] Hauptsache: ihr Kopf an meiner Schulter.“ (Hf S. 113) „Wir hatten unsere Schuhe ausgezogen, unsere bloßen Füße auf der warmen Erde, ich genoß es, barfuß zu sein, und überhaupt.“ (Hf S. 116) Während der Mondfinsternis (vgl. Hf S. 124 f.) und der gemeinsamen Zeit in Akrokorinth (vgl. Hf S. 150 ff.) hat Walter die ersten richtigen Landschaftserlebnisse und Sabeth lehrt ihn das Schauen. Doch durch Walters momentane Gesundheitssituation gewinnt der unbewusste Wunsch nach dem Erkennen des wahren Selbst und nach der HannaMutter-Symbolik, die sich in Sabeth wiederspiegelt, und nicht zuletzt das Verlangen, das pure Leben auszukosten, eine zusätzliche Bedeutung. Innerlich weiß Walter nämlich, dass seine unerträglichen Magenschmerzen kein gutes Zeichen sind und dass sein Tod nur noch eine Frage der Zeit ist. Doch Leben und Tod gehören „zusammen zum Unbewußten, dessen Ganzheit durch die mütterlichweibliche Symbolik charakterisiert ist.“114 Und die Überwindung der Todesangst kann ausschließlich durch die Zurückgewinnung der an die Mutter verhafteten Libido erfolgen.115 Dieser Umstand macht Sabeth für Walters Psyche noch unwiderstehlicher.116 114 115 116 Chien, a.a.O., S. 184. Theorie nach C.G. Jung Ebd. Walter verschiebt (vgl. Kap. 2.2.3, S. 16 dieser Arbeit) die Gefühle auf Sabeth, in der er Hanna erkennt, aber auch Sabeth selbst weist Anzeichen mütterlicher Zuwendung auf: „Leider hatte ich einmal meine Magenschmerzen erwähnt; nun meinte sie immer, ich hätte Magenbeschwerden, mütterlich besorgt, als wäre ich unmündig.“ (Hf S. 110) - 32 - 3.4.2 Walter Faber – ein neuer Mensch? Der Einfluss Sabeths auf Walter überdauert die Zeit ihres Lebens. Auf Cuba kommt er zum „Entschluß, anders zu leben“ (vgl. Hf S. 175). In Akrokorinth hatte sie ihn gelehrt zu schauen, und jetzt gibt es für ihn „[vier] Tage nichts als Schauen“ (Hf S. 172). Seine Gemütslage ist mit der des alten Technikers Faber nicht mehr zu vergleichen: „Ich hatte keinen besonderen Grund, glücklich zu sein, ich war es aber.“ (Hf S. 180) Selbst das Singen, das für ihn zuvor noch unvorstellbar gewesen wäre, probiert er jetzt: „Ich schaukle und singe. Stundenlang. Ich singe! Ich kann ja nicht singen, aber niemand hört mich […].“ (Hf S. 181) Walter identifiziert sich mit Sabeth vollkommen und trägt ihre Einstellung zum Leben in sich weiter. Er lässt nun seine eigenen weiblichen Seiten zu und verabschiedet sich in den letzten Wochen seines Lebens von Homo faber. Diesen Wandel dokumentiert er schriftlich in seiner „Verfügung für den Todesfall: […] Auf der Welt sein: im Licht sein. Irgendwo (wie der Alte neulich in Korinth) Esel treiben, unser Beruf! – aber vor allem: standhalten dem Licht, der Freude […], standhalten der Zeit, beziehungsweise Ewigkeit im Augenblick. Ewig sein: gewesen sein.“ (Hf S. 199) 3.4.3 Tod – Verantwortung – Schuld? Die Schuldfrage im Bezug auf Sabeths Tod trifft Walter in mehrfachem Sinne: zum einen ist er es, der den Vorschlag macht, die Nacht in Akrokorinth im Freien zu verbringen (vgl. Hf S. 150), zum anderen stellt sich heraus, dass Sabeth nicht durch den Schlangenbiss stirbt, sondern aufgrund einer Schädelfraktur, die sie sich zuzieht, als sie, erschrocken vom Anblick des entblößten Walters, über die Böschung stürzt (vgl. Hf S. 157 f. u. 160). Doch der entscheidende Gesichtspunkt, der eine Erörterung der Schuldfrage aus psychoanalytischer Sicht relevant macht, ist die Frage, ob Walter, aufgrund von Verdrängungsvorgängen, nicht wahrhaben kann, dass Sabeth seine Tochter ist, oder ob er es aus egoistischen Motiven nicht wahrhaben will; und damit zusammenhängend: warum hat er die Möglichkeit der Vaterschaft nie vor Sabeth zur Sprache gebracht? Das hätte mit Sicherheit Auswirkungen auf den Verlauf der Ereignisse gehabt und es hätte nicht zum Unfall kommen müssen. - 33 - Zunächst soll die Zeit ins Auge gefasst werden, ab der Walter mit Sicherheit weiß, dass Sabeth Hannas Tochter ist: „Was mir dazu einfiel: eine Heirat kam wohl nicht in Frage. Dabei dachte ich nicht einen Augenblick daran, daß Sabeth sogar mein eigenes Kind sein könnte. Es lag im Bereich des Möglichen, theoretisch, aber ich dachte nicht daran. Genauer gesagt, ich glaubte es nicht (A. d. A.).“ (Hf S. 118) Mit dieser widersprüchlichen Äußerung gesteht Walter, dass er die Möglichkeit sehr wohl in Betracht zieht und sogar die Wahrscheinlichkeiten abwägt – sich also bewusst damit auseinander setzt. Er lässt die Geschehnisse jener Zeit sogar kurz Revue passieren: „Natürlich dachte ich daran: unser Kind damals, die ganze Geschichte, bevor ich Hanna verlassen habe, unser Beschluß, daß Hanna zu dem Arzt geht, zu Joachim – Natürlich dachte ich daran, aber ich konnte es einfach nicht glauben, weil zu unglaublich […].“ (Hf S. 118 f.) Diese Äußerungen weisen auf eine bewusste, kognitive Beschäftigung mit der Thematik hin. An Walters weiterem Vorgehen zeigt sich jedoch, dass er dazu übergeht, Fakten zu seinen Gunsten zu verändern und seine Vaterschaft mit vertraut rationalen Mitteln schrittweise unbewusst zu machen: „Ich rechnete im stillen […] pausenlos, bis die Rechnung aufging, wie ich sie wollte: Sie konnte nur das Kind von Joachim sein! Wie ich’s rechnete, weiß ich nicht; ich legte mir die Daten zurecht, bis die Rechnung wirklich stimmte. […] als Sabeth eine Weile weggegangen war, genoß ich es, die Rechnung auch noch schriftlich zu überprüfen. Sie stimmte; ich hatte ja die Daten […] so gewählt, daß die Rechnung stimmte; fix blieb nur der Geburtstag von Sabeth, der Rest ging nach Adam Riese, bis mir ein Stein vom Herzen viel.“ (Hf S. 121 f.) Bemerkenswert ist, wie sich ein Ingenieur, der mit solch simplen Regeln der Mathematik vertraut sein sollte, eine derartige Fehlleistung erlaubt. Er verdrängt ab hier einen ganz entscheidenden Faktor, der verhindert, dass die Rechnung aufgeht: er hat Hanna nicht vor zwanzig, sondern vor einundzwanzig Jahren verlassen.117 Doch der springende Punkt ist hier allerdings nicht, dass Walter, ab dem Moment, wo er weiß, wer Sabeths Mutter ist, anfängt zu verdrängen. Viel mehr ist die Verdrängung, im Wissen über diese Tatsache, eine symptomatische Fortsetzung einer viel stärkeren Verdrängung, und damit vollkommen unbewusst. Diese stärkere Verdrängung, die weit aus früher einsetzte, ist die Verdrängung der Verantwortung für den Verlauf der Ereignisse vor einundzwanzig Jahren. Dass Walter bei seinen Kalkulationen nicht auf die Wahrheit stoßen wird, lässt sich schon an seinen Überlegungen erkennen, die er anstellt, noch bevor er definitiv weiß, dass Sabeth Hannas Tochter ist: 117 Vgl. Hf S. 159: „Hanna hatte recht, irgendwas vergaß ich stets.“ - 34 - „Ihre Ähnlichkeit mit Hanna ist mir immer seltener in den Sinn gekommen, je vertrauter wir uns geworden sind, das Mädchen und ich. Seit Avignon überhaupt nicht mehr! Ich wunderte mich höchstens, daß mir eine Ähnlichkeit mit Hanna je in den Sinn gekommen ist. Ich musterte sie daraufhin. Von Ähnlichkeit keine Spur!“ (Hf S. 115) Aufgrund der Komplexität der Gesamtsituation ist meiner Meinung nach eine eindeutige Antwort auf die Schuldfrage nicht möglich. Denn Verdrängung läuft, wie jeder Abwehrmechanismus, unbewusst ab und kann der direkten Wahrnehmung nicht ohne weiteres zugänglich gemacht werden. Allerdings ist auch das bewusste, egoistische Motiv Walters zu erkennen, unter keinen Umständen in den Verlauf der Ereignisse einzugreifen, damit der die Zeit mit Sabeth möglichst lange und intensiv auskosten kann. - 35 - 4 Ist Sabeth Hanna? – Der Versuch einer sinnigen Antwort auf eine sinnwidrige Frage Nein. Sabeth ist nicht Hanna, müsste die kategorische Antwort innerhalb einer nüchtern-objektiven Betrachtung der Sachlage lauten. Bei Sabeth und Hanna handelt es sich um zwei unterschiedliche Persönlichkeiten mit zwei verschiedenen Biographien. Die Tatsache, dass sie denselben Liebhaber haben, raubt ihnen nicht ihre Individualität. – Wie gesagt, innerhalb einer nüchtern-objektiven Betrachtung der Sachlage. Die Darstellung der psychoanalytischen Theorie hat aber gezeigt, dass das bewusst Erkennbare, zu dem auch die nüchtern-objektive Betrachtung einer Sachlage gehört, nur einen winzigen Teil aller Bewusstseinsvorgänge ausmacht, und somit lediglich ein kleiner Ausschnitt aus der Wirklichkeit ist. In den kaum bewusstseinsfähigen Regionen unserer Psyche, von denen wir dominiert und dirigiert werden, herrschen keine Regeln der Nüchternheit und Objektivität. Es ist die Tiefenwelt der Psyche – und sie ist ein Ort des Emotionalen und Subjektiven. Die nüchterne Betrachtung einer Sachlage, etwa die Feststellung, dass Sabeth und Hanna zwei verschieden Personen sind, kann in ihr eine völlig neue Bedeutung erfahren. Denn hier zählen nicht die von außen vorgegebenen, rationalen Festlegungen einer Gegebenheit, sondern welche Entsprechung sie im Subjektiven einnehmen. Wenn also die Bedeutung von Sabeth in Walters Unbewussten die Entsprechung Hannas annimmt, muss die Frage, ob Sabeth Hanna sei, mit ja beantwortet werden. Es ist aber eine emotional-subjektive Antwort aus der Sichtweise eines einzigen Individuums, die jeglicher nüchtern-objektiver Betrachtung der Sachlage entbehrt. - 36 - Quellenverzeichnis Buchtitel: Balle, Martin: Sich selbst schreiben – Literatur als Psychoanalyse. München: Iudicium-Verlag, 1994 Chien, Chieh: Das Frauenbild in den Romanen ,Stiller‘ und ,Homo faber‘ von Max Frisch im Lichte der analytischen Psychologie C. G. Jungs. Frankfurt a. M. u. a.: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 1997 Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band I. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Und Neue Folge. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 19947 Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band III. Psychologie des Unbewußten. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 19947 Freud, Sigmund: Abriss der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 200410 Frisch, Max: Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1999 Fröhlich, Werner: Wörterbuch Psychologie. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 200224 Hage, Volker: Max Frisch. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 19931 Köhler, Thomas: Anti-Freud-Literatur von ihren Anfängen bis heute. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 1996 Laplanche, J. u. a.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuchverlag, 199915 Mertens, Wolfgang: Kompendium psychoanalytischer Grundbegriffe. München: Quintessenz Verlag, 1992 Würker, Achim: Technik als Abwehr. Die unbewußten Lebensentwürfe in Max Frischs Homo faber. Frankfurt a. M.: Nexus Verlag, 1991 Zeitung: Wingert, Lutz: Was macht die These der Deterministen so attraktiv? In: Ärzte Zeitung. Nr. 178 / 06.10.2005 Tonträger: Arnold, Heinz L.: Max Frisch. Leben und Werk. Doppel-CD. Heiner Boehncke (Hg.). Ferdinand Ludwig (Regie). Hessischer Rundfunk (Produktion). München: Der Hörverlag, 2001 - 37 - Literaturverzeichnis Buchtitel: Balle, Martin: Sich selbst schreiben – Literatur als Psychoanalyse. München: Iudicium-Verlag, 1994 Chien, Chieh: Das Frauenbild in den Romanen ,Stiller‘ und ,Homo faber‘ von Max Frisch im Lichte der analytischen Psychologie C. G. Jungs. Frankfurt a. M. u. a.: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 1997 Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band I. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Und Neue Folge. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 199412 Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band II. Die Traumdeutung. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 199610 Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band III. Psychologie des Unbewußten. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 19947 Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band IV. Psychologische Schriften. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 19897 Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band V. Sexualleben. Mitscherlich (Hg.) u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 19947 Freud, Sigmund: Abriss der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 200410 Frisch, Max: Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1999 Fröhlich, Werner: Wörterbuch Psychologie. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 200224 Knapp, M. u. a.: Max Frisch: Homo faber. Grundlagen und Gedanken zu Verständnis erzählender Literatur. Frankfurt a. M.: Verlag Moritz Diesterweg, 19955 Hage, Volker: Max Frisch. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 19931 Köhler, Thomas: Anti-Freud-Literatur von ihren Anfängen bis heute. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 1996 Laplanche, J. u. a.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuchverlag, 199915 Meurer, Reinhard: Max Frisch. Homo faber. München: Oldenburg Verlag, 19973 Mertens, Wolfgang: Kompendium psychoanalytischer Grundbegriffe. München: Quintessenz Verlag, 1992 - 38 - Ramer, Ulrich: Rollen-Spiele. Literaturwissenschaftliches Lesebuch. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 1993 Wilpert, Gero v.: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 19897 Würker, Achim: Technik als Abwehr. Die unbewußten Lebensentwürfe in Max Frischs Homo faber. Frankfurt a. M.: Nexus Verlag, 1991 Zeitung: Wingert, Lutz: Was macht die These der Deterministen so attraktiv? In: Ärzte Zeitung. Nr. 178 / 06.10.2005 Tonträger: Arnold, Heinz L.: Max Frisch. Leben und Werk. Doppel-CD. Heiner Boehncke (Hg.). Ferdinand Ludwig (Regie). Hessischer Rundfunk (Produktion). München: Der Hörverlag, 2001 - 39 - Erklärung Ich erkläre, dass ich die Seminararbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen und Hilfsmittel benützt habe. Mit der Veröffentlichung meiner Seminararbeit im Internet bin ich einverstanden. München, 09. Januar 2006