U. Gerhardt: Talcott Parsons - H-Net

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Uta Gerhardt. Talcott Parsons: An Intellectual Biography. Cambridge: Cambridge University
Press, 2002. 326 S. £ 47.50 (leinen), ISBN 978-0-521-81022-7.
Reviewed by Johannes Feichtinger
Published on H-Soz-u-Kult (November, 2003)
U. Gerhardt: Talcott Parsons
In der historischen Analyse wissenschaftlicher Theoriebildungen sind unterschiedliche Verfahrensweisen signifikant. Sehen die Einen von äußeren sozialen, kulturellen und historischen Einflüssen vollständig ab, so dass
der Anschein entsteht, dass es so etwas wie das “reine
Denken” gibt, beziehen die Anderen in die Analyse der
Entstehung wissenschaftlicher Theorien den lebensweltlichen Kontext der maßgeblichen Akteure mit ein. Die
letztere Methode scheint besonders fruchtbar, wenn sich
die Sozialwissenschaften auf ihre Geschichte besinnen;
sie ist um so ergiebiger, wenn die untersuchten Autoren
in ihrer Arbeit die brennendsten Themen der Zeit aufgriffen, politisch engagiert waren und Theorie nicht als
Selbstzweck, sondern als kondensierte Form von politischen Erfahrungen und Erkenntnissen begriffen. Die Rede ist hier von dem vielleicht einflussreichsten amerikanischen Soziologen des 20. Jahrhunderts: Talcott Parsons
(1902–1979).
te er Grundaussagen vier europäischer Wissenschaftler
(Max Weber, Émile Durkheim, Vilfredo Pareto, Alfred
Marshall), um in der Nachfolge Max Webers eine vom
Sozialdarwinismus gesäuberte Soziologie zu entwickeln.
Parsons hatte 1925/26 in Heidelberg studiert. Social Action sollte sich als Grundstock einer antidarwinistischen
Soziologie jenseits von Rasse, Volk und Nation erweisen,
die seit der Mitte der 1960er Jahre – durch Parsons vermittelt – auch in Deutschland Fuß fasste.
Da der seit 1927 an der Harvard University tätige Parsons seine Systemtheorie aber auf hohem Abstraktionsniveau entwickelt hatte, wurde er seit dieser Zeit aber
auch verstärkt als Musterbeispiel eines apolitischen Gelehrten, dessen System von der sozialen Wirklichkeit absah, eingestuft. Dieses Bild von Parsons revidiert die Heidelberger Soziologin Uta Gerhardt grundlegend in ihrer
neuen “intellektuellen Biographie”. Was lange Zeit als
abstrakte Theorie aufgefasst wurde, war in der Tat Ausfluss seiner unmittelbaren Erfahrungen einer von verschärften politischen Krisen geprägten sozialen Wirklichkeit. Auf jahrzehntelange Vorarbeiten zurückgreifend
entwirft Gerhardt von diesem sozialwissenschaftlichen
Klassiker ein neues plastisches Portrait mit historischer
Tiefenschärfe. Sie stellt dessen Theorie mit den sozialen und politischen Zuständen seiner Zeit verschränkt
dar. Zugleich legt sie aber auch seine Vorstellungen von
der gesellschaftlichen Entwicklung offen, die zwei verschiedene Extreme aufweisen konnten. Der eine Pol war
die Anomie, der andere die Integration; nur der letztere
entsprach in der Ansicht Parsons der Demokratie, auch
wenn diese von Zeit zu Zeit Gefahr lief, in anomische Zu-
Internationalen Stellenwert erlangte Parsons dank
seiner Theorien über die Struktur des sozialen Handelns
und über soziale Systeme sowie seiner zahlreichen anderen Monografien und seiner mehr als 200 Aufsätze zu unterschiedlichen soziologischen Themen. So lieferte er einen maßgeblichen Beitrag zur Ausbildung einer selbständigen akademischen Disziplin “Soziologie” in den USA.
In seinem Standardwerk der 1930er-Jahre The Structure
of Social Action analysierte er die Struktur sozialer Ordnungen: Dadurch, dass sich Handelnde mit übergreifenden sozialen Normen identifizieren, ist das Handeln der
jeweiligen Akteure im Prinzip berechenbar; so sei soziale Ordnung gewährleistet. In dieser Theorie verschränk1
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stände zu verfallen. So setzte sich Parsons intensiv mit
der Dynamik von Abbau und Wiedergewinn demokratischer Prinzipien auseinander. Auch wenn diese in einer
gefestigten Demokratie wie den USA von Zeit zu Zeit beschnitten wurden, bestanden für ihn keine Zweifel, dass
die Demokratie in ihrer höchst entwickelten Form in der
amerikanischen Gesellschaft beheimatet war. Die Verteidigung der pluralistischen Demokratie war ihm Zeit
seines Lebens das massivste Anliegen, dafür wurde er
auch politisch aktiv. Von diesem Demokratieverständnis
konnte auch das von Hitler befreite Deutschland maßgeblich profitieren, sollte seine Vorstellung des “kontrollierten institutionellen Wandels” doch die mittelfristige
amerikanische Politik im okkupierten Deutschland mitbestimmen.
schlussreich. In einer Neuauflage des Buches wäre auch
noch die Analyse der 1970er zu leisten.
Im ersten Abschnitt rekontextualisiert Gerhardt The
Structure of Social Action (1937). Sie begreift Parsons
Theorie als Kondensat seiner Analysen von amerikanischer Demokratie und NS-Totalitarismus. Seinen ersten
Weltklassiker sieht sie im Lichte einer Kritik an den
ideologischen Wurzeln von Zwangsherrschaft in Europa,
die da waren: der Sozialdarwinismus, seine Vorformen
(Spencer) und verschiedenen Varianten, pseudowissenschaftliche Rassismustheorien und eine mechanistisch
evolutionistische Wissenschaftsauffassung, die in der
amerikanischen Soziologie der 1930er-Jahre noch durch
einen utilitaristischen Positivismus verwurzelt war. Mit
Talcott Parsons vollzog sich der lange Abschied“ der So”
ziologie von solchem naiven Szientismus.
Gerhardts Biografie spürt mit Akribie nach, wie Parsons Theorie vom Zeitgeschehen beeinflusst war, wie er
seine Diagnose der Zeit- und Gesellschaftszustände in
seinem Werk verarbeitete und wie er das Zeitgeschehen
im Sinne der pluralistischen Demokratie einflussreich
mitgestaltete. Die Autorin verlinkt Scholarship und Politik. Stützten sich die bisherigen Studien hauptsächlich
auf Parsons Schriften, beruht die vorliegende Monografie auf umfangreichen Quellenstudien im Archiv der Harvard University. In den verschiedenen unveröffentlichten
Aufzeichnungen, Memoranden, Rohfassungen von Manuskripten, Briefen usw. wird sein politisches Interesse
offenkundig. Gerhardts Analysefeld ist noch weitläufiger: Sie belässt es nicht bei der Verarbeitung von Dokumenten, sondern sie arbeitet auch jene Literatur auf, die
in einer bestimmten Zeit für Parsons prägend war. Dadurch, dass sie Werk und Quellenmaterial miteinander
verschränkt, gewinnt sie ein umfassendes, detailreiches
und von fehlerhaften Zuschreibungen gesäubertes Bild
dieses soziologischen Klassikers. Gerhardt konzentriert
sich in ihrer Biograie auf vier zentrale Phasen seines innovativen Schaffens, die sie in ebenso vielen Kapiteln
darstellt: Der Neuinterpretation der Structure of Social
Action folgt ein Blick auf Parsons soziologischer Analyse des Nationalsozialismus, danach beschreibt sie seine
Rolle im Harvard Social Science War Effort und in der Social Science Research Council Initiative, um mit Parsons
Theorie zur amerikanischen Gesellschaft in den 1960erJahren abzuschließen. Im Dunkeln verbleiben die 1950erJahre. Scheint die Zeit der Eisenhower-Administration in
Bezug auf Parsons auch weniger bemerkenswert (dem
McCarthyism wird ein kurzes Kapitel gewidmet), so wäre eine eingehendere Betrachtung der zweiten Hälfte der
fünfziger Jahre, in der sich die Vorgeschichte zu seiner neuen Theorie der 1960er-Jahre abspielt, doch auf-
Im zweiten Teil vertritt Gerhardt die These, dass
sich Parsons Soziologie zwischen 1938 und 1945 maßgeblich von der politischen Krise in Deutschland leiten
ließ. Er analysierte die strukturellen Mechanismen des
NS-Regimes und verglich diese mit jenen der Demokratie, um seine Theorie von der Dichotomie von Anomie
und Integration in der sozialen Struktur durch empirische Anschauung zu bewähren und zu vertiefen. Im
Nationalsozialismus sah er jenen gefährlichen Typus einer charismatisch-traditionalen Ordnung, der sich vom
rechtsstaatlichen Ideal anglosächsischer Prägung verabschiedet hatte und es auf die Zerstörung der westlichen Zivilisation absah. Dem integrativen demokratischen Pluralismus fühlte er sich aber nicht nur als Soziologe, sondern auch als politischer Aktivist verpflichtet.
Auf letzteren, der lange Zeit im Schatten der Forschung
lag, wirft Gerhardt ihr besonderes Augenmerk. Parsons
hatte so manchem verfolgten deutschen und österreichischen “refugee scholar” (Eric Voegelin, Hans Speier) zur
Flucht nach Amerika verholfen; auch betätigte er sich als
überzeugter Demokrat und Anti-NS Aktivist. Er befürwortete vehement die Intervention der USA im Kampf
gegen Hitler. An der Harvard School of Overseas Administration ließ er seine systemtheoretischen Erkenntnisse in die Ausbildung zukünftiger Besatzungsoffiziere
einfließen und als Adviser der Foreign Economic Administration der US-Administration für die Nachkriegsplanung in Deutschland trat er vehement für den kontrollierten institutionellen Wandel in Nachkriegsdeutschland ein. So untermauerte seine soziologische Expertise auch die Sichtweise, dass der Morgenthauplan, der
die Rückführung Deutschlands in eine Agrargesellschaft
vorsah, für die weitere Demokratisierung dieses Staates verderblich war: Die Gefahr eines wiederaufleben2
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den Nationalismus war für Parsons nicht auf dem Wege
der Deindustrialisierung zu überwinden, das Ziel musste vielmehr die Demilitarisierung sowie die Modernisierung der deutschen Wirtschaft sein.
Zeit im Lichte des Vietnamkriegs, der Bürgerrechtsbewegung und der Studentenrevolte einen strukturellen sozialen Wandel durchlaufen. Auch hier verfolgte die soziale
Systemanalyse einen konkreten politischen Zweck: Die
Gesellschaft sollte durch die Schaffung einer vernünftiIm dritten Abschnitt legt Gerhardt die zeithistori- gen Wissensbasis vor einem neuen Weltenbrand bewahrt
schen Hintergründe seines zweiten Klassikers The Social
werden. So war ihm auch weiterhin politischer AktivisSystem (1951) offen: Darin analysierte Parsons die Demus ein Anliegen. Als Präsident der American Academy
mokratie als integratives soziales System, um als Modell of Arts and Sciences erhob er nicht nur das Wort gegen
für die Transformation früherer (Deutschland und Itali- den Vietnamkrieg, sondern er bezeichnete auch Wateren) und – soweit absehbar – des zukünftigen Sowjetkom- gate als eine ähnliche Gefahr für die amerikanische Demunismus zu dienen. Zwar waren auch Demokratien vor mokratie, wie einst der McCarthyism eine gewesen war.
dem Verfall in anomische Zustände (McCarthyära) nicht
In der McCarthyära war Parsons selbst in den Verdacht
gefeit, durch sozialen Wandel und “institutionalisierte
geraten, ein kommunistischer Sympathisant gewesen zu
Rationalisierung” konnten sie sich aber wieder aufrich- sein.
ten und stabilisieren. Dieser Standpunkt gewährte den
optimistischen Ausblick, dass auch der SowjetkommuDas Verfahren, das Gerhardt in ihrer intellektuellen
nismus früher oder später zum Untergang verurteilt war. Biografie anwendet, ist zweifelsohne ertragreich. DieThe Social System war maßgeblich von seinem Engage- se Art der dichten Beschreibung könnte auch methoment im Harvard Social Science War Effort und an der dische Impulse für die biografische Aufarbeitung andeSocial Science Research Council Initiative inspiriert. Par- rer bedeutender deutschsprachiger Sozialwissenschaftsons hatte nicht nur als Anti-Atomwaffenaktivist Stel- ler liefern. Zuvorderst sind die Österreicher Felix Kauflung bezogen, später sollte er auch öffentlich für die Bür- mann, Alfred Schütz und Paul Lazarsfeld namhaft zu
gerrechte der Schwarzen auftreten.
machen, deren einflussreiches Wirken in den USA eine
umfassendere intellektualbiografische Würdigung dieser
Im vierten Teil ihres Buches steht Parsons späte Theo- Art längst verdienen würde. Diese Liste ließe sich aber
rie der 1960er-Jahre im Mittelpunkt. In The Social Sysum viele weniger bekannte und noch bekanntere Namen
tem verfolgte er das Ziel, die moderne Demokratie in
fortsetzen. Selbst Max Weber, dem Talcott Parsons Theoihrer entwickeltsten Ausformung einer neuen Analyse rie viele Impulse verdankt, könnte durch eine Biografie
zu unterziehen, hatten doch die USA in der jüngsten dieser Art in neuem Licht erscheinen.
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Citation: Johannes Feichtinger. Review of Gerhardt, Uta, Talcott Parsons: An Intellectual Biography. H-Soz-u-Kult,
H-Net Reviews. November, 2003.
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