1 Ethik-Lehrgang 2012/13: Zusammenfassung zu Hans Joas, Die Entstehung der Werte Hans Joas gilt als ein Vertreter der neueren Wertethik, das ist eine normativ-ethische Grundposition, die Werte oder Ideale als richtungsweisende Elemente des moralischen Urteilens und Handelns betrachtet: Werte sind die individuelle oder von Gruppen geteilte Ziele von Handlungen und zugleich der Maßstab, an dem sie gemessen werden. Sie stellen Güter dar und stehen in der Regel in einer hierarchischen Ordnung, das heißt, es gibt Werte, die von größerer Bedeutung sind als andere. Mit dem Utilitarismus bzw. der pragmatistischen Ethik gemeinsam hat diese Position, dass eine Handlung vom Ziel aus bewertet wird. Jedoch unterscheidet sich die Wertethik insofern von der pragmatistischen Sicht, als Ziele von Handlungen ganz unterschiedliche Werte sein können, und nicht die Zufriedenheit bzw. das Glück des Handelnden allein für die Beurteilung der Handlung als moralisch richtig oder falsch herangezogen werden. Die deontologischen Ethik wiederum unterscheidet sich von die Wertethik und pragmatischer Ethik im Wesentlichen dadurch, dass hier die Handlungsziele keine Rolle spielen und die Handlungen an sich beurteilt werden, im Prinzip unabhängig von deren Konsequenzen. Es geht darum, moralische Gebote zu befolgen und Pflichten zu erfüllen, Interessen und Gefühle der handelnden Person haben keine Bedeutung. Joas formuliert zu Beginn seines Buches die Fragestellung, welche seinem Text den Titel gab: Wie entstehen Werte? – und gibt auch gleich die Antwort: Werte entstehen in Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz. Um diese Antwort für den Leser verständlich zu machen, will der sich diesem Thema in einem Prozess der Annäherung an verschiedene Positionen nähern. Er arbeitet dabei im Wesentlichen folgende Komponenten der Wertethik heraus: a) Werte entstehen kontingent und subjektiv im Unterschied zum objektiven, von der Gesellschaft vorgegebenen Regelsystem der Moral b) Werte sind gefühlsgeladen und motivieren stark c) Ideale und Werte sind richtungsweisende Komponenten des Handelns, sie transzendieren die reale Situation, in der Handlungen erfolgen d) Werten sind in der Person verankert, stiften Identität. Joas ist sich dabei bewusst, dass er mit Begriffen arbeitet, die nicht unangefochten sind, wie der Begriff Transzendenz und Selbst, doch verspricht er, dieses Problem mithilfe seiner Methode zu lösen. Ihn fasziniert an den Werten zuerst ihre emotionale Bindungskraft. Weil Werte mit Gefühlen besetzt sind, motivieren sie stärker als Pflichten, die von der Gesellschaft auferlegt werden und mit den persönlichen Wünschen (Präferenzen) nicht unmittelbare verbunden sind. Als Musterbeispiel des Aufbegehrens gegen eine Wertordnung, welche die Leidenschaften des Einzelnen unterdrücken will, schildert Joas das Beispiel Nietzsche. Dieser habe speziell in seinem Text „Genealogie der Moral“ gezeigt, dass die christlichen Werte, vor allem das Mitleid, aus Ressentiment gegen die Starken erfunden wurden, deren dionysischer Lebensstil auf diese Weise zurückgedrängt werden konnte. Der Übermensch jedoch befreit sich von dieser Moral und lebt seine eigenen Werte. Ein weiteres Ziel Joas ist es, uns die Trennung von Ethik und Moral, welche er bei Nietzsche das erste Mal vollzogen sieht, plausibel zu machen: Ethik ist das kontingente, das heißt zufällig sich ergebende Wertesystem von Individuen oder von durch gemeinsame Werte und Emotionen verbundenen Gruppen und motiviert stark, Moral hingegen erhebt den Anspruch, universell und allgemeingültig zu sein, hat aber nur eine schwache Motivationskraft. Ganz im Sinn von Max Scheler, den bekanntesten Vertreter der modernen Wertethik und Verteidiger der von Nietzsche geschmähten christlichen Liebesidee, findet Joas im Religiösen eindrucksvolle Beispiele starker Affektgeladenheit. Joas zieht zur Erhellung diese Themas die Ausführungen von William James („The Varieties of Religios Experience“,1902) heran, der sich mit der individuellen religiösen Erfahrungen beschäftigt hat und für Joas damit auch zeigen konnte, welche Kraft in subjektiven Idealen und Werten steckt. 2 Ethik-Lehrgang 2012/13: Zusammenfassung zu Hans Joas, Die Entstehung der Werte Joas widmet in seinem Buch der Religion und Religionssoziologie viel Aufmerksamkeit: An Èmile Durkheim, dem französischen Soziologen, interessiert ihn dessen Theorie von der kollektiven Ekstase, die zur Selbsttranszendierung und Erneuerung von Idealen und Werten führt. Der fortschreitende Säkularisierungsprozess zu Beginn der Moderne scheint das Entstehen etlicher religionssoziologischer Theorien gefördert zu haben. Der Religion wurde durch die Denker um 1900 eine Schlüsselfunktion bei der Entstehung von Werten gegeben. Auch für den deutschen Philosophen Georg Simmel war Religion Möglichkeit und Beispiel für Wertbildung wegen ihrer Leidenschaft weckenden Verweisung auf Allgemeines (G. Simmel „Gesammelte Schriften zur Religionssoziologie“). Joas erklärt, dass nach Simmel überall dort, wo in Sozialbeziehungen in einer bestimmten Gefühlstönung auftritt, eine Form von Religiosität gegeben ist. Aus der Kultur der Rationalität hingegen sei keine Werterfahrung möglich. Besonders elektrisierend findet Joas, wie Simmel den Begriffs Transzendenz behandelt: Der Neukantinaner Simmel meinte, dass das erkennende Bewusstsein immer Transzendenzcharakter hat, wenn es die Grenzen der Erkenntnis reflektiert. Ein Ich, das keine Grenzen zöge, wäre kein bestimmtes Ich. Transzendenz ist daher nicht mehr auf das Jenseits bezogen, sondern ist dem Leben selbst immanent. Auch der Wille kann nur erfahren werden, wenn sich unser Wünsche nicht immer erfüllen, weil sie gegebene Möglichkeiten übersteigen. Mit solchen Aussagen ist für Joas die Basis gelegt für seine zentrale These, nämlich, dass Werte in der individuellen Erfahrungen der Selbsttranszendenz entstehen. Diese Werte haben aber, wie er gegen Max Scheler, den Neubegründung der materialen Wertethik anführt, keine von der Person unabhängige, objektive Existenz, sie werden nur als eigenständig empfunden. Der nächste Denker, den sich Joas vornimmt, ist John Dewey, der bemüht war, die Entstehung von Idealen unabhängig von Religion zu erklären. Er habe der den Religionsbegriff erweitert und den Begriff eines einheitlichen Selbst als Idealbild des Selbst erkannt. (J. Dewey, „A Common Faith“) . Dewey als Pragmatist betrachtet das Handeln von seiner Wirkung her. Werte entstehen in erster Linie durch Reflexion über die Realisierbarkeit von Präferenzen bzw. Wünschen. Durch Einsicht kann der Wunsch – „desire“- zu etwas Wünschenswerten –„desirable“- verändert werden. Letztlich ist Handeln nach Dewey in allen Phasen auf die Verwirklichung von Idealen bezogen. Auch ein einheitliches Selbst ist zwar nicht sinnlich wahrnehmbar, spielt aber eine wichtige Rolle als ein imaginiertes Ideal, das heißt ein Ideal, das durch die Einbildungskraft erschaffen wird: Werte und Ideale sind Resultate kreativer Vorgänge der Idealisierung kontingenter Möglichkeiten. Sie stiften Sinn und Kohärenz und haben daher eine quasireligiösen Funktion. In der Kommunikation sah Dewey einen Weg, die Selbstzentriertheit des Ichs aufzusprengen. Und wenn alle mit allen kommunizieren, wie es in der idealen Demokratie der Fall sein könnte, dann ist die Demokratie der Ersatz für die die verschwindende religiöse Gemeinschaft und wird zu Deweys säkularisierte Religion. (In dieser Hinsicht erscheint Dewey als ein Vorläufer der Diskursethik, in der das Ausverhandeln eines Konsens über moralische Regeln unter gleichberechtigen Gesprächspartnern möglich sein soll .- Anm. M.E.) Beim zeitgenössischen amerikanischen Philosophen Charles Taylor findet Joas eine Verbindung von Werttheorie und intersubjektivistischer Theorie der Identitätsbildung: In seinem Buch „Quellen des Selbst“ (deutsch 1994) befasste sich Taylor mit moralischen Gefühlen, welche auf Bezugspunkte bzw. Ideale außerhalb unser bloßen Wünsche und Interessen verweisen, nämlich auf die Person, die wir nach unserem eigenen Maßstab gerne sein wollen. Moralische Gefühle unterscheiden sich nach Taylor durch eine interne Beziehung zu uns selbst. Joas verteidigt den Selbstbegriff gegen die Kritik des postmodernen Denkers Richard Rorty, für den ein einheitliches Selbst ein überholter Begriff ist. Joas wendet ein, dass die Konzeption des modernen Identitätsbegriffs ein Verdienst der Sozialwissenschaften sei: Bewusstsein ist nicht mehr nur Behältnis, sondern Strom, indem nach eigenen Gesetzen Gedanken und Gefühle auftauchen und untergehen. Zu den Inseln im Bewusstseinsstrom zählen das „self as known“, das Selbst als Objekt der Erkenntnis. Das Selbst ist also keine Substanz, sondern kann als Struktur der Selbstbeziehung einer Person charakterisiert werden, wobei versucht wird, diese Selbstbeziehung in Richtung 3 Ethik-Lehrgang 2012/13: Zusammenfassung zu Hans Joas, Die Entstehung der Werte Einheitlichkeit und Synthetisierung herzustellen. Joas führt an dieser Stelle Erik Erikson und dessen Entwicklungstheorie an, welche die unbewussten und bewussten Leistungen der Ich-Synthese in Auseinandersetzung mit der Umwelt beschreibt. Rorty, der sich für eine umfassende Freigabe der Werte für das Privatleben ausspricht und vom Staat nur verlangt, die Zufügung von psychischer Grausamkeit bzw. die Demütigung einer Person zu verhindern, hält er entgegen, dass eine Person nur dann gedemütigt und in ihrer Selbstachtung verletzt werden kann, wenn sie als Person Konsistenz hat. D.h., dass auch die postmoderne Soziologie letztlich nicht ganz auf den Selbstbegriff verzichten kann. Der letzte Teil des Buchs befasst sich mit dem Problem, wie das Gute bzw. die persönlichen Werte mit dem Rechten bzw. einer universalen Moralkonzeption vereinigt werden kann. Diese Frage versucht Joas durch Konfrontation seiner Theorie mit der Diskursethik von Habermas und Apel zu klären und will damit auch einen Kompromiss in der politischen Kommunitarismus- LiberalismusDebatte ermöglichen. Der Kommunitarismus pocht darauf, dass verbindliche Werte nur in einer Gemeinschaft entstehen, diese zusammenhalten und daher Priorität haben sollen. Der Liberalismus möchte einen kleinsten Nenner universaler Regeln für die ganze Gesellschaft und erwartet von Staat, dass er auf die Einhaltung dieser Regeln achtet. Das heißt auch, dass sich die einzelnen Gruppierungen (z.B. ethische Minderheiten) unterordnen müssen. Für Joas ist klar, dass es keine Prioritäten geben kann, sondern Ergänzungen geben muss. Er glaubt, dass es anthropologisch bedingte Universalien gibt, wie Rollenübernahme oder Kommunikation, und daher eine Wertethik eine universalistische Moral nicht ausschließt. Die Regeln der Moral können aber die Werte nicht ersetzen, wohl aber auf ihre Generalisierbarkeit hin über prüfen. Joas stellt fest, dass heute die Diskursethik den kategorischen Imperativ der Pflichtethik abgelöst hat und den Anspruch erhebt, das richtige Verfahren für das Verhandeln von Werten anbieten zu können. Doch, so betont er, die rein rationale Verhandlung von Werten funktioniert nicht und müsse von Gesetzesmaßnahmen flankiert werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Joas versucht, in der moralphilosophischen Diskussion auf die Perspektive des Handelnden aufmerksam zu machen: Ziel bzw. Motivation von Handlungen ist es, Wünsche von Individuen oder durch Werte verbunden Gruppen zu erfüllen (oder –nach Aristoteles„Güter“ zu erlangen). Die Perspektive des Handelnden ist dabei nicht nur vom unmittelbaren Handlungsziel bestimmt, sondern immer auch von Idealen gelenkt, welche nach Joas im Selbstbild des/der Handelnden verankert sind. Handlungen müssen nicht nur kreativ auf die Situation und die Bedürfnisse abgestimmt werden, sie werden auch an einem Maßstab gemessen, der die Situation transzendiert. Die Perspektive der Handelnden scheint Joas in der modernen Moraldiskussion zu wenig berücksichtigt, vor allem, wo seiner Ansicht nach persönliche oder partikularistische Werte viel stärker motivieren als eine bestenfalls im gesellschaftlichen Diskurs vereinbarte, jedoch letztlich von außen auferlegte Moral. Es bleibt offen, ob überhaupt alle Individuen gleichermaßen Wertsysteme entwickeln und diese in ihrem Selbstbild verankern oder ob nicht, bedingt durch die Lebensumstände, keine oder auch nur sehr schwach ausgeprägte Wertbindungen in den entscheidenden Phasen der Identitätsentwicklung entstehen; oder vielleicht auch Werte und Persönlichkeiten, die kaum mit der Gesellschaft und einer universalistischen Moral kompatibel sind. – Dies dürfte wohl alles sehr mit Fragen der Erziehung und Sozialisation zusammenhängen. Margit Eidelpes, Dezember 2012