Explosivevolution und adaptive Radiation: Viktoriasee-Cichliden in der biologischen Forschung Ole Seehausen Im Laufe der letzten Jahrzehnte übernahmen die Cichliden-Artenscharen der ostafrikanischen Seen mehr und mehr die RoIIe der Darwinsfinken in der Biologie. sie wurden zu einem der Lieblingskinder von Evolutionsforschern. warum das so ist, soll im folgenden für die viktoriasee-Cichliden dargestellt werden. Dazu werden verschiedene biologische Konzepte kurz angesprochen, bei deren Erforschung viktoriasee-cichliden eine Rol1e spielten und spielen. ,,Explosivevolution",,,adaptive Radiation.( und rreuantum-Evolution,. Durch die Arbeiten von Peter Humphrey Greenwood (gesammelte werke in Green- aufeinen gemeinsamen vorfahren zurückzuführen ist. Dabei dürfte es sich um einen generalisierten, insektenfressenden Haplochrominen gehandelt haben, ähnlich den heutigen Arten lüsse Meyer 1993). Aus einem solchen ökol ogisch völlig neue Typen, die es g alle L u besiedeln und fast alle Nahmngsquellen, von Aufwuchsalgen und Schnecken über plankton bis hin zu Fischen oder auch nur deren Schuppen, zu erschließen. Etwa 15 große Ernährungsgruppen werden unterschieden (Greenwood 1974; witte & van oijen 1990; siehe Tafet in DCG-Info 1211995). Diese ökologische vielfalt spiegelt sich wider in morphologischer Diversität des Nahrungsaufnahmeapparates, der Kiemen, der Augen sowie in der vielfalt der Färbung. Da sie den Rahmen der von flußbewohnenden Haplochrominen bekannten anatomischen Diversität bei weitem sprengt, bezeichnete Greenwood (19g1 b) die Evolution der viktoriasee-Cichliden als Quantum-Evolution (Simpson 1944), gekennzeichnet durch Evolution substantieller Neuerungen innerhalb ktrzer zeixättme. die mit dem r25 Erschließen einer neuen Adaptivzone, also einem Komplex von ökologischen Nischen, einhergeht. Der FalI der Viktoriasee-Cichliden fand damit Eingang in die Diskussion um den zeitlichen Verlauf des evolutionären Prozesses, in der ein Modell kontinuierlicher und gradueller Veränderung (phyletischer Gradualismus) einem Modeil von abwechselndem Stillstand und schneller, sprunghafter Veränderung, verbunden mit Aufsplitterung in neue Taxa (punktuiertes Equilibrium, Explosivevolution), gegenübersteht. Greenwood (1984) bezeichnete die Evolution der Cichlidenschar des viktoriasees als ein Beispiel für die Explosivphase des zuletzt genannten Modells, machte aber gleichzeitig deutlich, daß sie einigen mit diesem Modell verbundenen Vorstellungen nicht entspricht. Was die Artenschar der Viktoriasee-Cichliden in dieser Diskussion nämlich so bedeutend macht, ist, daß sich in ihr der graduelle Charakter des ersten Modells mit dem evolutionären Tempo des anderen verbunden findet. Dabei stellt sich der graduelle Charakter nicht in einer zeitlichen Aufeinanderfolge von Arten, also in chronologischen Serien dar, sondern in der Persistenz und Koexistenz aller Stufen der verschiedenen morphologischen Serien. Greenwood (1981 b) prägte für dieses Phänomen die Bezeichnung ,,kladistischer Gradualismus". Anders als bei Malawi- und Tanganjikasee-cichliden kennt die morphologische vielfalt im viktoriasee keine scharfen Grenzen. Persistierende intermediäre Arten schließen die Lücken zwischen den extremen Typen (Greenwood 1981, 1984; Hoogerhoud 1984; Witte & Witte-Maas 1987). Daß alte Übergangstypen bis heute vorhanden sind (oder bis gestern waren, siehe Seite i37 ff.), mag an der evolutionären Jugend der Artenschar liegen und eröffnet einmalige Möglichkeiten zum Studium der Evolution. so zum Beispiel der Analyse des Zusammenhanges zwischen morphologischer Form und ökologisch relevanter Funktion (Barel 1983) und damit zum Studium der ökologischen Bedeutung adaptiver Radiation. In diesem Zusammenhang erscheint es mir bemerkenswert, daß, wenn von der Radiation der viktoriasee-cichliden die Rede ist, fast ausschließlich die des Nahrungsaufnahmeapparates gemeint ist. Vielteichtliegt es daran, daß Ichthyologenbis vorkurzem vorwiegend mit konserviertem Material arbeiteten, daß die nicht weniger spektakuläre Radiation in der Färbung soviel weniger Aufmerksamkeit fand. Artbildung Wie konnten aus einer einzigen Art innerhalb eines relativktrzen-Zeitraumes mehrere hundert entstehen? In einer Lagune des Viktoriasees, dem Nabugabosee, seit 4000 Jahren durch einen sandwall vom viktoriasee geffennt, fand Greenwood fünfendemische Cichlidenarten, die sich von ihren jeweils nächsten Verwandten auf der anderen Seite des Sandwalls vor allem in der Brutftirbung der Männchen unterscheiden. Damit konnte er zeigen, daß Artbildungsprozesse bei diesen Fischen vielleicht nicht länger als ein paar tausend Jahre benötigen (Greenwood 1 965 a), und setzte neue Dimensionen für mit Artbildung assoziierteZeiträume (Futuyma 1986;Paterson 1992). Konnte dies aber mehrhundeltfach in einem einzigen See geschehen? Artbildung vollzieht sich bei Wirbeltieren gewöhnlich nach dem allopatrischen Modell: Durch die Entstehung von geographischen Barrieren wird eine Population in zwei zerteilt. Durch Mutation und eventuell unterschiedliche natürliche Selektionsregime in den Teilarealen verläuft die weitere Evolution der beiden Populationen unter 1.rA --__\ --> ,' -<-<-O, -\ .*_) r )'-_7 ( Viktoriasee-Haplochro zahlreiche Yariabilität yon ständig überarbeitet und um und Größe (vollnach Greenwood zo = zooplartktonfresserl pH = phytoplanktonfresser; A = Algenschaber; If = fluviatiler irsektenfresser sP = schneckensprenger; sC = schneckenschäler; 127 Fische vom H.-(Astatotilapia)-nubilus-Typ werden als generalisierte Haplochrominen angesehen; kleine, unterschiedliche Veränderungen könnten am Beginn der adaptiven Radiation der ViktoriaseeCichliden gestanden haben ln vielen ökologischen Gruppen finden sich morphologisch wenig spezialisierte Arten, die H. (4.) nubilus recht ähnlich sind, so H. (Astatotilapia) piceatus unter den Zooplank- tivoren. . . ...undHaplochromis ,,Copper Black(( unter den epilithischen Algenschabern; sie koexistieren mit morphologisch speziali- sierten Arten, wie Yssochromis laparogramma und Neochromis nigricans (kladistischer Gradualismus) schiedlich. Ob sie zu verschiedenen Arten werden, hängt davon ab, ob die Zeit der Isolation ausreicht, um biologische (interne) Fortpflanzungsbarrieren entstehen zu lassen, die auch dann erhalten bleiben, wenn die geographische (externe) Isolation wegfäIlt. Dieses Model1 schien zunächst auf einen offenbar homogenen Wasserkörper, wie ihn der Viktoriasee darstellt, nicht anwendbar zu sein. Es war schwer vorstellbar, daß Populationen sich in einem geschlossenen Lebensraum ohne geographische Barrieren teilen konnten. Greenwood machte den Nabugabosee zum Mode1lfall für den Evolutionsprozeß im Viktoriasee. Multiple Artbildung vollzog sich nach diesem Modell in peripheren Wasserkörpern, die durch größere Wasserstandsveränderungen und tektonische Instabilität des Seebassins vom Hauptsee abgeschnitten wurden. So gehen die endemischen Arten des Nabugabosees nach Greenwood ( 1965 a) auf fünf von ihren Mutterpopulationen im Viktoriasee abgeschnittene Populationen zurück. Wenn diese Isolation lange genug angehalten hat, werden dem Hauptsee bei einem Wiederanschluß der Lagune durch Erhöhung des Wasserstands neue Arten zugefügt. Wiederholte Vorgänge solcher Art könnten über viele Jahrtausende zu einer Akkumulation von Arten im Viktoriasee geführt haben, die also in extralakustriner Allopatrie (in verschiedenen Seen) entstanden wären. In der Tat weisen geologische Untersuchungen auf eine recht bewegte Geschichte des Viktoriasee-Beckens hin (Beadle 1981; Stager et al. 1986), was Voraussetzung ist für die Funktion der ,,Artenpumpe", wie Kaufman & Ochumba (1993) dieses Phänomen treffend nannten. Es gibt verschiedene Beobachtungen, die nahelegen, daß der Nabugabosee kein Einzelfall ist (Seehausen, pers. Beob.; Kaufman, pers. Miu.). Das Modell ist einleuchtend. Dennoch erklärt es nicht die ökologische und morphologische Radiation der Viktoriasee-Cichliden. Greenwood selbst bezeichnet die Artbil dung durch geographische Isolation in Satellitenseen a1s stasimorphische Artbildung (Multiplikation von Arten ohne anatomische Differenzierung), die die Entstehung der verschiedenen anatomischen Typen nicht zu erklären vermag (Greenwood 1981 b). Subjektiv ist es wohl wahrscheinlicher, daß die ökologische Aufsplitterung der Nachfahren des Proto-Viktoriasee-Cichliden auf ökologische Interaktion in sym- oder parapatrischen Verhältnissen zurückzuführen ist. Objektiv ist zu wenig bekannt über die Art der Kopplung zwischen den zwei Prozessen ,,ökologische Radiation" und,,Artbildung" , als daß diese Frage beantwortet werden könnte. Daß diese Prozesse nicht unbedingt eng gekoppelt auftreten müssen, zeigten Studien an dem zentralamerikanischen Cichliden ,,Herichthys" minckleyi (Kornfield et a1. 1982; Liem & Kaufman 1984). In diesem Bereich kann Forschung an Viktoriasee-Cichliden in Zukunft einen wesent- lichen Beitrag zum Verständnis von Artbildungsprozessen liefern. Neuere Untersuchungen lassen vermuten, daß extralakustrine allopatrische Artbildung durch geographische Isolation nicht allein zu der extremen Artenvielfalt der Cichliden im Viktoriasee geführt hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit spielt auch intralakustrine Artbitdung (= Artbildung innerhalb des Sees) eine wesentliche Rolle. Diese neueren Arbeiten zeigen. daß die ursprüngliche Annahme, die die Vorstellung intralakustriner Artbildung so erschwerte, falsch war: Es wurde bis in die 80er Jahre vermutet, daß die Cichlidenarten des Viktoriasees über den gesamten See verbreitet seien und innerhalb des Sees keine geographisch isolierten Populationen ausbildeten (Fryer & lles 1972; r29 Greenwood 1974). Inzwischen konnte aber nachgewiesen werden, daß die verbreitung der meisten Arten sich auf sehr spezifische Biotope beschränkt (siehe unten). Arbeiten von Witte & Witte-Maas (1987), van Oijen (1991) und N. Bouron et al. (in vorbereitung) zeigten außerdem morphologische unterschiede zwischen Fischen derselben Art aus verschiedenen Fangregionen. Dorit (1990) zeigte, daß konspezifische Populationen von verschiedenen, wenige Kilometer voneinander entfemten Inseln sich genetisch unterscheiden. wir konnten zeigen, daß sich solche konspezifischen Populationen auch im Verhalten und in der Ökologie unterscheiden (Bouton et al. , eingereicht; Seehausen et al., eingereicht). Gemeinsam machen diese Arbeiten deutlich, daß ökologische Isolation von populationen innerhalb des viktoriasees aufgrund von stenotopie und diskontinuierlichem Charakter von Habitaten durchaus häufig ist. Damit ist eine wesentliche voraussetzung dafür erfüllt, daß Artbildung sich innerhalb des Viktoriasees vollziehen kann. Eine deutliche geographische Komponente in der Zusammensetzung von Gesellschaften felsbewohnender Cichliden und hohe, ganz lokale Endemismusraten unterstützen diese Hypothese (Seehausen 1994 a). Es ist denkbar, daß neben intralakustrin allopatrischer Artbildung auch sympatrische Artbildung eine Rolle spielt rMcKaye et al. 1982; Hoogerhoud et al. 1983; Seehausen 1996). Adaptation und Spezialisierung Natürliche selektion als ein Mechanismus der evolutioniiren Veränderung ist heute zwar allgemein anerkannt, ihre Bedeutung bei der Entstehung von Artenvielfalt wird aber nach wie vor debattiert. Eigenschaften, deren Entstehung auf die Einwirkung natürlicher Selektion zurückzuführen ist, werden als Adaptationen (Anpassungen) bezeichnet. obwohl ihre extreme Auffächerung die viktoriasee-cichliden zu einem Vorzeige-Beispiel für adaptive Radiation machte (Greenwood 19j4, 1981, 1984; Wilson 1992), wurde bisher kaum nachgewiesen, daß die vom menschlichen Betrachter subjektiv als adaptiv empfundenen Merkmale objektiv rarsächlich adaptiv sind, in dem sinne, daß sie den sie besitzenden Individuen in der Natur vorteile verschaffen gegenüber Individuen, die sie nicht besitzen, Der generelle Mangel an Adaptivitätsnachweis 1öste eine zum TeiI kontrovers geführte Diskussion aus, zu der vor allem Arbeiten an Malawi- und viktoriasee-Cichliden beitrugen. Liem (1980) und McKaye & Marsh (1983) fanden, daß morphologisch spezia- lisierte felsbewohnende Malawisee-Cichliden sich bei der Nahrungsaufnahme wie unspezialisierte Generalisten verhielten und die verschiedensten Freßtechniken anwendeten. Liem (1980) stellte in Frage, daß die anatomisch so spezialisiert erscheinenden Cichliden der ostafrikanischen Seen betreffs ihrer Nahrungsaufnahme wirklich spezialisiert sind, und damit, daß die morphologische vielfalt tarsächlich adaptiv ist. Demgegenüber betonte Barel (1983), daß Spezialisierung auf bestimmte Funktionen bei der Nahrungsaufnahme nicht heißen müsse, daß andere Funktionen gar nicht gegeben sind. Da eine Optimierung verschiedener Funktionen aber unterschiedliche und nicht immer zu vereinbarende Anforderungen an den Bauplan stellt, so Barel, geht anatomische Spezialisierung für bestimmte Funktionen mit qualitativen Einschränkungen anderer Funktionen einher. Verhaltensuntersuchungen an felsbewohnenden Cichliden aus dem Viktoriasee bestätigen Liem und McKaye & Marsh darin, daß morpho- 130 logisch unterschiedliche Arten dieselben Nahrungsaufnahmetechniken ausführen. Bei identischem Nahrungsangebot (und unter Ausschluß von Konkurrenz zwischen den Arten) unterscheiden sich die Arten aber in der Häufigkeit, mit der sie die verschiedenen Techniken anwenden (Seehausen 1993 a; Seehausen et aI., eingerichtet). Diese quantitativen Verhaltensunterschiede korrelieren mit der Morphologie des Nahwas die Existenz von funktionellen Einschränkungen aufgrund von anatomischen Spezialisierungen im Sinne von Barel sehr wahrscheinlich rungsaufnahmeapparates, macht. Letztlich sind Aussagen über relative Adaptivität moryhologischer Form nur möglich, wenn Effizienzen in der Funktion (zum Beispiel in der Nahrungsaufnahme) gemessen werden, und das ist bisher kaum geschehen. Eine Ausnahme bildet eine Studie von Galis & Barel (1980) undGalis & Smit (1979) an Haplochrominen aus dem Georgsee, in der sie zeiglen, daß eine Ar1, die ihre Nahrung auf sauerstoffarmen Schlammböden sucht, ein vergrößertes Kiemenvolumen und auch eine größere Sauerstoff-Extraktionskapazität besitzt a1s eine ähnliche Art, die Nahrung auf Sandböden sucht. Da natürliche Selektion nicht frei in alle Richtungen operieren, sondern nur an dem Vorhandenen ansetzen kann, kann Adaptation nie die optimale Lösung eines spezifischen Problems sein. Daher müssen stammesgeschichtliche (phylogenetische) wie auch aus der Individualentwicklung (Ontogenie) hervorgehende Zwänge bei der Interpretation von Adaptation berücksichtigt werden, wie Barel (1984) und Galis et al. (1994) wiederum an Viktoriasee-Cichliden zeigten. Die erstaunlichen anatomischen Ahnlichkeiten zwischen Verffetem bestimmter ökologischer Gruppen aus den Seen Viktoria, Malawi und Tanganjika, die mit größter Wahrscheinlichkeit auf Konvergenz beruhen, machen die adaptive Natur der anatomischen Vielfalt der Cichliden wahrscheinlich. Differenzieller evolutionärer Erfolg und,,Präadaptation" Präadaptation ist definiert als der Besitz von anatomischen, physiologischen oder Ver- haltensstrukturen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß eine Art sich an neue Umweltbedingungen anpaßt. Die Tatsache, daß, abgesehen von den LamprologusVerwandten im Tanganjikasee, in allen großen ostafrikanischen Seen gerade die haplochrominen Cichliden,,das Rennen machten", wirft die Frage auf, ob sie solche Eigenschaften besitzen. AlIe diese Seen beherbergen auch zahlreiche andere Fischfamilien, darunter Karpfenfische (Barbus , lnbeo , Garrarnd Rastrineobola im Viktoriasee) und Salmler (Bryclnus im Viktoriasee), die in den Flüssen Afrikas die bei weitem artenreichsten Gruppen darstellen (Lowe-McConnell 1987). Auf der Suche nach dem Schlüssel zum evolutionären Erfolg der Cichliden in den Seen wurden verschiedene Erklärungen angeboten, basierend auf Arbeiten an Cichliden verschiedener Herkunft: (1) Im Gegensatz zu vielen Mitbewerbern verfügen Cichliden über einen anatomischen Bauplan, der durch einfache Veränderungen, die keiner genetischen Revolution bedürfen, effizient umstrukturierbar ist. Eine besondere Rol1e spielt dabei ein zusätzliches funktionelles Paar Kiefer (Pharyngealkiefer), das die Aufgabe der Nahrungsverarbeitung von den oralen Kiefern übernommen hat. Jene, von der Aufgabe der Nahrungsverarbeitung befreit, wurden frei für rasche evolutionäre Veränderungen zur VerbesserungdesNahrungsfangs (Lrem1914; Stiassny &Jensen 1987). Stiassny (1994) spricht von einer Befreiung von der Spezialisierungshemmung. Das mag den Cichliden bei der 13t Geographische Variabilität ist im Viktoriasee entgegen früheren Annahmen die Regel: Haplochromis ,,R.ockkribensis" aus dem Mwanza-Golf, Tansania, (oben) und Haplochromis,,Uganda-Rockkribensis" aus Uganda. Verschiedene Arten oder Populationen einer Art? r32 Besiedlung der relativ kurzfristig entstandenen lakustrinen Lebensräume einen evolutionziren Vorteil gegenüber anderen Flußfischen eingeräumt haben. (2) Als Fische mit Brutpflege, und als Maulbrüter ganz besonders, sind haplochromine Cichliden für die Fortpflanzung nicht auf sauerstoffreiches Fließwasser angewiesen, sondem können sich im See fortpflanzen. während viele Cypriniden zum Laichen in die Flüsse wandern müssen. Das mag Cichliden ebenfalls evolutionäre Vorteile einräumen (Lowe-McConnell 1993). (3) A1s polygame mütterliche Maulbrüter sind haplochromine Cichliden Kandidaren für ausgeprägte sexuelle selektion durch Partnerwahl, die zu besonders schneller evolutionärer Veränderung führen mag (Dominey 1983; Goldschmidt & de Visser 1990; McKaye 1991), eine Hypothese, die empirischer Bestätigung bedarf. (4) Untersuchungen an Viktoriasee-Cichliden zeigten ausgesprochen große phänotypische Plastizität. Meist versteht man darunter anatomische plastizität. also umweltbedingte, nicht genetisch manifestierte Variabilität in der Ausbildung anatomischer Merkmale (Greenwood 1965 b; Witte 1984; Witte et a1. 1990; N. Bouton er al., in Vorbereitung). sehr plastisch sind auch Komponenten des verhaltens von viktoriaseeCichliden (Galis et a\. 1994l. Seehausen 1993). Solche Plastizität kann bei spontaner Besiedlung neu entstehender Lebensräume von großer Bedeutung sein. Diese Erklärungsversuche lassen viele Fragen offen. warum waren in allen ostafrikanischen Seen die haplochrominen den tilapiinen cichliden überlegen? In ostafrikanischen FIüssen stellen Tilapiine wohl die artenreichste Cichlidengruppe dar, und daß sie zu adaptiver Radiation in seen befähigt sind, ist von den kamerunischen Kraterseen bekannt (Trewavas et al. 1972; Schliewen et aI. 1994). Ich glaube nicht, daß es auf die Frage nach Präadaptation haplochrominer Cichtiden, die ihren wiederholten evolutionären Erfolg in ostafrikanischen Seen erklären würde, eine alleinige richtige Antwort gibt. Vielmehr dürften Konstellationen verschiedener Faktoren entscheidend gewesen sein, und sie mögen von See zu See durchaus verschieden sein. Entscheidungsoptimierung Tierisches Verhalten ist komplex. Adaptive Radiation muß mit individuellem Verhalten beginnen. Die Abfolge von Aktivitäten eines Cichliden im Aquarium, selbst über nur eine Minute, kann folgendermaßen aussehen: Balzen... Jagen eines anderen Fisches ... Aufschnappen von Plankton ... Balzen ... Graben ... Aufschnappen von Plankton ... Beobachten einer Schnecke ... Abschaben von Algen von einem Stein ... usw. Warum macht der Fisch wann was? Die Optimierungstheorie geht davon aus, daß eine Steuerung des Verhaltens durch einen natürlicher Selektion unterliegenden Entscheidungsmechanismus für den Organismus überlebensnotwendig ist, da er beijeder Aktion Energie verbraucht und seine Kosten-Nutzen-Rechnung stimmen muß. Verhalten unterliegt sowohl mechanischen (siehe den Paragraphen über Adaptation und Spezialisierung) a1s auch zeitlichen Zwd,ngen. Unser Cichlide kann nicht gleichzeitig versuchen, ein Schneckenhaus zu knacken und Algen von Steinen abzuschaben. Durch die falsche Entscheidung, sich an einer zu großen Schnecke zu versuchen. würde ihm aber wertv olle Zeit zum Energiegewinn durch Abschaben von Algen verloren gehen (principle of lost opportunity [Stephens & Krebs J986]). Unter Berücksichtigung solcher Zwänge kann mit soge- 133 nannten Optimierungsmodellen getestet werden, ob Entscheidungen im Sinne von Verhaltensadaptation zu erklziren sind. 41s optimale Entscheidung wird die Wahl der Aktion definiert, die, unter den im Moment der Entscheidung zur Verfügung stehenden Alternativen, am meisten zur Fitneß des Organismus beiträgt. Es wird sozusagen eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt und darauf basierend das Verhalten vorausgesagt. optimierungstheorie bemüht sich um eine funktionelle Erklärung des verhaltens. Insbesondere an Viktoriasee-Cichliden wurde mehrfach gezeigt, daß das Nahrungsaufnahmeverhalten der in dieser Hinsicht so kompiexen Cichliden im Sinne von Verhaltensoptimierung erkkirt werden kann. Hoogerhoud (1986) und Slootweg (1987) zeigten, daß die Nahrungswahl der Schneckenfresset Astatoreochromis alluaudi ünd Haplochromis (I-abrochromis ) ishmaeli auf Maximierung des Nutzen-Kosten-VerhäItnisses ausgerichtet ist. Galis & de Jong (1988) zeigten , daßbei, Haplochromis (Astatotilapia) piceatus der Energiegewinn pro Minute und Gramm Körpergewicht beim Fressen von WasserJlöhen im Laufe des Heranwachsens (Ontogenese) abnimmt, während er beim Fressen von weißen Mückenlarven unveländelt bleibt. Die auf diesen Resultaten und derAnnahme optimalen Freßverhaltens basierende Voraussage, daß junge H. piceattrs unselektiv Wasserflöhe und Mückenlarven fressen, im Laufe der Ontogenese aber auf Mückenlarven umsteigen, wurde von Gatis & de Jong (1988) bestätigt und durch Mageninhaltsanalysen von H. (A.) piceatus irfl Viktoriasee später weitel untermauert (Galis 1990). Mit Hilfe eines Modells für die Zerkleinerung von Nahrungspartikeln zwischen den Pharyngealkiefern konnten wichtige Aspekte der Nahrungswahl während der Ontogenese auch mechanistisch erklärt werden (Galis 1992, 1993)' Die Bedeutung solcher Ergebnisse für ökologische und evolutionsbiologische Fragestellungen liegt darin, daß ökologische Phänomene, wie Stabilität von Populationen, Räuber-Beute-Interaktionen, zwischenartliche Konkurrenz und letztlich die Entstehung von Artenvielfalt, Konsequenzen individuellen Verhaltens sind (siehe Krebs & Davies 1991). Wie weit wir diese Phänomene verstehen, hängt also von unserem Vetständnis dessen ab, wie sie von individuelien Entscheidungen beeinflußt werden. ,,Konkurrenztt und die ökologischen Grundlagen von Koexistenz Recht wenig ist bisher über koexistenzregulierende Mechanismen in den artenreichen Ökosystemen der ostafrikanischen Seen bekannt. Spätestens seit Darwin wird Konkurrenz eine wichtige Rolle zugebilligt, sowohl als populationsregulierender Mechanismus als auch in Form von zwischenarllicher Konkur-renz in der Evolution von Artenvielfalt, wobei der zweite Punkt allerdings umsffitten ist (siehe zum Beispiel Paterson 7992),Einzetrales Prinzip in der Ökologie ist das von Gause ( 1934) aufgestellte Kon- kurenz-Ausschluß-Prinzip (competitive exclusion principle). Es besagt, daß zwei oder mehr Arten nicht permanent exakt dieselbe Nische einnehmen können, da auf Art erfolgreicher sei und so die andere verdränge. Nahe miteinander verwandte Arten, wie die Cichliden der ostafrikanischen Seen, sind in besonderer Weise geeignete Objekte für das Studium zwischenartlicher Konkurrenz. In ihrer Analyse der Artenvietfatt von Malawi- und Viktoriasee kamen Fryer & Iles (1972) und iange Sicht eine Greenwood(1981,1984)zudemSchluß,daßsichmehreremorphologischsehrähn1iche Cichlidenarten die meisten ökologischen Nischen teilen würden. Damit stellten sie die generelle Gültigkeit von Gauses Prinzip in Frage. 134 Eine größere Zahl von Studien zur Aufteilung von ökologischen Nischen wurde seitdem an Cichliden des Viktoriasees durchgeführr. Van Oijen (1982), Hoogerhoud et al. (1983), Witte (1984) und Goldschmidt et al. (1990) untersuchten die Lebensraumaufteilung zwischen Arten und kamen zu dem Ergebnis, daß selbst morphologisch kaum auseinanderzuhaltende Arten etwas unterschiedliche horizontale und/oder vertikale Verbreitungsmuster aufweisen. Van Oijen (1982), Hoogerhoud et al. (1983), Goldschmidt et al. (1990) und N. Bouton et al. (eingereicht) führten Mageninhaltsanalysen von verschiedenen Vertretem derselben trophischen Gruppen durch und fanden kleine, aber konsistente unterschiede zwischen den Arten. In keinem Fall wurden zwei Arten gefunden, die genau denselben Lebensraum bewohnen und gleichzeitig dieselben Nahrungs gewohnheiten haben. Diese Ergebnisse machen es wahrscheinlich, daß Konkurrenz bei der Nischenaufteilung und Strukturierung der Cichlidengesellschaften im Viktoriasee eine Rolle spielt. Sie beweisen es aber nicht. denn Studien der Mechanismen, die der Nischenaufteilung zugrunde liegen, zeigten, daß sie zumindest nicht ausschließlich auf unmittelbare zwischenartliche Interaktionen zurückzuführen ist, sondern häufig genetisch oder zumindest phänotypisch manifestiert ist. So unterscheiden sich sonst ganz ähnliche Insekten- fresser, die parapatrisch Lebensräume mit verschiedenen Sauerstoffgehalten bewohnen, im Kiemenvolumen (Galis & Barel 1980; Hoogerhoud et al. 1983) und in der sauerstoff-Extraktionskapazität (Galis & smit 1979). Morphologisch sehr ähnliche Planktonfresser, die wiederum parapatrisch verschiedene wassertiefen mit verschiedenen Lichtverhältnissen bewohnen, unterscheiden sich im Aufbau der Retina und damit sehr wahrscheinlich in der Fähigkeit, verschiedenfarbiges Licht wahrzunehmen (van derMeer & Anker 1984; S. Smit, in Vorbereitung). Morphologisch sehr ähnliche Aufwuchsfresser unterscheiden sich auch unter Ausschluß von Konkurrenz in der Nahrungsaufnahme (Seehausen 1993). Konkurrenz zwischen den Arten ist in diesen Fällen zumindest nicht allein für Nischenaufteilung verantwortlich. sie mag für die Evolution der ihr zugrundeliegenden Mechanismen verantwortlich gewesen sein; in der Vergangenheit läßt sie sich aber nicht mehr nachweisen. Hinweise auf gegenwärtig existierende Konkurrenz finden sich in einer Studie von Freßverhalten und Gesellschaftsstruktur felsbewohnender Cichliden (Seehausen et a1., eingereicht). Konkurrenz in den ostafrikanischen Seen nachzuweisen, bleibt aber weiterhin eine Herausforderung. Die Grundeinheit biologischer Diversität - was ist eine ,,Art,,? Das theoretische Konzept der Art als der größten funktionellen biologischen Einheit und seine praktische Anwendbarkeit sind ein altes Thema der Evolutionsbiologie. Es ist von zentraler Bedeutung für die verschiedensten biologischen Teildisziplinen und nicht zuietzt für den Naturschutz (,,Artenschutz"). Im wesentlichen stehen sich heute zwei Artkonzepte gegenüber: das Isolationskonzept (Dobzhansky 1937;Mayr 1942) und das Spezifische-Partner-Erkennungs-Konzept (Paterson & McNamara 1984). Sie basieren auf recht unterschiedlichen Interpretationen des Artbildungsprozesses, und ihre Überprüfung ist von großer wichtigkeit für das verständnis von Evolution. Durch das weitgehende Fehlen von postzygotischen Fortpflanzungsbarrieren stellen die stammesgeschichtlich jungen viktoriasee-cichliden eine besondere Herausforderung in 135 Der Nilbarsch vertilgte und ersetzte die großen fischfressenden Cichliden wie H. (Prognathochromis) macrognathus (oben); Lates sp. gelangte in den 50ern in Viktoria- und Kyogasee und ernährte sich von Haplochrominen' solange er genug davon fand 136 diesem Zusammenhang dar. Studium der Evolution und ökologischen Bedeutung der einzigartigen farblichen Diversität der Viktoriasee-Cichliden, bei der es sich sehr wahrscheinlich um Diversität von Partnererkennungsmechanismen handelt, könnte zur Aufhellung dieser Frage und damit zum Verständnis des Artbildungsprozesses beitragen. Mechanismen und Dynamiken von Artaussterben Trotz des dramatischen Verlustes von Artenvielfalt auf der Erde ist bis heute vergleichsweise wenig über Mechanismen, Dynamiken und Konsequenzen von Aussterbeprozessen bekannt. Mit seinem komplexen System zwischenartlicher Beziehungen kann der Viktoriasee Modell stehen lür andere komplexe Ökosytteme. Der traurige Fall der Viktoriasee-Cichliden bietet daher eine unbedingt wahrzunehmende Chance, wesentliche Einblicke in Ursachen, Mechanismen und Konsequenzen von Massenaussterben zu gewinnen (Bare1 et al. 1991:Witte et al. 1992; Goldschmidt et al. 1993; Kaufman & Ochumba 1993; Seehausen et al., eingereicht). Massenaussterben, Uberleben und Yeränderung von Viktoriasee-Cichliden Frans Witte und Ole Seehausen Einleitung In seinem Buch,,The Diversity of Life" bezeichnetEdward O. Wilson (1992) die Vorgänge im Viktoriasee als die katastrophalste Aussterbe-Episode der neueren Geschichte. Bis vor wenigen Jahren war der Viktoriasee ein typischer Cichlidensee, dessen Fischbiomasse a) etwa 80 Prozent aus haplochrominen Cichliden bestand (Kudhongania & Cordone 1974). In den 70er Jahren entwickelte sich in kleinem Rahmen nahe Mwanza im Süden des Sees eine moderne Schleppnetzfischerei. Die durchschnittliche Fangrate betrug über 1000 Kilogramm haplochrominer Cichliden pro Stunde (Barel et al. 1991), und lokal stellten sich Anzeichen von Überfischung ein. Bereits in den 50er Jahren waren mehrere exotische Fischarten in den See eingeführt worden (Lowe-McConnell 1987), darunter die Plankton und Detritus fressende Niltilapie, Oreochromis niloricus, und ein großer Fischfresser, der Nilbarsch (Lates sp.). Über die ersten 25 Jahre nach seiner Einführung blieben Nilbarschfänge gering. In den frühen 80er Jahren aber wurde eine explosionsartigeZunahme des Nilbarsches in den Fängen festgestellt. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre machten Nilbarsche dann mehr als 90 Gewichtsprozent des gesamten Kutter-Schleppnetzfanges aus (Ligtvoet & Mkumbo 1990; Barel et al. 1991). Gleichzeitig wurden Rückgänge der Bestände vieler anderer Fische gemeldet (Ogutu-Ohwayo 1990) sowie andere größere Veränderungen im Ökosystem beob- 13'7